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Also, Sir«, sagte Leutnant Fitzhugh, »wer war dieser Samariter?«

Die beiden Offiziere saßen bei Kerzenlicht in einer Nische des Blind Fiddler und tranken spanischen Brandy. Der Faustkampf hatte zusätzliche Gäste angelockt, und deshalb herrschte in der Schankstube reges Treiben.

Major Lawrence schürzte die Lippen. »Der Hausierer hatte völlig Recht, Fitz. Unser Freund Hawkwood ist gewiss kein Mann, der mit sich spaßen lässt.« Dann blickte er, in Erinnerungen versunken, in sein Glas. »Es war vor vier Jahren … in Südamerika. Damals gehörten wir der Expedition Sam Auchmutys an und sollten Beresfords Truppen im Kampf gegen die Spanier verstärken.« Mit grimmigem Lächeln fügte er hinzu: »Und heute sind sie unsere Verbündeten. Wer hätte das gedacht!«

Englands Versuch, die südamerikanischen Kolonien von der Herrschaft Spaniens zu befreien, war wegen schlechter Planung und Koordination jämmerlich gescheitert. Die ersten Truppen unter Führung des Brigadegenerals William Carr Beresford hatten zwar Buenos Aires erobert, doch danach hatte das Unheil seinen Lauf genommen.

Fitzhugh konnte sehen, wie schmerzlich diese Erinnerung noch heute für den Major war, als dieser weitersprach: »Wie sich herausstellte, haben wir den Feldzug Beresfords nicht unterstützt, sondern den verdammten Narren nur gerettet! Denn als wir eintrafen, hatten sich die Spanier neu gruppiert, die Stadt zurückerobert und Beresford gefangen genommen!«

Major Lawrence beugte sich jetzt vor, ganz in seiner Erinnerung gefangen. »Der gute alte Sam hat natürlich gewusst, dass unsere einzige Chance, Beresford zu retten, darin bestand, Montevideo einzunehmen, um die Stadt später als Druckmittel zu benutzen. Was uns auch gelungen ist, aber um welchen Preis! Diese Bastarde haben uns bereits am Strand erwartet und erbittert Widerstand geleistet. Wir haben sie natürlich zurückgedrängt, standen dann jedoch vor einer zur Festung ausgebauten Stadt, die wir nur belagern konnten. Wir haben sie von unseren Fregatten aus mit Vierundzwanzigpfündern beschossen, aber es hat vier Tage gedauert, bis wir eine Bresche schlagen und durchbrechen konnten.«

Mittlerweile hielt der Major seine Taschenuhr in der Hand, klappte den Deckel auf und strich in Gedanken versunken über die Gravur. Dann blickte er auf, fasste sich wieder und steckte die Uhr unter die Schärpe zurück, ehe er fortfuhr:

»Viele gute Männer haben bei der Einnahme der Festung ihr Leben verloren, aber wir haben auch eine Menge Leute gefangen genommen, einschließlich des Kommandanten, Gouverneur Don Pasquil. Nur der General, der für die Verteidigung der Zitadelle zuständig war, lehnte Auchmutys Angebot auf freien Abzug ab und ergab sich nicht. Also ließ Sam die Scharfschützen antreten.«

»Die Scharfschützen?«, wiederholte Leutnant Fitzhugh mit großen Augen.

»Zu unserer Einheit gehörte ein Trupp des 95. Rifles Regiments. Zwei Schützen erhielten den Befehl, den General von einem Turm aus ins Visier zu nehmen und zu erschießen. Ich wurde diesem Sonderkommando zugeteilt und habe die beiden Scharfschützen begleitet. Einer von ihnen, der Leutnant, war unser Freund, dessen Namen ich jedoch nicht kannte. Ich fand es allerdings seltsam, dass ein Offizier mit dieser Aufgabe betraut wurde.«

»Wie können Sie sicher sein, dass es sich um denselben Mann handelt?«, fragte Fitzhugh stirnrunzelnd.

»Weil ich damals etwas erlebt habe, was ich nie vergessen werde. Wir – die beiden Schützen, zwei Soldaten und ich – standen also auf diesem Turm und warteten darauf, dass sich der General zeigte. Und dann erschien er tatsächlich und spazierte stolz wie ein Gockel in seiner prächtigen Uniform über den Schutzwall.«

Der Major griff in seinen Rock und holte eine kurzstielige Tonpfeife und einen Tabakbeutel heraus. Mit einer für Fitzhugh beinahe unerträglichen Langsamkeit stopfte er seine Pfeife und steckte den Beutel in seinen Rock zurück. Frustriert musste Fitzhugh mit ansehen, wie der Major eine Kerze nahm, die Flamme an den Pfeifenkopf hielt und paffte, bis der Tabak ordentlich glühte. Dann drückte er die Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger aus und steckte die Kerze in den Behälter neben seinem Ellbogen zurück. Fitzhugh glaubte zunächst, der Major spanne ihn absichtlich auf die Folter, merkte dann jedoch, dass Lawrence dieses Ritual brauchte, um seine Gedanken zu sammeln.

