10

Josiah Woodburns Werkstatt befand sich in Clerkenwell, einem armen Viertel, in dem nach der Gemeinde St. Luke’s die meisten Uhrmacher Londons angesiedelt waren. Dort übten auf engstem Raum, in niedrigen Dachkammern und düsteren Kellern Goldschmiede, Graveure, Emaillierer und Gehäusehersteller ihr Handwerk aus. Das Wohnhaus des Uhrmachers am Strand wirkte trotz der feinen Umgebung eher bescheiden. Auf einem kleinen, unauffälligen Schild war JOSIAH WOOD-BURN, UHRMACHER und das Wappen der Ehrenwerten Zunft der Uhrmacher eingraviert. Hier empfing Josiah Woodburn seine anspruchvollsten und reichsten Kunden.

Allein das Fehlen jeglichen Luxus im Gegensatz zu seinen Nachbarn zeugte von Woodburns Ansehen. Als Meister seines Handwerks hatte er es nicht nötig, seine Artefakte in kunstvoll dekorierten Schaufenstern auszustellen oder in protzigen Anzeigen anzupreisen. Allein der Name Woodburn garantierte ihm einen Kreis erlesener Stammkunden, die er jedoch nur nach einem vorher vereinbarten Termin empfing.

Das erklärte auch das unentschlossene Verhalten des Dienstmädchens, als sie Hawkwood die Tür öffnete. Als Polizist zählte er offenkundig nicht zum Kreis illustrer Kunden, und das Dienstmädchen war sich unsicher, ob sie ihn nicht zum Lieferanteneingang schicken sollte. Hawkwood half ihr aus diesem Dilemma, indem er vorschlug, sie solle den Diener holen. Nach kurzem Zögern führte das Mädchen ihn doch in den Salon und machte sich beinahe fluchtartig auf die Suche nach Verstärkung.

Hobb, der Diener, war ein adretter Mann in mittleren Jahren mit spärlichem, grau meliertem Haar und einem eckigen, ehrlichen Gesicht. Die aufrechte Haltung des Mannes in der schwarzen Livree ließ Hawkwood vermuten, dass er beim Militär gedient haben könnte.

Mit ihm war seine Frau, die Haushälterin, in den Salon getreten. Sie trug zu ihrem schlichten grauen Kleid eine Morgenhaube, und ihre Miene drückte Besorgnis aus.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Hobb. »Wir haben doch bereits Officer Warlock alles erzählt, was wir wissen.«

Hawkwood erklärte mit schonungsloser Offenheit: »Officer Warlock ist tot – er wurde ermordet. Seine Leiche wurde heute Morgen entdeckt. Ich habe die Ermittlungen übernommen.«

»Gott bewahre uns!«, sagte Hobb und umklammerte die Schultern seiner Frau. Sie schnappte nach Luft, ob wegen der schrecklichen Neuigkeit oder wegen des festen Griffs ihres Mannes, konnte Hawkwood nicht sagen.

Da durchbrach schallendes Gelächter aus der Diele das betroffene Schweigen. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein kleines Mädchen in einem gelben Leinenkleid stürzte herein. Dicht auf den Fersen folgte ihr mit fliegenden Ohren ein kleiner schwarzweißer Hund von unbestimmter Rasse.

»Großpapa …«, rief das Kind, blieb dann abrupt stehen und sah sich verwirrt um. Ihr Blick blieb schließlich an Hawkwood hängen, und er schaute in die größten blauen Augen, die er je gesehen hatte. Die Kleine war sieben oder acht Jahre alt und atemberaubend hübsch. In ihrer Armbeuge hielt sie eine Puppe, eine Miniaturausgabe ihrer selbst, in einem gleichfarbigen spitzenbesetzten Kleid und winzigen weißen Schühchen.

»Ich habe doch Großpapas Stimme gehört! Wo ist er?«

Mrs. Hobb fasste sich sofort, als sie die Enttäuschung des Kindes sah. Die Haushälterin breitete die Arme aus, und das kleine Mädchen lief zu ihr. Der Hund merkte nichts von der ernsten Stimmung im Raum und beschnupperte mit wedelndem Schwanz die Möbel.

Völlig aufgelöst und außer Atem tauchte das Dienstmädchen in der Tür auf. »Es tut mir Leid, Mrs. Hobb. Als Elizabeth die Stimmen hörte, ist sie einfach losgerannt. Ich konnte sie nicht aufhalten.«

In Mrs. Hobbs beschützenden Armen geborgen, warf das Kind Hawkwood wieder einen durchdringenden Blick zu und vergrub dann ihr Gesicht in der gestärkten weißen Schürze der Haushälterin. Da entdeckte der Hund plötzlich den Fremden, sprang über den Teppich auf Hawkwood zu und beschnupperte seinen Stiefel.

