An meinem sechzehnten Geburtstag hatte ich den unseligsten aller Einfälle, die ich bis dahin gehabt hatte. Ich hatte beschlossen, Barceló, die Bernarda und Clara zu einem Geburtstagsabendessen einzuladen. Mein Vater hielt das für einen Fehler.
»Es ist mein Geburtstag«, antwortete ich grob.
»Alle andern Tage des Jahres arbeite ich für dich. Tu mir wenigstens einmal den Gefallen.«
»Mach, was du willst.«
Die vorangehenden Monate waren die verwirrendsten meiner seltsamen Freundschaft mit Clara gewesen. Ich las ihr fast nie mehr vor. Sie mied jede Gelegenheit, wo sie mit mir hätte allein sein können. Immer wenn ich sie besuchte, war ihr Onkel da und gab vor, die Zeitung zu lesen, oder dann tauchte die Bernarda auf und wirtschaftete herum, wobei sie mir schiefe Blicke zuwarf. Andere Male kam die Gesellschaft in Form mehrerer Freundinnen von Clara. Ich nannte sie Schwestern Anislikör; immer kicherten sie trotz ihrer jungfräulichen Miene wie närrisch, patrouillierten in Claras Nähe und gaben mir unverhüllt zu verstehen, daß ich überflüssig war, daß meine Anwesenheit Clara und die Welt beschämte. Der schlimmste von allen jedoch war Musiklehrer Neri, dessen unselige Sinfonie noch immer unvollendet war. Er war ein geschniegelter Kerl, ein verwöhntes Söhnchen aus San Gervasio, der mich mit seiner triefenden Brillantine eher an Carlos Gardel als an einen Mozart erinnerte. Ohne Würde und Ehrgefühl scharwenzelte er um Don Gustavo herum und flirtete in der Küche mit der Bernarda, die er zum Kichern brachte, wenn er ihr seine lächerlichen Zuckermandeltütchen schenkte oder sie in den Hintern zwickte. Kurzum, ich haßte ihn auf den Tod. Die Antipathie war gegenseitig. Immer erschien er mit seinen Partituren und seiner arroganten Haltung, schaute mich an wie einen unerwünschten Schiffsjungen und erhob allerlei Bedenken gegen mein Hiersein.
»Mußt du nicht nach Hause, um deine Aufgaben zu machen, Kleiner?«
»Und Sie, Maestro, wollten Sie nicht eine Sinfonie vollenden?« Schließlich hatten sie mich alle gemeinsam so weit gebracht, daß ich mit eingezogenem Schwanz abzog; hätte ich doch Don Gustavos Zungenfertigkeit gehabt, um diesen Großkotz in seine Schranken zu verweisen.
An meinem Geburtstag ging mein Vater in die Konditorei an der Ecke und kaufte die beste Torte, die er fand. Schweigend deckte er mit dem Silber und dem guten Geschirr den Tisch und bereitete ein Essen mit meinen vermeintlichen Lieblingsgerichten zu. Den ganzen Nachmittag wechselten wir kein Wort. Als es dunkel wurde, ging er in sein Zimmer, schlüpfte in seinen besten Anzug und kam mit einem in Cellophan eingeschlagenen Päckchen zurück, das er auf den Eßtisch legte. Mein Geschenk. Dann zündete er Kerzen an. Er setzte sich an den Tisch, goß sich ein Glas Weißwein ein und wartete. In der Einladung hatte es geheißen, das Essen finde um halb neun statt. Um halb zehn warteten wir noch immer. Mein Vater schaute mich traurig an, wortlos. Mir brannte das Herz vor Wut.
»Du bist gewiß zufrieden«, sagte ich.
»Ist es das, was du gewollt hast?«
»Nein.«
Eine halbe Stunde später erschien die Bernarda mit einer Leichenbittermiene und einer Nachricht von Señorita Clara. Diese wünsche mir alles Gute, bedaure aber, nicht zu meinem Geburtstagsessen kommen zu können. Señor Barceló habe in Geschäften für ein paar Tage die Stadt verlassen müssen und Clara habe sich genötigt gesehen, ihre Unterrichtsstunde bei Maestro Neri zu verschieben. Sie selbst sei gekommen, weil es ihr freier Abend sei.
