6

Ich schicke Sie, Hawkwood, weil sonst niemand zur Verfügung steht«, sagte James Read und sah von seinem Schreibtisch auf. »Außerdem dachte ich, Sie würden sich über die Abwechslung freuen.«

Hawkwood erkannte an der entschlossenen Miene des Obersten Richters, dass es zwecklos war, ihm zu widersprechen.

Die Abwechslung, wie Read sie genannt hatte, war ein Ball im Stadtpalais von Lord Mandrake. Bei derartigen Festen wurde gewöhnlich ein Gendarm zum Schutz der Gäste vor Dieben und anderen Übeltätern angefordert.

Lord Mandrake war ein angesehenes Mitglied der vornehmen Gesellschaft mit Ländereien in Cheshire und in Nord- und Südamerika. Sein Vermögen hatte er im Handels- und Bankengeschäft gemacht. Er war ein Vertrauter mehrerer Parlamentsmitglieder und ein Freund des Außenministers. Es hieß sogar, der Prinzregent werde den Gastgeber mit seiner Anwesenheit beehren, instruierte Read Hawkwood.

Worauf dieser innerlich stöhnte. Zutiefst hasste er derartige Veranstaltungen, zu denen er regelmäßig abkommandiert wurde. Er hätte lieber dem Angriff eines Trupps französischer Lanzenreiter getrotzt.

»Was ist mit Redfern?«

»Redfern ist in Manchester«, antwortete Read, diesmal ohne aufzusehen. »Er ermittelt in einem Fall, bei dem es um Fälschungen in großem Stil geht. Mit seiner Rückkehr ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.«

»Und Lightfoot?«

»Ist zum Schutz eines Goldtransports der Bank von England abgestellt worden«, erklärte James Read. Mit übertriebener Bedächtigkeit legte er die Feder auf seinen Schreibtisch und seufzte hörbar, bevor er fortfuhr: »Hawkwood, Sie wissen doch genau, wie viele Gendarmen mir zur Verfügung stehen. Herzlich wenige. Genau sieben, mit Ihnen. Und obwohl ich nicht verpflichtet bin, Ihnen Einzelheiten über die Fälle zu verraten, die Ihre Kollegen bearbeiten, will ich es tun, wenn es Sie denn beruhigt.

Über Redfern und Lightfoot haben wir schon gesprochen. George Ruthven ist in Dublin, um den per Haftbefehl gesuchten Patrick Doherty, der der Unterschlagung verdächtigt wird, festzunehmen. McNiece ermittelt in einem Mordfall in York. Lacey ist bei der Festnahme der Taplin-Brüder verwundet worden und noch nicht wieder auf den Beinen …«

»Und Warlock?«, erkundigte sich Hawkwood verzweifelt, obwohl er wusste, dass es vergeblich war.

»Auch nicht verfügbar. Ich habe ihm den Woodburn-Fall übertragen.«

»Woodburn?«, fragte Hawkwood verwirrt, obwohl es keinen Grund gab, warum er diesen Namen kennen sollte. Bei der Vielzahl der Fälle, in denen die Runner ermittelten, war jeder Gendarm zu sehr mit Arbeit überlastet, um über die Fälle seiner Kollegen Bescheid zu wissen.

»Der vermisste Uhrmacher.«

Hawkwood glaubte, sich verhört zu haben. »Sie haben Warlock auf die Suche nach einem Uhrmacher geschickt?«

»Woodburn ist nicht irgendein Uhrmacher«, wies Read ihn scharf zurecht. »Er ist ein Meister seines Fachs und genießt höchstes Ansehen in Adelskreisen. Seine Uhren zieren die Hälfte hochherrschaftlicher Landhäuser und aller Salons in London.«

»Und er ist verschwunden?«, fragte Hawkwood mit hohler Stimme.

»Wie es scheint, ist er gestern Abend nicht aus seiner Werkstatt nach Hause gekommen.«

»Wahrscheinlich hat er sich mit einer Dirne vom Haymarket vergnügt und jegliches Zeitgefühl verloren.«

Schweigen. In der linken Wange des Obersten Richters zuckte ein Nerv. »Wohl kaum«, entgegnete Read. »Der Mann ist achtundsechzig und gläubiger Presbyterianer.«

Der Oberste Richter runzelte plötzlich missbilligend die Stirn, zog seine Uhr aus der Tasche und verglich die Zeit mit der hohen Standuhr in der Ecke des Raums. »Aber vielleicht hat Officer Warlock das Zeitgefühl verloren. Er sollte längst hier sein und mir Bericht erstatten. Er kommt sonst nie zu spät.« Das Stirnrunzeln wich einem strahlenden Lächeln. »Wie Sie sehen, Hawkwood, bleibt Ihnen keine Wahl. Sie werden zu dem Ball gehen.«

Hawkwoods Miene sprach Bände.

»Ehrlich gesagt«, fügte Read hinzu und steckte seine Uhr wieder ein, »habe ich erwartet, dass Sie sich geschmeichelt fühlen.«

»Warum sollte ich?«

»Weil Sie auf Empfehlung von Sir John Belverdere persönlich angefordert wurden. Anscheinend war Sir John von Ihrem Einsatz bei der Geburtstagsfeier zu Ehren seiner Frau höchst beeindruckt.«

Hawkwood konnte sich noch gut an den Abend vor einem Monat erinnern. Der Empfang war gut besucht, aber langweilig gewesen, bis ein Dieb bei dem fehlgeschlagenen Versuch ertappt wurde, Sir Johns Geburtstagsgeschenk für seine Frau – ein pompöses, wertvolles Kollier, das angeblich einmal der Gattin des ersten Herzogs von Marlborough gehört hatte – zu stehlen.

Hawkwood hatte sich bei der Verfolgung des Diebs und während der Festnahme im Park ein Paar gute Kniehosen ruiniert. Im Nachhinein musste er jedoch zugeben, dass sein Einsatz von Sir John großzügig und nicht nur mit Dankesworten belohnt worden war. Trotzdem war ihm der prätentiöse Pomp von Veranstaltungen dieser Art zuwider.

»Aber ich stecke doch mitten in den Ermittlungen über den Überfall auf die Kutsche«, versuchte es Hawkwood noch einmal. Er klammerte sich an den letzten Strohhalm.

»Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es dabei zwischen jetzt und morgen früh zu einem Durchbruch kommt«, sagte Read. »Meinen Sie nicht auch?«

Dann schürzte der Oberste Richter die Lippen und lehnte sich zurück. »Gelinde gesagt, erstaunt mich Ihr Mangel an Enthusiasmus, Hawkwood. Jeder andere Beamte hätte sich mit seinen Kollegen um diesen Auftrag geprügelt.«

Hinter diesen Worten verbarg sich der nicht zu subtile Hinweis auf ein stillschweigend geduldetes Abkommen. Runner erhielten ein jämmerliches Gehalt von einem Guinea die Woche und einen ebenso kärglichen Spesenersatz für Dienstreisen in andere Orte oder Städte. Für die Festnahme und Verurteilung von Verbrechern erhielten die daran beteiligten Beamten zwar Prämien, von denen nach der Verteilung aber höchstens ein paar Münzen für jeden übrig blieben. Die meisten Runner verdienten ihr Geld mit Privataufträgen als Leibwächter für Mitglieder des Königshauses und für Politiker, oder sie arbeiteten als Detektive und Beschützer für Institutionen, Adelige und reiche Bürger.

»Also«, fuhr James Read fort, ohne Hawkwoods gequälten Gesichtsausdruck zu beachten, »obwohl Sie bestimmt Gründe für Ihre Abneigung gegen derartige Festivitäten haben, sind diese im Augenblick irrelevant, denn auch wenn mir ein anderer Mann zur Verfügung gestanden hätte, wäre mir nichts anderes übrig geblieben, als Ihnen den Auftrag zu erteilen, weil Sie mein einziger Mitarbeiter sind, der französisch spricht.«

Jetzt runzelte Hawkwood erstaunt die Stirn.

Der Oberste Richter lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Wie Sie vielleicht wissen oder auch nicht, hat sich Lord Mandrake einen gewissen Ruf als Wohltäter für die weniger Begünstigten unserer Gesellschaft erworben. Er kümmert sich um Waisen und Witwen, die der Gemeinde zur Last fallen, um Kriegsveteranen und andere Bedürftige. Seine guten Werke beschränken sich jedoch nicht allein auf unser Heimatland, sondern sie reichen über die nationalen Grenzen hinaus.«

Hawkwood bemühte sich vergeblich, Interesse an diesem Thema zu heucheln.

»Ich spreche von Emigranten, Hawkwood. Und einer der glühendsten Kämpfer für die Monarchie ist der Comte d’Artois.«

Hawkwood kannte die Geschichte. Der Comte d’Artois, der Bruder Louis XVIII., des Königs von Frankreich, war vor der Guillotine nach England geflohen und hatte sich dort als Führer der Exilfranzosen etabliert. Mit den Geldern britischer Sympathisanten hatten d’Artois und seine Landsleute militärische Ausbildungslager in Romsey, an der Südküste Englands, eingerichtet, und bereiteten dort einen möglichen Sturz Kaiser Napoleons vor.

»Wie mir mitgeteilt wurde, will Lord Mandrake mit diesem Ball heute Abend die Verbundenheit Britanniens mit der legitimen Bourbonen-Regierung betonen. Mehrere Mitglieder des inneren Kreises um den Comte werden zugegen sein. Daher die Anforderung eines französisch sprechenden Gendarmen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern«, fügte Read streng hinzu, »dass von Ihnen ein tadelloses Benehmen erwartet wird.«

Dann kritzelte der Oberste Richter etwas auf eine Karte. »Hier ist die Adresse. Begeben Sie sich unverzüglich dorthin.«


Mandrake House an der Ecke St. James’s Square strahlte trotz der frühen Abendstunde bereits im Glanz der Lichter wie ein Kronleuchter. Nachdem sich Hawkwood bei Lord Mandrakes Sekretär ausgewiesen hatte, beobachtete er amüsiert die hektisch umhereilenden Dienstboten. Bald würden die ersten Gäste eintreffen und die Reihe der Kutschen bis zur Pall Mall und darüber hinaus reichen. Dieser festliche Anlass gebot es, dass sich Mandrake House in seiner ganzen Pracht präsentierte.

Der Sekretär kam zurück und sagte: »Seine Lordschaft erwartet Sie in der Bibliothek.«

Hawkwood war Lord Mandrake noch nie begegnet, aber er erfasste sofort, wer von den beiden Männern in dem behaglich eingerichteten Raum sein Auftraggeber war. Der große, rundliche Lord mit der Hakennase und den rot geäderten Wangen strahlte gleichermaßen Autorität wie Jovialität aus. Er begrüßte Hawkwood mit gutmütig-derber Herzlichkeit.

»Ah, Sie sind Reads Mann. Hawkwood, nicht wahr?«

Hawkwood bejahte und ließ den Blick über Lord Mandrakes Schulter zu dem zweiten Anwesenden, einem stämmigen Mann mit kurzem grauem Haar in formellem Abendanzug schweifen. Er stand am Kamin und blätterte im Licht eines Kandelabers in einem schmalen Lederbändchen: Essays von Montaigne. Die Wahl dieser Lektüre ließ Hawkwood vermuten, dass es sich bei diesem Herrn wohl um einen der bourbonischen Verbündeten Seiner Lordschaft handelte.

»Ausgezeichnet!«, sagte Mandrake, »hat Ihnen Richter Read erklärt, was von Ihnen erwartet wird?«

»Ja, Sir.«

»Großartig, großartig! Ich muss schon sagen, Hawkwood, mein Freund Belvedere war des Lobes voll und hat Sie einen verdammt guten Gendarm genannt. Sehr beruhigend. Nicht, dass wir mit einem ähnlich unerfreulichen Vorkommnis rechnen. Natürlich nicht«, scherzte Lord Mandrake, wandte sich um und deutete auf den Herrn am Kamin. »Ach übrigens, dieser Gentleman, der Comte de Rochefort, ist mein Gast. Er ist erst kürzlich vom Kontinent zu uns gekommen. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, hier heute Abend mehrere seiner Landsmänner mit ihren Gattinnen begrüßen zu dürfen.« Dann fügte Lord Mandrake mit gesenkter Stimme hinzu: »Leider sind die Englischkenntnisse des Comte erbärmlich, obwohl er mir versichert, dass er unsere Sprache besser versteht als spricht. Ich nehme an, Sie sprechen Französisch?«, wollte Mandrake wissen und hob fragend die Brauen.

