11

Es war beinahe sechs Uhr, als Hawkwood beim Wirtshaus Four Swans ankam. Davor ging es zu wie in einem Taubenschlag, denn die Postkutsche war gerade angekommen. Passagiere stiegen aus, und überall im Hof verstreut lagen Gepäckstücke. Hawkwood drängte sich durch die Reisenden, und betrat den Schankraum.

Er entdeckte Lomax nicht sofort und fragte sich, ob der Exdragoner bereits wieder gegangen war. Dann winkte ihm aus einer nur schwach beleuchteten Nische in der hintersten Ecke des Raums eine dunkel gekleidete Gestalt zu.

»Schön, Sie zu sehen«, sagte Lomax zur Begrüßung und setzte sich wieder, als Hawkwood an den Tisch trat. Vor ihm standen ein Krug mit Ale und eine Schale mit den fettigen Resten eines Eintopfs. Daneben lagen Brotstücke und Butterstückchen auf einem Teller.

Lomax sah an Hawkwood vorbei und winkte einer Serviererin. »Was möchten Sie trinken?«

»Ich nehme auch ein Ale«, sagte Hawkwood.

Lomax achtete nicht darauf, wie das Mädchen ihn anstarrte, und bestellte das Bier. Mit der linken Hand nahm er ein Stück Brot, wischte damit die Soße aus der Schale, schob es in den Mund und kaute genießerisch.

»Hammel kann ich empfehlen, falls Sie etwas essen wollen«, sagte Lomax und leckte sich das Fett von den Fingern, ehe er sie an seiner Kniehose abwischte.

Die Serviererin brachte Hawkwood das Bier. Er trank einen großen Schluck. Die Kerze auf dem Tisch war bis auf einem Stummel niedergebrannt und so konnte er Lomax’ Gesicht nur undeutlich sehen. Ihm fiel jedoch auf, dass er mit der verstümmelten Seite zur Wand saß. Nur wenn er den Kopf drehte, erkannte man die schrecklichen Narben.

Fett tröpfelte über Lomax’ Kinn. Als er merkte, dass Hawkwood schnell den Blick abwandte, hob er die Hand und wischte sich völlig unbefangen mit dem Ärmel das Fett ab.

»Beim Rasieren muss ich höllisch aufpassen«, sagte der Exdragoner und grinste. »Mein Kinn ist völlig taub. Ich könnte mir die Kehle durchschneiden und würde es erst merken, wenn mir der Kopf runterfällt.«

Hawkwood konnte nicht anders, er musste lachen.

Lomax grinste schief, hob seinen Krug und prostete Hawkwood zu. »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?«

»Amen!«, sagte Hawkwood. Allmählich gefiel ihm Lomax’ Sinn für Humor.

Lomax stellte seinen Krug wieder ab und schob Schale und Teller beiseite. »Ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen, weil ich eine Information für Sie habe.«

Hawkwood trank einen Schluck Bier.

»Es betrifft unsere Straßenräuber. Sie sind doch noch hinter ihnen her, oder?«

»Ja, natürlich. Schießen Sie los.«

Lomax zögerte kurz. »Ehrlich gestanden, weiß ich nicht, ob es etwas zu bedeuten hat. Es ist mir auch erst nach unserem letzten Gespräch wieder eingefallen. Einer der Passagiere hat etwas erwähnt, worüber ich mir damals keine Gedanken gemacht habe. Aber jetzt, im Nachhinein, kommt es mir merkwürdig vor.«

»Und was war das?«

Wieder zögerte Lomax. »Haben Sie heute noch was Dringendes vor?«

Hawkwood dachte daran, dass er unbedingt mit Jago Kontakt aufnehmen müsse, aber das konnte warten, sollte Lomax tatsächlich einen wichtigen Hinweis haben. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Warum?«

Statt einer Antwort stand Lomax auf und warf eine Hand voll Münzen auf den Tisch. »Weil ich glaube, dass Sie und ich jemandem einen Besuch abstatten sollten.«

»Wem?«

»Dem Passagier, der diese Bemerkung fallen ließ, die mir wieder in den Sinn gekommen ist.«


Reverend Septimus Fludde erinnerte Hawkwood an die Geier Spaniens und Südamerikas. Diese hässlichen, kreischenden Kreaturen mit kahlen Hälsen und gekrümmten scharfen Schnäbeln. Reverend Fludde bewegte sich sogar wie ein langbeiniger Vogel. Er stakste steif umher und sah mit seinem Rundrücken aus, als wollte er jeden Augenblick die Arme ausbreiten und sich flatternd in die Lüfte erheben. Und das Gefieder des Reverends – seine schwarze, geistliche Kutte – unterstrich diesen Eindruck.