»Clara kann nicht kommen, weil sie eine Musikstunde hat?« preßte ich hervor.
Die Bernarda schaute zu Boden. Sie weinte beinahe, als sie mir ein kleines Paket mit ihrem Geburtstagsgeschenk reichte und mich auf beide Backen küßte.
»Wenn es Ihnen nicht gefällt, kann man es umtauschen.«
Ich blieb mit meinem Vater allein und starrte auf das gute Geschirr, das Silber und die Kerzen, die still niederbrannten.
»Es tut mir leid, Daniel«, sagte mein Vater.Ich nickte schweigend und zuckte die Schultern.
»Willst du denn nicht dein Geschenk auspacken?« Als einzige Antwort schlug ich beim Gehen die Tür hinter mir zu. Wütend rannte ich die Treppen hinunter; als ich auf die trostlose, in blauem Licht kalt daliegende Straße hinausstürzte, spürte ich, daß meine Augen vor Zornestränen überliefen. Mein Herz war vergiftet, und mein Blick flackerte. Da sah ich den Fremden, der mich reglos von der Puerta del Ángel aus beobachtete. Er trug wieder seinen dunklen Anzug und hatte die rechte Hand tief in der Jackentasche vergraben. In der Glut einer Zigarette zeichneten seine Augen kleine Lichtpunkte. Mit leichtem Hinken begann er mir nachzugehen.Rasch versuchte ich ihn abzuschütteln und irrte über eine Stunde durch die Straßen, bis ich zum Kolumbusdenkmal gelangte. Ich ging zum Hafen hinüber und setzte mich auf die Stufen, die sich an der Mole der Motorschiffe im dunklen Wasser verloren. Jemand hatte eine nächtliche Bootsfahrt gechartert, und übers Hafenbecken hinweg schwebten das Gelächter und die Musik der Prozession aus Lichtern und Spiegelungen herüber. Ich erinnerte mich an die Tage, wo mein Vater und ich mit dem Motorschiff zum Ende des Hafendamms hinübergefahren waren. Von dort aus konnte man den Abhang des Montjuïc mit dem Friedhof und die unendliche Stadt der Toten sehen. Manchmal winkte ich hinüber, weil ich glaubte, meine Mutter sehe uns vorbeifahren. Auch mein Vater winkte. Seit Jahren hatten wir kein Schiff mehr bestiegen, aber ich wußte, daß er manchmal allein fuhr.
»Eine gute Nacht für die Reue, Daniel«, sagte die Stimme aus dem Schatten.
»Zigarette?«
Ich sprang auf und spürte eine plötzliche Kälte im Leib. Eine Hand bot mir aus der Finsternis heraus eine Zigarette an.
»Wer sind Sie?«
Der Fremde trat bis an die Schwelle der Dunkelheit vor, so daß sein Gesicht verborgen blieb. Ein Hauch von blauem Rauch stieg von seiner Zigarette auf. Sogleich erkannte ich den dunklen Anzug und die in der Jackentasche versteckte Hand. Seine Augen glänzten wie Kristallkugeln.
»Ein Freund«, sagte er.
»Oder wenigstens möchte ich das gern sein. Zigarette?«
»Ich rauche nicht.«
»So ist’s recht. Leider kann ich dir nichts anderes anbieten, Daniel.«
Seine Stimme war sandig, lädiert. Sie schleifte die Worte nach und klang gedämpft und fern wie die 78erSchallplatten, die Barceló sammelte.