Mrs. Hobb tätschelte Elizabeths Kopf und sagte besänftigend: »Na, na, mein Schatz, du musst keine Angst haben. Dieser Gentleman, Mr. Hawkwood, bringt uns Neuigkeiten von deinem Großpapa.«

Da drehte sich die Kleine langsam um und fragte voller Erwartung und neu erwachter Hoffnung: »Wann kommt Großpapa nach Hause?«

Beim Anblick des Gesichts dieses Mädchens musste Hawkwood unwillkürlich an Pen, eines der Straßenkinder, die Warlocks Leiche entdeckt hatten, denken. Beide Mädchen waren etwa gleichaltrig, beide Waisenkinder, aber zwischen ihnen lagen Welten. Eines war in ein luxuriöses Leben, das andere in ein Dasein bitterster Armut hineingeboren worden. Und doch gab es eine Ähnlichkeit zwischen ihnen: Beide Gesichter drückten Argwohn und Angst aus, als sie ihn angesehen hatten.

Mrs. Hobb legte Elizabeth die Hand auf die Schulter. »Sei still, Kind. Dein Großpapa kommt bald nach Hause. Du wirst schon sehen. Habe ich nicht Recht, Mr. Hobb?«

»Natürlich!«, stimmte der Diener mit gespielter Fröhlichkeit zu. »Wart’s nur ab!«

Hawkwood entging nicht die dringende Botschaft, die in den Augen des Ehepaars lag. Dieselbe Erwartung las er in dem Blick des kleinen Mädchens, das ihn unentwegt anstarrte. Schließlich, es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, wandte die Kleine den Kopf ab und sah fragend zur Haushälterin hoch.

»Na, siehst du, Elizabeth«, sagte Mrs. Hobb lächelnd. »Sei jetzt ein braves Mädchen und geh mit Jessie in die Küche. Sie gibt dir ein Glas Milch, und wenn ich mich nicht irre, hat Mrs. Willows einen Kuchen gebacken.«

Dann scheuchte sie den Hund auf, der sich ausgiebig kratzte, nachdem er vergeblich versucht hatte, Hawkwoods Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Und nimm Toby mit. Der ganze Teppich ist voller Hundehaare. Hetty kriegt immer Zustände, wenn sie den Salon putzt.«

Toby bellte so aufgeregt, als er seinen Namen hörte, dass Elizabeths Augen wieder aufleuchteten. Die Puppe fest an sich gedrückt, ging sie zur Tür, blieb auf der Schwelle stehen und rief ihren Hund. Als Toby an ihr vorbeilief, sah sie Hawkwood noch einmal an, als wollte sie ihm etwas sagen, änderte dann jedoch ihre Meinung und verschwand im Flur. Das Dienstmädchen schloss leise die Tür hinter ihr, und Hawkwood kam es so vor, als sei das Licht im Zimmer erloschen.

»Gott segne ihre kleine Seele«, sagte Mrs. Hobb leise und wandte sich Hawkwood zu. »Das arme Ding hat ihre Eltern bei einem Brand verloren. Und jetzt ist ihr Großvater verschwunden.« Die Haushälterin schüttelte sorgenvoll den Kopf.

»Wann ist das passiert?«, fragte Hawkwood.

Die Haushälterin überlegte kurz. »Ostern vor einem Jahr«, versicherte sie dann. »Die ganze Familie hat geschlafen, bis der Hund sie weckte. Er war damals noch ein Welpe, aber wäre Toby nicht gewesen, würde auch Elizabeth heute nicht mehr leben. Seitdem sind die beiden unzertrennlich.«

»Warum konnten sich die Eltern nicht retten?«

»Der Vater hat Elizabeth aus dem Haus getragen«, sagte Luther Hobb, »und ist zurückgegangen, um seine Frau und seinen Sohn zu holen. Alle drei fand man später tot in den Trümmern. Die Mutter hielt ihr Baby in den Armen. Sie sind nicht im Feuer umgekommen, sondern an Rauchvergiftung gestorben.« Auch der Diener schüttelte bekümmert den Kopf.

»Und seitdem lebt Elizabeth hier bei ihrem Großvater?«

»Ja«, sagte Mr. Hobb und seine Miene wurde weich. »Der Master wurde zu ihrem Vormund ernannt. Er vergöttert seine Enkelin. Sie sieht ihrer Mutter, seiner Tochter, sehr ähnlich. Das sagt jeder.«

»Weiß Elizabeth, dass ihr Großvater vermisst wird?«, fragte Hawkwood.

Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben ihr gesagt, er sei auf einer Geschäftsreise.«

»Und wenn er nicht wieder nach Hause kommt? Was erzählen Sie ihr dann?«

Die Haushälterin nahm ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und zerknüllte es. »Das weiß ich nicht«, sagte sie und putzte sich die Nase. »Er ist ein so guter, liebenswürdiger Herr. In all den Jahren, die wir für ihn arbeiten, haben wir nie ein hartes Wort von ihm gehört. Mr. Hobb und ich wagen nicht einmal daran zu denken, dass er nie wieder nach Hause kommen könnte. Wir beten jeden Abend für ihn, nicht wahr, Mr. Hobb?«

»Na, na, meine Liebe«, sagte Luther Hobb und tätschelte die Schulter seiner Frau. »Officer Hawkwood wird sein Bestes tun, um ihn zu finden.« Besorgnis schwang in seiner Stimme, als er dann Hawkwood fragte: »Glauben Sie, dass die Ermordung von Officer Warlock etwas mit dem Verschwinden des Masters zu tun hat?«

»Das weiß ich noch nicht«, entgegnete Hawkwood. »Aber ich werde es herausfinden.«

In dem darauf folgenden Schweigen warteten alle drei, dass jemand etwas sagte, bis Hawkwood schließlich bat: »Erzählen Sie mir von Master Woodburn. Als er gestern Abend nicht zum Essen nach Hause kam, haben Sie sich sofort Sorgen gemacht, nicht wahr?«

»Ja«, sagte die Haushälterin. »Gegen halb sieben haben Mr. Hobb und ich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Der Master verspätet sich nämlich nie. Immer war er um sechs Uhr zu Hause, damit er noch eine Weile mit Elizabeth verbringen kann, bevor sie zu Bett geht. Pünktlich wie ein Uhrwerk, pflegte er zu scherzen, weil er doch Uhrmacher ist.« Mrs. Hobb kämpfte sichtlich mit den Tränen.

»Und wenn es einmal später wurde, hat er immer eine Nachricht geschickt«, ergänzte Luther Hobb.

»Aber dieses Mal nicht?«, hakte Hawkwood nach.

Der Diener schüttelte den Kopf. »Kein Wort. Und wir haben gewartet. Zuerst dachten wir, er habe sich nur verspätet. Aber um sieben fingen wir an, das Schlimmste zu befürchten. Wir beschlossen, dass ich zur Werkstatt gehe, um nachzusehen, ob er noch dort ist. Ich hatte gehofft, ihm unterwegs zu begegnen, aber …« Mr. Hobb versagte die Stimme.

»Seine Werkstatt, wo befindet sie sich?«

»In der Red Lion Street.«

Wenn Clerkenwell als das Zentrum der Uhrmacher galt, so war die Red Lion Street Hauptstraße des Viertels. Viele der Häuser dort beherbergten gleichzeitig Schmuckgeschäfte, das wusste Hawkwood. Clerkenwell war das Einkaufsviertel der Armen, der Strand das der Reichen.

»Und wann sind Sie dort angekommen?«

»Etwa eine halbe Stunde später.«

»War noch jemand in der Werkstatt?«

»Nur Mr. Knibbs. Ach ja, und der junge Quigley.«

»Wer sind die beiden?«

»Mr. Knibbs ist Master Woodburns Geselle und vertritt ihn während seiner Abwesenheit. Manchmal wird in der Werkstatt länger gearbeitet, dann schließt Mr. Knibbs ab.«

»Und dieser Quigley? Was macht er?«

»Alles Mögliche, wie Nachrichten überbringen, aufräumen, kehren und andere Handlangerdienste. Nachts bewacht er auch die Werkstatt und schläft auf einer Matratze in einem der Lagerräume.«

»Ist er ein Lehrling?«

Hobb schien diese Frage zu überraschen. »Du meine Güte, nein, Sir. Er ist Mr. Knibbs’ Neffe«, und fügte dann mit einem bedauernden Lächeln hinzu: »Wissen Sie … na ja, der Junge ist ein bisschen langsam. Es ist nur der Güte des Masters zu verdanken, dass er sich nicht auf der Straße rumtreiben muss. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Hawkwood«, erläuterte Hobb hastig. »Er hat nie etwas angestellt, er ist ein braver Junge. Aber zum Lehrling taugt er leider nicht.«

Hawkwood dachte kurz über diese Information nach, ehe er weiterfragte: »Ich nehme an, Sie haben sich bei Mr. Knibbs erkundigt, wo Master Woodburn stecken könnte?«

»Ja, natürlich. Er hat mir gesagt, der Master habe zur gewohnten Stunde die Werkstatt verlassen. Kurz nach halb sechs, wie immer.«

»Ist er allein weggegangen?«

»Mr. Knibbs hat mir versichert, er sei nicht in Begleitung gewesen.«

»Und wie kommt er gewöhnlich nach Hause? Mit der Kutsche?«

»Nein. Wenn es das Wetter zulässt, geht er zu Fuß. Der Master war … ist … sehr rüstig für sein Alter«, sagte der Diener und errötete wegen seines verbalen Ausrutschers.

Hawkwood ging nicht darauf ein, sondern fragte weiter: »Als Master Woodburn an jenem Morgen das Haus verließ, hat er da Ihnen gegenüber angedeutet, dass er sich mit jemandem treffen wolle?«

Der Diener versteifte sich. »Es gehört nicht zu den Gewohnheiten des Masters, mit den Mitgliedern des Haushalts über seine Verabredungen zu sprechen, Sir.«

Die gereizte Reaktion des Dieners erinnerte Hawkwood daran, dass trotz der Sorge um ihren Arbeitgeber und die offensichtliche Zuneigung für dessen Enkelin die Hobbs letztendlich nicht zur Familie gehörten, sondern nur Diener waren. Und Dienstboten kannten mehr als andere ihren Platz.