»Er ist ein streitsüchtiger alter Kerl, aber der einzige zuverlässige Zeuge«, hatte Lomax ihm auf dem Weg durch das Bishopsgate zu der baufälligen Kirche St. Jude erzählt.

»Was ist mit dem Kutscher und den anderen Passagieren?«, fragte Hawkwood.

Lomax schüttelte den Kopf. »Reine Zeitverschwendung. Der Kutscher hat sich nach dem Überfall ins Bett gelegt und ist nicht wieder aufgestanden. Er schwatzt nur noch dummes Zeug. Immerhin hat der arme Kerl mit ansehen müssen, wie vor seinen Augen zwei Männer getötet wurden. Kein Wunder, dass er wirr im Kopf geworden ist.«

»Und die anderen Passagiere?«

Lomax schnaubte verächtlich. »Ach, Sie meinen Richter Coverley und seine Gattin?«

»Ein Richter?«, fragte Hawkwood erstaunt.

»Berufsrichter, um präzise zu sein. Er ist der Vorsitzende eines Gerichts irgendwo in Gloucester. Haben Sie das nicht gewusst?«, fragte Lomax ebenso erstaunt.

Warum hat mich James Read nicht darüber informiert, als er mir die Ermittlungen für diesen Fall übertragen hat?, wunderte sich Hawkwood. Es erklärt allerdings, warum den Obersten Richter ausgerechnet dieser Überfall auf eine Kutsche derart empört hat. Wahrscheinlich hat Richter Coverley kraft seines Amtes die Bow Street unter Druck gesetzt, damit die Diebe gefasst werden und er den gestohlenen Schmuck zurückerhält. Wie praktisch, einflussreiche Freunde zu haben!, dachte Hawkwood zynisch.

»Er ist ein richtiger Scheißkerl«, sagte Lomax. »Und seine Frau ist nicht besser. Viel Wind, aber nichts dahinter. Außerdem hat sie ein Gesicht, bei dem die Milch sauer wird.« Lomax lachte glucksend. »Und das sage ausgerechnet ich. Jedenfalls waren die beiden auf der Rückreise von einer Hochzeit. Der Richter hat mir erzählt, er müsse wegen anstehender Gerichtstermine unverzüglich in seine Grafschaft zurückkehren. Mir tut der arme Kerl Leid, der als Nächster vor ihm steht. Seine Ehren hatte eine derartige Stinklaune, dass er ihn bestimmt zum Tod durch Erhängen verurteilt und ihm noch eigenhändig den Strick um den Hals legt.«

»Womit uns nur noch Reverend Fludde bleibt …«

»Ja«, stimmte Lomax zu. »Der spuckt zwar Feuer und Schwefel, aber wenn Sie mich fragen, so bellt er nur und beißt nicht.«

Letztendlich hatte der Reverend jedoch nur lautstark protestiert, weil ihn die beiden unerwünschten Besucher bei der Ausarbeitung seiner Sonntagspredigt störten. Die Haushälterin hatte Hawkwood und Lomax in das düstere Arbeitszimmer geführt.

Fludde saß an seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch und betrachtete die beiden Gesetzeshüter spöttisch über den Rand seiner Brille hinweg. »Sieh da, Officer Lomax! Haben Sie die Halunken geschnappt?«

»Leider noch nicht«, sagte Lomax.

Der strafende Blick des Geistlichen ließ keinen Zweifel, dass er eine andere Antwort erwartet hatte. Als würde er erst jetzt Hawkwoods Anwesenheit bemerken, drehte er ruckartig den Kopf. Hawkwood hätte schwören können, dass er die Halswirbel knirschen hörte.