Der Major zog ein paar Mal geräuschvoll an seiner Pfeife, ehe er mit seiner Geschichte fortfuhr: »So etwas hatte ich noch nie erlebt, Fitz. Unser Freund steht da und schaut über die Dächer zu dem General hin. Er sagt kein Wort, starrt nur diesen Gockel an. Dann lädt er seelenruhig sein Gewehr, legt den Lauf auf die Brust, zielt und drückt ab.

Er hat den General mit einem einzigen Schuss erledigt, Fitz. Ich habe durch mein Fernglas gesehen, wie er dem Scheißkerl die Kugel in den Kopf gejagt hat.«

»Aus welcher Entfernung?«

»Es waren etwa zweihundert Meter.«

»Du lieber Himmel!«, rief Fitzhugh und klappte den Mund auf.

»Es war der verdammt beste Schuss, den ich je gesehen habe.«

»Ich kann’s nicht glauben«, staunte Fitzhugh noch immer.

»Das hat die Spanier natürlich völlig demoralisiert. Gleich darauf haben sie sich ergeben.«

»Und was wurde aus dem Schützen?«

»Er ist zu seiner Einheit zurückgekehrt. Ich habe ihn nie wieder gesehen. An diesen Schuss kann ich mich jedoch gut erinnern. Einfach hervorragend.«

Lawrence schwieg wieder und hing seinen Gedanken nach. Er zog an seiner Pfeife, hob seinen Becher und leerte ihn.

»Noch einen Drink?«, fragte Fitzhugh.

Lawrence starrte in den Becher, so als würde ihm erst jetzt auffallen, dass er leer war, und erwiderte: »Warum nicht?«

Fitzhugh hob die Hand und winkte eine der Serviererinnen herbei. Nur zu bereitwillig folgte sie der Aufforderung eines so gut aussehenden jungen Mannes in Uniform und trat lächelnd an den Tisch der beiden. Als sie sich vorbeugte und nach den Bechern griff, wölbte sich ihr üppiger Busen über dem tief ausgeschnittenen Mieder. Fitzhugh bestellte die Getränke und spürte dabei den Druck ihrer linken Brust an seinem Arm. Das erinnerte den Leutnant daran, dass er und der Major für den Abend einen Besuch in einem kleinen und sehr diskreten Etablissement am Covent Garden geplant hatten, wo schöne, handverlesene, charmante und junge Damen zu Amüsements einluden, die eine Offiziersmesse nicht zu bieten hatte.

Fitzhugh fiel auf, dass die Serviererin auf dem Weg zum Schanktisch von lüsternen Männern betatscht und mit obszönen Bemerkungen belästigt wurde. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, und er sagte zu Lawrence. »Warum, glauben Sie, hat Hawkwood geleugnet. Sie zu kennen?«

Lawrence zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Aber er hat wohl weniger Grund, sich an mich zu erinnern als ich mich an ihn.«

Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn Fitzhugh wusste, dass der Major einen erheblichen Beitrag zur Eroberung Montevideos geleistet hatte. Davon zeugte allein die vom Major so hoch geschätzte Taschenuhr, die die Regimentsleitung jüngeren Offizieren als Anerkennung hervorragender Dienste verlieh.

Die Briten hatten die spanischen Befestigungsanlagen mit bewährten, wenn auch mittelalterlichen Methoden belagert. Mit Sturmböcken und Brustwehren, Schanzkörben und Faschinen hatten sie für die Geschütze, die mit Kriegsschiffen von Rio de Janeiro herbeigeschafft wurden, Barrikaden errichtet. Es hatte vier Tage gedauert, bis die Tore und die sechs Meter dicken Mauern der Stadt den Kanonenkugeln nicht mehr standgehalten hatten und zusammengebrochen waren. Kurz vor Tagesanbruch, noch im Schutz der Dunkelheit, hatte ein Himmelfahrtskommando der britischen Truppen unter dem Befehl von Captain Renny die Stadt gestürmt. Da der Captain von einer Musketenkugel getroffen worden war, hatte der junge Leutnant Lawrence buchstäblich in die Bresche springen müssen und die Soldaten über die Mauern in die Stadt geführt.

Sir Samuel Auchmuty hatte die Tapferkeit seines jungen Offiziers mit einem Geschenk – seiner eigenen Taschenuhr – geehrt und ihn im Gedenken an den gefallenen Renny zum Captain befördert.

