Beim Erwachen war mein erster Impuls, meinen besten Freund an der Existenz des Friedhofs der Vergessenen Bücher teilhaben zu lassen. Tomás Aguilar war ein Mitschüler, der seine Freizeit und sein Talent der Erfindung höchst sinnreicher Vorrichtungen widmete, die jedoch von geringem praktischem Nutzen waren, wie der aerostatische Speer oder der Dynamokreisel. Keiner drängte sich mehr auf als Tomás, um dieses Geheimnis mit mir zu teilen. Mit offenen Augen träumend, stellte ich mir meinen Freund und mich mit Laternen und Kompaß bewehrt vor, bereit, die Mysterien dieser Bücherkatakombe zu lüften. Dann erinnerte ich mich an mein Versprechen und entschied mich für das, was in Kriminalromanen »ein anderer modus operandi« genannt wird. Am Mittag sprach ich meinen Vater auf dieses Buch und Julián Carax an, die ich mir in meiner Begeisterung beide weltberühmt vorgestellt hatte. Meine Idee war es, mir Carax’ sämtliche Werke zu verschaffen und in weniger als einer Woche von A bis Z durchzulesen. Wie groß war aber meine Überraschung, als ich feststellte, daß mein Vater, ein Buchhändler von Geblüt und guter Kenner der Verlagskataloge, noch nie von Julián Carax und seinem Buch Der Schatten des Windes gehört hatte. Neugierig prüfte er die Seite mit den Verlagsangaben.
»Hiernach gehört dieses Exemplar zu einer Ausgabe von zweitausendfünfhundert Exemplaren, die im Dezember 1935 in Barcelona von Cabestany Editores gedruckt wurde.«
»Kennst du den Verlag?«
»Er hat schon vor Jahren geschlossen. Aber die Originalausgabe ist nicht die da, sondern eine andere vom November desselben Jahres, allerdings in Paris gedruckt. Der Verlag ist Galliano & Neuval. Sagt mir nichts.«
»Das Buch ist also eine Übersetzung?« fragte ich verwirrt.
»Das steht nicht da. Soweit man hier sieht, handelt es sich um den Originaltext.«
»Ein Buch auf spanisch, das zuerst in Frankreich verlegt wurde?«
»Das dürfte damals nicht das erste Mal gewesen sein. Vielleicht kann uns Barceló weiterhelfen…«
Gustavo Barceló war ein alter Kollege meines Vaters, Inhaber einer höhlenartigen Buchhandlung in der Calle Fernando, welcher die Antiquarenzunft anführte. Er hing tagaus, tagein an einer erloschenen Pfeife, die nach persischem Markt dunstete, und bezeichnete sich selbst als letzten Romantiker. Er behauptete, in seiner Familie gebe es eine entfernte Verwandtschaft mit Lord Byron, obwohl er selbst aus dem Flecken Caldas de Montbuy stammte. Vielleicht um diese Verbindung deutlich zu machen, kleidete er sich wie ein Dandy aus dem 19. Jahrhundert, mit Foulard, weißen Gamaschen und einem Monokel aus Fensterglas, das er, wie böse Zungen sagten, nicht einmal in der Intimität des Klos abnahm. In Wirklichkeit war die bedeutsamste Verwandtschaft, deren er sich erfreute, die mit seinem Vater, einem Industriellen, der sich Ende des 19. Jahrhunderts auf mehr oder weniger schmutzige Art bereichert hatte. Wie mir mein Vater erklärte, war Gustavo Barceló tatsächlich betucht, und seine Buchhandlung war weit eher eine Leidenschaft als ein Geschäft. Er liebte die Bücher vorbehaltlos, und wenn jemand seine Buchhandlung betrat und sich in einen Band vernarrte, den er sich nicht leisten konnte, setzte er, obwohl er das rundweg bestritt, den Preis soweit als nötig herunter oder verschenkte das Buch gar, wenn er den Käufer als echten Büchernarren und nicht als Sonntagsleser einschätzte. Abgesehen von solchen Eigentümlichkeiten verfügte Barceló über ein Elefantengedächtnis und konnte belehrend auftreten, daß einem die Ohren gellten, aber wenn jemand über merkwürdige Bücher Bescheid wußte, dann er. Nachdem mein Vater an diesem Abend die Buchhandlung geschlossen hatte, schlug er vor, ins Café Els Cuatre Gats in der Calle Montsió zu gehen, wo Barceló und seine Kollegen einen bibliophilen Stammtisch über poètes maudits, tote Sprachen und den Motten zum Opfer gefallene Meisterwerke unterhielten.
Els Cuatre Gats lag einen Steinwurf von zu Hause entfernt, und diese vier Katzen hatten es mir angetan. Dort hatten sich im Jahr 1932 meine Eltern kennengelernt, und meine Eintrittskarte fürs Leben schrieb ich zum Teil dem Charme dieses alten Cafés zu. Steinerne Drachen bewachten die tief verschattete Fassade, und die Gaslaternen an der Ecke froren Zeit und Erinnerungen ein. Im Innern verschmolzen die Menschen mit den Echos aus andern Zeiten. Buchhalter, Träumer und Geisteslehrlinge teilten den Tisch mit den Schimären von Pablo Picasso, Isaac Albéniz, Federico García Lorca oder Salvador Dalí. Zum Preis eines kleinen Kaffees konnte sich hier jeder Habenichts für ein Weilchen als historische Figur fühlen.
»Mensch, Sempere«, rief Barceló, als er meinen Vater hereinkommen sah, »der verlorene Sohn. Was verschafft uns die Ehre?«
»Die Ehre verschafft Ihnen mein Sohn Daniel, Don Gustavo, der soeben eine Entdeckung gemacht hat.«
»Dann setzen Sie sich zu uns, diese Kasualie will gefeiert sein«, rief Barceló.
»Kasuarlilie?« flüsterte ich meinem Vater zu.
»Barceló redet nur in Fremdwörtern«, antwortete mein Vater halblaut.
»Und du sag nichts, er plustert sich gern auf.«
Die Stammtischgäste machten uns Platz in ihrem Kreis, und Barceló, der sich gern freigebig zeigte, bestand darauf, uns einzuladen.
»Wie alt ist denn der Grünschnabel?« fragte er und musterte mich von der Seite.
»Fast elf«, erklärte ich.Barceló lächelte mir verschmitzt zu.
»Also zehn. Mach dich nicht älter, du Halunke, das wird das Leben schon noch übernehmen.« Mehrere der Stammtischgäste murmelten zustimmend. Barceló winkte einen Kellner herbei, der aussah, als würde er demnächst unter Denkmalschutz gestellt.
»Einen Kognak für meinen Freund Sempere, und zwar vom guten, und für den Sprößling da eine Merenguemilch, er muß noch wachsen. Ach ja, und bringen Sie noch ein paar Schinkenwürfelchen, aber nicht wie die vorher, ja? Für Gummi ist die Firma Pirelli zuständig.« Der Kellner nickte und schlurfte, seine Seele im Schlepptau, davon.
»Ich sag’s ja immer«, bemerkte Barceló.
»Wie soll es da Arbeit geben? In diesem Land wird man nicht einmal pensioniert, wenn man gestorben ist. Schauen Sie sich doch den Cid an. Da ist nichts zu wollen.« Er nuckelte an seiner erloschenen Pfeife, während sein scharfer Blick interessiert nach dem Buch spähte, das ich in den Händen hielt. Hinter seiner Komödiantenfassade und dem ganzen Wortschwall roch er eine gute Beute wie ein Wolf das Blut.
»Na«, sagte er mit gespieltem Desinteresse, »was bringen Sie beide mir also mit?«
Ich schaute meinen Vater an. Der nickte. Wortlos reichte ich Barceló das Buch. Er ergriff es mit kundiger Hand. Seine Pianistenfinger überprüften rasch Textur, Konsistenz und Zustand. Mit listigem Lächeln schlug er die Seite der Verlagsangaben auf und inspizierte sie eine Minute lang wie ein Kriminalbeamter. Die andern schauten ihm schweigend zu, als warteten sie auf eine Offenbarung oder die Erlaubnis, wieder zu atmen.
»Carax. Interessant«, murmelte er in undurchdringlichem Ton.Ich streckte die Hand ein zweites Mal aus, um das Buch wiederzubekommen. Barceló zog die Brauen hoch, gab es mir aber mit eisigem Lächeln zurück.
»Wo hast du es gefunden, mein Junge?«
»Das ist ein Geheimnis«, antwortete ich und wußte, daß mein Vater bei sich lächelte.Barceló runzelte die Stirn und schaute meinen Vater an.
»Mein lieber Sempere, weil Sie es sind und wegen der Hochachtung, die ich Ihnen entgegenbringe, und um der langen, tiefen Freundschaft willen, die uns eint wie Brüder — sagen wir vierzig Duros, und damit basta.«
»Das werden Sie mit meinem Sohn diskutieren müssen«, sagte mein Vater.
»Das Buch gehört ihm.« Barceló schenkte mir ein wölfisches Lächeln.
»Was meinst du, Jungchen? Vierzig Duros, zweihundert Peseten, das ist nicht schlecht für einen ersten Verkauf… Sempere, der Junge da wird Karriere machen in diesem Geschäft.«
Eifrig beklatschten die Stammtischgäste den Satz. Barceló schaute mich zufrieden an und zog seine lederne Brieftasche. Er zählte die vierzig Duros ab, damals ein ordentliches Vermögen, und streckte sie mir hin. Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Barceló machte ein böses Gesicht.
»Habsucht ist eine hoffnungslose Todsünde, ja? Also, sechzig Duros, und damit legst du ein Sparbuch an — in deinem Alter muß man an die Zukunft denken.«
Ich schüttelte erneut den Kopf. Durch sein Monokel warf Barceló meinem Vater einen zornigen Blick zu.
»Mich brauchen Sie nicht anzuschauen«, sagte mein Vater.
»Ich bin nur als Begleiter hier.«
Barceló seufzte und betrachtete mich aufmerksam.
»Na, mein Kleiner, was willst du denn nun?«
»Ich will wissen, wer Julián Carax ist und wo ich weitere Bücher finden kann, die er geschrieben hat.« Barceló lachte leise und steckte seine Brieftasche wieder ein; er sah seinen Gegner nun mit andern Augen an.
»Nanu, ein Intellektueller. Sempere, womit füttern Sie denn dieses Kind?«
Er neigte sich in vertraulichem Ton zu mir herüber, und einen Moment glaubte ich in seinem Blick einen gewissen Respekt zu erhaschen, der vor Augenblicken noch nicht dagewesen war.
»Wir werden einen Handel schließen«, sagte er zu mir.