»Woher wissen Sie meinen Namen?«
»Ich weiß vieles über dich. Der Name ist das Wenigste.«
»Was wissen Sie denn sonst noch?«
»Ich könnte dich beschämen, aber dazu habe ich weder Zeit noch Lust. Ich will nur sagen, daß ich weiß, daß du etwas hast, was mich interessiert. Und ich bin bereit, dir einen guten Preis dafür zu zahlen.«
»Ich glaube, Sie irren sich in der Person.«
»Nein, ich irre mich nie in der Person. In andern Dingen schon, aber nie in der Person. Wieviel willst du dafür?«
»Wofür?«
»Für Der Schatten des Windes.«
»Wie kommen Sie darauf, daß ich das Buch habe?«
»Das steht nicht zur Debatte, Daniel. Es ist nur eine Frage des Preises. Ich weiß schon lange, daß du es hast. Die Leute reden. Ich höre zu.«
»Dann müssen Sie sich verhört haben. Ich habe dieses Buch nicht. Und wenn ich es hätte, würde ich es nicht verkaufen.«
»Deine Redlichkeit ist bewundernswert, vor allem in diesen Zeiten der Aufpasser und Arschkriecher, aber mir gegenüber brauchst du keine Komödie zu spielen. Sag mir, wieviel. Tausend Duros? Geld spielt für mich keine Rolle. Den Preis bestimmst du.«
»Ich hab es Ihnen schon gesagt: Es ist weder zu verkaufen, noch habe ich es. Sie haben sich geirrt, wie Sie sehen.« Der Fremde verharrte in Schweigen, regungslos, in den blauen Dunst der Zigarette gehüllt, die nie aufgeraucht zu sein schien. Ich bemerkte, daß sie nicht nach Tabak roch, sondern nach verbranntem Papier. Nach gutem, nach Buchpapier.
»Vielleicht bist du es, der sich jetzt irrt«, sagte er.
»Sie drohen mir?«
»Wahrscheinlich.« Ich schluckte. Trotz meiner Großspurigkeit hatte ich größte Angst vor diesem Menschen.
»Und darf ich erfahren, warum Sie so daran interessiert sind?«
»Das ist meine Sache.«
»Meine ebenfalls, wenn Sie mir drohen, damit ich Ihnen ein Buch verkaufe, das ich nicht habe.«
»Du bist mir sympathisch, Daniel. Du hast Schneid und scheinst aufgeweckt. Tausend Duros? Damit kannst du dir einen Haufen Bücher kaufen. Gute Bücher, nicht diesen Schund, den du so eifersüchtig hütest. Na komm schon, tausend Duros, und wir bleiben gute Freunde.«
»Sie und ich, wir sind keine Freunde.«
»Doch, wir sind es, aber du hast es noch nicht gemerkt. Ich nehme es dir nicht übel, wo du so vieles im Kopf hast. Wie deine Freundin, Clara. Wegen einer solchen Frau verliert jeder den Verstand.« Die Erwähnung Claras ließ mir das Blut in den Adern stocken.
»Was wissen Sie von Clara?«
»Ich wage zu behaupten, daß ich mehr von ihr weiß als du und daß es gut für dich wäre, sie zu vergessen, aber ich weiß natürlich, daß du es nicht tun wirst. Ich war auch einmal sechzehn…«
Schlagartig traf mich die schreckliche Gewißheit: Dieser Mann war der Fremde, der Clara inkognito auf der Straße ansprach. Er war wirklich. Sie hatte nicht gelogen. Er tat einen Schritt vorwärts. Ich wich zurück. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst gehabt.
»Clara hat das Buch nicht, besser, Sie wissen es. Wagen Sie es nicht, sie noch einmal anzurühren.«
»Deine Freundin ist mir egal, Daniel, und eines Tages wirst du derselben Ansicht sein. Was ich will, ist das Buch. Ich möchte es lieber im guten bekommen, so daß niemand Schaden leidet. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« Da mir nichts Besseres in den Sinn kam, begann ich zu lügen wie ein Schurke.