Jetzt kam die Serviererin mit den Getränken zurück. Sie schenkte Fitzhugh wieder ein Lächeln und entfernte sich mit einem besonders provozierenden Schwung ihrer breiten Hüften.

»Ein verdammt merkwürdiger Berufswechsel«, überlegte Leutnant Fitzhugh laut und nippte an seinem Becher. »Vom Scharfschützen zum Runner.«

»Und wie ich ihn einschätze, ist er ein verdammt tüchtiger Polizist«, entgegnete Lawrence und fügte nachdenklich hinzu:

»Obwohl ich bezweifle, dass er dadurch viele Freunde gewonnen hat.«

Ehe sich der Leutnant zu dieser Bemerkung äußern konnte, stand der Major auf, leerte sein Glas, klopfte seinen Pfeifenkopf am Tischbein aus und musste beim Anblick des Gesichtsausdrucks des Leutnants grinsen. »Na los, Fitz. Trinken Sie aus. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Die Serviererin hat derart mit Ihnen geschäkert, dass mir unsere Verabredung bei Mistress Flanagha wieder eingefallen ist. Die drallen Möpse dieser kleinen Hure sind eine Augenweide und haben meinen Appetit geweckt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, steckte der Major seine Pfeife ein, griff nach seinem Tschako und ging zur Tür.

Als Fitzhugh merkte, dass er einfach sitzen gelassen wurde, kippte er seinen Brandy hinunter und folgte dem Major nach draußen.

Während die beiden Offiziere durch die dunkle Straße ihrem Ziel entgegenstrebten, kehrten Major Lawrences Gedanken zu der Begegnung im Hof der Taverne zurück. Natürlich hätte er Fitzhugh mehr über den wortkargen Exscharfschützen erzählen können, aber ein gewisser Ausdruck in Hawkwoods Augen hatte ihm Zurückhaltung geboten. Ganz offensichtlich wollte Hawkwood seine Vergangenheit – aus welchen Gründen auch immer – im Dunkeln lassen. Geistesabwesend tastete der Major nach der Uhrenkette, vergewisserte sich, dass die Taschenuhr noch unter seiner Schärpe steckte, und atmete erleichtert auf. Die Vergangenheit war eine rein persönliche Angelegenheit, und Hawkwood zog es eindeutig vor, anonym zu bleiben. Und Fitzhugh musste sich damit abfinden, nur einen Teil der Geschichte zu kennen.

Lawrence strich mit dem Daumen über den Uhrendeckel und dachte: Das zumindest bin ich Hawkwood schuldig.


Langsam füllten sich die Straßen mit abendlichen Flaneuren, als sich Hawkwood auf den Weg zur Bow Street machte. Theaterbesucher versammelten sich unter dem Portikus des Richmond Theatre, während andere zum Lyceum und dem Aldwych unterwegs waren. Imbissstuben, auffällig dekorierte Wirtshäuser, Bordelle und Tavernen im und um den Covent Garden waren bereits berstend voll. Dandys, Zuhälter und Prostituierte mischten sich unter die Müßiggänger. Pferdekutschen bahnten sich lärmend ihren Weg durch das Gedränge, und von irgendwoher tönte die jaulende Melodie eines Leierkastens.

Bow Street Nr. 4 war ein schmales, fünfstöckiges Gebäude mit unauffälliger Fassade. Bis auf das zusätzliche Stockwerk unterschied es sich kaum von den angrenzenden Gebäuden. Dem Raum im rückwärtigen Teil des Erdgeschosses verdankte dieses Gebäude jedoch seinen Namen. Für die Beschäftigten war es schlicht »der Laden«, während es bei den Stadtbewohnern als das »Amt« bekannt war.

Hawkwood drängte sich durch die Hand voll Müßiggänger auf der Eingangstreppe, trat durch die offene Tür und folgte dem schmalen Korridor zur Rückseite des Hauses. Seine Schritte hallten hohl auf den Holzdielen wider.

Die Büros waren noch nicht geschlossen. Mit Akten und Papieren beladene Boten eilten im Licht der Kerzen durch die Korridore. In dem überfüllten Raum des Amts fand noch eine Gerichtsverhandlung statt, und der Vorsitzende folgte der Verhandlung mit einem Ausdruck äußerster Langeweile auf seinem asketischen Gesicht.

Hawkwood zog seinen Reitmantel aus und ging die Treppe in den ersten Stock zum privaten Amtszimmer des Obersten Richters hoch. Vor der Tür legte er seinen Mantel über die Lehne eines Stuhls und klopfte dann einmal.

»Herein!«, rief jemand in barschem Ton.

