17

Hawkwood machte mühsam die Augen auf. Da sah er die Ratte. Ein riesiges Biest, mindestens fünfzig Zentimeter lang, von der Nase bis zum Schwanz. Weil es in den Lagerhäusern reichlich Nahrung gab, war sie fett und hatte ein glänzendes Fell. Furchtlos richtete sich die Ratte auf, hob die Vorderpfoten und schnupperte mit zuckenden Schnurrhaaren. Mehr neugierig als vorsichtig ließ sie sich wieder auf alle viere fallen und huschte über den Boden. Zwei Meter von Hawkwood entfernt, blieb sie sitzen und sah ihn mit kleinen glänzenden Augen erwartungsvoll an.

Als Hawkwood eine Berührung an der Schulter spürte, zuckte er instinktiv zurück und bereute diese heftige Bewegung sofort, denn ein stechender Schmerz durchfuhr ihn.

»Sachte, mein Junge, sachte«, redete jemand leise und beruhigend auf ihn ein. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.«

Arme legten sich um seine Schultern, richteten ihn auf, bis er mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasaß. Er fasste sich an den Hinterkopf und zuckte wieder zusammen, als er die blutverkrustete Platzwunde berührte. Vorsichtig hob er den Kopf.

»Ich nehme an, Sie sind Mr.Woodburn«, sagte der Runner.

Der ältere Mann blickte zuerst ängstlich auf ihn hinunter, dann lächelte er. »Ihren Namen kenne ich leider nicht, Sir. Denn ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Ich heiße Hawkwood.«

»Nun, Mr. Hawkwood, was führt Sie in meine bescheidene Unterkunft?«

»Ich habe Sie gesucht«, sagte Hawkwood.

»Ach, tatsächlich?«, erwiderte der alte Mann.

»Ich bin einer der Special Constables, ein so genannter Runner.«

Der Hoffnungsschimmer, der kurz in Woodburns Augen aufflackerte, wich gleich wieder einem Ausdruck der Resignation. Der Uhrmacher musterte Hawkwoods unrasiertes Gesicht, das strähnige Haar, die verdreckte Kleidung, und nickte weise.

»Nun, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Junge. Ich wünschte mir allerdings, wir wären uns unter günstigeren Umständen begegnet.« Dann machte er eine einladende Geste. »Setzen Sie sich aufs Bett, damit ich Ihre Kopfwunde begutachten kann. Ich nehme an, Sie sind denselben Grobianen in die Hände gefallen, die mich hier gefangen halten.«

Während der alte Mann Hawkwood beim Aufstehen half und ihn zum Bett führte, sah sich der Runner um. In dem kleinen Verließ gab es außer einer Pritsche in der Ecke nur noch einen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Tisch standen eine Schale, ein Krug und ein Blechbecher, daneben ein Teller mit Brot und Käse, Proviant, den Sparrow in seinem Rucksack gehabt hatte. Durch ein kleines, vergittertes Fenster hoch oben in der gegenüberliegenden Wand fiel ein Sonnenstrahl. Hätte Hawkwood es nicht besser gewusst, wäre er sich wie in einer Zelle in Newgate vorgekommen.

Josiah Woodburn klopfte auf die Pritsche. »Setzen Sie sich, mein Junge. Setzen Sie sich.«

Während der Uhrmacher seine Wunde untersuchte, machte sich Hawkwood ein Bild von dessen Zustand. Sein Gesicht war blass, sein Rock und seine Kniehose wirkten zwar ordentlich, waren aber stellenweise schmutzig. Hawkwood erkannte in ihm einen Mann, der auch unter widrigsten Umständen bemüht war, seine Würde und seine Fassung zu bewahren.

Josiah Woodburn schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Mir scheint, Sie haben schon ein paar Kriege mitgemacht. Aber auch diese Verletzung werden Sie überleben. Es ist nur eine Platzwunde.« Dann tätschelte er väterlich Hawkwoods Knie. »Nun erzählen Sie mal, wie Sie mich gefunden haben.«

Hawkwood wollte gerade anfangen zu erzählen, als der alte Mann die Hand hob und sagte: »Erst muss ich mich um Archimedes kümmern. Er ist ein Quälgeist, solange er nicht sein Frühstück bekommt.«

Archimedes? Hawkwood brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass die Ratte gemeint war. Das Nagetier saß tatsächlich noch da, zuckte mit den Schnurrhaaren und starrte die beiden Männer keck, mit funkelnden Augen an. Der alte Mann brach ein Stück Käse ab und warf es auf den Boden. Die Ratte sprang hinterher, biss in den Brocken und verschwand damit durch einen schmalen Spalt in einer der Ecken.

»So«, sagte der Uhrenmacher zufrieden, »jetzt wird sie uns nicht mehr belästigen. Nun erzählen Sie, wie Sie mich gefunden haben. Ist Officer Warlock die Flucht gelungen?«

Hawkwood fühlte sich, als hätte Reuben Benbow ihm einen Aufwärtshaken verpasst. »Warlock war hier?«, fragte er und starrte den Uhrmacher fassungslos an.

»Ja, natürlich. Vor seiner Flucht haben wir …«

Der alte Mann verstummte, als er den Ausdruck in Hawkwoods Gesicht sah.

Hawkwood fasste sich wieder und hakte nach: »›Vor seiner Flucht‹, was heißt das?«

Erst als Josiah Woodburn nach Luft schnappte, merkte Hawkwood, dass er dessen Handgelenk mit schmerzhaftem Griff umklammert hatte. Er ließ es sofort los.