»Ein gewisser Adrián Neri hat es. Musiker. Vielleicht sagt Ihnen sein Name etwas.«
»Mir sagt er nur, daß du ihn wahrscheinlich erfunden hast.«
»Wie käme ich dazu?«
»Nun, da ihr offenbar so gute Freunde seid, kannst du ihn vielleicht dazu bringen, es dir zurückzugeben. Unter Freunden läßt sich so was problemlos regeln. Oder soll ich lieber deine Freundin Clara darum bitten?«
Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Ich werde mit Neri sprechen, aber ich glaube nicht, daß er es mir zurückgibt oder es überhaupt noch hat. Wozu wollen Sie denn das Buch? Sagen Sie nicht, um es zu lesen.«
»Nein. Ich kann es auswendig.«
»Sind Sie Sammler?«
»So was Ähnliches.«
»Haben Sie noch mehr Bücher von Carax?«
»Ich hatte sie einmal. Julián Carax ist mein Spezialgebiet, Daniel. Auf der Suche nach seinen Büchern reise ich durch die Welt.«
»Was machen Sie denn damit, wenn Sie sie nicht lesen?«
Der Fremde gab einen dumpfen Laut von sich, als ränge er mit dem Tod. Erst nach einigen Sekunden ging mir auf, daß er lachte.
»Das einzige, was man damit machen kann, Daniel«, antwortete er.
Nun zog er eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete eines an. Die Flamme beleuchtete sein Gesicht, so daß ich es zum ersten Mal sah. Das Herz stand mir still. Dieser Mensch hatte weder Nase noch Lippen, noch Augenlider. Sein Gesicht war nichts als eine schwarze, vernarbte, vom Feuer verzehrte Ledermaske. Das war die tote Haut, die Clara leicht berührt hatte.
»Sie verbrennen«, zischte er, Stimme und Blick voller Haß.Eine leichte Brise blies das Streichholz aus, das er in den Fingern hielt, und sein Gesicht sank ins Dunkel zurück.
»Wir werden uns wiedersehen, Daniel. Nie vergesse ich ein Gesicht, und ich glaube, von heute an vergißt du auch meines nicht mehr«, sagte er gemessen.
»Zu deinem Besten und zum Besten deiner Freundin Clara hoffe ich, daß du die richtige Entscheidung triffst und das Thema mit diesem Señor Neri klärst, der übrigens den Namen eines verwöhnten Söhnchens hat. Ich würde ihm kein bißchen über den Weg trauen.«
Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging mit stammelndem Lachen gegen die Molen davon.
Eine elektrische Ladungen versprühende Wolkendecke näherte sich vom Meer her. Ich wäre losgelaufen, um vor dem drohenden Platzregen Schutz zu suchen, aber die Worte dieses Mannes begannen Wirkung zu zeitigen. Meine Hände und Gedanken zitterten. Ich schaute auf und sah, wie sich das Gewitter schwarzen Blutflecken gleich zwischen den Wolken entlud; der Mond war verdeckt, und auf die Dächer und Fassaden der Stadt legte sich Dunkelheit. Ich versuchte, meine Schritte zu beschleunigen, doch eine lähmende Unruhe nagte an mir, und ich bewegte mich, verfolgt vom Regen, mit bleiernen Füßen und Beinen vorwärts. Unter dem Vordach eines Zeitungskiosks suchte ich Unterschlupf und versuchte, meine Gedanken zu ordnen und einen Entschluß zu fassen, was ich tun sollte. In der Nähe krachten Blitz und Donner, und ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen erzitterte. Einige Sekunden später verglomm die elektrische Beleuchtung, in der sich Fassaden und Fenster abzeichneten. Die Laternen auf den verpfützten Straßen flackerten und erloschen wie Kerzen im Wind. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und die Schwärze des Stromausfalls breitete sich mit einem übelriechenden Atem aus, der aus den sich in die Kanalisation ergießenden Abwasserleitungen aufstieg.
»Wegen einer solchen Frau verliert jeder den Verstand…« Ich rannte los, die Ramblas hinauf, einen einzigen Gedanken im Kopf: Clara.
