19

Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Corporal«, sagte Jago aufgebracht. »Entweder Sie holen den Obersten Richter hierher, oder Sie bringen mich zu ihm. Und wenn das nicht sofort passiert, reiße ich Ihnen den Arsch auf und suche den Richter selbst. Na, wie hätten Sie’s denn gern?«

Der Maat umklammerte seine Flinte und schluckte nervös. Ein wütender Jago war ein furchteinflößender Anblick. Der Corporal hatte Jago an der Treppe zum Kai der Marinewerft den Zutritt verwehrt. So lautete sein Befehl.

»Das geht nicht. Sie sind nicht autorisiert, das Gelände zu betreten«, entgegnete der Corporal, mühsam nach Worten ringend.

Da griff Jago unter seine Jacke und zog Hawkwoods Schlagstock hervor. »Mehr als diese Genehmigung brauche ich nicht, Kleiner. Also, zieh deinen Schwanz wieder ein, und auf geht’s. Aber dalli, dalli!«

Der Corporal musterte Jago jetzt unsicher.

»Na, wird’s bald?«

Der Corporal betrachtete den Schlagstock eingehend, erkannte die königliche Krone darauf und ließ den Blick wieder zu Jagos unheilverkündendem Gesicht wandern. Dann sah er sich vorsichtig um, zögerte, bis er endlich seine Flinte schulterte und sagte: »Na, besser Sie kommen mit.«

Das prächtige Kriegsschiff präsentierte sich in vollem Glanz. Der Rumpf des Zweideckers war senfgelb gestrichen, die oberen Schandeckel und die Schießscharten der Kanonen pechschwarz. Eine Flottille kleiner Boote umschwirrte das Schiff wie Arbeitsbienen ihre Königin.

Kutter, Prahme, Pinassen, Skiffe und Leichter brachten Ausrüstungsgegenstände und Proviant zum Schiff, während die Offiziere und Mannschaften von Segelyachten, Jollen und Gigs an Bord gingen.

Am Heck prangte stolz ihr Name: Thetis.

Auf der Werft herrschte ein Betrieb wie in einem Gewerbegebiet. Innerhalb der dicken Schutzmauern gab es Werkstätten aller Art, und hier fand man sämtliche Rohmaterialien, die für den Erhalt der britischen Vorherrschaft auf See nötig waren. Hier wurden Schiffe gebaut und vom Stapel gelassen; es gab Flutbecken und Trockendocks, Mastschuppen, Bootsteiche, Sägewerke, Holzplätze, Teer- und Wergschuppen, Segelmacherwerkstätten, Takler, Seiler, Eisen- und Kupferschmiede und andere Handwerksbetriebe.

Zur Werft gehörte ebenfalls ein riesiger Viktualienmarkt. Wäre in der Hauptstadt plötzlich eine Seuche ausgebrochen, so hätten alle Arbeiter und Ansässigen der Marinewerft hinter verriegelten Toren überleben können. Denn die Werft war auf keine Hilfe von außen angewiesen und konnte sich selbst versorgen. Neben Kühlhäusern waren in Deptford eine Bäckerei, eine Brauerei, eine Böttcherei und ein Schlachthof vorhanden – kurzum, die Werft verfügte über die Infrastruktur einer kleinen Stadt. Das war nicht nur an dem Lärm zu erkennen, der über den Fluss hallte, sondern auch an den Gerüchen. Unter die Wohlgerüche nach frischen Backwaren und gärendem Hopfen mischten sich auch der ätzende Dunst kochenden Teers, der Gestank von Tierexkrementen, ungegerbten Tierhäuten, frischem Blut und Innereien.

James Read stand am Kai, eine Hand auf seinen Spazierstock gestützt, und beobachtete das hektische Treiben auf der Werft.

»Wird sie einer Prüfung standhalten? Was glauben Sie?«, fragte der Mann an seiner Seite.

Kommissar Ezekiel Dryden war ein großer, schlaksiger Mann mit schweren Lidern und einer legeren Haltung, die den Eindruck erweckte, sein Leben bestehe nur aus Müßiggang. Dryden war jedoch früher Kapitän zur See und Kommandant mehrerer Kriegsschiffe gewesen, wie die meisten Werft-Kommissare. Jetzt war er für die Werften in Deptford und Woolwich verantwortlich. Somit unterstand er direkt dem Marineministerium.