»Trotzdem könnten Sie zufällig etwas gehört haben.«

Mr. Hobbs Gesichtsausdruck machte Hawkwood klar, dass ihm nochmals ein unverzeihlicher Fehler unterlaufen war. Genauso gut hätte er einen Priester bitten können, das Beichtgeheimnis zu verletzen. Aber Hawkwood wusste, dass Dienstboten kaum etwas verborgen blieb, was im Umfeld ihrer Herrschaft vor sich ging, und sie Gesprächsfetzen und Gerüchte aufschnappten, die wertvolle Hinweise enthalten konnten. Von den Hobbs hingegen waren offensichtlich keine Enthüllungen zu erwarten. Sie zeigten sich nur zutiefst besorgt über das Verschwinden ihres Dienstherrn.

Von der Werkstatt aus war Luther Hobb direkt nach Hause gegangen und hatte gehofft, seinen Herrn dort anzutreffen. Da dies nicht der Fall gewesen war, hatte er sich sofort auf den Weg zur Bow Street gemacht und Woodburn bei Officer Warlock als vermisst gemeldet. Der Runner hatte den Diener in das Wohnhaus am Strand begleitet. Mittlerweile war es acht Uhr abends geworden, und der gesamte Haushalt war wegen der verständlichen Besorgnis um den Verbleib des Hausherrn ziemlich in Aufruhr gewesen.

»Als Officer Warlock wieder gegangen ist, hat er Ihnen da mitgeteilt, welche Schritte er zu unternehmen gedachte?«

»Er hat uns nur gesagt, dass er selbst in der Werkstatt nachfragen werde.«

»Aber da war es doch schon spät und die Werkstatt geschlossen.«

»Ich dachte, er würde am nächsten Morgen hingehen.«

»Und da haben Sie Officer Warlock das letzte Mal gesehen?«

Der Diener nickte nur.

»Kam es Ihnen nicht merkwürdig vor, dass Sie seitdem von Officer Warlock nichts mehr gehört haben?«

»Um ehrlich zu sein, Mr. Hawkwood, wir haben uns schon gewundert«, murmelte Luther Hobb sichtlich verlegen.

»Und Sie haben nichts unternommen?«

»Wir dachten, das stehe uns nicht zu.«

Hawkwood fluchte zwar stumm, konnte aber die Zurückhaltung der Hobbs verstehen. Es gehörte sich für Dienstboten einfach nicht, die Arbeit der Polizei in Frage zu stellen. Ihre Aufgabe bestand darin, ihren Pflichten nachzukommen, ohne das Verhalten ihrer Herrschaft infrage zu stellen.

Hawkwood nagte an seiner Unterlippe. Mit jeder Minute wurde die Spur kälter. Die Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims deuteten auf halb fünf. Und er musste sich mit Lomax in den Four Swans treffen.

Aber in die Red Lion Street in Clerkenwell war es nicht weit. Vielleicht konnte er auf seinem Weg dorthin zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.


Hawkwood grübelte, wie alt Isadore Knibbs wohl war. Seine Gesichtshaut ähnelte Pergament, aber er hatte die funkelnden wachen Augen einer Krähe. Er war sehr klein, und seine Hände waren schmal und zierlich wie die eines Kindes. Nur die unter der Haut sichtbaren Adern verrieten sein Alter. Für einen Mann in fortgeschrittenen Jahren waren seine Finger erstaunlich geschmeidig. Außer schwindender Sehkraft muss Arthritis für einen Uhrmacher die schlimmste Krankheit sein, überlegte Hawkwood.

Josiah Woodburn beschäftigte fünf Gesellen, von denen Isadore Knibbs der älteste war. Hinzu kamen zwei Lehrlinge, mehr waren laut Reglement der Uhrmacher-Zunft nicht erlaubt. Es gebe Wege, diese Regel zu umgehen, vertraute Mr. Knibbs Hawkwood an, während er ihn durch die fünf Räume der Werkstatt mit Blick auf einen Hof an der Ecke Red Lion Street und George Court führte. Aber dies sei für einen Josiah Woodburn, Uhrmachermeister von untadeligem Ruf, undenkbar.

»Vierzig Jahre arbeite ich jetzt schon für Master Woodburn«, erzählte der Geselle stolz, »und für mich gibt es keinen besseren Menschen. Er lässt mich sogar meine eigenen Werke signieren. Das erlauben nicht viele Uhrmacher.«

Eine seltene Ehre, tatsächlich. Uhrmachergesellen durften gewöhnlich weder selbstständig arbeiten noch ihre Stücke signieren, auch wenn der Meister bei der Fertigstellung des Instruments nie Hand angelegt hatte. In dieser Hinsicht war Josiah Woodburn wirklich ein außergewöhnlich großzügiger Arbeitgeber, für dessen Abwesenheit auch Mr. Knibbs keine logische Erklärung hatte. Der Geselle tappte wie die Hobbs im Dunkeln und war ebenso besorgt. Er bestätigte, dass Master Woodburn die Werkstatt zur gewohnten Zeit verlassen habe und seitdem von niemandem mehr gesehen worden sei. Ohne zu zögern willigte er ein, als Hawkwood ihn bat, die Werkstatt besichtigen und die Angestellten befragen zu dürfen.