Die Bernarda hatte gesagt, Barceló habe die Stadt geschäftehalber verlassen. Heute war ihr freier Tag, und diesen Abend pflegte sie bei ihrer Tante Reme und ihren Kusinen in San Adrián del Besós zu verbringen. Das bedeutete, daß Clara in der höhlenartigen Wohnung auf der Plaza Real allein war, und dieses gesichtslose Wesen lief mit seinen Drohungen und weiß Gott welchen Gedanken frei im Gewitter herum. Während ich unter dem Wolkenbruch zur Plaza Real hastete, ging mir die Vorstellung nicht aus dem Kopf, ich hätte Clara in Gefahr gebracht, als ich ihr Carax’ Buch schenkte. Naß bis auf die Knochen, erreichte ich den Platz und lief zu den Arkaden der Calle Fernando, um mich unterzustellen. Aus dem Augenwinkel glaubte ich schattenhafte Gestalten umherkriechen zu sehen. Bettler. Die Haustür war geschlossen. An meinem Bund suchte ich die Schlüssel, die mir Barceló gegeben hatte. Ich hatte die Ladenschlüssel, diejenigen zur Wohnung in der Calle Santa Ana und die zu Barcelós Wohnung mit. Einer der Bettler trat auf mich zu und flüsterte, ob ich ihn die Nacht nicht im Hausflur verbringen lassen wolle. Ehe er seinen Satz zu Ende bringen konnte, schloß ich die Tür.
Das Treppenhaus war ein Schacht voller Schatten. Zwischen den Türritzen drang der Schein der Blitze herein und ließ die Umrisse der Stufen aufleuchten. Ich tappte vorwärts und strauchelte über den ersten Tritt. Die Hand fest auf dem Geländer, stieg ich langsam die Treppe hinauf. Kurz darauf mündeten die Stufen in eine ebene Fläche, ich war auf dem Absatz des ersten Stocks angekommen. Ich tastete mich die kalte, abweisende Marmormauer entlang und fand die Schnitzereien der Eichentür und die Aluminiumklinken. Ich suchte das Schlüsselloch und steckte blind den Schlüssel hinein. Als die Wohnungstür aufging, blendete mich für einen Augenblick ein Streifen von blauer Helle, und ein warmer Luftzug strich mir über die Haut. Das Zimmer der Bernarda lag im hinteren Teil der Wohnung neben der Küche. Dorthin wandte ich mich zuerst, obwohl ich sicher war, daß sie nicht hier war. Ich klopfte an, und als ich keine Antwort bekam, öffnete ich die Tür. Es war ein einfaches Zimmer mit einem großen Bett, einem dunklen Schrank mit Rauchglasspiegeln und einer Kommode, auf der die Bernarda genügend Heiligen- und Marienbilder zusammengetragen hatte, um eine Kapelle einzuweihen. Ich schloß die Tür wieder und drehte mich um, und beinahe blieb mir das Herz stehen, als ich durch den Gang ein Dutzend glühende Augen auf mich zukommen sah. Barcelós Katzen kannten mich jedoch genau und duldeten meine Anwesenheit. Mit sanftem Miauen strichen sie mir um die Beine, und als sie sahen, daß meine regennassen Kleider nicht die erwünschte Wärme abgaben, wandten sie sich ab.
Claras Zimmer lag am andern Ende der Wohnung, neben der Bibliothek und dem Musikzimmer. Auf unhörbaren Pfoten folgten mir die Katzen erwartungsvoll durch den Gang. In diesem Halbdunkel, das ab und zu im Gewitterschein aufflackerte, kam mir Barcelós Wohnung wie eine unheilvolle Höhle vor, ganz anders als die, die ich als mein zweites Zuhause zu betrachten gelernt hatte. Ich gelangte zum hinteren, auf den Platz hinausführenden Teil der Wohnung. Dicht und undurchdringlich tat sich vor mir Barcelós Wintergarten auf. Ich drang in das Dickicht von Blättern und Ästen ein. Einen Moment bestürmte mich der Gedanke, wenn der gesichtslose Fremde in die Wohnung eingedrungen wäre, hätte er sich wahrscheinlich diesen Ort ausgesucht, um sich zu verstecken. Um auf mich zu warten. Fast glaubte ich den Geruch nach verbranntem Papier wahrzunehmen, den er von sich gegeben hatte, aber ich merkte, daß es ganz einfach Tabak war, was meine Nase aufgeschnappt hatte. Ein Anflug von Panik befiel mich. In dieser Wohnung rauchte niemand, und Barcelós immer erloschene Pfeife war reines Dekor.