»Morgen ist Sonntag, da kommst du am Nachmittag in die Athenäumsbibliothek und fragst nach mir. Du bringst das Buch mit, damit ich es genau untersuchen kann, und ich erzähle dir, was ich über Julián Carax weiß. Quidproquo.«
»Quidprowas?«
»Latein, Junge. Es gibt keine toten Sprachen, nur abgestumpfte Geister. Umschrieben bedeutet das, daß ein Duro immer fünf und niemals vier Peseten hat, daß du mir aber sympathisch bist und ich dir einen Gefallen tun werde.« Mit der Beredsamkeit, die der Mann verströmte, war er imstande, die Fliegen im Fliegen zu vernichten, doch ich ahnte, daß ich mich, wollte ich etwas über Julián Carax herausfinden, besser in gutem Einvernehmen mit ihm befand. Ich lächelte ihn selig an, um mein Vergnügen an seinem Küchenlatein und seiner Redegewandtheit zu zeigen.
»Denk dran, morgen im Athenäum. Aber bring das Buch mit, sonst gibt’s keinen Handel.«
»Einverstanden.«
Langsam löste sich das Gespräch im Gebrabbel der andern Stammtischgäste auf, die über einige im Keller des Escorial gefundene Dokumente zu diskutieren begannen, welche die Möglichkeit andeuteten, daß Don Miguel de Cervantes nur das Pseudonym einer behaarten Matrone aus Toledo gewesen war. Barceló schien abwesend und beteiligte sich nicht an der spitzfindigen Debatte, sondern betrachtete mich mit verschleiertem Lächeln durch sein Monokel. Oder vielleicht schaute er auch nur das Buch an, das ich in Händen hielt.
Am Sonntag hingen die Wolken tief am Himmel, und die Straßen schmachteten unter einer hitzigen Dunstlagune, die die Thermometer an den Wänden zum Schwitzen brachte. Gegen Abend, als es noch um dreißig Grad war, zog ich mit meinem Buch unter dem Arm und einem Schweißvorhang auf der Stirn los, Richtung Calle Canuda und Athenäum zur Verabredung mit Barceló. Das Athenäum war — und ist — einer der vielen Winkel Barcelonas, wo das 19. Jahrhundert noch nichts von seiner Pensionierung mitbekommen hat. Die steinerne Vortreppe führte von einem höfischen Patio zu einem geisterhaften Netzwerk aus Galerien und Lesesälen empor, wohin neumodische Erfindungen wie Telefon, Eile oder Armbanduhr noch nicht vorgedrungen waren. Der Pförtner, oder vielleicht war es bloß eine Statue in Uniform, zuckte bei meinem Kommen kaum mit der Wimper. Ich glitt in den ersten Stock hinauf und pries die Flügel eines Ventilators, der inmitten von eingeschlummerten, auf ihren Büchern und Zeitungen wie Eiswürfel dahinschmelzenden Lesern schnurrte.
Don Gustavo Barcelós Silhouette zeichnete sich neben den Glastüren einer Galerie ab, die auf den Innengarten des Hauses führte. Trotz der fast tropischen Atmosphäre steckte der Buchhändler in seiner gewohnten Geckengala. Neben ihm erkannte ich eine Gestalt in einem weißen Mohairkleid, die mir wie ein in Nebel modellierter Engel erschien. Beim Echo meiner Schritte schloß Barceló halb die Augen und bedeutete mir mit einer Handbewegung, näher zu treten.
»Daniel, nicht wahr?« fragte er.
»Hast du das Buch mitgebracht?«
Ich nickte zweifach und setzte mich auf den Stuhl, den mir Barceló neben sich und seiner geheimnisvollen Begleiterin anbot. Mehrere Minuten lang lächelte er unbekümmert um meine Anwesenheit still vor sich hin. Bald gab ich jede Hoffnung auf, daß er mich der Dame in Weiß vorstellte, wer immer sie sein mochte. Er benahm sich, als ob sie nicht da wäre und keiner von uns beiden sie sehen könnte. Ich betrachtete sie verstohlen, voller Angst, ihrem Blick zu begegnen, der noch immer im Nirgendwo schwebte. Die Haut ihres Gesichts und der Arme war blaß, beinahe durchsichtig. Sie hatte feine Züge, die unter schwarzem, wie ein feuchter Stein glänzendem Haar mit kräftigem Strich gezeichnet waren. Ich schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre, aber etwas in ihrem Verhalten brachte mich auf den Gedanken, sie sei alterslos. Sie war wie in dem Zustand ewiger Jugend gefangen, der sonst den Schaufensterpuppen in piekfeinen Auslagen vorbehalten ist. Ich versuchte, unter ihrem Schwanenhals den Puls abzulesen, als ich bemerkte, daß mich Barceló aufmerksam beobachtete.
»Willst du mir jetzt also sagen, wo du dieses Buch herhast?« fragte er.
»Das würde ich schon, aber ich habe meinem Vater versprochen, das Geheimnis zu hüten.«
»Ich sehe schon — Sempere und seine Geheimnisse. Ich kann mir etwa vorstellen, wo. Da hast du ein Riesenschwein gehabt, mein Junge. Das nenne ich eine Stecknadel in einem Heuschober finden. Na, darf ich mal sehen?« Ich gab ihm das Buch, und Barceló ergriff es mit unendlicher Behutsamkeit.
»Ich nehme an, du hast es gelesen.«
»Jawohl.«
»Ich beneide dich. Ich habe immer gedacht, der richtige Zeitpunkt, um Carax zu lesen, ist, wenn man noch ein junges Herz und einen reinen Geist hat. Hast du gewußt, daß das der letzte Roman ist, den er geschrieben hat?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wie viele Exemplare davon auf dem Markt sind, Daniel?«
»Vermutlich Tausende.«
»Keines — außer deinem. Die übrigen wurden verbrannt.«
»Verbrannt?« Einmal mehr lächelte Barceló unergründlich, während er die Seiten durch die Finger gleiten ließ und das Papier streichelte, als bestünde es aus einer Seide, die es auf der Welt nur einmal gab. Langsam wandte sich die Dame in Weiß um. Ihre Lippen deuteten ein schüchternes, zitterndes Lächeln an. Ihre Augen ertasteten das Leere, marmorweiße Pupillen. Ich schluckte. Sie war blind.
»Du kennst meine Nichte Clara nicht, was?« fragte Barceló.Ich verneinte, unfähig, den Blick von diesem Geschöpf mit dem Porzellanpuppenteint und den weißen Augen abzuwenden, den traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.
»Im Grunde ist Clara die Expertin für Julián Carax, darum habe ich sie mitgebracht«, sagte Barceló.
»Ja, wenn ich’s mir richtig überlege, ziehe ich mich, glaube ich, mit eurer Erlaubnis in einen andern Raum zurück, um dieses Buch zu studieren, während ihr euch über eure Dinge unterhaltet. Ist euch das recht?« Verdutzt schaute ich ihn an. Ohne sich weiter um mich zu kümmern, klopfte mir der Buchhändler, Gauner bis zum letzten Atemzug, leicht auf die Schulter und zog mit meinem Buch unterm Arm ab.
»Du hast ihn beeindruckt, weißt du«, sagte die Stimme hinter mir.Ich drehte mich um und sah, wie das leichte Lächeln von Barcelós Nichte im Leeren tastete. Sie hatte eine so zarte Kristallstimme, daß ich glaubte, ihre Worte würden zersplittern, wenn ich sie mitten im Satz unterbräche.
»Mein Onkel hat mir gesagt, daß er dir für Carax’ Buch eine ordentliche Summe angeboten hat, aber du hast sie abgelehnt. Du hast seinen Respekt gewonnen.«
»Schwer zu glauben«, seufzte ich.Ich stellte fest, daß Clara beim Lächeln den Kopf zur Seite neigte und ihre Finger mit einem Ring spielten, von dem es nur so blitzte.
»Wie alt bist du?« fragte sie.
»Fast elf. Und Sie?« Clara lachte über meine unverschämte Naivität.
»Fast doppelt so alt, aber das ist auch wieder nicht so alt, daß du mich zu siezen brauchst.«
»Sie sehen jünger aus«, bemerkte ich in der Ahnung, das könnte ein guter Ausweg aus meiner Indiskretion sein.
»Dann traue ich dir — ich weiß ja nicht, wie ich aussehe«, antwortete sie und lächelte weiter ihr halbes Lächeln.
»Aber wenn ich dir jünger vorkomme, ist das ein Grund mehr, daß du mich duzt.«
»Wie Sie meinen, Señorita Clara.« Aufmerksam betrachtete ich ihre wie Flügel auf dem Schoß ausgebreiteten Hände, ihre zarte, sich unter dem flauschigen Stoff abzeichnende Taille, die Linie ihrer Schultern, die außerordentliche Blässe ihres Halses und den Verschluß ihrer Lippen, die ich am liebsten mit den Fingerspitzen liebkost hätte. Nie zuvor hatte ich Gelegenheit gehabt, eine Frau von so nahe und so genau zu studieren, ohne befürchten zu müssen, ihrem Blick zu begegnen.
»Was guckst du?« fragte Clara nicht ohne eine gewisse Boshaftigkeit.
»Ihr Onkel sagt, Sie sind Expertin für Julián Carax«, improvisierte ich mit trockenem Mund.
»Mein Onkel wäre imstande, alles zu sagen, wenn er nur eine Weile mit einem Buch allein sein kann, das ihn fesselt. Aber du fragst dich gewiß, wie eine Blinde Expertin für Bücher sein kann, ohne lesen zu können.«
»Das ist mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Dafür, daß du fast elf bist, lügst du nicht schlecht. Sieh dich vor, oder du endest noch wie mein Onkel.« Da ich befürchtete, abermals ins Fettnäpfchen zu treten, blieb ich schweigend sitzen und starrte sie fasziniert an.
»Na los, komm her«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Komm her und hab keine Angst. Ich werde dich schon nicht auffressen.« Ich stand vom Stuhl auf und trat zu Clara. Sie hob die rechte Hand und tastete nach mir. Ohne recht zu wissen, wie ich mich verhalten sollte, reichte ich ihr die Hand. Sie nahm sie in die eine und bot mir die andere Hand. Instinktiv begriff ich, worum sie mich bat, und führte sie zu meinem Gesicht. Ihre Berührung war kräftig und zart zugleich. Ihre Finger wanderten über meine Wangen und die Backenknochen. Ich rührte mich nicht und wagte kaum zu atmen, während Clara mit der Hand meine Züge las. Dabei lächelte sie vor sich hin, und ich konnte sehen, daß sich ihre Lippen wie in stummem Murmeln halb schlossen. Ich spürte die leichte Berührung ihrer Hände auf der Stirn, im Haar und auf den Lidern. Bei meinen Lippen hielt sie inne und zeichnete sie mit Zeige- und Ringfinger schweigend nach. Sie rochen nach Zimt. Ich mußte schlucken, als ich feststellte, daß mein Puls gewaltsam emporschnellte, und war heilfroh, daß es keine Augenzeugen für mein glühendes Erröten gab.