Das Haus sei in fünf Werkräume unterteilt, in denen die verschiedenen Arbeiten ausgeführt werden, erklärte Mr. Knibbs, als er Hawkwood durch die Tischlerei führte. Er wies auf eine Reihe leerer Gehäuse, die wie aufgestellte Särge an der Wand lehnten. Nur das beste Holz werde verwendet: Kiefer und honduranisches Mahagoni für das Gehäuse, Eiche für Vorderseite und Sockel, englisches Walnussholz für das Furnier. An einem Sägebock stand ein Schreiner knöcheltief in Sägemehl und Hobelspänen. In der Luft hing der Geruch von Leim und frisch gehobeltem Holz.

Durch einen Bogen gelangten die beiden in den angrenzenden Werkraum. Auf mehreren Arbeitsbänken verstreut lagen die Innereien von Uhren, als wäre ein mechanisches Objekt ausgeweidet worden. An den Wänden hing ein kunterbunter Wirrwarr von grafischen Darstellungen und detailgetreuen Zeichnungen von Zahnrädern, Scheiben, Ringen und Perpendikeln.

Nicht alle Uhrenteile würden in der eigenen Werkstatt hergestellt, vertraute Mr. Knibbs Hawkwood an. Fertigteile, wie Federn, Spandrillen, Scheiben und Uhrendeckel, wurden gekauft. Obwohl Uhrmacher auch Messing gießen und bearbeiten könnten, sei es bequemer, diese Artikel von einem Messinggießer zu kaufen. Natürlich könne man auch vorgefertigte Gehwerke einsetzen, erklärte Mr. Knibbs verächtlich, doch Master Woodburn gehöre zum Glück der alten Schule an. Er lege Wert darauf, dass alle Uhrenteile in seiner Werkstatt zusammengesetzt würden, um die Qualitätskontrolle des fertigen Werks zu garantieren.

Bis auf die Tischlerei herrschte in allen Räumen Ruhe. Voll konzentriert saßen die Gesellen mit gesenkten Köpfen an ihren Werkstücken. Zwei Männer blickten kurz auf, als Hawkwood den Raum durchquerte. Die beiden Lehrlinge waren etwa dreizehn und vierzehn Jahre alt und erst seit ein paar Monaten in der Ausbildung.

In der hintersten Ecke eines Raums kehrte ein pickeliger Junge Metallspäne auf ein Holzblech. Er war spindeldürr und sein teerfarbener Haarschopf sah aus, als hätte jemand mit einer stumpfen Gartenschere daran herumgeschnipselt. Hawkwood fiel auf, dass der Junge beim Gehen das linke Bein nachzog. Als hätte der junge Mann gespürt, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf, sah Hawkwood kurz mit leerem Ausdruck an und kehrte dann weiter. Die untere Gesichtshälfte war deformiert, als wäre der Kiefer ausgerenkt und wieder schief eingesetzt worden. Das ist wohl Mr. Knibbs’ Neffe, dachte Hawkwood.

Beim Anblick der in die Arbeit vertieften Männer kam Hawkwood ein Gedanke und er fragte Isadore Knibbs, ob in letzter Zeit jemand entlassen worden sei. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ein rachsüchtiger ehemaliger Angestellter etwas mit Woodburns Verschwinden zu tun haben könnte. Doch Isadore Knibbs verwarf diesen Gedanken sofort. Jeder Mitarbeiter – mit Ausnahme der Lehrlinge – arbeite seit mindestens zehn Jahren für Master Woodburn. Ihre Loyalität stehe außer Frage.

Und keiner der Männer konnte sich Master Woodburns Verschwinden erklären.

Dann fragte Hawkwood Mr. Knibbs, ob ihm eine Veränderung im Verhalten des Uhrmachermeisters aufgefallen sei.

»Wollen Sie damit andeuten, der Master habe … habe sich etwas angetan?«, fragte der Geselle entsetzt.

»Nein, Mr. Knibbs. Ich muss nur alle Eventualitäten in Betracht ziehen.«

Als der Geselle ihn verständnislos ansah, seufzte Hawkwood. »Mr. Knibbs, ich weiß aus Erfahrung, dass es für das Verschwinden von Menschen eine Vielzahl von Gründen gibt. Es kommt vor, dass jemand sein bisheriges Leben einfach hinter sich lassen will, einen Unfall hat oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer fällt. Was ich bisher über Mr.Woodburn von Ihnen und seinen Dienstboten erfahren habe, schließt wohl die erste Möglichkeit aus. Nichts deutet darauf hin, dass Ihr Master freiwillig verschwunden ist. Deshalb schließe ich einen Selbstmord aus. Ich will Sie nicht schockieren, Mr. Knibbs, aber es passiert ziemlich häufig, dass selbst vornehme Gentlemen wegen zehn Pfund Schulden oder einer billigen Hure den Freitod wählen.«

Isadore Knibbs sah aus, als hätte er gerade saure Milch getrunken.