James Read sagte nachdenklich: »Es muss klappen. Ich furchte nur, die Zeit läuft gegen uns.«

Als der Oberste Richter zwei Männer – einen Marineoffizier und einen Zivilisten – über den Kai näher kommen sah, bekam er Herzklopfen.

Der Offizier blieb vor ihm stehen und salutierte. »Verzeihung, Euer Ehren …« Und weiter kam er nicht, denn James Read hob die Hand und gebot zu schweigen.

»Danke, Corporal. Sie dürfen sich entfernen.«

Überrascht über diese knappe Aufforderung, wegzutreten, sah der Offizier Dryden um Unterstützung heischend an. Als jedoch keine kam, warf er Jago einen verwirrten, aber respektvollen Blick zu.

»Lassen Sie sich nicht aufhalten, Corporal«, bekräftigte der Kommissar trocken James Reads Worte.

»Ja, Sir. Sehr wohl, Sir«, besann sich der Offizier auf seine militärische Disziplin. Er unterdrückte seine Neugier, salutierte wieder, schulterte seine Flinte und machte auf dem Absatz kehrt.

Der Oberste Richter vergeudete keine Zeit, sondern kam sofort zur Sache. »Gibt es Neuigkeiten, Sergeant?«

Jago nickte. »Ja, aber leider keine guten.«

»Reden Sie.«

Richter Read und Kommissar Dryden hörten schweigend zu, als Jago berichtete, wie er in Mandrakes Lagerhaus eingedrungen war und was er dort vorgefunden hatte. Der Oberste Richter war zutiefst erschüttert, als er erfuhr, dass der Uhrmacher ermordet worden war.

»Großer Gott!« Auch Dryden, diesen kampferprobten Offizier, schockierte dieser brutale Mord an Josiah Woodburn.

»Was ist mit Officer Hawkwood?«, fragte der Richter. »Sie haben keine Spur von ihm entdeckt?«

Jago schüttelte den Kopf. »Nein, es ist, als hätte ihn der Erdboden verschluckt. Ich nehme an, diese Halunken haben ihn mitgenommen.«

»Wohin?«, hakte James Read nach.

»An Bord.«

Der Richter sah Jago entgeistert an. »An Bord? Wollen Sie damit sagen, er ist in diesem Unterseeboot?«

»Ich schätze, ja.«

»Großer Gott!«, sagte Kommissar Dryden wieder.

Auf der anderen Seite der Mauer zwischen Werft und Viktualienmarkt muhten Kühe und Schweine grunzten und quiekten. Gerade war ein Viehtransport aus Smithfield eingetroffen. Der helle Klang eines Hammers, der auf einen Amboss aufschlug, war ebenso zu hören wie eine Litanei wüster Beschimpfungen. Mit schneidender Stimme stauchte ein Mann einen Handwerker wegen einer verpfuschten Arbeit zusammen. Das Leben auf der Werft ging weiter.

»Und Sie haben tatsächlich gesehen, wie das Unterseeboot abtauchte?«, fragte der Richter eindringlich.

Jago zögerte kurz. »Absolut sicher bin ich mir nicht. Ich habe das Boot gesehen, und eine Sekunde später hatte es sich in Luft aufgelöst. Und Sparrow mit ihm. Es hätte auch ein verdammtes Fass gewesen sein können, das da untergegangen ist. Vielleicht haben die beiden Mistschaufler auch etwas anderes gesehen. Wenn es jedoch dieses Unterseeboot war, von dem Sie berichtet haben, dann ist es noch immer da draußen …«

Jago deutete mit dem Kopf zum Fluss. »Irgendwo.«

Jetzt starrten die drei Männer ziemlich ratlos über das Wasser, das ihnen plötzlich tiefer, dunkler und bedrohlicher erschien als noch vor ein paar Minuten.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jago.