»Und wer, bitte, ist das?«

»Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Kollegen, Officer Hawkwood, tätig als Constable für Sonderermittlungen für die Bow Street, vorzustellen.«

Fludde zeigte sich wenig beeindruckt. »Ach, tatsächlich? Und warum sind Sie hier, anstatt die Straßen nach den Räubern abzuklappern?«

Lomax räusperte sich. »Wenn Sie gestatten, Reverend, möchte ich mit Ihnen noch einmal über jene Nacht sprechen, in der Ihre Kutsche überfallen wurde. Als einer der Passagiere getötet wurde, sagte der Mann, der geschossen hat, etwas. Können Sie sich daran noch erinnern?«

Reverend Fludde reckte das Kinn vor. »Selbstverständlich kann ich mich daran erinnern! Ich bin zwar schon ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber noch nicht senil, Officer Lomax!«

»Natürlich nicht, Reverend. Entschuldigen Sie bitte«, lenkte Lomax schnell ein. »So habe ich das nicht gemeint. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch Officer Hawkwood erzählen würden, was der Mörder bei dem Überfall gesagt hat.«

»Wäre das bei der Fahndung nach den Verbrechern hilfreich?«

»Davon bin ich überzeugt, Sir.«

»Also gut«, seufzte Reverend Fludde ungehalten. »Lassen Sie mich nachdenken. Soweit ich mich entsinne …« Er warf dem Exdragoner einen vernichtenden Blick zu. »… hatte er seine Pistole auf den Kopf des Mannes gerichtet.«

Zu Hawkwoods Verblüffung stand Reverend Fludde jetzt auf, schwankte kurz auf seinen spindeldürren Beinen, streckte den Arm aus und zielte mit seinem langen, knochigen Mittelfinger auf Lomax’ Gesicht. Mit seiner dünnen, schrillen Stimme sagte er: »Ich kann mich genau an die Worte erinnern. Er sagte: ›Na, wenn’s denn so ist, will ich dir glauben, Leutnant‹.«

»Und dann hat er ihn erschossen?«, fragte Lomax.

Diese schmerzliche Erinnerung quälte den Reverend noch immer. Als er den Arm wieder senkte, zuckte sein Gesicht und er flüsterte: »Ja, so war es.«

»Und das sind genau die Worte, die der Mörder gesagt hat? Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja, absolut sicher.« Reverend Fludde zitterte jetzt, wohl auch, weil er sich bei seiner theatralischen Darstellung etwas übernommen hatte. Er tappte zu seinem Stuhl und ließ sich erschöpft darauf nieder.

Aus den Augenwinkeln warfen sich Lomax und Hawkwood einen Blick zu.

»Danke, Reverend«, sagte Lomax. »Ihre Aussage war sehr hilfreich. Ich darf Ihnen versichern, dass wir alles, was in unserer Macht steht, tun, um diese Verbrecher vor Gericht zu bringen. Und wir werden auch dafür sorgen, dass Sie Ihr silbernes Kreuz zurückbekommen.«

Mit einem säuerlichen Lächeln auf den Lippen keuchte der Reverend: »Ich will Sie nicht länger aufhalten, Officer Lomax. Meine Haushälterin bringt Sie zur Tür. Guten Tag.«

Dann wandte sich der Reverend wieder seiner Sonntagspredigt zu.

»Na?«, sagte Lomax, als die beiden Männer auf der Straße standen. »Habe ich mich nun geirrt, oder finden Sie das auch merkwürdig?«

Hawkwood war zu sehr in Gedanken versunken, um zu antworten.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, redete Lomax einfach weiter.

»Ich weiß nicht, mit wie vielen Straßenräubern und Wegelagerern ich bisher zu tun gehabt habe, aber es waren eine Menge. Und keiner von denen kann einen Admiral von einem Fähnrich zur See unterscheiden. Aber der Mörder hat diesen Passagier mit ›Leutnant‹ angeredet …« Lomax machte eine bedeutungsvolle Pause, ehe er mit einem Funkeln im Auge fortfuhr: »Also müssen wir uns die Frage stellen: Woher wusste dieser Straßenräuber, dass er einen Leutnant vor sich hatte?«


Ununterbrochen beschäftigte sich Hawkwood mit dieser Frage, während er durch ruhigere Seitenstraßen zum Blackbird ging. Und er zerbrach sich den Kopf über die rätselhafte Entdeckung in der Uhrmacherwerkstatt. Sollte Jacob Quigley tatsächlich Master Woodburn in Lord Mandrakes Kutsche gesehen haben, warum hatte seitdem niemand mehr etwas von dem Uhrmachermeister gehört?