»Damit wären wir bei einer ziemlich unangenehmen Vorstellung, Mr. Knibbs.«

»Aber irgendjemand muss doch was gesehen haben!«, platzte der Geselle heraus. »Der Master hat sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst!«

Hawkwood wollte Isadore Knibbs gerade darüber unterrichten, dass ständig Menschen verschwänden und irgendwann mit einem Messer im Rücken in einer dunklen Gasse oder mit aufgeblähtem Leib im Uferschlamm wieder auftauchten, als er von einer nervös stotternden Stimme in seinem Rücken daran gehindert wurde. »Ich … ha … habe den Master ge … gesehen.«

Hawkwood und Isadore Knibbs drehten sich gleichzeitig um. Sichtlich ungehalten sagte der Geselle: »Jacob, was Officer Hawkwood und ich zu besprechen haben, geht dich nichts an.« Entschuldigend fügte der alte Mann hinzu: »Er ist der Sohn meiner Schwester. Er hat es nicht böse gemeint.« Dann klatschte Mr. Knibbs in die Hände. »Na los Junge. Fort mit dir! Es gibt Arbeit für dich.«

Aus der Nähe betrachtet, ähnelte Quigley mit seinem eckigen Körper, dem widerspenstigen Haarschopf und seinem deformierten Fuß einer Gespenstheuschrecke. Sein Kinn war schief, weil die unteren Schneidezähne wie krumme gelbe Hauer aus seinem Kiefer ragten. Es war schwierig, Quigleys Alter zu schätzen, irgendwo zwischen fünfzehn und zwanzig. Was darauf schließen ließ, dass Isadore Knibbs mindestens zwanzig Jahre älter als seine Schwester war.

»Na los, Jacob!«, wiederholte Knibbs und drohte mit dem Zeigefinger. »Ich sag’s nicht noch einmal. Mach dich wieder an die Arbeit. Sei ein braver Junge.«

»Aber ich ha … habe ihn gesehen, Onkel Izzi. Ich ha … habe Master Woodburn gesehen«, stammelte der Junge und umklammerte den Besenstiel fester. Er hatte völlig abgekaute Fingernägel.

Isadore Knibbs tätschelte den Arm seines Neffen. »Stimmt, Jacob. Du hast den Master gesehen. Aber belästige jetzt Mr. Hawkwood nicht weiter. Er hat Wichtigeres zu tun. Bitte, entschuldigen Sie, Mr. Hawkwood. Achten Sie einfach nicht auf ihn. Er ist ein guter Junge, nur manchmal etwas verwirrt. Meine Schwester hat ihn erst spät bekommen«, fügte er hinzu, als wäre das eine ausreichende Erklärung für Quigleys Behinderung.

»Ich ha … hab’s dem anderen Gentleman gesagt und dafür einen P … Penny bekommen.« Die leeren Augen des Jungen leuchteten kurz vor Aufregung.

Jetzt war Isadore Knibbs sichtlich verwirrt und betrachtete seinen Neffen erstaunt. »Mit welchem anderen Gentleman hast du gesprochen, Jacob?«

In Hawkwood stieg ein Hoffnungsschimmer auf.

»Er hat mich gefragt, ob ich Master Woodburn gesehen habe. Und ich habe gesagt, ja, ich hab ihn gesehen. Da hat er mir einen Penny geschenkt.«

Hawkwood und Isadore Knibbs schauten zu, wie Jacob Quigley mit heraushängender Zunge in seine Hosentasche griff und dann mit einem triumphierenden Grinsen eine Münze hochhielt. »S … siehst du! Ich hab den Penny noch nicht ausgegeben. Den heb ich mir auf«, flüsterte er verschwörerisch.

»Hör mal Jacob«, sagte Hawkwood und griff in seine Rocktasche. »Ich gebe dir noch einen Penny, wenn du mir verrätst, wer dieser Gentleman war.«

Der Junge starrte die Münze mit gierigem Blick an.

»Wer war der Mann, Jacob?«, drängte Hawkwood sanft. »Wer hat dir den Penny gegeben?«

Plötzlich änderte sich die Miene des Jungen, er starrte mit leerem Blick zu Boden und weigerte sich, Hawkwood anzusehen.

»Was ist denn, Jacob?«, wollte Isadore Knibbs wissen. »Was hast du?«

Quigley schüttelte heftig den Kopf, als wollte er seine wirren Gedanken ordnen. »Ich soll doch niemanden reinlassen«, platzte er dann heraus.

Hawkwood begriff, dass damit die Werkstatt gemeint war.

»Jacob, wann war das?«, fragte er.

Jacob wich ängstlich zurück.

»Ist schon gut, mein Junge«, beruhigte ihn Isadore Knibbs.