An diesem Dunst- und Nieselabend raubte mir Clara Barceló das Herz, den Atem und den Schlaf. Im Licht des Athenäums schrieben ihre Finger meiner Haut einen Fluch ein, der mich jahrelang verfolgen sollte. Während ich sie mit offenem Mund betrachtete, erzählte mir die Nichte des Buchhändlers ihre Geschichte und wie sie, ebenfalls durch Zufall, auf Julián Carax gestoßen war. Das war in einem Dorf der Provence geschehen. Ihr Vater, ein renommierter, dem Kabinett des Präsidenten Companys verbundener Anwalt, hatte den Weitblick gehabt, Tochter und Gattin bei Ausbruch des Bürgerkriegs auf die andere Seite der Grenze zu seiner Schwester zu schicken. Manche Leute waren zwar der Meinung, das sei übertrieben, in Barcelona werde schon nichts geschehen und in Spanien, Wiege und Inbegriff der christlichen Zivilisation, sei die Barbarei eine Sache der Anarchisten und die brächten es, zu Rad und mit Flicken auf den Strümpfen, nicht sehr weit. Die Völker betrachten sich nie im Spiegel, sagte Claras Vater immer, und erst recht nicht, wenn sie einen Krieg am Hals haben. Der Anwalt war ein guter Kenner der Geschichte und wußte, daß die Zukunft eher auf den Straßen, in den Fabriken und Kasernen zu lesen war als in den Morgenblättern. Monatelang schrieb er ihnen jede Woche. Anfänglich aus seiner Kanzlei in der Calle Diputación, dann ohne Absender und schließlich heimlich aus einer Zelle im Kastell des Montjuïc, wo ihn, wie so viele andere, niemand hineingehen sah und wo er nie wieder herauskam.
Claras Mutter las die Briefe vor, kämpfte dabei mit den Tränen und übersprang die Absätze, die ihre Tochter erahnte, ohne sie hören zu müssen. Später, um Mitternacht, brachte Clara ihre Kusine Claudette dazu, ihr die väterlichen Briefe noch einmal, diesmal vollständig, vorzulesen. Das war ihre Art zu lesen, mit geliehenen Augen. Nie sah jemand sie eine Träne vergießen, weder als die Briefe des Anwalts ausblieben, noch als die Nachrichten vom Krieg das Schlimmste befürchten ließen.
»Mein Vater wußte von Anfang an, was geschehen würde«, sagte Clara.
»Er blieb an der Seite seiner Freunde, weil er dachte, das sei seine Pflicht. Das Leben gekostet hat ihn die Treue zu Leuten, die ihn verrieten, als es darauf angekommen wäre. Trau nie jemandem, Daniel, vor allem nicht Menschen, die du bewunderst. Die werden dir die schlimmsten Stiche zufügen.«
Die Härte ihrer Worte schien von einem jahrelangen Leben in Geheimnissen und Schatten geschmiedet. Ich verlor mich in ihrem Porzellanblick, Augen ohne Tränen und Trug, und hörte sie von Dingen sprechen, die ich damals nicht verstand. Clara beschrieb Menschen, Schauplätze und Gegenstände, die sie selbst nie gesehen hatte, mit der Detailtreue eines Meisters der flämischen Schule. Sie erzählte mir, wie sie und ihre Kusine Claudette in den Jahren des französischen Exils sich in einen Vormund und Privatlehrer geteilt hatten, einen versoffenen Fünfziger, der sich als Literat wähnte und sich damit brüstete, Vergils Äneis auf lateinisch rezitieren zu können, und dem sie den Spitznamen Monsieur Roquefort gegeben hatten, da er trotz der römischen Bäder mit Kölnisch Wasser und Parfüm, mit denen er seine Schlemmergestalt beizte, einen sehr besonderen Geruch verströmte. Bei all seinen beträchtlichen Eigentümlichkeiten (unter denen eine feste, ja kämpferische Überzeugung hervorstach, Würste und insbesondere die Blutwürste, die Clara und ihre Mutter von den Verwandten aus Spanien bekamen, seien ein Wundermittel für den Kreislauf und gegen die Gicht) war Monsieur Roquefort ein Mann mit erlesenem Geschmack. Von jung auf reiste er einmal monatlich nach Paris, um seinen Kulturfundus mit den letzten literarischen Neuheiten anzureichern, Museen zu besichtigen und, wie gemunkelt wurde, einen freien Abend in den Armen eines Nymphchens zu verbringen, das er Madame Bovary getauft hatte, obwohl sie Hortense hieß und eine Anlage zum Gesichtsflaum hatte. Auf seinen Kulturexkursionen pflegte Monsieur Roquefort einen Bouquinisten am linken Seineufer aufzusuchen, und dort stieß er an einem Nachmittag des Jahres 1929 zufällig auf einen Roman eines unbekannten Autors namens Julián Carax. Unbekanntem gegenüber stets offen, kaufte er das Buch, und zwar vor allem weil ihm der Titel attraktiv erschien und er auf der Rückfahrt im Zug gern etwas Leichtes las. Der Roman hieß Das rote Haus, und auf der Umschlagrückseite war ein verschwommenes Bild des Autors abgedruckt, vielleicht ein Foto oder eine Kohlezeichnung. In der Angabe zur Person hieß es nur, daß Julián Carax ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren war, der mit dem Jahrhundert in Barcelona geboren wurde und jetzt in Paris lebte, auf französisch schrieb und sich hauptberuflich als Nachtpianist in einem Animierlokal betätigte. Der gespreizte, wichtigtuerische Klappentext verkündete, es handle sich um das erste Werk eines blendenden Geistes, eines proteischen, bahnbrechenden Talents, einer Zukunftsverheißung für die europäische Literatur ohnegleichen in der Welt der Lebenden. Doch die folgende Inhaltszusammenfassung ließ durchblicken, daß die Geschichte ziemlich reißerische Elemente enthielt, was in Monsieur Roqueforts Augen immer ein Pluspunkt war, denn am meisten gefielen ihm gleich nach den Klassikern leicht anrüchige Sensationsromane.
Das rote Haus schilderte das gepeinigte Leben eines geheimnisvollen Mannes, der Spielwarenläden und Museen überfiel, um Puppen und Marionetten zu stehlen; denen riß er danach die Augen aus und brachte sie in seine Bleibe, ein gespenstisches verlassenes Gewächshaus am Seineufer. Als er eines Nachts in eine Luxusvilla in der Avenue Foix einbrach, um die private Puppensammlung eines während der industriellen Revolution mit dunklen Machenschaften zu Geld gekommenen Magnaten zu plündern, verliebte sich seine Tochter, eine sehr belesene, feine junge Dame der guten Pariser Gesellschaft, in den Eindringling. Je weiter der verworrene Plot gedieh, in dem sich heikle Zwischenfälle und zwielichtige Episoden häuften, desto tiefer drang die Heldin in das Rätsel ein, das den undurchsichtigen Protagonisten, der seinen Namen nie preisgab, dazu brachte, die Puppen zu blenden. Sie entdeckte ein schreckliches Geheimnis über ihren eigenen Vater und seine Porzellanfigurensammlung und mußte am Ende in einer schaurigen Szene untergehen.
Monsieur Roquefort, ein Langstreckenläufer in literarischen Gefechten und stolz darauf, eine große Briefsammlung mit den Unterschriften sämtlicher Pariser Verleger zu besitzen, die seine ihnen unentwegt zugeschickten Gedicht- und Prosabände ablehnten, identifizierte den Verlag, der den Roman veröffentlicht hatte, als unbedeutendes Haus, bekannt allenfalls für seine Koch- und Häkelbücher. Der Bouquinist erzählte ihm, der Roman sei wenig verkauft worden und habe einzig in zwei Provinzblättern eine neben den Nekrologen plazierte Rezension erhalten. Auf wenigen Zeilen hätten die Kritiker mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten und dem Anfänger Carax empfohlen, seinen Pianistenjob nicht aufzugeben, denn in der Literatur, soviel sei klar, werde er nicht den Ton angeben. Monsieur Roquefort, dem bei hoffnungslosen Fällen Herz und Börse weich wurden, beschloß, einen halben Franc zu investieren, und nahm den Roman dieses Carax zusammen mit einer exquisiten Ausgabe von Salammbô des großen Meisters Gustave Flaubert mit, als dessen noch zu entdeckender Erbe er sich fühlte.
Der Zug nach Lyon war überfüllt, so daß Monsieur Roquefort nichts anderes übrigblieb, als sein ZweiterKlasse-Abteil mit zwei Nonnen zu teilen, die ihm, kaum hatten sie die Gare d’Austerlitz hinter sich gelassen, unaufhörlich mißbilligende Blicke zuwarfen und dabei leise miteinander flüsterten. Angesichts dieser Observation beschloß Monsieur Roquefort, den Roman aus der Aktentasche zu ziehen und sich hinter seinen Seiten zu verschanzen. Zu seiner großen Überraschung entdeckte er Hunderte Kilometer später, daß er die Schwestern, das Rütteln des Zuges und die wie ein schlechter Traum der Gebrüder Lumière an den Fenstern vorüberziehende Landschaft vergessen hatte. Er las die ganze Nacht, ohne auf das Schnarchen der Nonnen und die vorbeihuschenden Bahnhöfe in der Dunkelheit zu achten. Als er im Morgengrauen die letzte Seite umblätterte, stellte er fest, daß er Tränen in den Augen und das Herz von Neid und Schrecken vergiftet hatte.
Noch am selben Montag rief er den Verlag in Paris an, um Informationen über Julián Carax zu erbitten. Nach langem Drängen sagte ihm eine Telefonistin mit asthmatischer Stimme und einem Hang zur Bosheit, Señor Carax verfüge über keine bekannte Adresse, er stehe jedenfalls nicht mehr mit dem fraglichen Verlag in Verbindung und vom Roman Das rote Haus seien seit dem Tag seiner Veröffentlichung genau siebenundsiebzig Exemplare verkauft worden, mehrheitlich wohl an die leichten Mädchen und an andere Stammgäste des Lokals, wo der Autor für ein paar Münzen Nocturnes und Polonaisen herunterklimpere. Die restlichen Exemplare seien zurückgekommen und eingestampft worden, um Meßbücher, Strafzettel und Lotterielose zu drucken. Das elende Schicksal des geheimnisvollen Autors hatte Monsieur Roqueforts Sympathien gewonnen. In den folgenden zehn Jahren ging er bei jedem seiner Pariser Besuche von Antiquariat zu Antiquariat und suchte weitere Werke von Julián Carax. Nie fand er eines. Kaum jemand hatte je von diesem Autor gehört, und die, denen der Name etwas sagte, wußten nur wenig über ihn. Jemand meinte, er habe einige weitere Bücher veröffentlicht, immer in unbedeutenden Verlagen und in lächerlich wenig Exemplaren. Wenn sie überhaupt existierten, waren diese Bücher jedenfalls unmöglich zu finden. Ein Buchhändler gab an, einmal ein Exemplar eines Carax-Romans mit dem Titel Der Kathedralendieb in den Händen gehabt zu haben, aber das sei schon lange her, und er sei sich nicht ganz sicher. Ende 1935 erhielt er Kenntnis, daß ein kleiner Pariser Verlag einen neuen Roman von Julián Carax herausgebracht habe, Der Schatten des Windes. Er schrieb dem Verlag, um mehrere Exemplare zu kaufen. Er erhielt nie eine Antwort. Im folgenden Jahr, im Frühling 1936, fragte ihn sein alter Freund, der Bouquinist am linken Seineufer, ob er sich noch immer für Carax interessiere. Monsieur Roquefort sagte, er gebe sich nie geschlagen: Wenn die Welt es darauf angelegt habe, Carax der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, habe er noch lange keine Lust, sich dem zu fügen. Sein Freund erklärte ihm, Wochen zuvor habe ein Gerücht über Carax die Runde gemacht. Endlich scheine sich sein Schicksal geändert zu haben. Er habe eine gutgestellte Dame ehelichen wollen und nach mehreren Jahren des Schweigens einen neuen Roman publiziert, der erstmals in Le Monde eine vorteilhafte Rezension bekommen habe. Doch genau in dem Moment, als sich das Blatt zu wenden schien, erklärte der Bouquinist, sei Carax in ein Duell auf dem Friedhof Père Lachaise verwickelt worden. Die Umstände dieses Vorfalls seien unklar. Alles, was man wisse, sei, daß das Duell am frühen Morgen des Tages, an dem Carax hätte heiraten sollen, stattgefunden habe und daß der Bräutigam nie in der Kirche erschienen sei.