Ich kam zum Musikzimmer, und der Widerschein eines Blitzes entzündete die in der Luft liegenden Rauchkringel. Ich ging durchs Musikzimmer hindurch und erreichte die Tür zur Bibliothek. Sie war zu. Als ich sie öffnete, bot mir die Helligkeit der verglasten Galerie, die die Privatbibliothek des Buchhändlers umgab, ein warmes Willkommen. Die von zum Bersten gefüllten Regalen verdeckten Wände bildeten ein Oval, in dessen Mitte ein Lesetisch und zwei drehbare Ledersessel standen. Ich wußte, daß Clara Carax’ Buch in einer Vitrine neben dem Halbrund der verglasten Galerie verwahrte. Leise schlich ich dorthin. Mein Plan war es, das Buch an mich zu nehmen, von hier wegzubringen, diesem Verrückten zu übergeben und es dann ein für allemal aus den Augen zu verlieren.
Zuhinterst in einem Regal war der Rücken von Julián Carax’ Buch zu sehen; es erwartete mich wie immer. Ich ergriff es und drückte es an die Brust, als umarmte ich einen alten Freund, den ich gleich verraten würde. Ich wollte weg von hier, ohne daß Clara etwas von meiner Anwesenheit bemerkte. Ich würde das Buch mitnehmen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. Hastigen Schrittes verließ ich die Bibliothek. Am Ende des Ganges war die Tür zu Claras Zimmer zu erahnen. Ich stellte mir vor, wie sie schlafend auf ihrem Bett lag. Stellte mir vor, wie meine Finger ihren Hals streichelten und einen Körper erkundeten, den ich mir viele Nächte vorgestellt hatte. Ich wandte mich um, entschlossen, ein sechs Jahre währendes Hirngespinst aufzugeben, aber etwas hemmte meine Schritte, bevor ich das Musikzimmer erreichte. Eine pfeifende Stimme hinter mir, hinter der Tür. Eine tiefe Stimme, die gurrte und lachte. In Claras Zimmer. Langsam ging ich auf die Tür zu. Ich legte die Finger auf den Knauf. Sie zitterten. Ich war zu spät gekommen. Ich schluckte und öffnete die Tür.
Claras nackter Körper lag auf weißen, wie Seide glänzenden Laken. Maestro Neris Hände glitten über ihre Lippen, den Hals, die Brust. Ihre leer blickenden Augen waren an die Decke gerichtet. Dieselben Hände, die sechs Jahre zuvor in der Dunkelheit des Athenäums mein Gesicht gelesen hatten, umklammerten nun das schweißglänzende Gesäß des Maestro, bohrten ihm ihre Nägel in die Haut und führten ihn mit wilder Begierde in sich hinein. Ich spürte, daß ich keine Luft bekam. Ich muß wie gelähmt dort stehengeblieben sein und sie fast eine halbe Minute beobachtet haben, bis Neris anfänglich ungläubiger, dann wutentbrannter Blick auf mich fiel. Keuchend hielt er inne. Clara umschlang ihn, ohne etwas zu begreifen, rieb ihren Körper an seinem und leckte seinen Hals.
»Was ist denn? Warum hörst du auf?«
Adrián Neris Augen glühten vor Zorn.
»Nichts«, stieß er hervor.
»Bin gleich wieder da.«
Er stand auf und stürzte sich mit geballten Fäusten auf mich. Ich sah ihn nicht einmal kommen. Ich konnte die Augen nicht von der schweißgebadeten, atemlosen Clara, deren Rippen sich unter der Haut abzeichneten, und ihren sehnsüchtig bebenden Brüsten abwenden. Der Musiklehrer packte mich am Hals und schleifte mich aus dem Zimmer. Ich spürte, daß meine Füße kaum den Boden berührten, und sosehr ich auch zappelte, ich konnte mich nicht aus dem Klammergriff Neris befreien, der mich wie einen Sack Kartoffeln durch den Wintergarten trug.