Wieder bejahte Hawkwood.

»Fabelhaft!« Lord Mandrake strahlte vor Freude, wandte sich dann seinem Gast am Feuer zu und sagte in fürchterlich schlechtem Französisch: »Dieser Mann hier ist Gendarm. Ich habe ihn angefordert, damit er aufpasst, dass niemand die Messer und Löffel stiehlt, ha! ha! ha!«

Hawkwood ließ den Franzosen nicht aus den Augen. Während Lord Mandrake schallend über seinen Witz lachte, merkte der Comte wohl, dass er angesprochen worden war, und blickte von seinem Buch auf. Hellblaue Augen musterten Hawkwood flüchtig und gleichgültig. Dann widmete sich der Comte wieder seiner Lektüre.

»Nun, Officer Hawkwood«, erkundigte sich Lord Mandrake freundlich, »gibt es irgendwelche Fragen? Nein? Ausgezeichnet.« Lächelnd wies er auf seinen Untergebenen, der geduldig an der offenen Tür wartete, und fügte hinzu: »Carrington, mein Sekretär, steht zu Ihrer Verfügung. Sollten Sie etwas brauchen, so wenden Sie sich an ihn.«

Damit war Hawkwood auf elegante Weise entlassen.

Lord Mandrakes jetzt abschätzender Blick folgte Hawkwood, und als sich die Tür hinter ihm schloss, wandte er sich an seinen Gast und fragte auf Englisch: »Ein interessanter Mann, nicht wahr?«

Der Comte klappte das Buch zu, legte es auf den Kaminsims und antwortete in ebenso fließendem Englisch: »Zumindest macht er einen kompetenten Eindruck.«

»Oh, ich würde sagen, er ist weitaus mehr als nur kompetent«, entgegnete Seine Lordschaft lächelnd. »Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass er Reads bester Mann ist. Captain Hawkwood war Offizier im Rifles Corps der Armee und hatte bei seinen Vorgesetzten einen ausgezeichneten Ruf. Er gilt als mutig, intelligent und einfallsreich.«

»Diese Kombination von Charaktereigenschaften ist hervorragend«, stellte der Comte nachdenklich fest.

»In der Tat«, bestätigte Lord Mandrake und sah seinen Gast an, als erwarte er einen weiteren Kommentar. Der Comte jedoch griff wieder nach den Essays von Montaigne und vertiefte sich in die Lektüre. Aus Verlegenheit über die merklich gleichgültige Reaktion seines Gasts griff Lord Mandrake nach seiner Taschenuhr, warf einen Blick auf das Ziffernblatt und sagte mit gespielter Überraschung: »Du meine Güte! Ist es denn schon so spät? Ich verplaudere die Zeit, während wichtige Angelegenheiten auf mich warten.« Mit einem lauten Klicken ließ der Lord den Deckel wieder zuschnappen. »Verzeiht, mein Freund, wenn ich Euch jetzt allein lasse. Ich muss mich um meine Gäste kümmern. Dafür habt Ihr doch Verständnis, nicht wahr?«

Der Comte de Rochefort wartete, bis Mandrake den Raum verlassen hatte. Dann legte er das Buch wieder auf den Kaminsims, griff in die Innentasche seines Rocks, holte ein schmales Etui aus marokkanischem Leder heraus, wählte eine Zigarre aus und steckte sie zwischen seine Lippen. Das Etui schob er wieder in die Tasche zurück. Sorgfältig zündete er seine Zigarre an einer Kerzenflamme an und inhalierte tief. Eine Weile starrte er in den Kerzenschein und pickte einen Tabakkrümel von seiner Unterlippe. Er griff wieder nach dem Buch, ging zu einem Sessel, versank in dem weichen Leder, zog ein zweites Mal an seiner Zigarre und las weiter.


Hawkwood kam sich in seinem schwarzen Rock und seiner schwarzen Hose inmitten der bunt ausstaffierten Gesellschaft so auffällig vor wie eine Krähe in einer Schar Papageien. Im Mandrake Palais fand in festlicher Atmosphäre, einem sprühenden Reigen aus Licht und Farben, ein rauschender Ball statt.

Die Damen in ihren modischen Kleidern mit hoch angesetzter Taille und tief ausgeschnittenen Miedern waren eine Augenweide. Von ihrer Attraktivität überzeugte, mutige oder weniger diskrete Frauen hatten für ihre Roben fein gewebte, beinahe durchsichtige Stoffe gewählt, die ihnen ein äußerst vornehmes und vorteilhaftes Aussehen verliehen. Hawkwood konnte nicht umhin, diese prächtigen Geschöpfe aus angemessenem Abstand zu bewundern. Die Männer hingegen schwitzten sichtlich in ihren steifen Gesellschaftsanzügen und Uniformen. Gerüche nach Schweiß vermischten sich mit den süßeren Düften der Parfüms und Eau de Colognes.

Ein Juwelendieb käme sich hier vor wie im Paradies, dachte Hawkwood. Diamanten, Perlen, Rubine und Saphire funkelten im hellen Kerzenlicht der riesigen Kronleuchter, die das Glitzern tausendfach reflektierten.

Die männlichen Gäste waren ebenso glanzvoll geschmückt wie die Damen. Schärpen, Orden, Medaillen und Sterne zierten die Uniformen der zahlreich anwesenden Offiziere und Generäle aus Armee und Marine. Und wieder drängte sich Hawkwood unwillkürlich der Vergleich mit bunt gefiederten Vögeln in einer Voliere auf.

Sogar die Dienstboten ergänzten dieses prachtvolle Bild. Die Livreen der Perücke tragenden Lakaien waren derart üppig mit goldenen Litzen und Borten besetzt, dass sie kaum von den Generälen zu unterscheiden waren. Außerdem waren viele höchste Würdenträger und Angehörige des Adelsstandes vertreten.

Obwohl sich Hawkwood unauffällig im Hintergrund hielt, entging ihm nicht, dass der Ball ein Riesenerfolg war. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass kaum eine Meile entfernt ganze Familien in stockfinsteren, rattenverseuchten Elendsvierteln dahinvegetierten oder an Krankheiten und Hunger starben. Und was den Krieg gegen Frankreich betraf, so hätte dieser trotz der übermächtigen Präsenz des Militärs genauso gut auf dem Mond stattfinden können, so wenig Bedeutung hatte er für den Verlauf der Festlichkeiten.