Es gab Meinungen für jeden Geschmack: Die einen dachten, er sei bei diesem Duell umgekommen und sein Leichnam liege in einem anonymen Grab; andere, Optimistischere glaubten eher, Carax sei in eine undurchsichtige Affäre verstrickt gewesen und habe seine Braut beim Altar verlassen und von Paris zurück nach Barcelona fliehen müssen. Das namenlose Grab wurde nie gefunden, und kurz darauf kam eine weitere Version in Umlauf: Vom Unglück verfolgt, sei Julián Carax in seiner Geburtsstadt gänzlich verelendet gestorben. Die Mädchen des Bordells, in dem er Klavier gespielt hatte, hätten Geld gesammelt, um ihm eine menschenwürdige Bestattung zu ermöglichen. Als die Überweisung eingetroffen sei, sei er bereits in einem Massengrab beerdigt gewesen, neben den Leichen von Bettlern und im Hafenwasser treibenden oder auf der Treppe zur Untergrundbahn erfrorenen Menschen.
Und sei es aus bloßem Widerspruchsgeist, Monsieur Roquefort vergaß Carax nicht. Elf Jahre nachdem er Das rote Haus entdeckt hatte, beschloß er, den Roman seinen beiden Schülerinnen auszuleihen, in der Hoffnung, dieses merkwürdige Buch werde sie vielleicht dazu ermuntern, sich die Gewohnheit des Lesens anzueignen. Zu jener Zeit waren Clara und Claudette zwei fünfzehnjährige Mädchen, deren Blut in Aufruhr war und denen die Welt durchs Fenster des Studierzimmers zublinzelte. Trotz der Bemühungen ihres Hauslehrers hatten sie sich bisher dem Zauber der Klassiker, Äsops Fabeln oder Dante Alighieris unsterblichen Versen gegenüber spröde gezeigt. Da Monsieur Roquefort befürchtete, sein Vertrag werde gekündigt, sollte Claras Mutter entdecken, daß sein Lehrerwirken nichts als zwei wirrköpfige Analphabetinnen heranbildete, gab er ihnen Carax’ Roman unter dem Vorwand, es handle sich um eine Liebesgeschichte von der Sorte, bei der man Rotz und Wasser heule, was nur die halbe Wahrheit war.
»Noch nie hatte ich mich von einer Geschichte so gefangengenommen, betört und hineingezogen gefühlt wie von der, die dieses Buch erzählte«, erklärte Clara.
»Bis dahin war Lesen für mich eine Pflicht gewesen, eine Art Buße, die es Lehrern und Erziehern zu bezahlen galt, ohne daß ich genau wußte, warum. Ich kannte die Freude am Lesen nicht, die Freude daran, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftun, sich der Fantasie zu überlassen, der Schönheit und dem Geheimnis von Dichtung und Sprache. All das entstand für mich bei diesem Roman. Hast du schon einmal ein Mädchen geküßt, Daniel?«
Ich hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde mir zu Sägemehl.
»Na ja, du bist ja auch noch sehr jung. Aber es ist genau dieses Gefühl, dieser Funke des ersten Mals, den man nicht vergißt. Wir leben in einer Schattenwelt, Daniel, und Magie ist ein rares Gut. Dieser Roman hat mich gelehrt, daß ich durch Lesen mehr und intensiver leben, daß Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.« An diesem Punkt konnte ich nur noch offenen Mundes staunen, ganz diesem weiblichen Wesen ausgeliefert, dessen Worten und Reizen ich nicht widerstehen konnte noch wollte. Ich wünschte, sie möchte nie mehr zu sprechen aufhören, ihre Stimme möchte mich für immer einhüllen und ihr Onkel würde nie zurückkommen und den Zauber dieses Augenblicks brechen, der nur mir gehörte.
»Jahrelang habe ich weitere Bücher von Carax gesucht«, fuhr Clara fort.
»Ich habe mich in Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen erkundigt — immer umsonst. Niemand hatte von ihm oder seinen Büchern gehört. Ich konnte es nicht verstehen. Später kam Monsieur Roquefort eine seltsame Geschichte über einen Mann zu Ohren, der auf der Suche nach Werken von Julián Carax Buchhandlungen und Bibliotheken abklapperte und sie, wenn er welche fand, kaufte, stahl oder sich sonstwie aneignete und gleich danach verbrannte. Niemand wußte, wer er war noch warum er das tat. Ein weiteres Geheimnis, das zum eigentlichen Carax-Geheimnis hinzukam. Mit der Zeit verspürte meine Mutter den Wunsch, nach Spanien zurückzukehren. Sie war krank, und ihr Zuhause und ihre Welt waren immer Barcelona gewesen. Insgeheim nährte ich die Hoffnung, hier etwas über Carax zu erfahren, schließlich und endlich war Barcelona die Stadt, wo er geboren worden und von wo er zu Beginn des Krieges für immer verschwunden war. Aber ich habe nichts gefunden als tote Gleise, obwohl mir mein Onkel behilflich war. Meiner Mutter ist bei ihrer eigenen Suche etwas Vergleichbares widerfahren. Das Barcelona, das sie bei ihrer Rückkunft vorfand, war nicht mehr das, das sie verlassen hatte. Sie sah sich einer Stadt der Dunkelheit gegenüber, in der es meinen Vater nicht mehr gab, die aber noch immer verhext war durch sein Andenken und die Erinnerung an ihn in jedem Winkel. Als reichte es ihr mit diesem Elend noch nicht, heuerte sie einen Mann an, der herausfinden sollte, was genau aus meinem Vater geworden war. Nach monatelangen Ermittlungen konnte er als einziges eine kaputte Armbanduhr und den Namen des Mannes beibringen, der meinen Vater in den Gräben des Kastells des Montjuïc getötet hatte. Er hieß Fumero, Javier Fumero. Man sagte uns, dieser Mann — und er war nicht der einzige — habe als vom Anarchistischen Verband Spaniens gedungener Killer angefangen und mit Anarchisten, Kommunisten und Faschisten geflirtet, dabei alle getäuscht und seine Dienste dem Meistbietenden verkauft, und nach dem Fall Barcelonas habe er sich auf die Seite des Siegers geschlagen und sei ins Polizeikorps eingetreten. Heute ist er ein berüchtigter, ordengeschmückter Polizeiinspektor. An meinen Vater erinnert sich niemand mehr. Wie du dir vorstellen kannst, ist meine Mutter innerhalb weniger Monate erloschen. Die Ärzte haben gesagt, es sei das Herz, und ich glaube, ausnahmsweise haben sie ins Schwarze getroffen. Nach ihrem Tod bin ich zu meinem Onkel Gustavo gezogen, dem einzigen Verwandten, der meiner Mutter in Barcelona noch geblieben war. Ich habe ihn angebetet, weil er mir immer Bücher zum Geschenk machte, wenn er uns besuchte. Er ist diese ganzen Jahre meine einzige Familie und mein bester Freund gewesen. Auch wenn er dir ein wenig arrogant vorkommen mag, im Grunde ist er eine Seele von Mensch. Selbst wenn er vor Müdigkeit umfällt, liest er mir jeden Abend ohne Ausnahme eine Weile vor.«
»Wenn Sie möchten, könnte auch ich Ihnen vorlesen«, stieß ich hervor, bereute meine Verwegenheit aber auf der Stelle, überzeugt, für Clara könne meine Gesellschaft höchstens eine Belästigung, wenn nicht gar ein Witz sein.
»Danke, Daniel«, antwortete sie.
»Es würde mich sehr freuen.«
»Sobald Sie mögen.«
Sie nickte langsam und suchte mich mit ihrem Lächeln.
»Bedauerlicherweise habe ich dieses Exemplar des Roten Hauses nicht mehr«, sagte sie.
»Monsieur Roquefort hat sich geweigert, es herzugeben. Ich könnte versuchen, dir die Handlung zu erzählen, aber das wäre, als beschriebe ich eine Kathedrale mit den Worten, sie sei ein Steinhaufen, der in eine Spitze münde.«
»Ich bin sicher, Sie würden es sehr viel besser erzählen«, murmelte ich.Frauen wissen mit untrüglichem Instinkt, wenn ein Mann sich sterblich in sie verliebt hat, besonders wenn er strohdumm und minderjährig ist. Ich erfüllte alle Bedingungen, um von Clara Barceló zum Teufel geschickt zu werden, aber ich zog es vor, zu glauben, der Umstand ihrer Blindheit garantiere mir einen gewissen Sicherheitsspielraum und mein Frevel, meine kläglichkomische Zuneigung zu einer Frau, die doppelt so alt, intelligent und groß war wie ich, könnte unentdeckt bleiben. Ich fragte mich, was sie in mir sehen mochte, um mir ihre Freundschaft anzubieten, wenn nicht vielleicht einen blassen Abglanz ihrer selbst, einen Widerhall ihrer eigenen Verlorenheit.
Als Barceló mit einem Katzengrinsen zurückkam, waren zwei Stunden vergangen, die mir wie zwei Minuten erschienen waren. Der Buchhändler reichte mir den Band und zwinkerte mir zu.
»Schau ihn dir genau an, Spitzbube, ich will nicht, daß du mir nachher kommst und sagst, ich hätte dich übers Ohr gehauen, ja?«
»Ich vertraue Ihnen.«
»Schon dumm. Dem letzten, der mir das sagte (ein Yankee-Tourist, der überzeugt davon war, der Spanische Bürgerkrieg sei ein Western mit Gary Cooper), habe ich ein von Lope de Vega mit Kugelschreiber signiertes Exemplar von Fuente Ovejuna angedreht, stell dir vor — sei also vorsichtig, im Buchmetier darfst du nicht mal dem Inhaltsverzeichnis trauen.«
Es wurde dunkel, als wir wieder auf die Calle Canuda hinaustraten. Eine kühle Brise streifte durch die Stadt, und Barceló zog den Mantel aus, um ihn Clara über die Schultern zu legen. Da ich in absehbarer Zeit keine günstigere Chance sah, warf ich so ganz nebenbei hin, wenn es ihnen recht sei, könne ich am nächsten Tag zu ihnen kommen, um Clara einige Kapitel aus Der Schatten des Windes vorzulesen. Barceló schaute mich von der Seite an und brach in jähes Lachen aus.