»Dir werde ich den Schädel einschlagen, du Dreckskerl«, murmelte er zwischen den Zähnen.
Er schleppte mich zur Wohnungstür und riß sie auf, um mich auf den Treppenabsatz hinauszuschleudern. Carax’ Buch war mir aus den Händen gefallen. Er hob es auf und warf es mir zornig an den Kopf.
»Wenn ich dich hier noch einmal sehe oder erfahre, daß du dich auf der Straße an Clara rangemacht hast, dann schlage ich dich krankenhausreif, das schwör ich dir, und es ist mir schnurz, wie alt du bist. Kapiert?«
Mühsam richtete ich mich auf und stellte fest, daß Neri mir auch gleich das Jackett und den Stolz zerfetzt hatte.
»Wie bist du reingekommen?« Ich gab keine Antwort. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
»Los, her mit den Schlüsseln«, zischte er mit kaum verhaltener Wut.
»Welche Schlüssel?«
Seine Ohrfeige warf mich zu Boden. Mit blutendem Mund und einem grellen Sausen im linken Ohr stand ich wieder auf. Ich befühlte mein Gesicht und spürte unter den Fingern den Schnitt brennen, der mir die Lippen gespalten hatte. Am blutbeschmierten Ringfinger des Musiklehrers glänzte ein Siegelring.
»Die Schlüssel, hab ich gesagt.«
»Fahren Sie zur Hölle«, fauchte ich.Ich sah den Hieb nicht kommen, sondern hatte nur das Gefühl, ein Fallhammer habe mir den Magen herausgeschlagen. Ich klappte zusammen, unfähig zu atmen, und taumelte gegen die Wand. Neri riß mich an den Haaren hoch und wühlte in meinen Taschen herum, bis er die Schlüssel hatte. Ich sank zu Boden, hielt mir den Magen und wimmerte vor Schmerz oder Wut.
»Sagen Sie Clara, daß…«
Er schlug mir die Tür vor der Nase zu und ließ mich in vollkommener Dunkelheit liegen. Ich tastete nach dem Buch, und als ich es gefunden hatte, glitt ich die Wände entlang treppab. Blut spuckend und japsend erreichte ich die Straße. Kälte und Wind pappten mir schmerzhaft die nassen Kleider an den Leib. Der Schnitt im Gesicht brannte.
»Ist alles in Ordnung?« fragte eine Stimme im Schatten.
Es war der Bettler, dem ich kurz zuvor die Hilfe versagt hatte. Beschämt wich ich seinem Blick aus und nickte. Dann wollte ich loslaufen.
»Warten Sie doch einen Moment, wenigstens bis der Regen nachläßt.«
Er nahm mich am Arm und führte mich in eine Ecke unter den Arkaden, wo er ein Kleiderbündel und eine Tüte mit schmutziger alter Wäsche liegen hatte.
»Ich habe etwas Kognak. Er ist nicht schlecht. Trinken Sie ein bißchen. Das wird Ihnen helfen, sich aufzuwärmen. Und um das da zu desinfizieren…«
Ich trank einen Schluck aus der Flasche, die er mir reichte. Er schmeckte nach mit Essig veredeltem Terpentin, aber seine Wärme beruhigte Magen und Nerven. Einige Tropfen bespritzten meine Wunde, und in der schwärzesten Nacht meines Lebens sah ich Sterne.
»Gut, was?« Der Bettler lächelte.
»Los, nehmen Sie noch ein Schlückchen, das erweckt Tote zum Leben.«
»Nein, danke. Für Sie«, flüsterte ich.Er nahm einen großen Schluck. Ich betrachtete ihn aufmerksam. Er sah aus wie ein grauer Ministerialbuchhalter, der fünfzehn Jahre lang seinen Anzug nicht gewechselt hat. Er streckte mir seine Hand hin, und ich ergriff sie.