In dem quadratischen, mit Eiche getäfelten Raum hingen mehrere Porträts: mürrische, wachsfarbene Gesichter von Amtsvorgängern in dunklen Anzügen. Vor den Vorhängen der hohen Fenster stand ein Schreibtisch und links von Hawkwood befand sich der hohe Kamin, der von zwei hochlehnigen Polstersesseln eingerahmt wurde und in dem Holzscheite loderten. Das hypnotische Ticken einer Standuhr in der Ecke betonte die feierliche Atmosphäre des Amtszimmers.

Der silberhaarige Mann am Schreibtisch nahm von Hawkwoods Eintreten keine Notiz, sondern schrieb weiter. Allein das Kratzen seiner Feder über das Papier unterbrach die Stille.

Hawkwood wartete.

Schließlich blickte der Mann auf, stellte die Feder in das Tintenfass, ordnete seine Papiere und betrachtete Hawkwood kurz, ehe er fragte: »Die Operation gegen dieses Gant-Weib ist gut verlaufen, nehme ich an?«

»Besser, als ich erwartet hatte«, sagte Hawkwood und erntete dafür nur ein Stirnrunzeln. »Ich hatte befürchtet, wir würden nicht nahe genug an sie herankommen, um ihrer habhaft zu werden. Vielleicht wird die Witwe auf ihre alten Tage nachlässig, denn sie hatte keine Aufpasser postiert.«

Der silberhaarige Mann dachte kurz über diese Information nach, ehe er weiterfragte: »Ist sie in Gewahrsam?«

»Ja. Zusammen mit ihrem schwachsinnigen Sohn. Die beiden sitzen in den Zellen gegenüber.«

Seltsamerweise standen dem Bow-Street-Amt keine Häftlingszellen zur Verfügung. Deshalb gab es seit langem eine Vereinbarung mit dem Wirt des Pubs Brown Bear auf der anderen Straßenseite, der gegen eine geringe Gebühr als Zellen benutzbare Zimmer an die Behörde vermietete.

»Ausgezeichnet«, lobte der Silberhaarige und nickte zufrieden. »Morgen werden wir uns um die beiden kümmern. Gab’s bei der Festnahme Probleme?«

Hawkwood dachte an den Riss im Ärmel seines Mantels, antwortete jedoch: »Keine, mit denen ich nicht fertig geworden bin.«

»Und was ist mit den Kindern?«

»Ich habe dem Constable Anweisung gegeben, sie nach Bridewell zu bringen.«

»Ins Arbeitshaus? Es wird den Kindern leicht fallen, von dort zu fliehen«, überlegte der silberhaarige Mann und seufzte. Dann stützte er sich mit den Handflächen auf die Schreibtischplatte und stand langsam auf.

James Read hatte seit fünf Jahren das Amt des Obersten Richters inne. Er war mittleren Alters und sein adlerartiges Gesicht wurde durch das nach hinten gekämmte Haar noch betont. Seiner Position entsprechend kleidete er sich konservativ. Doch sein korrektes Erscheinungsbild war trügerisch, denn er besaß einen ziemlich trockenen, sogar sarkastischen Humor. In einem unterschied er sich jedoch von seinen vornehmen Vorgängern, die wie er mit Leib und Seele Richter gewesen waren: Er hatte die Erhebung in den Ritterstand, die mit diesem Amt verbunden war, abgelehnt. Ob aus Gleichgültigkeit dieser Ehre gegenüber oder wegen seiner Abstammung aus einer bescheidenen methodistischen Familie, sei dahingestellt.

James Read durchquerte den Raum, stellte sich mit dem Rücken zum Kamin vor das lodernde Feuer und hob seine Rockschöße. »In diesem verdammten Haus zieht es wie in einer Scheune. Selbst jetzt, im Mittsommer, bin ich bis auf die Knochen durchgefroren.«

Wortlos musterte er im flackernden Schein der Flammen Hawkwood, sein unmodisch langes Haar und sein kräftiges, beinahe arrogantes narbiges Gesicht. Es ist ein grausames Gesicht, mit diesen dunklen, grüblerischen Augen, dachte er. Manche Frauen aber finden es wahrscheinlich unwiderstehlich.

»Ich habe einen neuen Auftrag für Sie«, sagte Read, jetzt mit ernster Miene, glättete seinen Rock und trat vom Feuer zurück. »Gestern Abend wurden bei einem Überfall auf eine Kutsche zwei Menschen getötet: der Wachmann und ein Passagier.«

»Wo ist das passiert?«

»Nördlich von Camberwell auf der Straße nach Kent.«

Hawkwood kannte die Gegend. Das bewaldete Heide- und Weideland war ein beliebter Zufluchtsort für Straßenräuber und anderes Gesindel. In letzter Zeit waren jedoch wegen der wieder eingeführten schwer bewaffneten Reiterpatrouillen, ehemalige Kavalleristen zur Bewachung der Reiserouten von und in die Hauptstadt, Überfälle selten geworden.