»Junge, du hast aber Feuer gefangen.«
Sein Ton indessen verriet Zustimmung.
»Nun, wenn es Ihnen morgen nicht paßt, dann vielleicht ein andermal oder…«
»Clara hat das Wort«, sagte der Buchhändler.
»In der Wohnung haben wir schon sieben Katzen und zwei Kakadus. Da kommt es auf ein Biest mehr oder weniger nicht an.«
»Ich erwarte dich also morgen abend gegen sieben«, schloß Clara.
»Kennst du die Adresse?«
Es gab eine Zeit in meiner Kindheit, wo ich, vielleicht weil ich inmitten von Büchern und Buchhändlern aufwuchs, beschloß, Romancier zu werden und ein melodramatisches Leben zu führen. Außer in der wunderbaren Einfalt, mit der man als Fünfjähriger alles sieht, gründeten meine literarischen Träume in einer märchenhaften kunsthandwerklichen Präzisionsarbeit, die in einem Schreibwarengeschäft in der Calle Anselmo Clavé, gleich hinter der Militärregierung, ausgestellt war. Der Gegenstand meiner Anbetung, ein prachtvoller, mit weiß Gott wie vielen Kostbarkeiten und Schnörkeln verbrämter schwarzer Füllfederhalter, nahm im Schaufenster den Ehrenplatz ein, als wäre er eines der Kronjuwelen. Ein Wunder in sich selbst, war er ein barockes Delirium aus Silber, Gold und tausend Windungen, das blitzte wie der Leuchtturm von Alexandria. Wenn mein Vater mit mir spazierenging, gab ich keine Ruhe, bis er mit mir den Füllfederhalter anschauen kam. Er sagte, das müsse zum wenigsten das Schreibwerkzeug eines Kaisers gewesen sein. Insgeheim war ich überzeugt, daß man mit einem solchen Wunderwerk alles schreiben konnte, von Romanen bis zu den prächtig gebundenen, wie Soldaten bei einer Parade aufgereihten Bänden eines Lexikons, die im Laden meines Vaters standen, ja selbst Briefe mit einer Macht jenseits aller postalischen Einschränkung. In meiner Naivität dachte ich, was immer ich mit dieser Feder schriebe, würde überallhin gelangen, selbst an den unbegreiflichen Ort, an den nach den Worten meines Vaters meine Mutter gegangen war und woher sie nie wieder zurückkehrte.
Eines Tages kamen wir auf die Idee, den Laden zu betreten, um uns nach dem Prachtstück zu erkundigen. Es stellte sich heraus, daß es der König der Füllfederhalter war, ein numerierter Montblanc Meisterstück, der, so behauptete jedenfalls feierlich der Geschäftsführer, keinem Geringeren als Victor Hugo gehört hatte. Dieser Goldfeder sei das Manuskript der Elenden entsprungen.
»So, wie das Vichy Catalán der Quelle von Caldas entspringt«, bekundete er.
Wie er uns mitteilte, hatte er sie persönlich von einem Sammler aus Paris erworben und sich von ihrer Echtheit überzeugt.
»Und welchen Preis hat denn dieser Born der Wunder, wenn man fragen darf?« wollte mein Vater wissen.
Allein die Nennung der Summe ließ ihn erblassen, ich aber war endgültig verzaubert. Der Geschäftsführer bescherte uns hierauf einen unverständlichen Sermon über die Legierungen von Edelmetallen, über Emailarbeiten aus dem Fernen Osten und eine revolutionäre Theorie zu Kolben und kommunizierenden Röhren, all das Teil der deutschen Wissenschaft, die den glorreichen Strich dieses hervorragenden Exemplars der Schreibtechnologie möglich machte. Zu seinen Gunsten ist anzuführen, daß er uns, obwohl wir wie arme Schlucker aussehen mußten, die Feder so lange betasten ließ, wie wir wollten, er füllte sie für uns mit Tinte und reichte mir ein Stück Pergamentpapier, damit ich meinen Namen schreiben und so meine Literatenkarriere in der Nachfolge Victor Hugos beginnen konnte. Dann polierte er sie mit einem Lappen wieder auf Hochglanz und legte sie an ihren Ehrenplatz zurück.
»Ein andermal vielleicht«, murmelte mein Vater.
Draußen auf der Straße sagte er mit sanfter Stimme, diese Summe könnten wir uns nicht leisten. Die Buchhandlung gebe gerade eben das Nötige für unseren Unterhalt her und um mich auf eine gute Schule zu schicken. Der Montblanc-Füllfederhalter des edlen Victor Hugo habe zu warten. Ich sagte nichts, aber die Enttäuschung mußte mir ins Gesicht geschrieben stehen.
»Wir werden folgendes tun«, schlug er vor.
»Wenn du alt genug bist, um mit Schreiben anzufangen, kommen wir zurück und kaufen sie.«
»Und wenn jemand sie vorher holt?«
»Die holt keiner, glaub mir. Und sonst bitten wir Don Federico, uns eine anzufertigen, dieser Mann hat goldene Hände.«
Don Federico war der Uhrmacher des Viertels, ein Gelegenheitskunde der Buchhandlung und wahrscheinlich der wohlerzogenste, höflichste Mensch der ganzen westlichen Hemisphäre. Sein Ruf als Mann von großem manuellem Geschick reichte vom Ribera-Viertel bis zum Ninot-Markt. Noch ein weiterer Ruf saß ihm im Nacken, weniger ehrbar diesmal, denn er galt seiner erotischen Vorliebe für muskulöse Jünglinge aus dem allermännlichsten Lumpenproletariat und einer gewissen Neigung, sich als Estrellita Castro zu verkleiden.
»Ja, Don Federico hat ein sehr warmes Herz«, sagte ich in himmlischer Unschuld.
Mein Vater zog eine Braue in die Höhe, vielleicht weil er befürchtete, diese üblen Nachreden könnten meine Unschuld in Mitleidenschaft gezogen haben.
»Don Federico versteht von allem, was deutsch ist, eine Menge. Und überhaupt, ich glaube gar nicht, daß es zu Zeiten Victor Hugos schon Füllfederhalter gegeben hat. Der wollte uns doch nur etwas andrehen.« Die geschichtliche Skepsis meines Vaters glitt an mir ab. Ich glaubte felsenfest an die Legende, obwohl mir die Vorstellung keineswegs zuwider war, daß Don Federico für mich einen Ersatz anfertigte. Es wäre noch genug Zeit, mit Victor Hugo gleichzuziehen. Zu meinem Trost, und wie mein Vater vorausgesagt hatte, lag der MontblancFüllfederhalter noch jahrelang in diesem Schaufenster, das wir gewissenhaft jeden Samstagvormittag aufsuchten.
»Er ist noch da«, sagte ich erstaunt.
»Er wartet auf dich. Er weiß, daß er eines Tages dir gehören wird und daß du mit ihm ein Meisterwerk schreiben wirst.«
»Ich möchte einen Brief schreiben. An Mama. Damit sie sich nicht so allein fühlt.« Ohne mit der Wimper zu zucken, schaute mich mein Vater an.
»Deine Mutter ist nicht allein, Daniel. Sie ist bei Gott. Und bei uns, auch wenn wir sie nicht sehen können.«
Genau diese Theorie hatte mir in der Schule auch Pater Vicente dargelegt, ein altgedienter Jesuit, der sich ein Bein ausriß, um uns aus dem Matthäusevangelium vom Grammophon bis zu den Zahnschmerzen sämtliche Geheimnisse des Universums zu erklären. Aber aus dem Mund meines Vaters klang es, als glaubten daran nicht einmal die Steine.
»Und wozu will Gott sie?«
»Ich weiß es nicht. Sollten wir ihn eines Tages sehen, werden wir ihn fragen.«
Mit der Zeit verwarf ich die Idee des Briefes und nahm an, wenn schon, sei es praktischer, gleich mit dem Meisterwerk zu beginnen. Mangels einer Feder borgte mir mein Vater einen Staedtler-Bleistift Nummer zwei, mit dem ich in ein Heft kritzelte. Ganz zufällig drehte sich meine Geschichte um einen märchenhaften Füllfederhalter, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit demjenigen im Laden aufwies und zudem verhext war. Genauer gesagt, war er besessen von der geplagten Seele eines Romanciers, der vor Hunger und Kälte gestorben war und dem er gehört hatte. Als er einem Anfänger in die Hände fiel, war er aus eigener Kraft bemüht, das letzte Werk des Autors, das dieser zu Lebzeiten nicht mehr hatte vollenden können, zu Papier zu bringen. Ich weiß nicht mehr, wo ich sie stahl oder woher sie sonst kam, jedenfalls hatte ich nie wieder eine ähnliche Idee. Meine Versuche, sie auf dem Papier Gestalt annehmen zu lassen, waren jedoch erbärmlich. Meine Sätze waren arm an Erfindung, und wenn ich mich darin aufschwang, klang es nach den Werbetexten, die ich jeweils an den Straßenbahnhaltestellen las. Ich schob die Schuld dem Bleistift zu und sehnte mich nach der Feder, die aus mir einen Meister machen sollte. Mein Vater verfolgte meine wechselvollen Fortschritte mit einer Mischung aus Stolz und Bange.
»Wie geht’s denn deiner Geschichte, Daniel?«
»Ich weiß nicht. Bestimmt wäre alles ganz anders, wenn ich den Füller hätte.«
Nach Ansicht meines Vaters konnte eine solche Überlegung nur einem Literaten einfallen, der buchstäblich noch in den Kinderschuhen steckte.
»Mach du nur weiter, noch bevor du deinen Erstling beendet hast, kaufe ich ihn dir.«
»Versprochen?« Immer antwortete er mit einem Lächeln. Zum Glück für meinen Vater verlagerten sich meine literarischen Aspirationen bald auf das Gebiet der Redekunst. Dazu trug auch die Entdeckung der mechanischen Spielzeuge und jeder Art von Blechkrimskrams bei, der auf dem Markt Los Encantes zu Preisen zu finden war, die unserer häuslichen Sparsamkeit eher angemessen waren. Die kindliche Hingabe ist unstet und launenhaft, und bald hatte ich nur noch Augen für Metallbaukästen und aufziehbare Schiffe. Ich bat meinen Vater nicht mehr, mit mir Victor Hugos Füllfederhalter anschauen zu gehen, und er erwähnte ihn auch nicht mehr. Diese Welt war für mich offenbar verschwunden, aber noch lange war das Bild, das ich von meinem Vater hatte, das eines hageren Mannes in einem alten, zu großen Anzug und mit einem Hut aus zweiter Hand, den er für sieben Peseten in der Calle Condal gekauft hatte, ein Mann, der es sich nicht leisten konnte, seinem Jungen einen verflixten Füllfederhalter zu kaufen, der zwar zu nichts nütze war, ihm jedoch alles zu bedeuten schien. Als ich an jenem Abend vom Athenäum zurückkehrte, erwartete er mich im Eßzimmer mit seinem immer gleichen Ausdruck von Niederlage und Sehnsucht.