Jedenfalls musste er mehr über Lord Mandrake in Erfahrung bringen. Hatte auch Warlock diese Spur verfolgt? Wenn dem so war, und wenn der Runner nicht Opfer eines Raubüberfalls geworden war, welche Kette von Ereignissen hatte dazu geführt, dass er ermordet wurde?

Irgendwo in diesem Gewirr aus Widersprüchen steckte die Lösung zu beiden Rätseln, über die Hawkwood momentan vergeblich grübelte. Denn noch konnte er keinen logischen Zusammenhang zwischen den Ereignissen erkennen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich müde bin und Hunger habe, dachte er. Ich hätte Lomax’ Rat befolgen und eine Portion Eintopf essen sollen. Ich werde Maddie bitten, mir eine kalte Platte herzurichten. Und ein paar Stunden Schlaf werden mir gut tun. Aber zuvor muss ich Richter Read Bericht erstatten. Also erst essen, dann ein kurzer Besuch im »Laden« und dann ins Bett. Vielleicht hat sich Jago gemeldet. Wird aber auch Zeit, verdammt noch mal.

Als er jedoch in das Wirtshaus trat, kam er kaum dazu, Luft zu holen, geschweige denn, um ein Abendessen zu bitten, denn Maddie stürzte sich sofort auf ihn.

»Schaffen Sie mir diesen Mistkerl vom Hals! Sofort! Dieser kleine Teufel lungert schon seit Stunden vor meiner Tür rum. Meine Gäste haben Angst, bestohlen zu werden. Ich habe ihm gesagt, dass Sie nicht hier seien und ich auch nicht wisse, wann Sie zurückkommen, aber er ließ sich nicht abwimmeln. Dieser Frechdachs wollte sogar in der Schankstube warten, aber ich habe ihm verboten, auch nur einen Fuß über meine Türschwelle zu setzen. So, wie der aussieht, hat er bestimmt Flöhe. Ich muss schon sagen, Matthew Hawkwood, für einen Polizisten pflegen Sie einen seltsamen Umgang!«

»Mal langsam, Maddie«, bat Hawkwood, als er merkte, dass die Wirtin mit ihrem wütenden Protestgeschrei fertig war. »Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Von wem redest du eigentlich?«

»Von diesem Jungen, natürlich. Von wem denn sonst?«

»Ähm … von welchem Jungen?«

»Von dem da!« Maddies grüne Augen sprühten Funken, als sie an Hawkwood vorbei zur Tür deutete.

Hawkwood drehte sich um. Ein kleines, schmutziges Gesicht spähte um den Türrahmen. Dann winkte der Junge heftig, Hawkwood solle nach draußen kommen.

Der tiefe Seufzer, den Maddie mit zusammengebissenen Zähnen ausstieß, ließ nichts Gutes ahnen. Die Wirtin war kurz davor, wieder zu explodieren.

»Ist schon gut, Maddie«, versuchte Hawkwood sie zu besänftigen. »Überlass das mir. Ich kümmere mich um den Jungen.«

Draußen auf der schmalen Gasse sah er sich um und rief: »Davey?«

»Hier drüben, Mr. ’Awkwood!«

Der Bengel trat aus dem Schatten eines Torbogens. Eine Hand steckte unter seiner zerrissenen Jacke. Er ließ ängstlich seinen Blick schweifen.

»Was, zum Teufel, ist denn los, Davey?«, fragte Hawkwood.

»Ich habe ein Geschenk für Sie, Mr. ’Awkwood.«

Langsam zog der Junge die Hand unter der Jacke hervor. Er hielt etwas umklammert. Hawkwood konnte nicht erkennen, was es war. »Ich denke, das sollte ich Ihnen geben.«

Davey streckte die Hand aus. Hawkwood wurde eiskalt ums Herz, als er den Gegenstand erkannte.

Es war der Schlagstock eines Runners.

»Woher hast du den?«, fragte Hawkwood, als er sich wieder gefasst hatte und sprechen konnte.