Während sich Lord Mandrakes Gäste in den taghell beleuchteten Sälen amüsierten und an üppig gedeckten Tafeln dinierten, starben britische Soldaten in Spanien. Hawkwood verabscheute nicht den Reichtum dieser privilegierten Gesellschaft, sondern deren Gleichgültigkeit.

Am späten Abend, nachdem die meisten Gäste ausgiebig gegessen und getrunken hatten, lockerte sich die Atmosphäre. In der Bibliothek, ein während des Festes ausschließlich männliches Revier, wurde bei beißendem Zigarrenqualm dem Glücksspiel gefrönt. Die Damen hatten sich in die Salons zurückgezogen und diskutierten diskret über die Vorzüge der jüngeren und besser aussehenden männlichen Gäste.

Gestärkt mit einer ordentlichen Portion kaltem Roastbeef und einem Glas roten Bordeaux aus Lord Mandrakes gut gefülltem Weinkeller, serviert von einer sehr freundlichen und wohl geformten Küchenmagd, begann Hawkwood seine Patrouille durch die langen Gänge. Am Ende eines Gangs tauchte vor ihm plötzlich ein junges, albern kicherndes Pärchen auf. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. Während der Mann Hawkwood nicht beachtete, schenkte ihm das Mädchen im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick. Sie war sehr hübsch, und die weiße Feder in ihrem Haar wippte bei jedem Schritt. Wahrscheinlich waren die beiden auf der Suche nach einer verborgenen Nische, in der sie, den scharfen Blicken der Anstandsdame entflohen, Zärtlichkeiten austauschen konnten. Das kecke Funkeln in den Augen des Mädchens ließ Hawkwood vermuten, dass die junge Dame nicht zum ersten Mal ihrer strengen Aufsicht entkommen war. Dieser Gedanke amüsierte Hawkwood, und gleichzeitig beneidete er die beiden um ihre Jugend und Unverfrorenheit.

Während der Rundgänge hatten mehrere Damen Hawkwoods Aufmerksamkeit erregt, obwohl sie ihn nur mit flüchtigen und doch erstaunlich abschätzigen Blicken bedacht hatten. Hinter kurz gesenkten Fächern tauchten bewundernde, einladende Augen und Lippen auf, ehe die Gesichter wieder in der Anonymität verschwanden. Hawkwood war zwar nicht unempfänglich für die offen zur Schau gestellten Reize dieser Damen, doch die Arbeit kommt vor dem Vergnügen, ermahnte er sich. Meistens jedenfalls.

Zweimal im Verlauf des Abends hatte er in der Menge den Comte de Rochefort entdeckt. Einmal am anderen Ende des Saals, wo der Comte mit einem stattlichen Mann in Generalsuniform sprach. Und beim zweiten Mal hatte er einen Blick de Rocheforts aufgefangen, und der Ausdruck in dessen blauen Augen hatte ihn auf seltsame Weise beunruhigt. Ihre Blicke waren sich nur für ein paar Sekunden begegnet, dann hatte der Comte den Kopf abgewandt.

Vor allem in den schmalen Gängen zu den Unterkünften war die Luft derart schwülwarm und drückend, dass Hawkwood Platzangst befiel. Um einen klaren Kopf zu bekommen, ging er die Hintertreppe hinunter und auf die Terrasse mit Blick über den Green Park hinaus.

Eine von Efeu überrankte Mauer trennte Haus und Garten von der weiten Grünfläche, doch sie war derart geschickt hinter Bäumen und Sträuchern verborgen, dass man den Eindruck hatte, der Garten reiche über seine tatsächlichen Grenzen hinaus und sei der Park eines weitläufigen Landsitzes.

Die Familie Mandrake war immer in der Lage gewesen, sich das Beste von allem leisten zu können, auch hinsichtlich Architektur und Landschaftsgestaltung. Zur Freude des Betrachters war viel Sorgfalt für die Anlage dieses Gartens aufgewendet worden: Rasenflächen und terrassenförmig angelegte, von Rosen überrankte Blumenbeete wurden durch Kieswege miteinander verbunden oder waren von hohen Hecken unterteilt. Kleine Wäldchen und Lauben verbargen sich hinter den Hecken. Es gab mehrere Springbrunnen, und in einer Ecke konnte man sich sogar in einem Irrgarten verlaufen.

Damit die Gäste an diesem warmen Sommerabend auch die kühle Nachtluft genießen konnten, hatte Lord Mandrake zur Beleuchtung entlang der Kieswege Kohlebecken aufstellen und chinesische Laternen an die Äste hängen lassen.

Hawkwood ging die Terrassentreppe hinunter zur Rückseite des Hauses. Dort blickte er auf seine Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Bisher hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben, wofür Hawkwood dankbar war, denn die letzten Tage waren doch sehr anstrengend gewesen, und er freute sich auf sein Bett. Da fielen ihm die kecken Augen des Mädchens im Korridor ein, und er musste lächeln.

In diesem Augenblick riss ihn das Geräusch eiliger Schritte aus seinen Gedanken. Im Licht eines Kohlebeckens sah er einen Lakai über den Rasen auf sich zueilen. Als der Mann Hawkwood sah, blieb er abrupt stehen und berichtete außer Atem: »Officer Hawkwood? Da hinten gibt’s Ärger. Ein paar junge Gentlemen, Lord Mandrakes Gäste …« Ein gequälter Ausdruck huschte über das Gesicht des Dienstboten, ehe er hinzufügte: »Sie sind betrunken. Und bei ihnen ist eine junge Lady … Bitte, kommen Sie schnell …«

Hawkwood stöhnte innerlich und dachte: Das hat mir gerade noch gefehlt! »Ja, gut. Wo sind die Kerle?«

Der Lakai drehte sich um und deutete mit zitternder Hand in den Garten. »Beim Pavillon. Ich fürchte um die Ehre der Lady … ich …«

Hawkwood seufzte. »Bring mich hin.«

Nach etwa fünfzig Schritten bemerkte Hawkwood aus den Augenwinkeln eine Bewegung rechts unter den Bäumen. Er sah nur einen dunklen Schatten, der sofort wieder mit der Dunkelheit verschmolz. Oder war es nur eine Sinnestäuschung?, überlegte er. Haben mir meine Augen einen Streich gespielt? Plötzlich war die Nacht unnatürlich still. Einem Instinkt folgend drehte er sich um. Der Lakai war verschwunden.