»Ich dachte schon, du hättest dich irgendwo verirrt«, sagte er.
»Tomás Aguilar hat angerufen. Er sagt, ihr seid verabredet gewesen. Hast du’s vergessen?«
»Barceló, der einem mit seinem Geschwätz den Nerv tötet«, bejahte ich.
»Ich wußte schon gar nicht mehr, wie ich ihn loswerden sollte.«
»Er ist ein guter Kerl, aber ein wenig lästig. Du hast bestimmt Hunger. Die Merceditas hat uns ein wenig Suppe runtergebracht, die sie für ihre Mutter gemacht hat. Dieses Mädchen ist sehr tüchtig.« Wir setzten uns an den Tisch, um die milde Gabe der Merceditas zu kosten, der Tochter der Nachbarin aus dem dritten Stock, die nach aller Meinung wohl bald Nonne und Heilige wäre, die ich aber mehr als einmal gesehen hatte, wie sie einen Matrosen, der sie manchmal bis vors Haus begleitete und kundig befingerte, unter Küssen erstickt hatte.
»Heute abend schaust du aber grüblerisch aus«, sagte mein Vater, um ein Gespräch in Gang zu setzen.
»Das wird die Feuchtigkeit sein, sie erweitert das Hirn. Sagt Barceló.«
»Es wird wohl sonst noch etwas sein. Beschäftigt dich irgendwas, Daniel?«
»Nein. Ich habe bloß nachgedacht.«
»Worüber denn?«
»Über den Krieg.«
Mein Vater nickte düster und schlürfte schweigend seine Suppe. Er war ein zurückhaltender Mann, und obwohl er in der Vergangenheit lebte, sprach er fast nie von ihr. Ich war in der Überzeugung aufgewachsen, das stockende Voranschreiten der Zeit nach dem Ende des Bürgerkriegs, eine Welt aus Bewegungslosigkeit, Elend und heimlichem Groll, sei ebenso normal wie das Leitungswasser, und die stumme, aus den Mauern der verwundeten Stadt blutende Trauer sei das wirkliche Antlitz ihrer Seele. Eine der Besonderheiten der Kindheit ist, daß man etwas nicht zu begreifen braucht, um es zu spüren. Ist dann der Verstand schließlich in der Lage, das Geschehene zu verstehen, so sind die Wunden im Herzen schon zu tief. Als ich an diesem Sommerabend, der für mich eine Wende bedeuten sollte, durch die dunkle, tückische Barceloneser Nacht gegangen war, wollte es mir nicht gelingen, Claras Erzählung über das Verschwinden ihres Vaters aus den Gedanken zu verscheuchen. In meiner Welt war der Tod eine anonyme, unverständliche Hand, ein Hausierer, der Mütter, Bettler oder neunzigjährige Nachbarn mit sich nahm, als wäre es eine Lotterie der Hölle. Die Vorstellung, der Tod könnte neben mir einhergehen, mit einem Menschengesicht und haßvergiftetem Herzen, in Uniform oder Mantel, er könnte vor dem Kino Schlange stehen, in Kneipen lachen oder vormittags mit seinen Kindern im Ciudadela-Park Spazierengehen, um nachmittags jemanden in den Verliesen des Kastells des Montjuïc oder in einem namenlosen Massengrab ohne Zeremoniell verschwinden zu lassen, das wollte mir nicht in den Kopf. Als ich immer weiter darüber nachdachte, kam ich auf den Gedanken, vielleicht sei diese Welt, die ich für selbstverständlich nahm, nichts weiter als eine Kulisse aus Pappmaché. Wie die Züge der Renfe, so kam in diesen gestohlenen Jahren das Ende der Kindheit dann, wenn es eben kam.
Wir beugten uns über diese Brühe aus Resten mit Brot, in das aufdringliche Gebrabbel der Rundfunkserien gehüllt, das überall durch die offenen Fenster hereindrang.
»Wie ist es dir denn nun ergangen mit Don Gustavo?«
»Ich habe seine Nichte kennengelernt, Clara.«
»Die Blinde? Die soll ja eine Schönheit sein.«
»Ich weiß nicht. Darauf achte ich nicht.«
»Ist auch besser für dich.«
»Ich hab ihnen gesagt, vielleicht komme ich morgen nach der Schule zu ihnen, um der Armen etwas vorzulesen, sie ist ja sehr allein. Wenn ich darf.«
Mein Vater musterte mich verstohlen, als fragte er sich, ob er vorzeitig altere oder ich zu schnell groß werde. Ich beschloß, das Thema zu wechseln, und das einzige, das ich finden konnte, war das, das mich im Innersten aufwühlte.
»Im Krieg — stimmt es, daß man da Leute ins Kastell des Montjuïc gebracht hat, die man dann nie mehr sah?« In aller Ruhe führte mein Vater den Löffel zum Mund und schaute mich lange an. Das kurze Lächeln verschwand von seinen Lippen.
»Wer hat dir das gesagt? Barceló?«
»Nein. Tomás Aguilar, der erzählt ab und zu so Geschichten in der Schule.«
Mein Vater nickte langsam.
»In Zeiten des Krieges geschieht vieles, was schwer zu erklären ist, Daniel. Oft weiß auch ich nicht, was es wirklich zu bedeuten hat. Manchmal läßt man die Dinge besser, wie sie sind.«
Er seufzte und schlürfte ohne Appetit seine Suppe. Wortlos beobachtete ich ihn.
»Vor ihrem Tod hat mir deine Mutter das Versprechen abgenommen, mit dir nie über den Krieg zu reden und nicht zuzulassen, daß du dich an irgend etwas erinnerst, was geschehen ist.«
Ich wußte nicht, was antworten. Mein Vater kniff die Augen zusammen, als suchte er etwas in der Luft. Blicke oder ein Schweigen — oder vielleicht meine Mutter, damit sie seine Worte bekräftigte.
»Manchmal denke ich, es war ein Fehler, auf sie zu hören. Ich weiß es nicht.«
»Ist ja egal, Papa…«
»Nein, es ist nicht egal, Daniel. Nach einem Krieg ist nichts egal. Und ja — es stimmt, daß viele Leute in dieses Kastell hineingegangen und nie wieder herausgekommen sind.« Rasch begegneten sich unsere Blicke. Kurz danach stand mein Vater auf und zog sich in sein Zimmer zurück. Ich räumte die Teller ab und stellte sie in die kleine Marmorspüle in der Küche, um sie abzuwaschen. Wieder im Wohnzimmer, knipste ich das Licht aus und setzte mich in den alten Sessel meines Vaters. Der Luftzug von der Straße regte sich in den Vorhängen. Ich verspürte keine Müdigkeit und mochte sie auch nicht anlocken. Ich ging zum Balkon und lehnte mich hinaus, bis ich den dunstigen Schein sah, den die Straßenlaternen in der Puerta del Ángel aussandten. Die Gestalt hob sich von einem Stück Schatten ab, das reglos auf dem Straßenpflaster lag. Das schwache rötliche Glimmen einer Zigarettenglut spiegelte sich in ihren Augen. Sie war dunkel gekleidet, eine Hand steckte tief in der Jackentasche, die andere führte die Zigarette, die eine blaue Rauchwebe um ihr Profil spann. Sie beobachtete mich schweigend, das Gesicht verborgen. Nachlässig rauchend, blieb sie fast eine Minute dort stehen, den Blick fest auf meinen geheftet. Dann, als es von der Kathedrale Mitternacht schlug, nickte die Gestalt einen leichten Gruß, hinter dem ich ein Lächeln erahnte. Ich hätte den Gruß erwidern wollen, aber ich war wie gelähmt. Die Gestalt wandte sich ab, und ich sah sie mit leichtem Hinken davongehen. An jedem andern Abend hätte ich kaum auf einen solchen Fremden geachtet, aber sowie ich ihn im Dunst verschwinden sah, spürte ich kalten Schweiß auf der Stirn und hatte Atemnot. In Der Schatten des Windes hatte ich eine Szene gelesen, die der eben erlebten haargenau glich. Im Roman trat der Protagonist Mitternacht für Mitternacht auf den Balkon hinaus und stellte fest, daß ihn aus dem Schatten heraus ein Fremder beobachtete und dabei nachlässig rauchte. Immer blieb sein Gesicht in der Dunkelheit verborgen, und nur seine glühenden Augen deuteten sich in der Nacht an. Die rechte Hand tief in der Tasche eines schwarzen Jacketts vergraben, blieb der Fremde dort stehen, um dann davonzuhinken. In der Szene, die ich eben erlebt hatte, war dieser Fremde vielleicht irgendein Nachtschwärmer, eine gesichts- und belanglose Gestalt. In Carax’ Roman war der Fremde der Teufel.
Ein tiefer Vergessensschlaf und die Aussicht, an diesem Abend Clara wiederzusehen, brachten mich zur Überzeugung, daß die Vision nichts weiter zu bedeuten hatte. Vielleicht war dieses unerwartete Aufkeimen einer fieberhaften Fantasie nur ein Vorzeichen des herbeigesehnten Wachstumsschubs, der aus mir, wie mir sämtliche Nachbarinnen unseres Hauses verhießen, einen wenn nicht ordentlichen, so doch gutaussehenden Mann machen würde. Punkt sieben Uhr erschien ich in meiner festlichsten Gewandung und umduftet vom Varón-DandyKölnisch meines Vaters, in Don Gustavo Barcelós Wohnung, fest entschlossen, mich als Hausvorleser und Westentaschengecken einzuführen. Der Buchhändler und seine Nichte teilten sich eine Prachtwohnung auf der Plaza Real. Ein uniformiertes Dienstmädchen mit Haube und leicht legionärshaftem Ausdruck öffnete mir die Tür und machte dabei einen theatralischen Knicks.
»Sie sind bestimmt der junge Herr Daniel«, sagte sie.