Davey wich Hawkwoods Blick aus und senkte den Kopf.

»Davey?«

»Es tut mir Leid, Mr. ’Awkwood. Ned war’s. Ich hab nicht gewusst, dass er ihn hatte. Ehrlich!«

Ned?, überlegte Hawkwood kurz. Dann fiel ihm ein, dass es der Junge war, der Warlocks Leiche entdeckt hatte.

»Wo hast du den Stock gefunden?«

»Ned hat gesagt, er habe direkt neben der Leiche gelegen, halb im Schlamm vergraben. Er hat niemandem was davon erzählt, weil er den Stock säubern und verkaufen wollte. Pen hat mir verraten, dass er ihn eingesteckt hat. Ich habe ihm den Stock abgenommen.«

Hawkwood griff instinktiv in seine Tasche, aber der Junge schüttelte den Kopf. »Nöö, ist schon gut, Mr. ’Awkwood. Dafür will ich nichts haben. Sie waren gut zu uns und haben uns immer anständig behandelt. Der andere Runner auch. Ich fand’s nicht richtig, dieses Mal Geld von Ihnen zu nehmen. Nehmen Sie’s als Geschenk.« Davey grinste. »Der geht sozusagen aufs Haus.«

»Ich bin dir sehr dankbar, Davey. Wirklich«, sagte Hawkwood und umklammerte den schwarzen Schlagstock.

Der Junge nickte ernst, dann herrschte kurz verlegenes Schweigen, bis Davey schließlich sagte: »Ich muss wieder zurück. Ich kann die Bande nicht lange allein lassen. Die stellen doch dauernd was an, wenn ich nicht aufpasse.«

Hawkwood nickte. »Pass du auch auf dich auf, Davey. Ich bin dir was schuldig.«

Davey lachte. »Das weiß ich doch! Nächstes Mal verlange ich das Doppelte.«

Noch immer lachend lief der Junge davon. Doch Hawkwood überkam plötzlich ein unerklärliches Gefühl tiefer Melancholie. Er drehte sich um und ging ins Wirtshaus zurück.


Maddie Teague hob die Kaffeekanne und warf Hawkwood einen vielsagenden Blick zu. »Wünscht der Gentleman sonst noch etwas?«

Hawkwood lehnte sich zurück, als ihm die Wirtin Kaffee einschenkte. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und berührte mit den Fingern leicht seinen Nacken. »Vielleicht ein bisschen Gesellschaft später?«

Da Hawkwood unbedingt noch mit dem Blinden Billy sprechen und ein Treffen mit Jago arrangieren musste, sagte er bedauernd: »Tut mir Leid, Maddie. Heute Nacht nicht.« Nur widerstrebend wandte er den Blick von der einladenden Wölbung ihres Dekolletees ab.

»Wirklich nicht?«

Hawkwood verneinte. »Ich kann nicht, Maddie. Die Pflicht ruft.«

Maddie richtete sich abrupt auf und schüttelte mit gespielter Verärgerung ihre kastanienbraune Mähne. »Na, wie schön. Könnte es sein, dass es Männer gibt, die nicht zu schätzen wissen, wie gut es ihnen geht?« Sie schmollte und stolzierte davon.

Obwohl sich Hawkwood niedergeschlagen fühlte, musste er über den theatralischen Abgang der Wirtin lächeln. Maddie Teague schaffte es immer wieder, ihn aufzuheitern.

Unwillkürlich dachte Hawkwood an Catherine de Varesne, deren dunkle Sinnlichkeit sich so sehr von Maddies heller, keltischer Schönheit unterschied. Dann schämte er sich dieses Vergleichs, denn Maddie hatte oft und gern das Bett mit ihm geteilt.

Maddie Teague war Witwe. Ihr Mann war Kapitän eines Handelsschiffs der Ostindischen Gesellschaft gewesen und hatte von seinem Gewinn das Gasthaus gekauft. Doch der Kapitän war mit Mann und Maus und einer Ladung chinesischen Porzellans auf hoher See untergegangen, als sein Schiff vor den Andamanen-Inseln auf ein Riff aufgelaufen war.