»Was haben die Kerle erbeutet?«

»Geld und Schmuck im Wert von etwa fünfzig Guineen. Die Räuber waren sehr gründlich.«

»Die Räuber?!«, fragte Hawkwood.

»Nach Aussage der Zeugen waren es ein Mann und ein Junge«, sagte Read. Er lachte kurz und verbittert, ehe er hinzufügte: »Der Meister und sein Lehrling.«

Dann holte der Richter eine kleine, ovale Schnupftabakdose aus seiner Rocktasche, öffnete geschickt den Perlmuttdeckel und legte eine Prise Tabak auf die Wölbung zwischen dem Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. Er inhalierte das feine Pulver in sein linkes Nasenloch, wiederholte die Prozedur mit dem rechten, klappte die Dose zu und steckte sie wieder weg.

»Konnten die Zeugen die Räuber beschreiben?«, wollte Hawkwood wissen, obwohl er die Antwort bereits kannte. Das Kopfschütteln des Richters bestätigte nur seine Vermutung.

Jetzt kräuselte der Richter die Nase und zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel.

»Sie waren maskiert. Nur der Ältere hat geredet. Vielleicht ist der Junge stumm. Aber beide sind Mörder. Der Ältere hat den Kurier getötet, und der …«

»Den Kurier?«, warf Hawkwood ein.

»Ja, einen Kurier der Admiralität. Der Mann ist in Dover zugestiegen. Der Wachmann wurde von dem Komplizen erschossen. Die beiden sind skrupellose Schurken, Hawkwood, damit wir uns recht verstehen.«

»Gibt’s sonst noch Hinweise?«, erkundigte sich Hawkwood und erschrak, als der Richter laut nieste, sich dann die Nase putzte und den Kopf schüttelte.

»Nein, nichts von Bedeutung, obwohl den Passagieren etwas Merkwürdiges aufgefallen ist. Sie hatten den Eindruck, dass der ältere Mann kein guter Reiter sei.«

»Wie das?«

»Die Räuber wurden von einer berittenen Patrouille gestört. Beim Sprung auf sein Pferd verfehlte er den Steigbügel und wäre beinahe gestürzt. Er hatte Mühe, in den Sattel zu kommen.«

»Ein Straßenräuber, der nicht reiten kann«, überlegte Hawkwood laut. »Das ist ungewöhnlich.«

»Richtig«, stimmte Read zu und schniefte. »Obwohl es vielleicht nichts zu bedeuten hat. Wie schade, dass Officer Lomax mit seiner Patrouille nicht ein paar Minuten früher dort angekommen ist. Dann hätten sie die Schurken bestimmt noch erwischt. Trotz des stürmischen Wetters. Der Regen hat alle Spuren verwischt.«

»Ein Mann und ein Junge«, dachte Hawkwood nach. »Damit lässt sich nicht viel anfangen.«

»Der Meinung bin ich auch«, stimmte Read zu und stopfte das Taschentuch wieder in seinen Ärmel. »Deshalb habe ich Sie kommen lassen. Während sich Lomax weiter um die Passagiere kümmert, sollten Sie sich auf die gestohlenen Gegenstände konzentrieren. Wie es aussieht, können wir die Räuber nur aufspüren, wenn Sie den Verbleib der Beute ausfindig machen. Sie haben doch gute Kontakte zur Unterwelt. Hören Sie sich dort um. Mord und Verstümmelung auf des Königs Straßen dulde ich nicht! Schon gar nicht, wenn ein Kurier davon betroffen ist. Und wie mir mitgeteilt wurde, hinterlässt der Wachmann, dieser arme Kerl, eine Frau und vier Kinder. Bei Gott, Hawkwood, ich will, dass diese Männer gefasst und bestraft werden. Ich …« Der Oberste Richter verstummte, als er Hawkwoods Gesichtsausdruck sah.

»Jemand wurde verstümmelt?«, fragte Hawkwood.

Als der Oberste Richter auf seine Schuhe hinuntersah, folgte Hawkwood seinem Blick und stellte nicht zum ersten Mal fest, dass James Read sehr kleine Füße hatte, so zierlich wie die eines Tänzers.