»Ich bin die Bernarda, um Ihnen zu dienen.«
Die Bernarda befleißigte sich eines zeremoniösen Tons mit baumstarkem Cáceres-Akzent. Mit Gepränge und Würde führte sie mich durch das Heim der Barcelós. Die Wohnung, die im ersten Stock lag, nahm die Fläche des ganzen Gebäudes ein und beschrieb einen Kreis von Galerien, Salons und Gängen, der mir, da ich an unsere bescheidene Familienwohnung in der Calle Santa Ana gewöhnt war, wie eine verkleinerte Ausgabe des Escorials vorkam. Offensichtlich sammelte Don Gustavo außer bibliophilen Büchern, Inkunabeln und allerlei esoterischen Werken auch Statuen, Bilder und Altaraufsätze sowie eine reichhaltige Fauna und Flora. Ich folgte der Bernarda durch eine Galerie, die von Blattwerk und Tropenpflanzen strotzte und einen eigentlichen Wintergarten bildete. Durch ihre Verglasung drang schwaches, von Staub und Dunst vergoldetes Licht. Der Hauch eines Klaviers schwebte in der Luft, matt und mit verlassen nachhallenden Tönen. Die Bernarda schwang ihre Hafenarbeiterarme wie Macheten, um sich einen Weg durchs Dickicht zu bahnen. Ich folgte ihr dichtauf, und während ich rundherum alles genau studierte, erblickte ich ein halbes Dutzend Katzen und zwei grellbunte Kakadus von enormen Ausmaßen, die Barceló, wie mir die Bernarda erklärte, Ortega und Gasset getauft hatte. Am andern Ende dieses Waldes erwartete mich Clara in einem auf den Platz hinausgehenden Salon. Im Schutz eines Hauchs von Licht, das durch die Rosette einfiel, und angetan mit einem luftigen, türkisblauen Baumwollkleid, spielte der Gegenstand meiner nebulösen Sehnsüchte Klavier. Clara mochte schlecht spielen, nicht im Takt, und bei der Hälfte der Noten danebengreifen, für mich aber klang ihre Serenade wundervoll, und sie mit einem angedeuteten Lächeln und zur Seite geneigtem Kopf aufrecht vor den Tasten sitzen zu sehen erschien mir wie eine Vision des Himmels. Ich wollte mich räuspern, um meine Anwesenheit kundzutun, doch der Varón-DandyDuft hatte mich schon verraten. Clara brach ihr Konzert abrupt ab, und ein verschämtes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht.
»Einen Augenblick habe ich gedacht, du bist mein Onkel«, sagte sie.
»Er hat mir verboten, Mompou zu spielen, weil er sagt, was ich mit ihm mache, sei ein Verbrechen.« Der einzige Mompou, den ich kannte, war ein verhärmter Geistlicher mit einem Hang zu Blähungen, der uns in Physik und Chemie unterrichtete, und die Gedankenassoziation erschien mir grotesk.
»Ich jedenfalls finde, du spielst wunderbar«, sagte ich.
»Ach was. Mein Onkel, ein echter Musikliebhaber, hat mir sogar einen Musiklehrer aufgezwungen, um mich zu korrigieren. Es ist ein junger, vielversprechender Komponist. Er heißt Adrián Neri und hat in Paris und Wien studiert. Ich muß ihn dir vorstellen. Er arbeitet an einer Sinfonie, die das Orquesta Ciudad de Barcelona uraufführen wird, sein Onkel ist nämlich im Vorstand. Er ist ein Genie.«
»Der Onkel oder der Neffe?«
»Sei doch nicht boshaft, Daniel. Adrián wird ganz bestimmt dein Fall sein.«
Wie der eines Konzertflügels aus dem siebten Stock, dachte ich.
»Möchtest du eine Kleinigkeit essen? Die Bernarda macht köstliche Zimtbiskuits.«
Bei unserem königlichen Imbiß verschlangen wir alles, was die Bernarda in unsere Reichweite stellte. Mir war das Protokoll solcher Gelegenheiten unbekannt, und ich wußte nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Clara, die stets meine Gedanken zu lesen schien, schlug vor, ich könne doch anfangen, aus Der Schatten des Windes zu lesen und, wenn schon, gleich vorn beginnen. So machte ich mich denn daran, den Kommentatorenstimmen von Radio Nacional nachzueifern, die jeweils kurz nach dem Angelus salbungsvolle Tiraden patriotischen Zuschnitts rezitierten, und den Text des Romans ein weiteres Mal und aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Anfänglich klang meine Stimme noch ein wenig steif, doch nach und nach entspannte sie sich, und bald hatte ich vergessen, daß ich vorlas, und tauchte wieder tief in die Erzählung ein. Dabei entdeckte ich wiederkehrende Wendungen, die wie musikalische Motive dahinströmten, Abwechslungen im Tonfall, die mir beim ersten Lesen entgangen waren. Zwischen den Zeilen kamen neue Details, Andeutungen von Bildern und Spiegelungen zum Vorschein, wie wenn man ein Haus aus verschiedenen Winkeln anschaut. Ich las eine Stunde und fünf Kapitel, bis ich spürte, daß meine Stimme austrocknete, und ein halbes Dutzend Wanduhren in der ganzen Wohnung widerhallten und mich daran erinnerten, daß es spät für mich geworden war. Ich klappte das Buch zu und betrachtete Clara, die mir zulächelte.
»Es erinnert mich ein wenig an Das rote Haus«, sagte sie.
»Aber das scheint eine weniger düstere Geschichte zu sein.«
»Du wirst schon sehen. Das ist erst der Anfang. Später verwickeln sich die Dinge.«
»Du mußt schon gehen. nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja. Nicht, daß ich wollte, aber…«
»Wenn du nichts anderes zu tun hast, kannst du morgen wiederkommen«, schlug sie vor.
»Aber ich möchte nicht, daß du glaubst, ich nutze…«
»Um sechs?« sagte ich schnell.
»Ich meine, dann haben wir mehr Zeit.«
Die Begegnung im Musikzimmer der Wohnung auf der Plaza Real war die erste von vielen im Laufe dieses Sommers 1945 und der folgenden Jahre. Bald suchte ich die Barceló-Wohnung beinahe täglich auf, außer dienstags und donnerstags, wo Clara bei diesem Adrián Neri Musikunterricht hatte. Ich verweilte stundenlang und kannte mit der Zeit jeden Raum, jeden Gang und jede Pflanze in Don Gustavos Wald auswendig. Der Schatten des Windes hielt zwei Wochen vor, aber wir fanden mühelos Nachfolgewerke, um unsere Lesestunden zu füllen. Barceló besaß wirklich eine fabelhafte Bibliothek, denn zwar fanden wir keine weiteren Werke von Julián Carax, dafür aber Dutzende Klassiker der Abenteuerliteratur und bedeutenderer Nichtigkeiten. An einigen Abenden lasen wir kaum, sondern unterhielten uns nur oder machten sogar einen Spaziergang über die Plaza Real oder schlenderten zur Kathedrale. Clara setzte sich liebend gern hin, um dem Murmeln der Leute im Kreuzgang zuzuhören und das Echo der Schritte in den umliegenden Gäßchen zu erraten. Sie bat mich, ihr die Fassaden, Menschen, Wagen, Läden, Straßenlaternen und Schaufenster zu beschreiben, an denen wir vorbeikamen. Oft faßte sie mich unter, und ich geleitete sie durch unser persönliches Barcelona, das nur sie und ich sehen konnten. Immer landeten wir in einer Milchbar der Calle Petritxol, wo wir uns einen Teller Schlagsahne oder eine heiße Schokolade mit Rahm und Honigpfannkuchen teilten. Bisweilen musterten uns die Leute flüchtig, und manch ein besonders schlauer Kellner sprach von ihr als ›deine große Schwester‹, aber ich achtete nicht auf Spöttereien und Unterstellungen. Andere Male teilte mir Clara, ich weiß nicht, ob aus Bosheit oder krankhafter Lust, überspannte Vertraulichkeiten mit, mit denen ich nicht richtig fertig zu werden wußte. Eines ihrer Lieblingsthemen war ein Fremder, der sich ihr manchmal näherte, wenn sie allein auf der Straße war, und mit brüchiger Stimme zu ihr sprach. Der geheimnisvolle Mann, der nie seinen Namen nannte, fragte sie über Don Gustavo und sogar über mich aus. Einmal hatte er ihren Hals gestreichelt. Mich quälten diese Geschichten entsetzlich. Ein andermal beteuerte Clara, sie habe den mutmaßlichen Fremden gebeten, sie mit den Händen sein Gesicht lesen zu lassen. Er habe geschwiegen, was sie als Zustimmung interpretiert habe. Als sie die Hände zu seinem Gesicht emporgehoben habe, habe er sie brüsk zurückgehalten, aber da hatte sie schon etwas Ledernes berührt.
»Als hätte er eine Ledermaske getragen«, sagte sie.
»Das saugst du dir aus den Fingern, Clara.«
Clara schwor bei allen Heiligen, es stimme, und ich ergab mich, gequält vom Bild dieses Unbekannten, dem es Spaß bereitete, diesen Schwanenhals zu streicheln und weiß Gott was noch, während mir nur die Sehnsucht danach gestattet war. Hätte ich mich damit aufgehalten nachzudenken, so wäre mir aufgegangen, daß meine Verehrung für Clara eine einzige Quelle des Leidens war. Vielleicht betete ich sie darum noch mehr an, aus dieser ewigen Torheit heraus, denen nachzustellen, die uns weh tun. Im Laufe dieses Sommers fürchtete ich nur den Tag, an dem der Schulunterricht wieder begänne und ich nicht mehr den ganzen Tag zur Verfügung hätte, um ihn mit Clara zu verbringen.
Da mich die Bernarda, hinter deren strenger Miene sich der Charakter einer zärtlichen Mutter verbarg, so oft zu sehen bekam, gewann sie mich am Ende lieb und adoptierte mich auf ihre Art und Weise.
»Man sieht, daß dieser Junge keine Mutter hat, glauben Sie mir«, pflegte sie zu Barceló zu sagen.
»Mir tut er richtig leid, das arme Bürschchen.«
Die Bernarda war bei Kriegsende nach Barcelona gekommen, auf der Flucht vor der Armut und einem Vater, der sie an seinen guten Tagen nur verprügelte und Miststück nannte, an den schlechten aber, wenn er betrunken war, in den Schweinekoben sperrte, wo er sie befummelte. Als sie begann, sich mit Geschrei zu wehren, ließ er sie ziehen — eine frömmlerische Idiotin wie ihre Mutter. Barceló hatte sie zufällig kennengelernt, als sie an einem Gemüsestand im Borne-Markt arbeitete; einer Eingebung folgend, hatte er ihr eine Stelle in seinem Haushalt angeboten.
»Unsere Beziehung wird sein wie in Pygmalion«, verkündete er.
»Sie werden meine Eliza sein und ich Ihr Professor Higgins.«
Die Bernarda, die ihr Lektürebedürfnis mit dem Sonntagsblatt stillte, schaute ihn mißtrauisch an.
»Hören Sie, unsereiner mag ja arm und unwissend sein, aber für Schweinereien sind wir nicht zu haben.« Barcelós Bemühungen hatten der Bernarda schließlich Manieren und die Ausdrucksweise einer Provinzminna beigebracht. Sie war achtundzwanzig, aber mir kam es immer vor, als wäre sie zehn Jahre älter, und sei es nur in den Augen. Sie war eine fleißige Messegängerin und verehrte die Jungfrau von Lourdes abgöttisch. Täglich hörte sie in der Kirche Santa María del Mar den Acht-UhrGottesdienst, und dreimal pro Woche ging sie beichten. Barceló, der sich als Agnostiker bezeichnete, war der Meinung, es sei mathematisch unmöglich, daß das Dienstmädchen genügend sündigen könne, um einen solchen Beichtrhythmus zu rechtfertigen.