Maddie hatte das Blackbird zusammen mit einem Berg Schulden geerbt, aber es war ihr gelungen, das Wirtshaus vor den raffgierigen Gläubigern zu retten. Zur selben Zeit war Hawkwood aus Spanien zurückgekehrt, ein Empfehlungsschreiben von Colonel Colquhoun Grant an den Obersten Richter in der Bow Street in der Tasche, und er hatte ein Dach über dem Kopf gesucht.

Maggie Teague hatte ihn anfangs freundlich, aber zurückhaltend empfangen, mit offenen Armen jedoch erst nach einiger Zeit.

An Frauen hatte es Hawkwood nie gemangelt. Während seiner Dienstjahre in der Armee war er wegen seines etwas finsteren, aber guten Aussehens und dank seiner Uniform selten ohne weibliche Gesellschaft geblieben. Doch das Militär war eine anspruchsvolle Geliebte, und nur eine sehr verständnisvolle Frau war bereit, sich mit dem unsteten Leben eines Berufssoldaten abzufinden, ob nun allein zu Hause oder im Gefolge ihres Mannes von Feldzug zu Feldzug.

Sein jetziger Beruf als Runner hatte wenig an diesen Umständen geändert. Die Arbeit und die damit verknüpften Gefahren forderten vollen Einsatz, und so hatte er kaum Gelegenheiten, dauerhafte Freundschaften zu schließen, geschweige denn romantische Beziehungen einzugehen.

Hawkwood hatte sich auch nie als Ehemann gesehen. Heimchen am Herd und Pantoffeln? Nein, das war nichts für ihn. Es lag nicht in seiner Natur. Es mochte zu Runner Warlock gepasst haben, aber er liebte seine Freiheit über alles. Also hatte er sein Vergnügen gesucht und gefunden, wo immer es sich ergeben hatte. Hauptsächlich bei Prostituierten. In den besseren Etablissements am Covent Garden fand er immer willige Partnerinnen für flüchtige Affären ohne Konsequenzen. So hatten Hawkwood und Maddie Teague, wenn ihnen der Sinn danach stand, sich hin und wieder gegenseitig Lust und Trost gespendet und auch ihre Einsamkeit manchmal vergessen können.

Hawkwood trank einen Schluck Kaffee, ließ den Blick durch die Wirtsstube schweifen und versuchte, die beiden so gegensätzlichen Frauen aus seinen Gedanken zu verbannen. Als hätte ich nicht schon genug Probleme am Hals, dachte er resigniert.

Mit halbem Ohr nahm er das rundherum herrschende Stimmengewirr der Stammgäste wahr. Mehrere Rechtsanwälte, von denen er ein paar dem Namen nach kannte, einzelne Geistliche, eine Anzahl gut gekleideter Personen – Bankiers oder Ärzte – unterhielten sich bei Kerzenlicht in erhellter, entspannter Atmosphäre.

Warlocks Schlagstock lag auf dem Tisch neben Hawkwoods Ellbogen. Er wirkte hier völlig fehl am Platz. Noch immer klebten Schlammreste am Griff und an der kleinen Messingkrone an der Spitze. Hawkwood nahm ihn und wog ihn nachdenklich in der Hand. Das polierte Holz und sein Gewicht fühlten sich tröstlich an. Der Schlagstock eines Runners verlieh seinem Träger große Autorität. Er ermächtigte ihn, Durchsuchungen durchzuführen, Personen zu verhören und festzunehmen. Ein Recht, das nur etwa einem Dutzend verdienter Beamter gewährt wurde und sowohl Furcht als auch Neid unter weniger privilegierten Kollegen erregte.

Dann umfasste Hawkwood den Schaft mit der linken Hand und versuchte, die Spitze abzuschrauben. Es gelang ihm erst, als er sie mit etwas Fett von seinem Teller eingerieben hatte.

Für Uneingeweihte bestand der Stock aus massivem Holz, doch in Wirklichkeit war er innen hohl und enthielt ein Dokument, vom Obersten Richter unterschrieben und mit seinem Siegel versehen, das ihn als Runner auswies, eine Legitimation seiner Autorität.

Behutsam zog Hawkwood Warlocks Ausweis heraus, entrollte ihn und entdeckte darin verborgen zwei hauchdünne Papierblätter. Verwundert glättete er die Blättchen und glaubte, darauf Zeichnungen zu erkennen. Bei näherem Hinsehen erkannte er jedoch, dass es sich um Konstruktionspläne handelte.