»Aber ich dachte, die Behörden hätten Sie hierher geschickt, nachdem Officer Warlock …«

»Officer Warlock ist tot«, sagte Hawkwood. »Diese Schufte haben ihn ermordet.«

Der Uhrmacher fragte entsetzt: »Und wie sind Sie …«

»Ich glaube, diese Frage sollte ich Ihnen stellen«, entgegnete Hawkwood und wartete geduldig, bis sich Woodburn so weit gefasst hatte, dass er die Geschichte seiner Entführung erzählen konnte. Wie sich herausstellte, war Runner Warlock auf die Spur des Uhrmachers gestoßen, indem er Lord Mandrakes Kutscher befragt hatte. Davor war Warlock von Quigley in Woodburns Werkstatt berichtet worden, er habe den Master in einer Kutsche mit dem Familienwappen Seiner Lordschaft gesehen. Warlock war daraufhin zum Limehouse Dock gegangen, hatte sich irgendwie Zugang zum Lagerhaus verschafft und war dann Lee und seinen Konspiranten in die Hände gefallen. Damit waren viele Fragen beantwortet, bis auf zwei: Wie war es Runner Warlock gelungen, von hier zu fliehen, und warum hatte er den Uhrmacher nicht mitgenommen?

»Ihrem Kollegen die Flucht zu ermöglichen war kein Problem, Officer Hawkwood«, erklärte Josiah Woodburn sachlich. »Ich habe ihm einfach die Tür geöffnet.«

Hawkwood glaubte, sich verhört zu haben. Oder der Schlag auf seinen Schädel hatte mehr Schaden angerichtet, als er ursprünglich angenommen hatte.

»Vergessen Sie nicht, mein Junge, ich bin Uhrmacher. Seit über fünfzig Jahren stelle ich komplizierte Zeitmesser her«, erklärte der alte Mann lächelnd und hob wie um Verständnis bittend die Hände. »Das sind meine Werkzeuge. Einfache Schlösser bergen für mich keine Geheimnisse.«

Als Hawkwood Master Woodburn noch immer verständnislos anstarrte, griff der Uhrmacher unters Bett und holte einen gebogenen Nagel hervor. »Da, sehen Sie?«

Hawkwood musterte zuerst den Nagel und dann Woodburn. »Warum sind nicht auch Sie geflohen?«

Der Uhrmacher drehte den Nagel zwischen Zeigefinger und Daumen. Dann seufzte er: »Weil ich das Leben meiner Enkelin nicht in Gefahr bringen wollte. Elizabeth bedeutet mir alles. Als Catherine, meine Tochter, gestorben ist, hätte ich beinahe meinen Glauben verloren. Aber wenn ich jetzt meine Enkelin ansehe, weiß ich, dass Catherine noch immer bei mir ist. Meine Tochter lebt in Elizabeth weiter. Können Sie das verstehen?« Dann ballte er die Fäuste und flüsterte verzweifelt: »Diese Halunken haben gedroht, Elizabeth zu töten, wenn ich nicht tue, was sie sagen. Sie würden mir Elizabeth wegnehmen, und ich würde meine Enkelin nie wieder sehen. Sie ist doch noch ein Kind! Ich wage nicht daran zu denken, was sie ihr antun könnten. Deshalb bin ich nicht geflohen. Verstehen Sie das? Ich hatte keine Wahl. Und deshalb habe ich getan, was er mir befohlen hat.«

»William Lee?«

Der alte Mann nickte und legte eine Hand auf Hawkwoods Arm. »Er ist ein doppelzüngiger Schurke. Er plant etwas Schreckliches.«

»Wir wissen von dem Unterseeboot«, sagte Hawkwood.

Josiah Woodburn nickte wieder. »Sein Unterseeboot, ach ja, eine bemerkenswerte Erfindung. Ich kannte natürlich Fultons Konstruktionspläne. Ich bin ihm sogar einmal begegnet. Wir haben einen gemeinsamen Bekannten – Sir Joseph Banks. Er war Mitglied in der Kommission, die Premierminister Pitt vor sechs Jahren ins Leben gerufen und damit beauftragt hat, die Tauglichkeit von Fultons Projekt zu prüfen. Das war kurz vor Nelsons Sieg bei Trafalgar.«

Hawkwood erinnerte sich an sein Gespräch mit Colonel Congreve. Diese Kommission hatte das Unterseeboot zwar für funktionstüchtig, für Kriegszwecke aber nicht tauglich angesehen.

»Erzählen Sie mir, wie Lord Mandrake mit Ihnen in Verbindung getreten ist«, bat Hawkwood.

Der alte Mann seufzte. »Er hat mir gesagt, einer seiner Freunde wolle eine Uhr bei mir bestellen. Da er aber bettlägerig sei, könne er mich nicht in meinem Atelier aufsuchen. Also bot Lord Mandrake mir an, mich in seiner Kutsche zu diesem Freund fahren zu lassen. Auf diese hinterlistige Weise wurde ich dann entführt.« Josiah Woodburn blickte auf und fragte: »Haben Sie Seine Lordschaft festgenommen?«

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber einer meiner Kollegen ist unterwegs zu seinem Landsitz. Und dann wird der Lord hängen.«

Josiah Woodburn sagte nur trocken: »Für diese Art von Verrat wird sich Lord Mandrake wohl vor einer viel höheren Instanz verantworten müssen.«

»Aber warum braucht Lee Sie?«

»Als Lee das Unterseeboot nach England überführte, wurde bei einem Sturm im Ärmelkanal der Chronometer beschädigt. Dieses Gerät ist sehr kompliziert, müssen Sie wissen. Und kann nur von jemandem mit besonderen Fähigkeiten repariert


werden – von einem Fachmann wie mir eben.«

»Wofür braucht Lee diesen Chronometer?«, fragte Hawkwood.

Josiah Woodburn sah den Runner verwirrt an. Die Frage kam ihm anscheinend überflüssig vor. »Na, für seine Unterwassergeschosse natürlich. Für seine Torpedos.«

Dieser Irrsinnige hat wahrhaftig vor, seinen Plan in die Tat umzusetzen, dachte Hawkwood.

