Das Zimmer war weiß und mit Dunstschleiern und leuchtender Sonne ausgekleidet. Von meinem Fenster aus sah man ein unendliches blaues Meer. Später würde man mich davon überzeugen wollen, daß von der CorachánKlinik aus das Meer nicht zu sehen ist, daß ihre Zimmer weder weiß noch ätherisch sind und daß das Meer in jenem November überhaupt kalt und bleiern abweisend war, daß es an sämtlichen Tagen dieser Woche weiterschneite, bis ganz Barcelona unter einem Meter Schnee begraben war und selbst Fermín, der ewige Optimist, dachte, ich würde noch einmal sterben.
Ich war schon vorher gestorben, im Krankenwagen, in Beas Armen und denen des Polizisten Palacios, der sich mit meinem Blut die Uniform ruinierte. Laut den Ärzten, die über mich sprachen, als könnte ich sie nicht hören, hatte das Projektil zwei Rippen zerstört, das Herz gestreift, eine Arterie getroffen und war dann an der Seite wieder ausgetreten. Vierundsechzig Sekunden lang hatte mein Herz ausgesetzt. Man erzählte mir, bei der Rückkehr von meinem Ausflug ins Unendliche hätte ich die Augen geöffnet und gelächelt, bevor ich das Bewußtsein verloren hätte.
Erst nach einer Woche kam ich wieder zu mir. Inzwischen hatten die Zeitungen die Nachricht vom Tod des verdienten Chefinspektors Francisco Javier Fumero in einem Streit mit einer bewaffneten Bande gebracht, und die Behörden waren zu sehr damit beschäftigt, eine Straße oder Passage zu suchen, die man zu seinem Gedenken umtaufen konnte. Im alten Aldaya-Haus wurde als einzige seine Leiche gefunden; die von Penélope und ihrem Kind tauchten nie auf.
Ich erwachte am frühen Morgen. Ich erinnere mich, daß sich das Licht wie flüssiges Gold über die Bettücher ergoß. Es schneite nicht mehr, und jemand hatte das Meer vor meinem Fenster mit einem weißen Platz vertauscht, auf dem sich einige Schaukeln und wenig mehr abhoben. Mein Vater, neben meinem Bett auf einem Stuhl zusammengesunken, schaute auf und sah mich schweigend an. Ich lächelte ihm zu, und er brach in Tränen aus. Fermín, der auf dem Korridor den Schlaf des Gerechten schlief, und Bea, seinen Kopf auf dem Schoß, hörten ihn, ein Schluchzen, das in Rufe mündete, und kamen ins Zimmer. Ich erinnere mich, daß Fermín weiß und dünn war wie eine Fischgräte. Man erzählte mir, das Blut in meinen Adern stamme von ihm, da ich so gut wie alles eigene verloren hätte, und seit Tagen stopfe er in der Cafeteria der Klinik Brötchen mit Schweineschnitzeln in sich hinein, um rote Blutkörperchen zu bilden, falls ich noch mehr davon benötige. Vielleicht war das die Erklärung dafür, daß ich mich weiser und weniger danielig fühlte. Ich erinnere mich, daß mich ein Wald aus Blumen umgab und daß an diesem Nachmittag Gustavo Barceló und seine Nichte Clara, die Bernarda und mein Freund Tomás durchs Zimmer defilierten. Letzterer getraute sich nicht, mir in die Augen zu sehen, und als ich ihn umarmte, lief er schniefend davon. Ich erinnere mich vage an Don Federico, der in Begleitung der Merceditas kam, und an den Lehrer Don Anacleto. Vor allem aber erinnere ich mich an Bea, die mich schweigend anschaute, während alle übrigen dem Himmel dankten, und an meinen Vater, der sieben Nächte auf diesem Stuhl geschlafen und zu einem Gott gebetet hatte, an den er nicht glaubte.
Als die Ärzte das ganze Gefolge aus dem Zimmer wiesen, damit ich mich ausruhen konnte, was ich überhaupt nicht wollte, trat mein Vater einen Moment zu mir und sagte, er habe mir meinen Füllfederhalter mitgebracht, Victor Hugos Füllfederhalter, und ein Heft, falls ich schreiben wolle. In der Tür sagte Fermín, er habe mit den Klinikärzten gesprochen und sie hätten ihm versichert, ich müsse keinen Militärdienst leisten. Bea küßte mich auf die Stirn und nahm meinen Vater mit hinaus an die Luft — er hatte dieses Zimmer seit über einer Woche nicht mehr verlassen. Ich blieb allein, völlig erschöpft, und überließ mich der Müdigkeit, während ich das Etui mit meinem Füllfederhalter auf dem Nachttisch betrachtete.
Schritte in der Tür weckten mich, und ich hatte das Gefühl, meinen Vater zu Füßen des Bettes zu sehen, oder vielleicht war es auch Dr. Mendoza, der kein Auge von mir abwandte, überzeugt, mein Überleben sei ein schieres Wunder. Der Besucher ging um das Bett herum und setzte sich auf den Stuhl meines Vaters. Mein Mund war ausgetrocknet, und ich konnte kaum sprechen. Julián Carax hielt mir ein Glas Wasser an die Lippen und stützte meinen Kopf, während ich sie befeuchtete. Er hatte Abschiedsaugen, die ich nur anzuschauen brauchte, um zu verstehen, daß er die Wahrheit über Penélope nie herausgefunden hatte. Ich erinnere mich nicht mehr genau an seine Worte noch an den Klang seiner Stimme. Aber ich weiß, daß er meine Hand nahm und mich bat, an seiner Stelle zu leben, und daß ich ihn nie wiedersehen würde. Was ich jedoch nicht vergessen habe, ist, was ich ihm sagte. Ich bat ihn, diese Feder zu nehmen, die schon immer ihm gehört habe, und wieder zu schreiben.
Als ich erwachte, erfrischte mir Bea die Stirn mit Kölnisch Wasser. Erschrocken fragte ich sie, wo Carax sei. Sie schaute mich verwirrt an und sagte, der sei vor einer Woche im Schneesturm verschwunden, eine Blutspur hinterlassend, und alle hielten ihn für tot. Ich verneinte, er sei hier bei mir gewesen, vor wenigen Sekunden. Bea lächelte, ohne etwas zu sagen. Die Krankenschwester, die mir den Puls fühlte, schüttelte langsam den Kopf und erklärte, ich hätte sechs Stunden geschlafen und sie habe die ganze Zeit an ihrem Schreibtisch gegenüber meinem Zimmer gesessen und währenddessen habe niemand mein Zimmer betreten.
Als ich an diesem Abend einzuschlafen versuchte, drehte ich den Kopf auf dem Kissen und stellte fest, daß das Etui offen und der Füller verschwunden war.