Der erste Plan sah wie die Zeichnung eines mechanischen Geräts aus. Eine Ecke des vierseitigen Gehäuses war gewölbt. Darin waren verschieden lange Spindeln abgebildet, die mit ineinander greifenden Zahnrädern unterschiedlicher Größen verbunden waren. Zwei glichen Baumwollspulen, und oben und unten an diesem Gehäuse waren Schwungräder angebracht, ein großes und ein kleines.

Hawkwood drehte die Skizze, bis sich die gewölbte Ecke oben links befand. Da erinnerte er sich, ähnliche Konstruktionspläne an einer Wand von Josiah Woodburns Werkstatt gesehen zu haben.

Die zweite Zeichnung war noch verwirrender. Sie zeigte die Umrisse eines in zwei Hälften geteilten, quadratischen Gehäuses. Die Zeichnung im oberen Quadrat stellte jedoch eindeutig den Zündmechanismus einer Waffe dar: Hammer, Backen, Feuerstein und Pfanne. Die untere Hälfte war noch einmal unterteilt. Das Zahnrad links war durch einen schmalen, gebogenen, zahnförmigen Gegenstand mit dem Hammerkopf einer Waffe verbunden. Die Spitze steckte zwischen zwei Zähnen des Zahnrads. Die rechte untere Hälfte war leer.

Hawkwood lehnte sich zurück. Wenn mich nicht alles täuscht, so stellt die größere Zeichnung ein Uhrwerk und die kleinere Skizze eine Art Zeit-Regler dar. Sind das etwa Pläne für einen neuen Chronometer? Woodburn ist ein anerkannter Meister seines Fachs. Vielleicht hat er ein neues Uhrwerk erfunden, das er vor seinen Kollegen geheim halten will? Hat das eventuell mit seinem Verschwinden zu tun? Aber wie passen Hammer und Feuerstein dazu?, fragte er sich und starrte noch immer auf die beiden Blätter. Jedenfalls hat Warlock diese Skizzen für so wichtig gehalten, dass er sie versteckt hat. Woraus sich die nächste Frage ergibt: In wessen Hände sollten diese Zeichnungen nicht gelangen?

Da entdeckte Hawkwood auf einer der Skizzen in der unteren rechten Ecke einen Fleck. Er beugte sich vor, nahm die Kerze und hielt sie über das Papier, sorgsam darauf bedacht, kein Wachs darauf zu träufeln.

Er erkannte eine kaum lesbare Schrift.

Hawkwood stellte den Kerzenhalter zurück auf den Tisch und hielt das Papier vor die Flamme. Die Buchstaben waren verschwommen, als wäre die Tinte verlaufen. Zwei Worte. Vielleicht unter Zwang oder in Eile hingekritzelt.

Ein T, dann ein h und ein deutliches e: The.

Noch ein t, ein i und ein s: The tis.

Zwei Worte, eins davon unvollständig, ohne erkennbare Bedeutung. Hawkwood lehnte sich wieder zurück. Er war ratlos.

Das Schlagen der Wirtshausuhr riss ihn aus seinen Überlegungen. Es war halb acht. Das Amt in der Bow Street schloss um acht. Hawkwood wusste jedoch, dass zumindest in einem Zimmer die Kerzen länger brennen würden. Er rollte Warlocks Ausweis und die beiden Zeichnungen sorgfältig zusammen und steckte sie wieder in den Schlagstock. Er musste seine Kontaktaufnahme mit Jago verschieben, denn zuerst galt es, James Read Bericht zu erstatten. Zwei Köpfe denken besser als einer. Eine gute Gelegenheit, meine Theorie auf den Prüfstand zu stellen.

Hawkwood glaubte, während seiner Zusammenarbeit mit dem Obersten Richter alle seine Launen kennen gelernt zu haben: Wut, Frustration, Reizbarkeit, Sarkasmus, Belustigung und gelegentlich auch Verzweiflung. Aber noch nie hatte er erlebt, dass es James Read die Sprache verschlug. Bis heute.