»Niemand wird dich bestrafen.«

»Es war schon dunkel«, stammelte Jacob Quigley. Seine Unterlippe zitterte.

»Wann, Jacob? Wann war das?«, hakte Hawkwood mit mühsam unterdrückter Ungeduld nach. Er wollte den Jungen nicht noch mehr einschüchtern.

»Das war, als M … Mr. Hobb zu Onkel Izzi gekommen ist.«

Hawkwoods Puls schlug schneller. Er sah Isadore Knibbs an und fragte: »Wann sind Sie an jenem Abend gegangen?«

»Um Viertel vor neun. Daran kann ich mich genau erinnern, weil ich meine Taschenuhr mit der Uhr eines Kunden verglichen habe. Eine gewölbte Laternen-Uhr war es, die am nächsten Morgen abgeholt werden sollte. Ich wollte überprüfen, ob sie genau geht.«

»Dieser Gentleman, Jacob«, wandte sich Hawkwood wieder dem Jungen zu. »Wie hat er ausgesehen?«

Als Jacob ihn nur verwirrt ansah, versuchte Hawkwood es noch einmal. »War es ein großer Mann? Oder ein kleiner? War er dünn oder dick?«

Jacob nagte an seiner Unterlippe. »Er wollte, dass i … ich ihn reinlasse. Ich hab ihm gesagt, dass ich niemandem aufmachen darf. M … Master Woodburns und Onkel Izzis Anweisung. Ich hab ihm gesagt, er soll weggehen. Ja, das hab ich. Aber er hat gesagt, ich müsse ihn reinlassen, weil er Polizist ist.«

Es fiel Hawkwood schwer, seine Aufregung zu verbergen.

»Er hat mir s … seinen Stock ge … gezeigt«, stammelte der Junge und sah seinen Onkel unglücklich an.

»Seinen Stock?«, fragte Isadore Knibbs sichtlich verwirrt.

Hawkwood griff unter seinen Rock und zog seinen schwarzen Schlagstock heraus. »War es ein Stock wie dieser, Jacob?«

Der Junge machte große Augen und nickte heftig.

Warlock hat also nicht bis zum nächsten Morgen gewartet, dachte Hawkwood, sondern ist nach der Befragung der Hobbs noch am selben Abend in die Werkstatt gegangen.

»1st schon gut, Jacob«, sagte Isadore Knibbs. »Du hast das Richtige getan.«

Der Junge war so erleichtert, dass es plötzlich wie ein Wasserfall aus ihm heraussprudelte: »Er wollte wissen, ob ich den Master gesehen habe. Er hat mir gesagt, dass der Master nicht nach Hause gekommen sei und sich alle Sorgen um ihn machen. Ich hab ihm gesagt, ich hätte den Master gesehen, und niemand müsse sich Sorgen machen.«

»Na, natürlich hast du den Master gesehen, Jacob. Er war doch den ganzen Tag hier bei uns.«

»Das weiß ich, Onkel Izzi. Aber ich hab ihn nachher noch einmal ge … gesehen.«

Isadore Knibbs seufzte. »Ich glaube nicht, dass er versteht, worum es geht, Mr. Hawkwood. Wie gesagt, manchmal bringt er alles durcheinander.«

Hawkwood fixierte den Jungen. »Wo hast du denn den Master gesehen, Jacob?«

»In einer Kutsche ist er gefahren. Wie ein richtiger, feiner Herr.«

»In einer Kutsche?« Hawkwood runzelte die Stirn. Luther Hobb, der Diener, hatte ihm erzählt, dass der Uhrmachermeister lieber zu Fuß gehe und nur bei schlechtem Wetter eine Kutsche nehme. An jenem Abend war es jedoch trocken und mild gewesen.

»Saß der Master allein in der Kutsche, oder war jemand bei ihm?«

»Hab niemanden gesehen.«

Was nicht unbedingt hieß, dass der alte Mann allein gewesen war, sondern nur, dass der Junge außer ihm niemanden gesehen hatte. »Beschreib mir die Kutsche Jacob. Wie hat sie ausgesehen?«

Da leuchteten die Augen des Jungen auf. »Eine elegante Kutsche war es. Von zwei großen schwarzen Pferden gezogen. Schön waren die. Ihr Fell hat geglänzt und so.«

Damit kann ich wenig anfangen, dachte Hawkwood verzweifelt. Diese Beschreibung passt auf die meisten Kaleschen in London.

»Da war auch noch ein Drache«, fügte Jacob Quigley leise, beinahe ehrfürchtig hinzu.

Hawkwood glaubte, sich verhört zu haben. »Ein Drache?«, wiederholte er und sah Isadore Knibbs um Unterstützung heischend an. Er erntete jedoch nur einen verständnislosen Blick.

»Was für ein Drache, Jacob?«

»So einer, wie ich ihn dem anderen Gentleman gezeigt habe.«

Damit meint er wohl Warlock, dachte Hawkwood. »Was hast du ihm gezeigt, Jacob?«

»Den Drachen.«

»Was für einen Drachen?«, wiederholte Hawkwood die Frage möglichst ruhig, obwohl er den Jungen am liebsten an den Schultern gepackt und heftig geschüttelt hätte.