»Ich habe Kopien von Lees Konstruktionsplänen für das Unterseeboot entdeckt und die Zeichnungen Officer Warlock anvertraut, damit er sie den Behörden übergibt«, sagte Josiah Woodburn. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben, ist ihm das wohl nicht gelungen.«

»Wir haben die Skizzen in seinem Schlagstock entdeckt«, sagte Hawkwood. »Sie sind jetzt im Besitz der Admiralität.«

Der Oberste Richter hatte also mit seiner Vermutung Recht, dachte Hawkwood. Allein wegen dieser Konstruktionspläne ist die Kutsche überfallen und Lieutenant Ramillies ermordet worden. Durch einen glücklichen Zufall sind die Skizzen jedoch dem Uhrmacher und dann dem bedauernswerten Warlock in die Hände gefallen.

Der alte Mann stieß einen langen Seufzer aus. »Wir hatten wenig Zeit. Ich konnte nur noch schnell den Namen des Schiffs darauf kritzeln und hoffen, dass die Obrigkeit etwas damit anfangen kann.«

Ich lag also richtig mit meiner Vermutung, dass diese Buchstaben in aller Eile hingekritzelt wurden, dachte Hawkwood und sagte: »Wir wissen, dass Lee einen Anschlag auf die Thetis plant.«

Da funkelten die Augen des Uhrmachers, und er sagte erleichtert: »Gott sei Dank!« Plötzlich packte er Hawkwoods Arm und flüsterte ihm ins Ohr: »Mir liegt noch etwas auf der Seele, Officer Hawkwood. Ich bin aus einem anderen Grund nicht mit Officer Warlock geflohen. Das müssen Sie wissen.


Ich …«

In dem Moment wurde der Uhrmacher vom Klappern eines Schlüssels im Schloss unterbrochen. Dann wurde die Tür aufgestoßen. Der Uhrmacher warf schnell den Nagel wieder unter die Pritsche. Hawkwood fiel auf, dass die Türangeln geölt waren, so, wie die der Tür draußen. Deswegen hatte der Angreifer sie leise öffnen und ihn überrumpeln können.

William Lee betrat breit grinsend, eine Laterne in der Hand, das Verließ. »Wie ich sehe, haben die Gentlemen bereits Bekanntschaft geschlossen. Haben Sie gut geschlafen, Master Woodburn?« Dann starrte Lee Hawkwood an. »Sparrow hat mir erzählt, dass Scully tot ist. Ich habe mich schon gewundert, warum er nichts von sich hören ließ.« Mit gespielter Verärgerung schnalzte der Amerikaner mit der Zunge. »Ich muss zugeben, Officer Hawkwood, Sie sind wirklich ein Scheißkerl! Sie sind hartnäckig und haben unverschämtes Glück.«

Hawkwood schwieg.

»Haben Sie Scully getötet?«, fragte Lee.

»Nein«, antwortete Hawkwood knapp.

Lee starrte Hawkwood noch eine Weile an, ehe er mit den Schultern zuckte und sagte: »Das ist auch nicht von Bedeutung. Scully wurde mir sowieso ziemlich lästig. Aber jetzt fehlt mir ein Mann, und auf dieses Ärgernis könnte ich verzichten. Sie stellen meine Geduld wirklich auf die Probe, Officer Hawkwood.«

»Sie können nicht gewinnen, Lee«, sagte Hawkwood. »Meine Männer haben das Lagerhaus umstellt.«

Lee schüttelte den Kopf und lachte. »Sie lügen. Sonst würden wir uns hier nicht in aller Ruhe unterhalten. Nein, Sir, Sie sind allein hierher gekommen. Und es bedeutet, dass ich jetzt ganz nach Belieben mit Ihnen verfahren kann.«

Wenigstens habe ich Jago, dachte Hawkwood. Hoffentlich ist er noch auf seinem Posten.

Eine Bewegung hinter Lee erregte Hawkwoods Aufmerksamkeit. Das muss Sparrow sein, dachte Hawkwood, doch dann trat die Person neben Lee: schlanke Figur, dunkel gekleidet, eng anliegender Rock, dazu passende Kniehosen und schwarze Lederreitstiefel. Und plötzlich ergab alles einen Sinn.

»Guten Morgen, Matthew«, begrüßte ihn Catherine de Varesne, die Pistole in ihrer Hand direkt auf sein Herz gerichtet.

»Hallo, Catherine«, erwiderte Hawkwood lächelnd ihren Gruß.

»Wunderst du dich denn überhaupt nicht?«, fragte sie verblüfft.

Hawkwood berührte die Platzwunde an seinem Hinterkopf und sagte: »Es war dein Parfüm. Der Duft ist unverwechselbar.«

Catherine de Varesnes Augen funkelten amüsiert. Doch der Lauf ihrer Pistole blieb unverwandt auf ihn gerichtet.

»Na, ist das nun eine Überraschung, oder nicht?«, fragte Lee grinsend.

Hawkwood warf ihm nur einen kalten Blick zu.

»Catherine ist Napoleons beste Agentin, mein Freund. Und Sie hingen die ganze Zeit wie ein gieriger Fisch an ihrer Angel.«

Es gibt da gewisse höher gestellte Freunde, fiel Hawkwood Lees Bemerkung ein.

Er schloss die Augen und fragte sich, wie er nur so dumm hatte sein können und warum er diese Intrige nicht schon längst durchschaut hatte.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass Catherine ihn noch immer anlächelte.

»Wir wussten, dass du mit der Aufklärung des Überfalls auf die Postkutsche beauftragt wirst«, sagte sie. »Und wir kannten deinen Ruf, Matthew, die Hartnäckigkeit, mit der du jeder Spur folgst. Wir wussten nur nicht, was wir mit dir anfangen sollten. Wie wir dich aus dem Weg schaffen könnten. Doch die Gelegenheit dazu ergab sich beim Ball in Lord Mandrakes Haus.«

Hawkwood erinnerte sich an sein Gespräch mit James Read. Jetzt verstand er, warum Lord Mandrake ausgerechnet ihn angefordert hatte. Dadurch hatten Mandrake und Lee ihn kennen lernen und einschätzen können.