Da hörte er am Boden einen Zweig knacken. Jemand entfernte sich unter dem dichten Laubwerk der Bäume. Hawkwood konnte nicht erkennen, ob die Person ein Mann oder eine Frau war. Vielleicht der Lakai? Er wollte gerade rufen, als er prustendes Gelächter und einen verzweifelten Aufschrei in einiger Entfernung hörte.

Schnell ging er darauf zu und stand plötzlich vor einer mit Geißblatt überrankten Pergola. Schwer hing der Duft der Blüten in der Nachtluft. Durch eine Lücke im Spalier sah er dahinter eine Lichtung und die Umrisse einer kleinen weiß gestrichenen Laube.

Er ging am Spalier vorbei und trat auf die Lichtung. Jetzt konnte er den Pavillon, ein rechteckiges, von einer Veranda umgebenes Gebäude mit flach abfallendem Dach, deutlich erkennen. An Haken in den Stützbalken hingen mehrere Laternen.

Hawkwood konnte nur einen flüchtigen Blick auf den Pavillon werfen, denn plötzlich flog eine schlanke Gestalt aus den Schatten förmlich auf ihn zu. Vage vernahm er noch ein Paar dunkle Augen, ein ovales Gesicht unter einer Krone von rabenschwarzem Haar, hob abwehrend die Hände – doch zu spät. Schon hatte sich die Frau in seine Arme geworfen.

Wenn ich bedenke, wie mich die Witwe Gant an ihren Busen gedrückt und mir ihrem stinkenden Atem ins Gesicht geblasen hat, so ist dies hier ein weitaus angenehmeres Gefühl, dachte Hawkwood unwillkürlich. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, löste sich aus der Umarmung und schob die Lady etwas von sich. In diesem Augenblick sah er den Grund für ihre panikartige Flucht.

Ein Blick genügte, um diese Sorte Männer an ihren seidenen Kniehosen und Schnallenschuhen zu erkennen: Aristokratensöhne, jung und gut aussehend. Beim Militär war er vielen dieser Typen begegnet. Im Offizierskorps wimmelte es von diesen eitlen, arroganten jungen Männern, die ihren Rang nur dem Namen ihrer Familien und dem Vermögen ihrer Väter zu verdanken hatten. Für diese Gecken war der Wehrdienst nichts als ein Spiel, für die unteren Ränge hatten sie nur Verachtung übrig, und Beförderungen betrachteten sie als ein rechtmäßiges Privileg, in dem irrtümlichen Glauben, die Welt schulde ihnen diese Bevorzugung. Und im zivilen Leben benahmen sie sich nicht anders.

Von den drei jungen Männern war der Rechte offensichtlich betrunken. Auch wenn er keine Flasche in der Hand gehabt hätte, wäre Hawkwood das sofort an seinen glasigen Augen und seinem einfältigen Grinsen aufgefallen. Die beiden anderen wirkten weniger beschwipst, hatten jedoch ihrem Benehmen nach ebenfalls reichlich Lord Mandrakes Weinen zugesprochen.

Der mit der Flasche brach schließlich das Schweigen. »Sag mal, Ruthers, alter Junge, haben wir etwa Gesellschaft bekommen? Ein verdammter Dienstbote, niedriger geht’s wohl nicht! Bist wohl ein Spanner, wie? Na los, verpiss dich! Sonst trete ich dir in den Arsch!« Die bauchige Weinflasche schwenkend, taumelte er nach vorn.

Hawkwood blieb schweigend stehen. Er merkte, dass die junge Frau jetzt an seiner Seite stand und seinen Arm umklammert hielt, als suchte sie physischen Schutz. Er fragte sich kurz, warum sie ohne Begleitung im Garten war, und musste an die Gestalt denken, die zwischen den Bäumen verschwunden war. Wer auch immer der Flüchtende gewesen sein mochte, war von den drei jungen Männern vielleicht vertrieben worden, oder er wollte Hilfe holen. Doch welcher Mann würde in einer derartigen Situation eine Frau mit diesen drei Trunkenbolden allein lassen?

»Ich glaube, der Kerl hat dich nicht gehört, Giles!«, sagte der Linke mit dem pausbäckigen Gesicht und der kurzbeinigen, gedrungenen Statur. »Er ist offensichtlich taub und blöd dazu!«

Dann hielt er seine Hände trichterförmig vor den Mund und rief: »Hast du nicht gehört, Mann? Er hat gesagt, du sollst dich verpissen!« Lachend sah er seine Freunde um Beifall heischend an.

Hawkwood schenkte den dreien keine Beachtung, sondern fragte die junge Dame: »Sind Sie verletzt?«

Die Lady schüttelte nur schweigend den Kopf. Wie schön sie ist, dachte Hawkwood bewundernd. Noch nie habe ich derart ausdrucksvolle dunkle Augen gesehen. Im Haar trug sie eine Perlenschnur, die im Schein der Laterne schimmerte. Ihr Busen bebte unter dem feinen Musselingewebe ihres Kleides. Nur widerstrebend wandte Hawkwood den Blick ab.

Sein Instinkt sagte ihm, dass der mittlere der drei der Wortführer war. Er schätzte den jungen Mann mit den scharfen Gesichtszügen und dem schmalen Mund auf Anfang zwanzig. Er war es zweifelsohne gewohnt, seinen Willen durchzusetzen. Mit einem Ausdruck äußerster Verärgerung musterte er jetzt Hawkwood und sagte barsch: »Nun?«

»Nun, was?«, erwiderte Hawkwood gelassen. »Offensichtlich ist die junge Lady Ihrer Gesellschaft überdrüssig geworden. Ich schlage vor, Sie und Ihre Freunde suchen woanders Ihr Vergnügen.«

Dann herrschte absolute Stille. Nur vom Herrenhaus her drang gedämpft durch die Bäume und Sträucher leise Musik, Stimmengewirr und fröhliches Gelächter.

»Was hast du gesagt?«, fragte der junge Mann und kniff die Augen zusammen.