Der Oberste Richter schwieg, und Kommissar Dryden betrachtete nachdenklich seine Schuhe. Jago gefiel nicht, dass die beiden Männer seinem Blick auswichen. »Wir müssen dieses verdammte Ding aufhalten! Was ist mit dem Captain? Was unternehmen wir seinetwegen?«

James Read starrte weiter über die Themse, als er endlich sagte: »Ich fürchte, Officer Hawkwood ist auf sich allein gestellt. Sollte er an Bord des Unterseeboots sein, können wir nur beten, dass sich ihm eine Gelegenheit bietet, die Aktion zu unterbinden und das Boot in seine Gewalt zu bringen. Wenn nicht, kann ihm niemand helfen.«

Jago fluchte leise. Diese Worte hatte er nicht hören wollen, obwohl er wusste, dass der Richter Recht hatte. »Und was ist mit der Thetis? Sie haben doch Abfangnetze ausgelegt und Patrouillenboote losgeschickt?«

James Read drehte sich langsam um und sagte mit unerwarteter Gelassenheit: »Nein, Sergeant. Wir haben weder Netze ausgelegt noch Patrouillenboote ausgesandt.«

Jago starrte den Richter entsetzt an. »Aber so ungeschützt ist sie dem Untergang geweiht!«

»Ja, das ist sie, Sergeant.«

Jagos Blick schweifte zu dem Schiff, er sah die Männer an Deck und die vielen Boote im Hafenbecken. »Oh, verdammt! Was zum Teufel geht hier vor?«

James Read folgte Jagos Blick, presste die Lippen zusammen und sagte dann: »Wir haben sozusagen ein Ausweichmanöver geplant. Sollte es Officer Hawkwood nicht gelingen, das Unterseeboot unter seine Kontrolle zu bringen, kann William Lee ungehindert das Schiff angreifen.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, rief Jago entsetzt.

»Ich meine es absolut ernst«, entgegnete James Read gelassen.

Jago starrte zuerst den Richter und dann den Kommissar an. »Das können Sie nicht zulassen. Sie müssen diesen Bastard aufhalten!« _

James Read hob seinen Spazierstock und deutete mit der Spitze in die Runde. »Sehen Sie sich um, Sergeant, und sagen Sie mir, was Sie sehen.«

»Was?« Jago blinzelte verständnislos. Er begriff nicht, wie der Richter so kühl und gefasst sein konnte.

»Sagen Sie mir, was Sie sehen«, wiederholte James Read ruhig.

Jago schüttelte frustriert den Kopf. Was geht hier vor, fragte er sich verzweifelt. Ein Wahnsinniger wird ein Schiff zerstören, unschuldige Männer werden sterben, und der Richter bittet mich, den Ausblick zu genießen.

Ja, was sollte er denn sehen?

An Land fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Wie auf jeder Werft herrschte hektisches Treiben. Er entdeckte mehr Marinesoldaten als zu erwarten auf einer Werft, auf der kein Marineposten stationiert war. Die hier Diensthabenden, wie der wachsame Corporal, waren wohl vorübergehend von Woolwich abkommandiert worden. Aber sonst entdeckte er nichts Ungewöhnliches.

Dann ließ er den Blick über das Hafenbecken schweifen. Da lag das neue Kriegsschiff neben einem abgetakelten, ausrangierten ehemaligen Kriegsschiff vor Anker, das als Unterkunft für Mannschaften, als Magazin oder Werkstatt diente. Der einzige verbliebene Mast mittschiffs diente als Mastkran. Damit wurden Maste auf neu gebaute Schiffe gehievt. Dieses Schiff war das Arbeitspferd der Werft. Es war in einem derart desolaten Zustand, dass es eher wie ein abgetakeltes Kohlenschiff als wie ein ehemaliges Kriegsschiff aussah.

Weiter flussabwärts lag wie bei allen Werften das Gefangenenschiff, ein ebenfalls ausgemustertes und abgetakeltes altes Segelschiff. Entlang der Schlammzone der Themse bis zur Mündung lagen viele solcher Schiffe, in denen die Marine ihre Kriegsgefangenen unterbrachte. Mit ihren Maststümpfen und der über die verrosteten Relings zum Trocken aufgehängten Wäsche und den fleckigen Laken boten diese Schiffe einen trostlosen Anblick. Geschäftstüchtige Bootsführer organisierten Ausflüge entlang dem Ufer, damit Neugierige den Gefangenen bei den Aushubarbeiten für neue Dockanlagen zusehen konnten.