Und jetzt war ihm auch klar, warum Lord Mandrake Hals über Kopf abgereist war. Catherine hatte ihm eine Nachricht zukommen lassen und ihn gewarnt, weil er ihr unangenehme Fragen gestellt hatte.

Da kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Hat auch Rutherford bei diesem intriganten Spiel mitgemacht?«

Catherine schnaubte verächtlich, und ihre Augen blitzten.

»Rutherford ist nichts als ein arroganter Hohlkopf. Ich habe ihn nur für meine Zwecke benutzt.«

»Du hast Rutherford und seinen betrunkenen Freunden also nur vorgegaukelt, du wärst leicht zu haben. Dann hast du die Unschuldige gespielt und darauf gewartet, dass ich dich rette.«

»Mein Ritter in der schimmernden Rüstung«, spottete sie.

»Es ging allein darum, das Ganze richtig in Szene zu setzen. Wir wussten, dass du eine junge Dame in Nöten nicht ihrem Schicksal überlassen würdest.«

»Und du hast gewusst, dass Rutherford im Beisein seiner Freunde aus Stolz keinen Rückzieher machen würde und mich zum Duell herausfordern musste. Was hast du dir erhofft? Dass er mich erschießt?«

Noch während Hawkwood sprach, dachte er über Lawrence’ Rolle in dieser perfiden Schmierenkomödie nach. Instinktiv aber wusste er, dass der Major rein zufällig und unwissentlich den Beteiligten in die Hände gespielt hatte.

»Wir vermuteten eher, dass du ihn erschießt, Matthew. Wie auch immer, jedenfalls wären wir dich dann los gewesen.«

»Aber Sie haben unseren Plan zunichte gemacht, Hawkwood«, mischte sich Lee jetzt erbost ein. »Verdammt noch mal, Sie haben den Mistkerl nur leicht verwundet!«

Haben Sie ihn getötet?

Diese Frage hatte Catherine de Varesne ihm nach dem Duell voller Erwartung in der Kutsche gestellt. Doch damals hatte er dieser Frage keine Bedeutung beigemessen. Und dann hatte sie in ihrem Haus seine Wunde verbunden und ihn auf atemberaubende Art und Weise verführt. Das Wissen, dass sich zwei Männer ihretwegen duelliert hatten, dass Blut geflossen war, hatte sie erregt und ihre Leidenschaft entflammt.

»Nun«, sagte Lee, »ich unterbreche zwar ungern dieses glückliche Wiedersehen, aber auf uns wartet Arbeit. Es wird Zeit. Gentlemen, bitte, folgen Sie mir. Und ich warne Sie, Captain Hawkwood. Sollten Sie irgendeine heroische Tat planen, vergessen Sie’s. Mademoiselle de Varesne wird nicht Sie als Ersten erschießen, sondern Master Woodburn.«

Mit diesen Worten drehte sich Lee um und ging voran in einen Gang, der mit Steinplatten ausgelegt war. In bizarren Mustern warf die Laterne flackernde Silhouetten der kleinen Prozession an die Wand. Hawkwood merkte sofort, dass der Gang nach unten führte, wahrscheinlich zum Fluss hinunter, denn der faulige Geruch nach Brackwasser wurde immer stärker. Seine Vermutung wurde bestätigt, als sie nach mehreren Biegungen eine schmale Treppe hinunterstiegen und das lang gezogene Lagerhaus betraten.

Der Oberbau war aus Holz, doch die Fundamente aus Stein ließen darauf schließen, dass dieser älteste Teil des Gebäudes auf dem ursprünglichen Fundament ruhte. Die Hälfte des Lagerhauses wurde von dem Ladekai eingenommen, von dem aus die Fracht von Karren auf Barken transportiert oder umgekehrt entladen wurde. Am Ende dieses Docks befand sich die Doppeltür, die Jago vom Fluss aus entdeckt hatte. Durch die Ritzen in der Tür und zwei schmale Fenster drang etwas Tageslicht. Zusätzlich erhellten mehrere an Haken hängende Laternen den Innenraum. Hawkwood kam sich wie in einem überfluteten Kirchenschiff vor.

»Nun«, sagte Lee zu Hawkwood, »was halten Sie davon?«

Hawkwood stand nur da und starrte das Unterseeboot an.

Es war mit Leinen an Bug und Heck am Kai vertäut. Es war größer, als er erwartet hatte – etwa siebeneinhalb Meter lang. Auf den ersten Blick sah es mit seinem Holzdeck, dem spitz zulaufenden Bug und Heck wie jedes andere kleine Flussboot aus. Bei näherem Hinsehen erkannte Hawkwood jedoch die Unterschiede. Unter dem verkürzten Bugspriet ragte ein Metallstab empor, an dem strahlenförmig vier elliptische, etwa sechzig Zentimeter lange Schaufeln befestigt waren. Auch am Heck entdeckte er ein ähnliches, horizontal angebrachtes Gerät. Der Mast lag mit aufgerolltem Segel auf Deck und konnte mit Hilfe eines Scharniers aufgerichtet werden. Vor dem Mastsockel ragte aus dem Deck – gleich einem umgedrehten halben Fass – eine metallische Kuppel hervor: Der Kommandoturm, wie Colonel Congreve erklärt hatte. Eine Hälfte war über der Luke, dem Einstieg, hochgeklappt. Hawkwoods Blick schweifte wieder zum Heck. Dort war auf einem Holzrahmen ein Zylinder aus Kupfer angebracht, so groß wie ein kleines Rumfass. Ein Tau führte von dort durch eine Art Nadelöhr zur Spitze des Kommandoturms und verschwand dann in einem kleinen Loch im vorderen Deck. Die von Colonel Congreve beschriebene Unterwasserbombe – Fultons Torpedo – jetzt mit eigenen Augen zu sehen, war für Hawkwood ein Schock.