»Sollte ich mich unverständlich ausgedrückt haben?«, sagte Hawkwood.

»Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, konterte der Schnösel herrisch.

»Nein, und es interessiert mich auch nicht«, sagte Hawkwood.

Der junge Mann schnappte empört nach Luft, doch zu Hawkwoods Überraschung lachte der rechts neben ihm stehende, anscheinend etwas nüchtern gewordene Freund und sagte: »Bei Gott, Ruthers! Ich frage mich, wo Mandrake den aufgegabelt hat. So einen primitiven Kerl.« Noch immer grinsend fügte er hinzu: »Vielleicht sollten wir ihn aufklären. Darf ich vorstellen: Dies, mein unverschämter Freund, ist John Rutherford, der Sohn von Sir Pierce Rutherford. Der korpulente Gentleman ist James Neville. Und was meine Wenigkeit betrifft, so bin ich leider Giles Campbell. Mein Vater ist Sir Greville Campbell. Und du bist …?«

»Jemand, der eine Lektion verdient hat«, sagte Rutherford hämisch. »Und die werde ich ihm höchstpersönlich erteilen.«

Hawkwood seufzte. »Das wäre ein Fehler.«

Ruckartig hoben alle drei die Köpfe.

»Ein Fehler! Hast du das gehört, Ruthers?«, rief Neville.

»Ein Fehler, na, so was! Bei Gott, eins muss man dem Kerl lassen: Mut hat er! Was meinst du?«

»Ich sage, er ist ein Emporkömmling, dem ich gleich eine scheuern werde«, belferte Rutherford. »Verdammt noch mal, ich lasse mir doch von einem Dienstboten nichts vorschreiben!«

»Womit du absolut Recht hast«, stimmte Neville zu. »Wo kämen wir denn da hin?«

»Mach dich besser auf den Weg, mein Freund«, sagte Campbell gutmütig und nur leicht nuschelnd. »Geh zurück in die Küche, solange du noch eine Chance dazu hast.«

»Ganz recht, verschwinde jetzt«, ergänzte Neville grinsend.

»Aber sei so gut und lass das Flittchen hier. Wir sind noch nicht dazu gekommen, so richtig ihre Bekanntschaft zu machen.«

Hawkwood spürte, wie sich die junge Frau an seiner Seite versteifte, und sagte zu Neville: »Ich bin der Meinung, ihr solltet euch bei der Lady entschuldigen. Und zu deiner Information, du betrunkener Scheißkerl: Ich bin kein verdammter Dienstbote!«

Wahrscheinlich war es der Ausdruck in Hawkwoods Augen sowie dessen Worte und Ton, der Neville erstarren ließ und ihn warnte, dass er womöglich einen schweren Fehler begangen hatte. Langsam ließ er den Blick über Hawkwood schweifen, und zum ersten Mal flackerte Zweifel in seinen Schweinsäugelein auf.

Hawkwood musterte John Rutherford, so dass ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf gingen: Wenn dieser Mann, der ihr abendliches Vergnügen gestört hatte, kein Dienstbote war, könnte er womöglich ein Gast des Hauses sein. Auch wenn seine unauffällige Kleidung nicht darauf schließen ließ. Rutherfords Neugier war offensichtlich geweckt.

»Also, Sir, wer sind Sie?«, wollte Campbell wissen. »Na los, raus damit!«

»Ich heiße Hawkwood.«

»Tja, Mr. Hawkwood, wenn jemand eine Entschuldigung verdient hat, so wohl mein Freund Neville. Und auch Rutherford, denn ihm hat sie schöne Augen gemacht und sich dann geziert. War’s nicht so, Rutherford? Aber sie ist nichts als eine berechnende Mieze. Was ist das für eine traurige Welt, in der ein Mann einem Mädchen nicht mehr zulächeln darf, ohne als Wüstling beschimpft zu werden! Wir sollen uns bei ihr entschuldigen? Pah! Wofür denn? Na los, Ruthers, sag’s ihm!«

»Stimmt genau«, sagte John Rutherford verächtlich. »Dieses Flittchen hat mich aufgegeilt und dann die Spröde gespielt.«

»Ce n’est pas vrai!«, widersprach die junge Frau mit blitzenden Augen. Hawkwood spürte förmlich ihre hitzige Wut.

Rutherford schoss die Röte in sein blasses, arrogantes Gesicht. Offensichtlich hatte er verstanden, was die junge Dame gesagt hatte. Vielleicht nicht die Worte, aber deren Bedeutung. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte er: »Dieses Miststück hat mich einen Lügner genannt. Ihr Wort steht also gegen meines. Wem glauben Sie?«

Hawkwood sah ihm direkt in die Augen. »Ihr natürlich. Mit dem größten Vergnügen.«

Diese Beleidigung verschlug Rutherford zunächst die Sprache. Giles Campbell schnappte nach Luft, während James Neville nur verwirrt aussah.

»Was, Sie unverschämter …«, belferte Rutherford, vor Wut schäumend und trat mit geballten Fäusten einen Schritt vor.

»Mach dich nicht zum Idioten, mein Junge«, sagte Hawkwood. »Gib auf. Geh mir einfach aus den Augen.«

Diese Maßregelung brachte das Fass zum Überlaufen. Rutherford holte mit wutverzerrtem Gesicht zum Schlag aus. Hawkwood reagierte blitzschnell und packte mit eisernem Griff dessen rechtes Handgelenk.