Hawkwood würde den Gesichtsausdruck des Obersten Richters, als er die Skizzen aus Warlocks Schlagstock nahm, nie vergessen. James Read schnappte hörbar nach Luft und erblasste beim Anblick der präzisen Zeichnungen. Er wirkte zutiefst erschüttert. Nach einer – wie ihm schien, – Ewigkeit hob James Read den Kopf.

»Erzählen Sie mir jetzt ganz genau, wie Sie an diese Skizzen gekommen sind. Und lassen Sie keine Einzelheit aus.«

Der Richter hörte sich Hawkwoods Bericht schweigend an, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Als Hawkwood geendet hatte, vertiefte sich James Read wieder in die Papiere.

Schließlich konnte Hawkwood seine Ungeduld nicht mehr im Zaum halten und brach das Schweigen. »Was sind das für Zeichnungen?«

Ohne aufzusehen, sagte Read: »Ich glaube, diese Dokumente befanden sich in der Kuriertasche, die dem ermordeten Marineoffizier bei dem Überfall auf die Kutsche in der Kent Road abgenommen wurde.«

Plötzlich war es im Raum so still und kalt wie in einem Grab. »Ich verstehe den Zusammenhang nicht«, sagte Hawkwood. »Was, zum Teufel, hat ein Kurier der Marine mit Uhren zu tun?«

»Uhren?« Der Oberste Richter starrte Hawkwood entgeistert an. »Uhren? Glauben Sie im Ernst, dass es darum geht – um die Konstruktion eines neumodischen Zeitmessers? Oh, Mann, wenn es nur so einfach wäre!« Ohne weitere Erklärung sah der Richter zur Tür und rief: »MR.TWIGG!«

Kaum war der Ruf des Richters verhallt, stand Ezra Twigg schon in der Tür.

»Sir?« Er zwinkerte und wartete auf die Anweisung.

James Read griff nach seiner Feder und schrieb etwas auf ein Blatt Notizpapier. Dann faltete und versiegelte er die Nachricht, versah sie mit einer Adresse und reichte sie dem Sekretär. »Überbringen Sie diese Nachricht schnellstens, Mr. Twigg. Unten wartet Caleb mit seiner Kutsche. Richten Sie ihm aus, dass er zwei Passagiere fahren wird. Wir kommen sofort.«

Von dem bestimmten Ton in der Stimme des Richters angespornt, nickte Twigg beflissen und sagte: »Ja, Sir. Wird sofort erledigt.« Dann eilte er aus dem Büro.

Als der Richter nach seinem Spazierstock griff, fragte Hawkwood möglichst ruhig: »Warum haben Sie mich nicht darüber informiert?«

»Worüber?«, entgegnete James Read.

»Über den Inhalt der Kuriertasche. Als Sie mir den Fall übertragen haben, wussten Sie doch, dass es die Räuber nicht auf den Schmuck der Passagiere abgesehen hatten – das war nur ein Ablenkungsmanöver –, sondern auf diese Dokumente.«

»Ich habe diese Möglichkeit in Erwägung gezogen, konnte jedoch auch nicht ausschließen, dass es sich nur um einen gewöhnlichen Raubüberfall handelte. Daher hielt ich es für nicht relevant, die Kuriertasche und deren Inhalt in den Mittelpunkt der Ermittlungen zu rücken. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit erregt. Doch genug davon. Wir vergeuden kostbare Zeit.«

»Sie hätten mir vertrauen sollen«, wandte Hawkwood ein.

In den Augen des Richters blitzte Verärgerung auf, als er ungehalten entgegnete: »Es geht nicht darum, ob ich Ihnen vertraue. Sie in Unkenntnis zu lassen war nicht meine Entscheidung. In dieser Hinsicht waren mir die Hände gebunden. Wenn Sie jedoch wissen wollen, was wirklich hinter dieser Sache steckt, rate ich Ihnen, hier nicht den Beleidigten zu spielen, sondern mich zu begleiten.« Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte der Richter aus seinem Büro.

Hawkwood fluchte leise. Wenn es nicht um Uhren ging, worum ging es dann? Und wie war der Inhalt der Kuriertasche in Warlocks Besitz gelangt? Nichts ergab einen Sinn.

Erst als James Read dem wartenden Kutscher eine Anweisung zurief, erfuhr Hawkwood, wohin die Fahrt ging. Was noch weniger Sinn machte.

Zum Marineministerium in Whitehall.

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