»Ist sie nicht wundervoll?«, fragte Lee mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

Hawkwood schwieg. Jetzt tat sich etwas an Deck des Unterseeboots. Sparrow stieg aus der Luke. In seinem Gürtel steckte eine Pistole. Er legte die Hand auf den Griff und betastete mit der anderen den Schnitt an seinem Hals. Er starrte Hawkwood voller Hass an. Dann sprang er behende auf den Kai.

»Alles in Ordnung, Sparrow?«, fragte Lee.

Der Matrose nickte.

»Fabelhaft! Dann öffne bitte das Tor und mach das Boot zum Auflaufen klar.«

Als Hawkwood Catherine de Varesne musterte, ihre schlanke Gestalt in der maskulinen Kleidung, ihr zu einem Nackenknoten geschlungenes Haar, die Pistole in ihrer Hand, und ihr Lächeln wahrnahm, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er musste an Scullys höhnische Bemerkung denken, als er ihn gefragt hatte, wer sein Komplize bei dem Überfall auf die Postkutsche gewesen sei: ein Meuterer wie er oder Lee.

Weder noch, Euer Ehren. Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es verriete. Wenn du wüsstest …

Der Komplize war kein Junge und auch nicht Jago gewesen, wie er kurz vermutet hatte, sondern eine Frau, die ihren Mund nicht aufgemacht hatte, weil ihr Akzent sie verraten hätte. Sie hatte den Wachmann kaltblütig erschossen und so, wie Hawkwood sie jetzt einschätzte, wegen dieses Mordes nicht eine schlaflose Nacht verbracht.

Diese Erkenntnis schockierte Hawkwood derart, dass er wie gelähmt dastand. Da riss ihn Lee aus seiner Erstarrung. »Was ist denn los, Officer Hawkwood? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«

Ehe Hawkwood antworten konnte, rasselte am Ende des Kais eine Kette. Sparrow öffnete das Tor.

Als die Flügel langsam aufschwangen, drang Licht ins Lagerhaus. Hinter dem niedrigen Torbogen sah Hawkwood die Fahrrinne, die zum Fluss führte. Er fragte sich, ob Jago noch immer dort im Ruderboot saß und auf ihn wartete.

Jetzt kam Sparrow zurück, nahm die Pistole aus seinem Gürtel und spannte den Hahn.

»Tja, Captain Hawkwood, es ist so weit. Was soll ich sagen? Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wirklich«, höhnte der Amerikaner und sprang an Deck des Unterseeboots. »Beeil dich, Sparrow. Die Zeit drängt.«

Sparrow hob grinsend seine Pistole und winkte Hawkwood damit an den Rand des Kais.

»Niederknien!«, befahl er.

Hawkwood rührte sich nicht von der Stelle.

Sparrow drückte ihm die Mündung in den Nacken und zischte ihm ins Ohr: »Knie nieder, du Bastard! Los!«

Da hörte Hawkwood ein qualvolles Stöhnen. Josiah Woodburn würde mit ansehen müssen, wie der Officer erschossen wurde.

Er ging in die Knie.

Sparrow schob den Lauf nach oben, drückte ihn gegen Hawkwoods Schädel und zwang ihn, den Kopf zu senken.

»Großer Gott, nein!«, flehte der Uhrmacher.

Sparrow lachte. Sein Lachen klang wie das Klappern kleiner Knochen in einem Blechbecher.

»Leb wohl, Captami«, sagte Sparrow.


»Verdammte Scheiße!«, fluchte Jago und sah wohl zum hundertsten Mal auf seine Taschenuhr. Wo, zum Teufel, bleibt Hawkwood, dachte er. Die vereinbarte Stunde war längst verstrichen. Jago war ungeduldig wie eine gefangene Raubkatze am Kai auf- und abgetigert, hatte weiter gewartet und versucht, das ungute Kribbeln in seinem Magen, das ihn immer bei heranziehender Gefahr befiel, zu ignorieren. Inzwischen war Jago fuchsteufelswild. Er war wütend auf Hawkwood, auf die ganze Welt, aber vor allem auf sich selbst, weil er Hawkwood allein hatte losziehen lassen. Aus Erfahrung wusste er, dass jedes Mal, wenn es irgendwo Ärger gab, Hawkwood in die Geschichte hineingezogen wurde – so, wie in diesem elenden Rattennest. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nur durch einen glücklichen Zufall war Jago noch rechtzeitig aufgetaucht und hatte den Captain retten können.

Aber ich habe ihn nicht buchstäblich aus dem Feuer gezogen, damit er sofort wieder seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen, dachte Jago wütend. Ja, gut, der Mann ist Polizist, aber lernt er denn nie etwas dazu, verdammt noch mal?

Scheiß drauf! Ich warte nicht länger. Was hat der Captain gesagt, soll ich tun, falls er nicht wieder auftaucht? Ich soll Richter Read verständigen? Jago schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn der Captain glaubt, dass ich zu Richter Read renne, wenn es kritisch wird, so hat er sich getäuscht. Jago bückte sich, vertäute das Boot an dem Ring am Kai und stapfte fluchend durch das hektische Treiben auf dem Hafendamm.


»Nein! Warte!«

Sparrows Finger verkrampfte sich am Abzugshahn.

»Verdammt! Ich sagte, warte! Schieß nicht!«, befahl Lee.

Der Druck an Hawkwoods Schädel ließ langsam nach, sodass er den Kopf heben konnte.