Jagos Blick schweifte zur Thetis zurück. Auf Deck sah er nur ein paar Matrosen, eine kleine Mannschaft genügte, um das Schiff flussabwärts zu segeln. Am Heckrail stand eine Gruppe Offiziere, die an ihren dunkelblauen Röcken und den Zweispitzen zu erkennen waren. Auch daran fand Jago nichts ungewöhnlich. Bis auf die Beflaggung wies nichts auf den bevorstehenden Stapellauf des Kriegsschiffs hin. Denn es herrschte keine freudige Stimmung, weder an Land noch an Bord.

Aber die Arbeiter sind wohl an derartige Ereignisse gewöhnt und machen nicht viel Aufhebens davon, dachte Jago. Da richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gruppe an der Heckreling, und er entdeckte inmitten der Marineoffiziere eine imposante Gestalt mit breiter Schärpe, einem Degen an der Hüfte, die mächtige Brust mit Bändern, Orden und Troddeln geschmückt und einem weißen Federbusch auf dem Hut.

Jago gaffte mit offenem Mund. Jetzt war ihm klar, warum mehr Marinesoldaten als gewöhnlich in Deptford stationiert waren. Er drehte sich um und sagte zu James Read: »Allmächtiger Gott! Das ist der Prinzregent! Was hat der hier verloren? Sie sollten ihn doch dazu bewegen, nicht an Bord zu gehen.«

Der Oberste Richter schwieg. Nur seine Mundwinkel zuckten. Kommissar Dryden musterte wieder seine Schuhe.

In diesem Augenblick wurde Jagos Aufmerksamkeit von einem Platschen und einem lauten Schrei abgelenkt.

Ein Matrose eines Versorgungsboots war ins Wasser gefallen. Laut lachend und spottend zogen ihn seine Kameraden wieder an Bord. Dort lag er dann wie ein nasses Häufchen Elend auf Deck. Was dann jedoch passierte, raubte Jago schier den Atem. Einer der Marinesoldaten, die am Heck saßen, stieß dem Matrosen den Kolben seiner Flinte in den Rücken, während die anderen ihn lachend verhöhnten und beschimpften.

Es waren nicht der Schlag in den Rücken oder das Gelächter der Matrosen, das Jago verblüffte, sondern die Sprache. Zunächst glaubte er, sich verhört zu haben, bis ein Offizier in einem Ruderboot einen scharfen Befehl erteilte, worauf die Matrosen sofort verstummten.

In dem Ruderboot saßen etwa ein halbes Dutzend Offiziere und ein bewaffneter Marinesoldat. Als Jago näher hinsah, fiel ihm auf, dass mit dem Aussehen der Offiziere irgendetwas nicht stimmte.

Das Spektakel hatte die Aufmerksamkeit der Männer an Deck des Kriegsschiffs erregt. Ein paar standen jetzt an der Heckreling, und dann kam ein Aufschrei, als ein schwarzer Hut mit Federbusch über Bord fiel, gegen den Rumpf prallte und dann aufs Wasser klatschte. Ehe der Hut sinken konnte, fischte ihn jedoch einer der Männer in dem Versorgungsboot heraus und schwenkte ihn triumphierend. Der Hut hatte den Sturz nicht unbeschadet überstanden; die nassen Federn klebten am Rand. Bemerkenswert war jedoch, dass auf der einen Seite des Huts plötzlich ein breiter gelber Streifen zu sehen war.

Jago krampfte sich der Magen zusammen. Schnell schweifte sein Blick von dem Hut zum Deck des Kriegsschiffs hoch. Ohne Hut waren die Gesichtszüge der Gestalt dort deutlich zu erkennen. Jago war bis ins Mark erschüttert.

»Oh, verdammt!«

Jago drehte sich um und sah, dass der Oberste Richter und Kommissar Dryden ihn beobachteten.