»Ich habe dich gewarnt, Bürschchen«, sagte Hawkwood verächtlich und ließ Rutherfords Hand los. »Zwing mich nicht, dir wehzutun.«

John Rutherford, jetzt blass vor Wut, rieb sich das Handgelenk. »Was fällt Ihnen ein! Niemand behandelt mich derart grob oder spricht in diesem Ton mit mir! Ich verlange Satisfaktion!«

»Was?«, sagte Hawkwood ungläubig. »Sind Sie verrückt? Sie fordern mich heraus? Um Himmels willen, ich bin ein Vertreter des Gesetzes und habe den dienstlichen Auftrag, Lord Mandrakes Hab und Gut zu schützen. Und Sie fordern mich zum Duell heraus? Dafür könnte ich Sie festnehmen.«

Auf Rutherfords Stirn pulsierte eine Ader. »Sie wollen mich festnehmen? Mein Vater kauft und verkauft Abschaum Ihresgleichen! Ob Gendarm oder Oberster Richter, niemand beleidigt und verleumdet mich im Beisein meiner Freunde. Ich verlange eine Entschuldigung! Oder Sie nennen mir Ihren Sekundanten, damit ich Ihnen eine Lektion erteilen kann, die Sie lehren wird, in Zukunft Ihre Zunge zu hüten!«

Hawkwood traute seinen Ohren nicht und dachte nur: Das ist der schiere Wahnsinn! Er merkte, dass die junge Frau ihn ansah, und versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. War es Verwirrung? Besorgnis? Oder etwas anderes? Er wusste es nicht. Ihrem empörten Ausruf zufolge war sie Französin, beherrschte jedoch offensichtlich die englische Sprache und hatte verstanden, worum es bei der Auseinandersetzung ging. Erwartete sie etwa von ihm, dass er seine Worte zurücknahm und feige davonlief?

Es war James Neville, der versuchte, die Situation zu retten. Er lachte nervös und sagte bemüht scherzhaft: »Du lieber Himmel, Ruthers. Du kannst von dem Kerl keine Satisfaktion verlangen. Duelle werden doch nur unter Gentlemen ausgetragen.«

»Er hat Recht, alter Junge«, stimmte Giles Campbell zu und nickte vehement. »Das geht einfach nicht.«

Einen Augenblick lang schien es, als hätten diese Worte eine beruhigende Wirkung auf Rutherford. Doch ein Blick in dessen Gesicht – noch immer stand er mit geballten Fäusten da – zeigte Hawkwood, dass der junge Mann angespannt war wie eine Bogensehne.

Dann veränderte sich Rutherfords Gesichtsausdruck plötzlich. Das Feuer in seinen Augen erlosch und verwandelte sich in ein kaltes, berechnendes Funkeln.

»Tja, ich glaube, er hat Angst vor mir. Ja, das ist es! Campbell, Neville, schaut ihn euch an! Der Kerl hat doch eine Heidenangst, oder?«

Da überkam Hawkwood ein derart heftiges, von Abscheu geprägtes Verlangen, Rutherford dieses hochnäsige Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln, dass er es nur mit Mühe unterdrücken konnte.

»Also?«, höhnte Rutherford. »Wie heißen Sie noch mal? Ach ja, Hawkwood? Was soll’s denn sein? Heraus mit der Sprache! Sind Sie Manns genug, mir die Stirn zu bieten, oder wollen Sie sich hinter Ihrer Haftandrohung verstecken und sich davonschleichen. Zurück in die Kloake, wo Gossenratten wie Sie hingehören.«

Plötzlich herrschte eisiges Schweigen. Die Zeit schien stillzustehen. Der Garten, der Pavillon, die gedämpfte Musik, der Duft der Blumen, sogar die junge Lady – nichts mehr existierte, außer den beiden.

Wie aus weiter Ferne hörte sich Hawkwood sagen: »Ich habe keinen Sekundanten.«

Wie eine Spinne, die eine Fliege in ihr Netz lockt, sah Rutherford Hawkwood an, verhöhnte ihn, indem er eine Verneigung andeutete, und sagte: »Darf ich Ihnen vielleicht die Dienste meiner Begleiter anbieten? Neville, mein Lieber, würdest du dich unserem ritterlichen Freund zur Verfügung stellen?«

James Neville war über diese Eskalation derart verblüfft, dass er nur wie benommen blinzelte. Noch ehe er antworten konnte, ertönte hinter Hawkwood eine Stimme.

»Das ist nicht nötig. Sollte Mr. Hawkwood es wünschen, sekundiere ich ihm gern.«

Unter den Bäumen trat eine stämmige Gestalt in Militäruniform hervor, und hinter ihm tauchte der so plötzlich verschwundene Lakai auf. Irgendetwas an dem Offizier kam Hawkwood sofort bekannt vor. Und als er näher kam und unter eine Laterne trat, starrte Hawkwood in das strenge Gesicht von Major Lawrence.

Ohne Hawkwoods Erstaunen weiter Beachtung zu schenken, nahm der Major mit einem Blick die sich ihm bietende Szene wahr und musterte John Rutherford flüchtig, ehe er sich vor der jungen Lady verneigte. »Major Douglas Lawrence zu Ihren Diensten, Ma’am. Ich hoffe, Sie sind unversehrt. Der Dienstbote hat mich über Ihre missliche Lage in Kenntnis gesetzt.«

»Mir ist nichts passiert, Major. Ich danke Ihnen«, sagte sie auf Englisch nur mit leichtem Akzent und neigte anmutig den Kopf. »Vielleicht war es gewagt von mir, allein in den Garten zu gehen, aber es ist mir nicht in den Sinn gekommen, dass ich in dieser Umgebung einen Beschützer nötig haben könnte. Wäre dieser galante Gentleman mir nicht zu Hilfe gekommen …« Ihr versagte die Stimme, und sie griff sich mit einer hilflosen Geste an den Hals.

Hawkwood erinnerte sich an die schattenhafte Gestalt, die er unter den Bäumen gesehen hatte. Aber die junge Dame hatte gesagt, sie sei allein in den Garten gegangen. Er war wohl einer Sinnestäuschung aufgesessen.

»Ja, welch ein Glück«, sagte der Major voller Mitgefühl, deutete mit dem Kopf auf den Lakai und fügte hinzu: »Ich schlage vor, Sie lassen sich von diesem Diener jetzt ins Haus zurückbegleiten, denn mein Freund und ich haben noch etwas mit diesen … ähm … Gentlemen zu besprechen.«

Die junge Frau nickte und sah dann Hawkwood an. »Ich stehe in Ihrer Schuld, Monsieur.«

Wieder beeindruckte Hawkwood die Tiefe dieser im Licht der Laterne wie Katzenaugen leuchtenden Pupillen. Sie öffnete leicht die vollen Lippen, als wollte sie noch etwas sagen, drehte sich dann jedoch wortlos um und verschwand, vom Lakai gefolgt, in der Dunkelheit. Hawkwood hatte das seltsame Gefühl, er hätte etwas verloren, ihm sei eine unausgesprochene Nachricht versagt geblieben, dabei kannte er nicht einmal den Namen der jungen Lady.