»Wir haben nur Officer Hawkwoods Aussage, dass die Behörden Lord Mandrake verdächtigen, an unserem Komplott beteiligt zu sein. Aber dafür gibt es keine Beweise, es sind nur Vermutungen. Es könnte doch ein Zufall sein, dass Seine Lordschaft ausgerechnet jetzt nach Norden gereist ist. Und es wäre doch auch möglich, dass wir sein Lagerhaus ohne sein Wissen benutzen. Lord Mandrake mit seinen mächtigen Freunden in der Regierung ist ein sehr nützlicher Verbündeter, auf den wir nicht verzichten können. Wenn wir Hawkwood hier töten und seine Leiche entdeckt wird, gibt es eine Verbindung zu Lord Mandrake. Wenn er jedoch spurlos verschwindet, was dann? Ich sage es dir, Sparrow: Dann haben sie nichts gegen uns in der Hand. Wenn seine Bow-Street-Kollegen nach ihm suchen, landen sie in einer Sackgasse, und die Spur wird kalt. Und wir können weiterhin mit Lord Mandrakes Mitarbeit rechnen. Es wäre also klüger, Captain Hawkwoods Leichnam in einem ganz besonderen Grab zu bestatten.«

»Und wo soll das sein?«, fragte Sparrow, und dann dämmerte es dem Matrosen. »Herrgott, wollen Sie ihn etwa mitnehmen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

Lee zuckte mit den Schultern. »Die Idee gefällt mir zwar nicht besonders, aber sie macht Sinn. Wir nehmen ihn flussabwärts mit und werfen seine Leiche später ins Wasser.«

Sparrow dachte angestrengt nach. »Ich erschieße ihn also jetzt, und wir nehmen seine Leiche mit an Bord? Na gut, ist mir auch recht«, willigte er ein und drückte die Pistole wieder an Hawkwoods Kopf.

Lee seufzte. »Ich habe keine Lust, seine Leiche an Bord zu zerren und durch die Luke zu hieven, Sparrow. Da drin ist es schon eng genug. Und schenk dir deine komische Miene, Sparrow! Ich habe meine Entscheidung getroffen, und damit basta! Gräme dich nicht, du kriegst schon noch deine Chance. Fessele ihm jetzt die Hände. Mademoiselle de Varesne wird ihn bewachen.«

Mit einem vernichtenden Blick führte Sparrow den Befehl aus.

»Und was haben Sie mit Master Woodburn vor?«, fragte Hawkwood, als er gefesselt war und Sparrow seine Pistole wieder in der Hand hatte.

»Keine Sorge, ihm passiert nichts, solange Sie tun, was ich Ihnen sage. Bring ihn an Bord, Sparrow. Na, los!«

Hawkwood kletterte – Sparrows Pistole im Kreuz – an Deck des Unterseeboots, das leicht unter seinem Gewicht schwankte.

»Sie wissen, was zu tun ist?«, fragte Lee die Französin.

»Natürlich«, sagte sie und nickte.

»Dann treffen wir uns später, wie vereinbart.« Jetzt zog Lee seine Pistole und deutete damit auf die Taue. »Ich halte ihn in Schach. Leinen los, Mr. Sparrow!«

Hawkwood warf einen Blick über die Schulter. Auf Josiah Woodburns Gesicht lag ein merkwürdiger, beinahe gehetzter Ausdruck. Wieder beschlich Hawkwood das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Aber was wollte der alte Mann ihm mitteilen? Er kam einfach nicht darauf, doch er spürte, dass er diesen Gesichtsausdruck nie vergessen würde. Sein Blick schweifte zu Catherine de Varesne.

»Leb wohl, Matthew«, verabschiedete sie sich lächelnd.

»Auf Wiedersehen in der Hölle!«, sagte Hawkwood.

Sie neigte ihren Kopf leicht nach vorne, so als würde sie diese Möglichkeit durchaus in Betracht ziehen. »Ich freue mich schon darauf.« Dann drehte sie sich um.

Sparrow stieß das Boot mit dem Ruder vom Kai ab. Ruhig wie ein Fisch im Wasser glitt das Unterseeboot durch das Tor in die Fahrrinne und dann in den Fluss.


Jago sperrte mit einem der Dietriche, die er dem Iren Willie Lonegan abgenommen hatte, die Tür zum Lagerhaus auf. Mit den Regeln der eingeschworenen Verbrechergilde in London nicht vertraut, war Willie eines Nachts in ein Stadtpalais am Eaton Square eingebrochen und hatte eine Schmuckkassette mit den Familienerbstücken der Hausherrin mitgenommen.

Dazu gehörten ein mit Rubinen besetztes Ohrgehänge, drei Paar Perlenohrringe und ein Diamantkollier. Das Schicksal ereilte ihn, als er seinen erfolgreichen nächtlichen Beutezug in Mistress Lovejoy’s Pensionat für junge Damen in der Bedford Street feierte und im Rausch vor seiner willfährigen Bettgenossin damit prahlte. Willie war kaum Zeit geblieben, in seine Kniehose zu schlüpfen, so schnell hatte man ihn zu Jago geschleppt, der ihm kategorisch die geltenden Regeln für sein Viertel erklärte. London sei sein Revier und kein dahergelaufener irischer Bauer gehe ohne seine Erlaubnis in seinem Revier auf Beutezüge. Die Bestrafung erfolgte an Ort und Stelle. Willie wurde sein Werkzeug sowie der Rest seiner Beute abgenommen und beide Daumen abgehackt. Die nützlichen Dietriche hatte Jago in weiser Voraussicht behalten.

Vielleicht war das keine so gute Idee, dachte Jago, als er über die Türschwelle trat. Hätte ich nur statt meines Knüppels und des Schlagstocks des Runners eine Pistole eingesteckt. Eine Ratte huschte über seine Füße. Das Lagerhaus kam ihm unnatürlich ruhig, ja verlassen vor. Er bog um eine Ecke und sah vor sich einen langen dunklen Gang. Er spürte ein Kribbeln im Nacken, wie immer ein Zeichen drohender Gefahr. Oft genug hatte er eine ähnliche Situation im Krieg und in den dunklen Gassen des Elendsviertels erlebt. Aber hier hatte er das Gefühl, als würde der Leibhaftige persönlich auf seinen Schultern hocken. Hier herrscht das Böse, das wusste er sofort.


»Ist heute nicht ein verdammt schöner Morgen, Officer Hawkwood? Was meinen Sie?«, grinste William Lee, steckte sich einen Stumpen in den Mund und paffte genießerisch.