Völlig durcheinander musterte Jago erneut die Soldaten in dem Ruderboot. Was war ihm an den Uniformen aufgefallen? Ja, besonders schick sahen sie nicht aus, eher etwas schmuddelig. Sie waren in einem Zustand, der diesem feierlichen Ereignis eigentlich nicht gerecht wurde. Hätte Jago es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, die Uniformen sahen aus, als stammten sie aus einer Klamottenkiste. Beim Stapellauf eines nagelneuen Kriegsschiffs hätte die Mannschaft doch in Paradeuniformen antreten müssen.

Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er musterte noch einmal das Schiff, die Männer an Bord, das Treiben auf den Kais, die Marinesoldaten. Und in welcher Sprache haben die Männer im Versorgungsboot ihren Kameraden verhöhnt, überlegte er wieder.

»Heilige Mutter Gottes!«, sagte Jago ehrfurchtsvoll. Dann starrte er James Read entsetzt an. »Sie sind wahnsinnig! Das funktioniert nie!«


William Lee fuhr prüfend mit der Hand über sein Kinn und betastete seine nachwachsenden Bartstoppeln. Was ihn mit Freude erfüllte. Ohne seinen Bart, den er seit über zehn Jahren trug, war er sich nackt vorgekommen. Jetzt, wo sich seine Mission dem Ende zuneigte und eine Verkleidung nicht mehr nötig war – Lord Mandrake hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ein französischer Aristokrat mit Haaren im Gesicht unmöglich aussehe –, konnte er sich wieder einen Bart wachsen lassen. Ihm schien, als erwarte er das Wiedersehen mit einem lange vermissten Freund.

Dann machte er sich daran, das Auge der Narwal auszufahren.

Das war seine eigene Erfindung und durch eine Schwachstelle in der Konstruktion des Unterseeboots unabdingbar gewesen. Damit das Ziel ständig beobachtet werden konnte, musste das Unterseeboot immer wieder auftauchen, was das Risiko, entdeckt zu werden, vergrößerte. Die Lösung dieses Problems fand Lee nach vielen Versuchen und Rückschlägen in der Konstruktion eines primitiven Periskops, das aus dem Kommandoturm ausgefahren und wieder eingezogen werden konnte.

Aus einer Entfernung von etwa achtzig Metern konnte er nun das Schiff beobachten und den Namen am Heck entziffern. Taue wurden an Bord gezogen und festgemacht. Die Flottille der Versorgungsboote zerstreute sich allmählich. Er sah die flatternden Wimpel und Fahnen deutlich und entdeckte schließlich, wonach er suchte: die Standarte des Prinzen von Wales. Der Prinzregent war also an Bord, wahrscheinlich stand er inmitten der Offiziere am Heck.

»Näher ran, Sparrow!«, befahl er.

Der Rumpf des Schiffs vor ihnen ragte gleich hohen Klippen breit und steil aus dem Wasser.

Lee senkte kurz den Blick und schaute auf seine Taschenuhr. Sein Mund wurde trocken.

Der Zeitpunkt war gekommen.

»Bring sie nach unten, Sparrow. Ganz sacht.«

Lee richtete die Ruder neu aus. Die Narwal bewegte sich langsam vorwärts.

Wieder zerrte Hawkwood in ohnmächtiger Wut an seinen Fesseln. Ein Strick gab etwas nach, aber nicht weit genug. Sparrow stand noch immer mit dem Rücken zu ihm an der Kurbel. Vorsichtig setzte sich Hawkwood auf und zog die Knie an die Brust.

»Ganz ruhig, Sparrow. Wir sind fast am Ziel«, flüsterte Lee heiser.

Sparrow hielt die Kurbel an. Lee regulierte noch immer mit sanfter Hand die Ruder. Das Boot schwamm mit der Strömung voran. Langsam schob sich ein schwarzer Schatten vor die Bullaugen und sperrte das fahle Licht aus. Die Narwal glitt unter den Bug des Kriegsschiffs.

Hawkwood überlief ein eiskalter Schauder. Bildete er es sich nur ein oder wurde es tatsächlich kälter in dem jetzt dunklen Innenraum? Er hörte das kratzende Geräusch eines Feuersteins. Ein orangefarbenes Licht flackerte auf. Lee hatte die Laterne angezündet.