»Dem Kurier wurde die Hand abgetrennt.«

Hawkwood spürte, wie sich ihm der Magen schmerzhaft zusammenzog, ehe er entsetzt fragte: »Sie haben ihm die Hand abgehackt?«

»Die Kuriertasche war mit einer Kette am Handgelenk des Offiziers befestigt. Die Räuber glaubten wohl, die Tasche enthalte etwas Wertvolles. Und da der Kurier keinen Schlüssel für das Vorhängeschloss besaß – wie die Passagiere ausgesagt haben –, hat der Schurke ihn erschossen, ihm die Hand abgehackt und die Tasche mitgenommen. Er muss wohl in Panik geraten sein, als sich die Patrouille näherte.«

»Hat die Tasche denn etwas Wertvolles enthalten?«

»Gewiss nichts, was für gewöhnliche Diebe interessant wäre«, sagte der Oberste Richter mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Wahrscheinlich haben die Kerle die Tasche bei ihrer ersten Rast einfach weggeworfen. Ihnen ging es nur um Geld und Schmuck, Beute, die sie leicht verhökern können. Und die uns auf ihre Spur führen könnte.«

»Ich brauche eine Beschreibung der geraubten Gegenstände.«

»Da kann Ihnen Mr.Twigg weiterhelfen. Er hat die Details notiert«, informierte ihn der Oberste Richter, ging zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich und fügte mit ernster Miene hinzu: »Ich will, dass diese Verbrecher zur Strecke gebracht werden, Hawkwood!«

Hawkwood nahm stirnrunzelnd die für den Obersten Richter untypische Vehemenz zur Kenntnis. Es klang so, als wäre James Read höchstpersönlich einer der ausgeraubten Passagiere gewesen. Denn gewöhnlich zeigte der Richter kein derart ausgeprägtes Interesse an einem Verbrechen.

»Das wär’s«, sagte James Read und griff wieder nach seiner Feder. »Sie können jetzt gehen.«

Schon auf dem Weg zur Tür drehte sich Hawkwood noch einmal um, als der Richter, über ein Dokument gebeugt und ohne den Blick zu heben, hinzufügte: »Es ist mir durchaus bewusst, Hawkwood, dass es bei der Verfolgung krimineller Elemente manchmal nötig ist, über gewisse andere … weniger schwerwiegende Missetaten hinwegzusehen. Dass man die kleinen Fische in Ruhe lässt, um den Hecht zu fangen. Präziser ausgedrückt, dass es heute Nachmittag durchaus gerechtfertigt war, den Faustkampf vor dem Wirtshaus Blind Fiddler nicht zu unterbrechen, damit sich die Witwe Gant und ihre Brut in Sicherheit wiegen konnte.

Ich bin jedoch strikt dagegen, dass sich Mitarbeiter der Behörde diese Nachsicht zunutze machen und sogar einen Teil ihres Gehalts bei diesen – ich darf Sie daran erinnern – noch immer ungesetzlichen Veranstaltungen verwetten.«

Jetzt hob der Richter den Kopf und betrachtete Hawkwood mit einem milden, fast müden Ausdruck in den Augen. »Und ersparen Sie mir Ihre Unschuldsmiene, Hawkwood, sowie jede Beteuerung, Ihnen seien derlei Vorkommnisse nicht bekannt, denn ich bin überzeugt, dass mein Sekretär in Wetten verwickelt ist, obwohl er das natürlich nie zugeben würde.

Zu dieser Schlussfolgerung bin ich übrigens gekommen, als Mr.Twigg mit ungewohnter Bereitwilligkeit meinem Auftrag, Sie im Blind Fiddler zu treffen, nachgekommen ist. Mir ist dieses gewisse Funkeln in seinen Augen nicht entgangen. Und da er Sie nicht hierher zurückbegleitet hat, nehme ich an, dass er eine Brandyfahne hat, wenn ich ihm das nächste Mal begegne.«

Hawkwood bemühte sich vergebens, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Aha, mir scheint, ich habe da einen Nerv getroffen«, fügte Richter Read sarkastisch hinzu. »Na gut. Damit ist die Angelegenheit für mich im Augenblick erledigt. Ich gehe jedoch davon aus, dass Sie beide in Zukunft mehr Umsicht walten lassen. Als Vertreter des Gesetzes sind wir alle dazu verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen.«

»Ja, Sir«, sagte Hawkwood, ohne eine Miene zu verziehen. »Wär’s das dann?«

»Momentan ja«, nickte der Oberste Richter. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

James Read wartete, bis Hawkwood die Tür hinter sich geschlossen hatte, ehe er seine Feder auf den Schreibtisch legte und sich zurücklehnte. Das Kinn auf die Fingerspitzen gestützt, blickte er nachdenklich vor sich hin.