»Es war derselbe wie der andere.«

»Der andere?«

»Der andere Drache, natürlich!«

Hawkwood wollte am liebsten frustriert aufschreien. Es kam ihm vor, als müsste er dem Jungen die Zähne einzeln ziehen.

Er war völlig unvorbereitet auf das, was als Nächstes geschah. Jacob Quigley warf den Besen beiseite, stürzte auf Hawkwood zu und packte ihn am Handgelenk.

»Jacob!«, rief der alte Mann vor Schreck so laut, dass die Arbeiter aufblickten und mit offenem Mund das Geschehen verfolgten.

Normalerweise hätte Hawkwood diesen Angriff sofort mit einem Abwehrschlag gekontert, doch ein sechster Sinn versicherte ihm, dass Jacob Quigley nicht in böser Absicht handelte, sondern nur Aufmerksamkeit erregen wollte. Der Junge ist ebenso frustriert wie ich, wurde Hawkwood klar. Er will mir etwas Wichtiges mitteilen, aber was?

Hawkwood war erstaunt, wie viel Kraft der Junge hatte. Es hätte ihn einige Mühe gekostet, sich aus diesem Griff zu befreien. Völlig perplex ließ er sich durch die Werkstatt ziehen. Isadore Knibbs fasste sich schnell und folgte den beiden.

Schwer atmend zog Jakob den deformierten Fuß hinter sich her und zerrte Hawkwood durch einen Türbogen in ein Lager. In Regalen und auf dem Boden lagen und standen Zeitmesser in jeder nur erdenklichen Gestalt und Größe: Laternen-Uhren, Standuhren, Wirtshaus-Uhren, Wasseruhren, Wanduhren und Barometer.

Dann blieb Jacob Quigley abrupt stehen, drehte sich um und deutete aufgeregt zu den Wanduhren.

»Was willst du mir damit sagen, Jacob?«, fragte Hawkwood ratlos. Und auch Isadore Knibbs schüttelte nur den Kopf und warf die Hände hilflos nach oben.

Jacob Quigley zerrte Hawkwood vor eine der Uhren und deutete wieder darauf.

Die Standuhr war etwa zweieinhalb Meter hoch, das Eichengehäuse mit Mahagoni- und Muschelintarsien verziert. Arabische Ziffern und zwei kunstvoll geschmiedete Messingzeiger schmückten das dreißig Zentimeter breite, weiße Ziffernblatt. Ein Exemplar vollendeter Handwerkskunst.

»Ist es die Zeit, die du mir zeigen willst, Jacob?«

Die Zeiger standen auf Viertel vor sechs.

»Hast du Master Woodburn um Viertel vor sechs gesehen?«

Der Junge schüttelte den Kopf, ließ Hawkwoods Handgelenk los und humpelte zur Uhr. Dort streckte er den Arm hoch, deutete auf das Gehäuse und sagte: »Drachen! Sehen Sie den Drachen?«

Da fiel es Hawkwood wie Schuppen von den Augen. Er fluchte stumm über seine Dummheit, weil er so begriffsstutzig gewesen war. Nicht die Zeit hatte Jacob ihm zeigen wollen, sondern die Gravur auf dem Gehäuse. Ein Wappen, an einer Seite von einem Bär und an der anderen von einem Drachen umrahmt. Auf dem Familienwappen waren noch ein Schiff, zwei gekreuzte Schwerter und ein kunstvolles Blattmotiv dargestellt. Irgendwie kam Hawkwood dieses Wappen bekannt vor.

Jacob Quigley beobachtete grinsend, wie Hawkwood allmählich ein Licht aufging.

»Jetzt verstehe ich, Jacob«, sagte Hawkwood. »Und dieses Wappen hast du auch dem anderen Gentleman gezeigt?«

Der Junge nickte. »Das war an der Tür.«

»An der Tür der Kutsche?«

Wieder nickte Jacob heftig.

Halleluja!, dachte Hawkwood und sagte: »Gut gemacht, Jacob. Du hast dir deinen Penny verdient.« Er drückte ihm die Münze in die Hand. »Mr. Knibbs, erzählen Sie mir etwas über diese Uhr.«

»Die da? Ähm … das ist ein acht Tage …«

»Das verdammte Uhrwerk interessiert mich nicht! Ich will wissen, für wen sie angefertigt wurde. Das ist doch ein Auftragswerk, nicht wahr?«

»Ja.«

»Für wen?«

Isadore Knibbs zuckte bei Hawkwoods aggressivem Ton zusammen.

»Na los, Mann. Raus damit!«

Doch da kannte Hawkwood bereits die Antwort auf seine Frage.

Am Abend des Balls hatte er dieses Wappen an den Türen und auf den Livreen der Lakaien gesehen. Wie hatte er das nur vergessen können?

Das Familienwappen der Mandrakes zierte die Standuhr.

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