»Exquisit«, murmelte Lawrence und sah ihr nach. »Überaus exquisit.« Als die beiden unter den Bäumen verschwunden waren, änderte sich seine Stimmung schlagartig. An Rutherford gewandt, sagte er schroff: »Sie gestatten, dass ich mit meinem Freund kurz unter vier Augen spreche?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Hawkwood beim Ellbogen und führte ihn beiseite.

»Nun, Captain, ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass sich unsere Wege so bald wieder kreuzen«, sagte er und sah Hawkwood durchdringend an. Mit gesenkter Stimme fuhr er fort: »Oh ja, Captain Hawkwood, ich weiß, wer Sie sind. Bei unserer Begegnung vor dem Blind Fiddler habe ich Sie sofort erkannt. Als ich Sie heute Abend in Lord Mandrakes Haus sah, wagte ich jedoch wegen Ihrer Reaktion damals nicht, mich bemerkbar zu machen.« Er umfasste Hawkwoods Ellbogen fester und fragte: »Sie beabsichtigen doch nicht wirklich, diese Sache durchzuziehen, oder?«

»Die Würfel sind gefallen, Major. Ich weiß allerdings Ihre Besorgnis zu schätzen.«

»Aber das ist der schiere Wahnsinn!«

»Schon möglich«, räumte Hawkwood ein.

»Großer Gott, Mann! Sie müssen sich mit diesem Schnösel nicht duellieren. Verhaften Sie ihn doch einfach!«

Hawkwood seufzte. »Major, er hat zwei Zeugen, die beschwören werden, dass er alten Damen über die Straße hilft und den Armen Almosen gibt. Mit meiner Drohung, ihn zu verhaften, wollte ich ihn davon abbringen, die Situation auf die Spitze zu treiben. Es würde nie zu einer Anklage kommen.«

»Bedenken Sie doch das Risiko! Welche Folgen hatte Ihr letztes Duell für Sie? Und jetzt sind Sie Beamter! Wollen Sie sich noch eine Karriere verscherzen? Und wenn er gewinnt? Was dann?«

»Dann spielt es wohl keine Rolle mehr, nicht wahr?«, sagte Hawkwood mit einem schiefen Lächeln.

Lawrence stöhnte verzweifelt.

»Noch können Sie Ihre Meinung ändern und Ihr Angebot zurückziehen, Major«, sagte Hawkwood.

Aber Lawrence schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe versprochen, dass ich Ihnen beistehen werde, und ich ziehe mein Wort nicht zurück.« Dann grinste der Major unvermutet und fügte hinzu: »Eigentlich sollte ich Ihnen dankbar sein, dass Sie mich vor diesem absolut langweiligen Abend gerettet haben. Ich bin Soldat, verdammt noch mal. Mich öden diese gesellschaftlichen Verpflichtungen an. Diese Gecken haben noch nie an einem Feldzug teilgenommen. Die sehen sich höchstens historische Festspiele in Astley’s Amphitheater an. Mich widert dieses Pack an. Ich kann es kaum erwarten, zu meinem Regiment zurückzukehren. In zwei Tagen breche ich nach Spanien auf, keinen Augenblick zu früh.« Plötzlich sah Lawrence völlig zerknirscht aus. »Verzeihen Sie. Ich wollte keine Erinnerungen wecken. Es tut mir Leid.«

»Schon gut, Major. Das ist lange her.«

»Wie auch immer, ich stehe zu meinen Worten. Aber hören Sie, wäre es nicht besser, ich würde mit unserem hitzköpfigen Freund da drüben reden? Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, seine idiotische Herausforderung zurückzunehmen. Hätten Sie etwas dagegen?«

Hawkwood schüttelte nur den Kopf. Lawrence ging zu den drei Männern und sprach mit Giles Campbell. Hawkwood verstand die Worte zwar nicht, sah jedoch zunächst den Ausdruck von Ungläubigkeit und dann das Erstaunen in Campbells Gesicht. Er wirkte plötzlich sehr nüchtern.

Danach redete Campbell aufgeregt auf Rutherford ein, der abrupt den Kopf hob und Hawkwood mit einem Ausdruck des Unbehagens oder des Zweifels in den Augen anstarrte. Dann packte Campbell seinen Freund am Ärmel, der schien wie aus einer Art Trance zu erwachen, löste sich aus dem Griff und schüttelte vehement den Kopf. Sichtlich niedergeschlagen ging Campbell wieder zum Major, überbrachte ihm die offensichtlich schlechte Nachricht und zuckte resigniert mit den Schultern. Der Major ließ den jungen Mann stehen und stapfte wütend zu Hawkwood zurück.

»Dieser Idiot! Dieser verdammte, arrogante Idiot!«

Hawkwood wartete.

»Ich dachte, wenn ich den Kerlen erzähle, dass Sie erfahren im Austragen von Ehrenhändeln sind, würden sie einen Rückzieher machen. Das war leider ein Irrtum.«

»Sie haben zumindest versucht, die Gentlemen zur Vernunft zu bringen, Major. Es ist nicht Ihre Schuld, dass der Versuch fehlgeschlagen ist.«

»Dieser Idiot ist entweder zu stolz oder zu blöd, um nachzugeben. Ich hatte gehofft, dass Campbell Einfluss auf seinen Freund hat, aber er ist wohl auf taube Ohren gestoßen. Mein Versuch, eine friedliche Lösung für diese verfahrene Situation zu finden, ist kläglich gescheitert.«

»Etwas anderes haben Sie doch nicht wirklich erwartet, oder?«, fragte Hawkwood.

»Ich war wohl ein wenig zu optimistisch«, sagte Lawrence.

»Nun, die Würfel sind gefallen, wie Sie vorhin sagten. Der Junge hat sich entschieden, jetzt muss er damit leben.« Der Major straffte die Schultern und fuhr fort: »Weil es mir nicht gelungen ist, einen der Kontrahenten davon abzuhalten, sich leichtfertig in dieses Abenteuer zu stürzen, müssen wir jetzt Ort und Waffenart festlegen.« Wieder durchbohrte Lawrence Hawkwood mit seinem Blick. »Da Sie herausgefordert wurden, liegt die Wahl der Waffen bei Ihnen. Was soll ich Ihrem Kontrahenten übermitteln?«

Da lächelte Hawkwood.

Загрузка...