Es bedrückte ihn mehr als erwartet, dass er Hawkwood nicht in den ganzen Sachverhalt dieses Falls eingeweiht hatte. Hawkwood arbeitete zwar noch nicht lange für die Bow Street, hatte sich jedoch in dieser Zeit als der beste Runner des Teams erwiesen. Er war intelligent, findig und, wenn nötig, absolut skrupellos. Hawkwood hätte es verdient, mehr über die Hintergründe des Falls zu erfahren, aber da es sich dabei um eine äußerst delikate Angelegenheit handelte, hatte der Richter strengste Anweisung erhalten, nur die für die Ermittlungen unbedingt notwendigen Details preiszugeben. Wie in einem Schachspiel hatte er Hawkwood auf das Brett gestellt und konnte nur hoffen, dass sein Mann nun die richtigen Züge machte.

Währenddessen gelang es Hawkwood im Vorzimmer nur mit Mühe, sein Erstaunen zu unterdrücken, denn der Sekretär Ezra Twigg saß an seinem Schreibtisch, hielt eine Liste der gestohlenen Gegenstände in der Hand und schien trotz seiner wohl hastigen Rückkehr aus der Taverne Blind Fiddler nicht einmal außer Atem zu sein. Als Hawkwood nach der Liste griff, stieg ihm nur ein leichter Duft von Brandy in die Nase und der Sekretär sah ihn an, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Wegen seines Rundrückens, des schlecht sitzenden Huts und der tintenverschmierten Manschetten wirkte Ezra Twigg zwar wie ein serviler Schreiber, doch Eingeweihte wussten, dass sich hinter dieser harmlosen Fassade ein scharfer, listiger Verstand verbarg, der ihn befähigte, mit Hartnäckigkeit und Gerissenheit Nachforschungen anzustellen.

In seiner Position als Sekretär diente Twigg schon seit langen Jahren den Obersten Richtern der Bow Street und war auch James Reads Vorgängern im Amt, Richard Ford und William Addington, ein loyaler Gefolgsmann gewesen. Unter der Hand wurde oft gemunkelt, Twigg könne sich wegen seiner vielfältigen Verbindungen ebenso viele Informationen beschaffen wie der Geheimdienst. Der Oberste Richter stand zwar im Rampenlicht, doch es waren Untergebene wie Ezra Twigg, die das komplizierte Gefüge zwischen Polizei- und Justizbehörden zusammenhielten.

Die Liste der geraubten und kurz beschriebenen Gegenstände war nicht besonders beeindruckend: drei Ringe, eine Schnupftabakdose, ein Armband und ein silbernes Kreuz. Richter Read hatte den Gesamtwert der Beute auf etwa fünfzig Guineen geschätzt. Bei einem Hehler würden die Räuber dafür mit etwas Glück zehn Guineen bekommen. Kein großer, aber doch recht ansehnlicher Profit für eine Nachtarbeit.

Wahrscheinlich hatten die Räuber bereits versucht, ihre Beute gegen Geld einzutauschen. Überall in den Seitenstraßen der Hauptstadt waren Hehler anzutreffen, die alles, angefangen vom seidenen Taschentuch bis zu Bleiplatten von Kirchendächern, verhökerten. Ein paar hatten sich auf besondere Beutestücke spezialisiert, wie Ma Jennings vom Red Lion Market, die nur mit Hüten und Kleidern handelte; Joshua Roberts, ein Taubenzüchter in der Duck Lane mit lebendem Geflügel; und Edward Memmery, ein ehemaliger Safeknacker hauptsächlich mit Lebensmitteln. Für alles gab es einen Preis und zahlungswillige Käufer.

Und innerhalb dieser eingeschworenen, berüchtigten Gemeinschaft gab es etwa ein halbes Dutzend Hehler, die nur mit Gegenständen von höchster Qualität handelten: Männer wie Jacob Low in der Field Lane und Isaiah Trask aus der Karibik oder Sarah Logan, von ihren Komplizen die Witwe genannt, in der Rosemary Lane. Jeder Hehler oder jede Hehlerin verfügte über genügend Mittel, um die auf der Liste aufgeführten Gegenstände zu kaufen. Hawkwood wusste, dass James Read ihn mit einer Aufgabe betraut hatte, die der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkam.

Deshalb brauchte er bei dieser Suche Unterstützung.

Es gab mehrere Informanten, an die er sich wenden konnte, von denen er etwa ein Dutzend bezahlte, damit sie ihn über kriminelle Machenschaften auf dem Laufenden hielten. Dazu zählten Händler, Hausierer, Huren und Straßenbengel, deren Identität er streng geheim hielt. Ohne deren intime Kenntnisse der Unterwelt hätten Hawkwood und seine Kollegen längst nicht so effizient arbeiten können. Spitzel waren die Augen und Ohren der Runner in diesem Milieu.

In diesem Fall jedoch gab es nur einen, an den er sich wenden konnte. Und um mit diesem Individuum Kontakt aufzunehmen, musste er sich in ein gefährliches Viertel begeben, eine Welt, in der sogar ein Hüter des Gesetzes um sein Leben fürchten musste. Um das Risiko zu minimieren, war er gezwungen, gewisse Vorkehrungen zu treffen.