Dann spürte er einen Aufprall und vernahm ein scharrendes Geräusch. Der Kommandoturm des Unterseeboots war an den Kiel des Kriegsschiffs gestoßen.

Auf dieses Signal hatte Lee gewartet.

Er hängte die Laterne an eine Strebe und beeilte sich, denn es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Die Thetis würde jeden Augenblick auslaufen, und es war unmöglich, das Horn in den Kiel eines sich bewegenden Schiffs zu treiben. Lee nahm zwei Werkzeuge von den Haken im Schott, einen kleinen Eisenhammer und ein dünnes, abgerundetes t-förmiges Stück Metall. Der Stiel des T sah wie ein Bohrer aus. Lee hob den Kopf und tastete mit den Fingerspitzen nach der Vertiefung am unteren Ende des Horns. Mit der linken Hand stützte er sich ab und bohrte das t-förmige Werkzeug hinein. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Bohrer feststeckte, griff er nach dem Hammer.

Mit vier festen Schlägen trieb er das mit Widerhaken versehene Horn in den Schiffsrumpf. Dann schraubte er den Bohrer aus dem Schaft des Horns, nahm aus seiner Tasche einen Wachsklumpen und versiegelte das kleine Loch. Als kein Wasser eindrang, setzte er sich zufrieden auf seinen Klapphocker.

Hawkwood staunte, wie leicht und schnell diese Operation durchgeführt worden war. Nur eine knappe Minute hatte sie gedauert.

»Alles bereit, Sparrow?« Lee beugte sich vor und löste die Arretierung an der vorderen Winde. »Nichts wie raus hier.«

Sparrow fing an zu kurbeln. Langsam, Zentimeter um Zentimeter bewegte sich die Narwal voran. Das Klicken der Winde war deutlich zu hören, als die Leine von der Winde durch den Schlitz im Horn zu dem Torpedo am Heck lief. Sobald das Boot aus dem Schatten unter dem Schiffsrumpf glitt, fiel wieder fahles Licht von der Wasseroberfläche in den Innenraum. Lee löschte die Laterne.

In diesen paar Sekunden, zwischen dem Erlöschen des Lichts in der Laterne und dem Einfällen des Tageslichts durch die Bullaugen, gelang es Hawkwood endlich, nach unten zu greifen und das Messer aus der Innenseite seines Stiefels zu ziehen.

Hawkwood hatte keine Ahnung, wie viel Zeit er hatte, bis sich der Torpedo aus seiner Verankerung lösen würde und auf sein Ziel zuschoss. Der Countdown bis zur Detonation hing von der Länge der Abzugsleine ab, und die rollte schnell von der Winde. Während er darüber nachdachte, verstrichen kostbare Sekunden. Da Lee und Sparrow jetzt mit dem Navigieren des Boots beschäftigt waren, hatte er nur diese eine Chance. Er drehte das Messer mühsam um und fing an, seine Fessel zu durchtrennen.

Sparrow drehte mit aller Kraft die Kurbel. Schweiß rann ihm über Gesicht und Oberkörper und tropfte auf den Boden.

Lee zählte leise, holte seine Taschenuhr hervor und warf einen Blick auf das Zifferblatt.

Die Narwal machte etwa zwei Knoten. Ungefähr sechzig Meter vom Schiff entfernt ging ein leichter Ruck durch das Boot. Auf diesen Augenblick hatte Lee gewartet. Die Leine war bis zum Ende von der Winde abgerollt und die Vorwärtsbewegung des Boots zerrte an dem Fass im Heck. Der Torpedo hatte sich vom Rumpf gelöst und schoss jetzt auf sein Ziel zu.

Zehn Sekunden später, als der Torpedo gegen den Kiel des Kriegsschiffs prallte und die Leine, die letzte Verbindung zur Narwal, abriss, ging wieder ein Ruck durch das Unterseeboot.

Lee klammerte sich ans Schott und schrie: »Festhalten, Sparrow!«

Endlich riss der Strick, Hawkwood drehte das Messer um, sprang auf und zielte mit der Klinge auf Sparrows Kehle.

In diesem Augenblick hörte er die Detonation. Der Torpedo war explodiert.

Загрузка...