Hawkwood antwortete nicht. Er saß mit vorne gefesselten Händen auf Deck, den Rücken an den Schandeckel gelehnt und starrte die Pistole in der Hand des Amerikaners an. Er fragte sich, ob er Lee überwältigen könnte, ohne eine Kugel in den Kopf zu bekommen.

So, wie ich gefesselt bin, habe ich wohl keine Chance, überlegte er. Außerdem ist da noch Sparrow an der Ruderpinne. Der Matrose hatte den Mast aufgerichtet und die Segel gesetzt. Jetzt trieb sie eine leichte Brise nahe am östlichen Ufer stromabwärts. Mill Way lag backbord, Wells’s Yark steuerbord am gegenüberliegenden Themseufer.

Als das Boot am Ende der Fahrrinne aus dem Lagerhaus in den Fluss eingeschwenkt war, hatte Hawkwood mit Blicken den Kai abgesucht. Ihr Ruderboot hatte noch vertäut dagelegen, aber kein Jago war zu sehen gewesen. Wäre das Boot weg gewesen, hätte er davon ausgehen können, dass Jago jetzt auf dem Weg zu Richter Read war. Aber so war es wahrscheinlicher, dass Jago seine Anweisung nicht befolgt hatte und jetzt im Lagerhaus nach ihm suchte.

Natürlich, dachte Hawkwood, Ritter Jago eilt mal wieder zu meiner Rettung herbei. Aber dieses Mal kommt er zu spät.

»Master Woodburn hat mir erzählt, das Boot sei beschädigt worden«, sagte Hawkwood, um Lee zum Reden zu bringen und auf diese Weise vielleicht das Unvermeidbare hinauszuzögern. Was er zwar nicht glaubte, aber in seiner Situation musste er nach jedem Strohhalm greifen.

Lee zog träge an seinem Stumpen und schnippte die Asche über Bord. »Der Schaden konnte repariert werden.« Er warf Hawkwood einen amüsierten Blick zu. »Es geschah bei einem Sturm im Ärmelkanal. Dabei ist auch ein Mann über Bord gegangen. Deshalb musste ich Sparrow anheuern. Scully hat ihn angeschleppt.« Lee nahm den Stumpen aus dem Mund und stieß damit nach Hawkwoods Gesicht. »Und jetzt habe ich auch Scully verloren. Sir, Sie haben allerhand auf dem Kerbholz.«

»Warum wollen Sie Ihren Sabotageakt ausgerechnet hier ausführen?«, stellte Hawkwood die Frage, die ihn quälte, seit er mit Jago das Amtszimmer des Richters verlassen hatte. »Das ist doch heller Wahnsinn. In der Flussmündung hätten Sie viel mehr Platz zum Manövrieren, und der Fluchtweg in die Ostsee stünde Ihnen offen. Herrgott noch mal, die Werft in Deptford ist doch eine Todesfalle.«

Lee antwortete mit weit ausholender Geste: »Sie wissen doch, warum die Docks hier gebaut wurden, nicht wahr, Officer Hawkwood. Weil sie mitten in London liegen und vor feindlichen Invasionstruppen geschützt werden können. Deptford ist weder das größte noch das strategisch wichtigste Dock – nicht wie die Häfen von Chatham oder Portsmouth –, aber ein derartiger Angriff wird die ganze Nation aufrütteln und weltweit Aufsehen erregen. Können Sie sich ausmalen, welche Auswirkungen es haben wird, wenn ich euer neuestes Kriegsschiff mit dem Prinzen von Wales an Bord mitten in eurer verdammten Hauptstadt versenke? Eure Jungs von der Admiralität werden sich einen Monat lang in die Hosen pissen! Ich werde den britischen Streitkräften einen Schlag verpassen, von dem sich das Land so schnell nicht wieder erholen wird. Dann könnt ihr mit eurer ganzen verdammten Marine den Rückzug antreten. Deswegen sind wir hier, Officer Hawkwood.«


Die Tür zu dem kleinen zellenartigen Raum stand halb offen. Jago stieß sie mit seinem Knüppel ganz auf. Der Geruch des Todes schlug ihm entgegen. Die Leiche lag rücklings auf der Pritsche. Aus der durchtrennten Halsschlagader sickerte noch immer Blut.

Jago war kein religiöser Mann, trotzdem bekreuzigte er sich. Und während er auf die Leiche hinunterstarrte, wurde er von zwei Gefühlen gleichzeitig überwältigt: einem maßlosen Zorn über diesen sinnlosen Tod und der unerträglichen Gewissheit, dass er Hawkwood wahrscheinlich nie wieder lebend sehen würde.


Lee stand am Bug und starrte über den Fluss. Backbord konnte er die Isle of Dogs sehen, eine flache, dünn besiedelte Insel, die aus Wiesen und sumpfigem Gelände bestand. Nur zwei Straßen führten von der Insel zum Festland: die Deptford und Greenwich Road am östlichen Ufer verbanden isoliert liegende Werften und Betriebe mit dem Hinterland. Die Chapel House Road verlief mitten durch die Insel und verband das Fährhaus an der südlichen Biegung des Flusses mit dem Blackwall-Zugang zu den West India Docks. Lees Blick schweifte zum gegenüberliegenden Ufer. Dort lagen reihenweise Handelsschiffe vor Anker und warteten darauf, ihre Frachten in den großen Docks löschen zu können. An Steuerbord konnte er die Zufahrt zum No. 1 Commercial Dock sehen und daneben das kleinere East Country Dock an der Grenze zwischen den Grafschaften Surrey und Kent. Südlich dieser Grenze lag der Dudman’s Yard, von dem aus Schiffe, die Gefangene ans andere Ende der Welt transportierten, mit allem Nötigen versorgt wurden. Und etwa einen Kilometer flussabwärts lag die königliche Marinewerft – sein Ziel.

Auf ein Zeichen des Amerikaners hin gab Sparrow dem Druck der Ruderpinne nach, sodass sich das Boot aus dem Wind drehte. Der Bug senkte sich. Und ohne die Brise hingen die Segel schlaff herunter.