Der blinde Billy Mipps saß an seinem gewohnten Platz vor dem billigen Wirtshaus Black Lion in der Little Russell Street. Der Blinde Billy war dünn wie eine Bohnenstange und hatte langes mit Dreck verklebtes Haar. Schäbige, verlauste Lumpen umschlotterten seinen mageren Körper. An einer ausgefransten Schnur um den Hals trug er einen Bauchladen mit Wachs- und Talgkerzen, die er verkaufte, und ein Pappschild, auf dem in kaum entzifferbarer Schrift stand: Kriegsveteran muss Frau und drei Kinder ernähren. Was nur zum Teil stimmte, denn Billy Mipps war nie Soldat gewesen, hatte keine Frau, aber vielleicht ein paar Kinder mehr gezeugt.

Eine um seinen Kopf gewickelte, blutverkrustete Binde bedeckte seine Augen. Vom Handgelenk hing ein weißer Stock an einem Lederriemen. Der Kerzenhändler war nur eine von vielen Jammergestalten, die in den Straßen der Hauptstadt ihre kümmerlichen Waren feilboten.

Ebenso wie andere Bettler hatte auch der Blinde Billy eine eigene Masche, um Passanten auf sich aufmerksam zu machen. Wann immer sich ein scheinbar potenzieller Kunde näherte, klopfte Billy mit dem Stock auf den Boden, schepperte mit seiner Blechbüchse und bettelte winselnd: »Kauft eine Kerze, Euer Ehren. Eine Kerze für einen Penny. Spendiert einem alten Soldaten eine Münze!« Oder so ähnliche Sprüche.

Heute Abend war das Ergebnis eher mager. Sogar die sonst recht großzügigen Theaterbesucher hatten sich wenig spendabel gezeigt, sodass nur ein paar Münzen und eine nicht geringe Anzahl Knöpfe und Nägel in seinem Blechbecher lagen. Billy überlegte gerade, ob er sich auf den Weg machen und einen anderen Standort suchen sollte, als er Schritte näher kommen hörte. »Erübrigt einen Penny, Sir. Den Kindern zuliebe. Kauft eine Ker …«

»Erspar mir deine Bettelsprüche, Billy«, sagte eine Stimme barsch. »Die kenne ich auswendig.«

Billy stellte sich sofort taub, neigte den Kopf zur Seite, klapperte erwartungsvoll mit seinem Blechbecher und greinte: »Was habt Ihr gesagt? Erübrigt einen Pen …«

Billy blieb das Wort im Hals stecken, als er den eisernen Griff um sein Handgelenk spürte und die Stimme ihm ins Ohr flüsterte: »Bist du schwerhörig, Billy? Pass auf, wenn ich mit dir rede.«

Der Druck um Billys Handgelenk verstärkte sich derart, dass er kurz befürchtete, seine Knochen würden brechen.

»Ich will, dass du für mich eine Nachricht überbringst. Für Jago. Sag ihm, der Captain möchte ihn treffen.«

»Jago?«, krächzte Billy. »Ich kenne keinen Jago. Ich …«

Wieder durchzuckte ein stechender Schmerz Billys Arm.

»Keine Widerrede, Billy! Leg dich nicht mit mir an. Tu einfach, was ich dir sage. Überbringe die Nachricht. Hast du das kapiert?«

Als Billy heftig nickte, lockerte sich der Griff um sein Handgelenk, und der Schmerz in seinem Arm verebbte zu einem dumpfen Pochen.

»Gut. Das war doch gar nicht so schwierig, oder?«

Dann fiel klappernd eine Münze in den Blechbecher, und die Schritte entfernten sich wieder.

Der Blinde Billy wartete volle zwanzig Sekunden, ehe er den Rand seiner Augenbinde hochklappte und ängstlich die Straße rauf und runter spähte. Trotz der vielen Passanten schien niemand bemerkt zu haben, dass der Bettler bedroht worden war, oder vermeintliche Zeugen hatten es vorgezogen, wegzuschauen. Billy sah in den Becher, kippte den Inhalt in seine Handfläche, fischte die Nägel, Knöpfe und die zerbrochene Gürtelschnalle heraus und steckte die Münzen in den Beutel unter seiner zerschlissenen Weste. Dann nahm er das Pappschild ab und schlurfte für einen Blinden erstaunlich schnellfüßig die Straße entlang.

Hawkwood saß an einem Fenstertisch im Black Lion und beobachtete mit grimmigem Lächeln, wie der Kerzenhändler in der Menge verschwand. Jetzt musste er nur noch warten.

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