»Du bist doch ein herzensguter Mensch, Bernarda«, sagte er ärgerlich.
»Leute, die überall Sünden sehen, haben eine kranke Seele und, wenn ich noch deutlicher werden soll, kranke Därme. Der Grundzustand des spanischen Frömmlers ist chronische Verstopfung.« Wenn sie diese blasphemischen Reden hörte, schlug die Bernarda fünffach das Kreuz. Spätabends sprach sie dann ein Extragebet für die befleckte Seele von Señor Barceló, der zwar ein gutes Herz hatte, dem aber bei dem vielen Lesen das Hirn verdorrt war wie Sancho Pansa. Ab und zu, ganz selten, fand sie einen Freund, der sie schlug, ihr den kargen Spargroschen abknöpfte und sie über kurz oder lang sitzenließ. Jedesmal, wenn sich eine solche Krise ergab, schloß sie sich in ihrem Zimmer im hinteren Teil der Wohnung ein, weinte tagelang und schwor, sich mit Rattengift umzubringen oder eine Flasche Lauge zu trinken. Wenn Barcelós sämtliche Überredungskünste nichts fruchteten, erschrak er wirklich und rief einen Schlosser, um die Zimmertür öffnen zu lassen, und seinen Hausarzt, damit er der Bernarda ein Beruhigungsmittel verabreichte, das ein Pferd eingeschläfert hätte. Wenn die Arme zwei Tage später aufwachte, brachte ihr der Buchhändler Rosen, Pralinen und ein neues Kleid mit und führte sie ins Kino aus zu einem Film mit Cary Grant, der ihrer Meinung nach der schönste Mann der Geschichte war.
»Sagen Sie mal, Cary Grant soll ja vom andern Ufer sein«, murmelte sie, den Mund voller Schokoladenplätzchen.
»Ist das die Möglichkeit?«
»Quatsch«, entgegnete Barceló.
»Wer hoch sitzt, hat viele Neider.«
»Wie schön der Herr spricht. Man sieht, daß Sie ein Hinterlektueller sind.«
»Intellektueller«, korrigierte Barceló ohne Schärfe.Es war sehr schwer, die Bernarda nicht gern zu haben. Ohne daß jemand sie darum gebeten hatte, kochte und nähte sie für mich. Sie brachte meine Kleider und Schuhe in Ordnung, kämmte mich, schnitt mir die Haare, kaufte mir Obst und Zahnpasta und schenkte mir eines Tages sogar ein kleines Medaillon mit einem winzigen Fläschchen Weihwasser, das eine Schwester von ihr, die in San Adrián del Besós wohnte, im Bus von Lourdes mitgebracht hatte. Manchmal, während sie mein Haar nach Nissen oder andern Parasiten durchsuchte, sprach sie leise mit mir.
»Señorita Clara ist das Größte auf der Welt, und Gott möge mich tot umfallen lassen, sollte es mir eines Tages einfallen, sie zu kritisieren, aber es ist nicht gut, daß sich der junge Herr so sehr von ihr gefangennehmen läßt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Mach dir keine Sorgen, Bernarda, wir sind ja bloß Freunde.«
»Eben, das meine ich auch.« Um ihrer Warnung Nachdruck zu verleihen, erzählte sie mir nun eine im Radio aufgeschnappte Geschichte von einem jungen Bürschchen, der sich unschicklicherweise in seine Lehrerin verliebt hatte und dem durch irgendeinen Gerechtigkeitszauber Haare und Zähne ausfielen, während sich gleichzeitig sein Gesicht und die Hände mit Pilzen überzogen, einer Art Wollüstigenlepra.
»Lüsternheit ist etwas sehr Schlechtes«, schloß die Bernarda.
»Das kann ich Ihnen sagen.« Obwohl er sich gern über mich lustig machte, war Don Gustavo meiner Ergebenheit für Clara und der Begeisterung, mit der ich ihr Gesellschafter war, wohlgesonnen. Ich schrieb seine Toleranz dem Umstand zu, daß er mich vermutlich als harmlos ansah. Von Zeit zu Zeit wiederholte er seine saftigen Angebote, um Carax’ Roman zu erwerben. Er sagte, er habe mit einigen Kollegen aus der Antiquarenzunft darüber gesprochen und alle seien einhellig der Meinung gewesen, ein Carax sei heute leicht ein Vermögen wert, besonders in Frankreich. Ich schlug das Angebot jedesmal aus, und er lächelte nur verschmitzt. Er hatte mir Zweitschlüssel gegeben, damit ich auch dann ein und aus gehen konnte, wenn er oder die Bernarda nicht da waren, um mir zu öffnen. Ein anderes Thema war mein Vater. Im Laufe der Jahre hatte er seine angeborenen Bedenken überwunden, ein Problem anzuschneiden, das ihn wirklich beschäftigte. Als eine der ersten Konsequenzen dieses Fortschritts begann er, seine eindeutige Mißbilligung meiner Beziehung zu Clara zu zeigen.
»Du solltest mit Freunden deines Alters verkehren, wie Tomás Aguilar, den hast du ganz vergessen, obwohl er ein prächtiger Bursche ist, und nicht mit einer Frau, die schon im heiratsfähigen Alter ist.«
»Was spielt denn das Alter für eine Rolle, wenn wir gute Freunde sind?«
Was mich am meisten traf, war die Erwähnung von Tomás, denn das stimmte. Seit Monaten gab ich mich nicht mehr mit ihm ab, dabei waren wir früher unzertrennlich gewesen. Mein Vater betrachtete mich vorwurfsvoll.
»Daniel, du verstehst nichts von den Frauen, und die spielt mit dir wie eine Katze mit einem Kanarienvogel.«
»Wer nichts von Frauen versteht, das bist du«, antwortete ich verletzt.
»Und von Clara noch weniger.«
Unsere diesbezüglichen Gespräche gingen selten über gegenseitige Vorwürfe und scheele Blicke hinaus. Wenn ich nicht in der Schule oder bei Clara war, verwandte ich meine ganze Zeit darauf, meinem Vater in der Buchhandlung zu helfen. Ich räumte das Lager hinter dem Laden auf, trug Bestellungen aus, machte Besorgungen oder bediente die Stammkunden. Mein Vater beschwerte sich, ich sei weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen bei der Arbeit. Ich antwortete, ich sei doch die ganze Zeit über hier und verstehe nicht, worüber er sich beklage. Nächtelang konnte ich nicht einschlafen und dachte an die Vertrautheit zurück, an die kleine Welt, die wir beide in den Jahren nach dem Tod meiner Mutter geteilt hatten, den Jahren mit Victor Hugos Feder und den Blechlokomotiven. Ich erinnerte mich an sie als an Jahre des Friedens und der Trauer, eine Welt, die sich allmählich verflüchtigt hatte seit dem Morgen, an dem mich mein Vater zum Friedhof der Vergessenen Bücher mitgenommen hatte. Eines Tages entdeckte er, daß ich Carax’ Buch Clara geschenkt hatte, und geriet in Harnisch.
»Du hast mich enttäuscht, Daniel. Als ich dich an diesen geheimen Ort mitnahm, habe ich dir gesagt, das Buch, das du auswählen würdest, sei etwas ganz Besonderes, du würdest es adoptieren und die Verantwortung dafür übernehmen müssen.«
»Damals war ich zehn, Papa, und das war eine Spielerei für Kinder.«
Mein Vater schaute mich an, als hätte ich ihm einen Dolchstoß versetzt.
»Und jetzt bist du vierzehn und nicht nur immer noch ein Kind, sondern ein Kind, das sich für einen Mann hält. Du wirst viele Scherereien im Leben bekommen, Daniel. Und zwar sehr bald.«
In jenen Tagen redete ich mir ein, meinen Vater schmerze es, daß ich soviel Zeit bei den Barcelós verbrachte. Der Buchhändler und seine Nichte lebten in einer Welt des Luxus, die er kaum erahnen konnte. Ich dachte, es störe ihn, daß sich Don Gustavos Dienstmädchen mir gegenüber wie eine Mutter verhielt, und er sei gekränkt, daß ich jemanden diese Rolle übernehmen ließ. Manchmal, wenn ich im Raum hinter dem Laden zugange war und Pakete schnürte, hörte ich einen Kunden mit meinem Vater scherzen.
»Sempere, Sie sollten sich ein gutes Mädchen suchen, jetzt wimmelt es von attraktiven Witwen in der Blüte ihrer Jahre, Sie verstehen schon. Ein gutes Mädchen bringt Ordnung ins Leben, mein Freund, und nimmt Ihnen zwanzig Jahre ab. Was zwei Brüste nicht alles fertigbringen…«
Mein Vater antwortete nie auf solche Andeutungen, aber mir erschienen sie immer vernünftiger. Bei einem unserer Abendessen, die zu Gefechten des Schweigens und der verstohlenen Blicke geworden waren, brachte ich das Thema zur Sprache. Ich dachte, wenn ich das tue, wäre es leichter. Mein Vater war ein hübscher Mann, sauber und gepflegt, und ich wußte sehr genau, daß ihm mehr als eine Frau im Viertel wohlgesonnen war.
»Dir ist es ja sehr leicht gefallen, eine Stellvertreterin für deine Mutter zu finden«, antwortete er bitter.
»Aber für mich gibt es keine, und ich habe nicht das geringste Interesse, sie zu suchen.« Im Laufe der Zeit begannen die Andeutungen meines Vaters und der Bernarda, ja auch von Barceló Eindruck auf mich zu machen. Etwas in mir sagte mir, daß ich mich da in eine Sackgasse hineinmanövrierte. Ich konnte doch nicht erwarten, daß Clara in mir mehr sah als einen Burschen, der zehn Jahre jünger war als sie. Ich spürte, daß es mir mit jedem Tag schwerer fiel, bei ihr zu sein, die Berührung ihrer Hände zu ertragen oder sie auf unseren Spaziergängen am Arm zu führen. Es kam der Moment, wo sich allein die Nähe zu ihr in fast körperlichem Schmerz ausdrückte. Das entging niemandem, am allerwenigsten Clara selbst.
»Daniel, ich glaube, wir müssen miteinander reden«, sagte sie.
»Ich glaube, ich habe mich dir gegenüber nicht richtig benommen…« Nie ließ ich sie ihre Sätze zu Ende bringen, sondern ging unter irgendeinem Vorwand aus dem Zimmer und floh. Es waren Tage, an denen ich das Gefühl hatte, es in einem unmöglichen Wettrennen mit dem Kalender aufzunehmen. Ich fürchtete, die Welt der Illusionen, die ich um Clara herum aufgebaut hatte, neige sich ihrem Ende zu. Kaum hingegen malte ich mir aus, daß meine Probleme eben erst begonnen hatten.