Lee kniff die Augen zusammen und schnippte seinen Stumpen über Bord. »Jetzt ist unsere Stunde gekommen, Sparrow.«

Sparrow befestigte das Ruder und ging zum Mast. Er brauchte nur ein paar Minuten, um die Segel zu raffen, den Mast am Scharnier umzulegen und auf Deck zu sichern.

Der Amerikaner tippte sich wie zum Salut an die Stirn und deutete auf die offene Luke. »Hier entlang, Captain Hawkwood.«

Hawkwood stand nur widerstrebend auf. Sparrow bohrte ihm wieder die Pistole ins Genick und drängte ihn vorwärts. Lee zwängte sich durch die schmale Öffnung und Hawkwood blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Mit zwei Männern gleichzeitig konnte er nicht kämpfen. So bleib ihm nur die Hoffnung auf eine Revanche. Inzwischen war es am besten, Lees Anordnungen zu folgen.

Am unteren Ende der Leiter angekommen, trat Lee beiseite.

»Officer Hawkwood, willkommen auf der Narwal.«


Jago stürzte aus dem Lagerhaus und spuckte auf das Kopfsteinpflaster. Es war keine gute Idee gewesen, Hawkwood hierher zu folgen. Er hatte das Lagerhaus gründlich durchsucht und weder den Captain noch dieses mysteriöse Unterseeboot entdeckt. Nur einen Toten, und nach dem, was Hawkwood ihm erzählt hatte, konnte es sich nur um den Uhrmacher handeln. Was bedeutete, dass die Verschwörer das Lagerhaus tatsächlich als Versteck benutzt hatten. Und Josiah Woodburn hatte sterben müssen, weil die Attentäter ihn nicht mehr brauchten. William Lee verwischte seine Spuren.

Jetzt hieß es nur noch, schnellstmöglich James Read zu benachrichtigen.

Aber, wo zum Teufel, steckte Hawkwood?

Jago lief zum Ruderboot zurück. Doch dann blieb er abrupt am Kai darüber stehen und starrte ins Wasser. Irgendetwas irritierte ihn. Plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Als er das Lagerhaus durchsuchte, hatte das zuvor geschlossene Tor des Ladekais zur Fahrrinne offen gestanden.

Anstatt das Lagerhaus und die Kais im Auge zu behalten, hätte ich lieber auf dem Fluss Ausschau halten sollen, dachte er. Und da ist noch etwas …

Das Blut unter der Leiche des alten Mannes war noch nicht geronnen.

Jago sah sich schnell um, blickte dann nach oben und lief los.

Die Balkone, die aus den obersten Stockwerken der Speicher und Lagerhäuser am Fluss ragten, wurden Witwenstege genannt. Denn von dort aus pflegten die Frauen der Matrosen Ausschau nach den Schiffen zu halten, die ihre Männer nach Hause brachten. Vor Jahren noch hatte man an einem schönen Tag mit dem Fernrohr flussabwärts bis zur Isle of Dogs mit den East India Docks und darüber hinaus sehen können. An einigen älteren Gebäuden gab es noch heute auf Sockeln montierte Fernrohre, damit Kaufleute und Schiffseigentümer so schnell wie möglich ihre heimkehrenden Handelsschiffe ausmachen konnten. Im Volksmund heißt es, der frühe Vogel fängt den Wurm. Das galt auch für den Handel. Denn die Neuigkeit, dass ein Schiff heimkehrte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Ob Tee, Tabak, Gewürze oder Seidenstoffe – die zuerst eintreffende Fracht bestimmte die Preise. Ein Fernrohr bedeutete also Gewinn oder Verlust.

Auf dem Balkon des Wollwarenhändlers Maggot & Sons hielt Jago ein geliehenes Fernrohr vor sein rechtes Auge und suchte den Fluss ab. Ein Teil seines Gehirns sagte ihm zwar, dass es vergeblich sei, auf dem Wasser nach einem Schiff Ausschau zu halten, das unter Wasser schwimmen konnte, aber er musste einfach etwas tun. Und etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Jago erinnerte sich an die Worte des Obersten Richters: Wir müssen logisch vorgehen.

Wenn das offene Tor ein Hinweis darauf war, dass das Unterseeboot im Lagerhaus versteckt gewesen und ausgelaufen war, so befand sich Hawkwood vielleicht an Bord. Welche Strecke konnte das Boot zurückgelegt haben? Jago richtete das Fernrohr auf die stromabwärts segelnden Boote. Wie lang war das Boot? Sechs Meter? Sieben Meter? Also konzentrierte er sich auf die kleineren Wasserfahrzeuge.

Jago hatte nie an Wunder geglaubt, bis vor seiner Linse ein kleines dreieckiges graubraunes Segel auftauchte, das sich langsam am linken Themseufer flussabwärts bewegte. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und spähte wieder durch das Fernrohr. Er konnte den Mast erkennen. Zuerst glaubte er, es handele sich um einen Frachtsegler mit zwei vertäuten Fässern, eins am Heck und das andere vor dem Mast. Ein Mann stand am Ruder, zwei waren auf Deck. Der eine saß mit dem Rücken zum Heck am Schandeckel. Jago schimpfte und wollte schon das Fernrohr senken. Da drehte sich der Mann am Ruder plötzlich um, als hätte er gespürt, dass er beobachtet wurde. Jago erstarrte, als er das Gesicht erkannte. Dann fluchte er. Will Sparrow!

Jago richtete das Fernrohr schnell auf die beiden anderen Männer, doch in diesem Augenblick neigte sich das Schiff seitwärts, und das Segel schob sich vor die Linse. Jago fluchte wieder, starrte erneut durch das Fernrohr, aber er konnte keinen Blick auf die beiden anderen Männer werfen. Jago musste schnell eine Entscheidung treffen.

Und zum zweiten Mal an diesem Morgen nahm er seine Beine unter den Arm und rannte los.


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