»Fermín Romero de Torres, Beamter im Wartedienst. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Daniel Sempere, Riesentrottel. Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«
»Verkaufen Sie sich nicht unter Ihrem Wert, in solchen Nächten sieht alles viel schlimmer aus, als es ist. Auch wenn Sie es nicht glauben werden, ich bin ein geborener Optimist. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß die Tage des Regimes gezählt sind. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Amerikaner demnächst bei uns einfallen und für Franco in Melilla einen Erdmandelstand aufstellen werden. Und ich werde meine Stelle, den Ruf und die verlorene Ehre wiedererlangen.«
»Was haben Sie denn beruflich gemacht?«
»Geheimdienst. Hochspionage. Ich kann nur so viel sagen, daß ich der Mann Francesc Maciàs in Havanna war, der unsere katalanische Republik gegründet hat.« Ich nickte. Noch ein Verrückter. Barcelonas Nacht sammelte sie scharenweise. Und Idioten wie mich ebenfalls.
»Hören Sie, dieser Schnitt sieht übel aus. Man hat Ihnen ordentlich das Fell gegerbt, was?« Ich führte die Finger zum Mund. Er blutete noch.
»Eine Weibergeschichte?« forschte Fermín Romero de Torres.
»Hätten Sie sich ersparen können. In diesem Land sind die Frauen, und das sage ich Ihnen, der ich mir die Welt angesehen habe, Frömmlerinnen und frigide. Genau so, wie ich es sage. Ich erinnere mich an eine kleine Mulattin, die ich in Kuba zurückgelassen habe. Eine andere Welt, verstehen Sie, eine andere Welt. Das karibische Weib schmiegt sich einem an den Körper, mit diesem Rhythmus der Inselbewohner, und säuselt einem zu: ›Ach, Liebster, gib mir Lust, gib mir Lust‹, und was ein richtiger Mann ist, mit Blut in den Adern — aber was soll ich Ihnen erzählen…«
Ich hatte den Eindruck, Fermín Romero de Torres, oder wie sein richtiger Name lauten mochte, sehnte sich nach dem Geplauder fast genauso wie nach einem heißen Bad, frischer Wäsche und einem Linsengericht mit Paprikawurst. Eine Weile ermunterte ich ihn zum Weitersprechen, während ich darauf wartete, daß meine Schmerzen nachließen. Ich mußte mich nicht allzusehr anstrengen, denn dieser Mann brauchte nur ab und zu ein Nicken zur rechten Zeit. Eben wollte er mir die Details eines geheimen Plans zur Entführung von Doña Carmen Polo de Franco erzählen, als ich sah, daß es nicht mehr so stark regnete und das Gewitter sich allmählich nordwärts zu verziehen schien.
»Es ist spät geworden für mich«, murmelte ich und richtete mich auf.Fermín Romero de Torres nickte etwas traurig und half mir auf, wobei er mir ein wenig den Staub von den nassen Kleidern klopfte.
»Ein andermal also«, sagte er resigniert.
»Der Mund ist mein Verderben. Ich fange an zu reden und… Hören Sie, das mit der Entführung, das bleibt aber unter uns, ja?«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin verschwiegen wie ein Grab. Und danke für den Kognak.« Ich ging Richtung Ramblas davon. Beim Eingang zum Platz blieb ich stehen und schaute zur Wohnung der Barcelós zurück. Die Fenster waren noch immer dunkel, triefend vor Regen. Am liebsten hätte ich Clara gehaßt, aber ich war nicht fähig dazu. Richtig zu hassen ist ein Talent, das man erst mit den Jahren lernt.Ich schwor mir, sie nicht wiederzusehen, nie wieder ihren Namen zu erwähnen oder an die Zeit zurückzudenken, die ich bei ihr vertan hatte. Aber die Wut, die mich aus dem Haus getrieben hatte, war verflogen. Ich fürchtete, sie wäre am nächsten Tag zurück, mit frischer Erbitterung, und Eifersucht und Scham würden mich langsam verbrennen, sobald einmal die Teile all dessen, was ich in dieser Nacht erlebt hatte, ineinanderpaßten. Es dauerte noch einige Stunden bis zum Morgengrauen, und ehe ich mit reinem Gewissen heimgehen konnte, hatte ich noch etwas zu erledigen.
Die Calle Arco del Teatro war noch dort, kaum eine Bresche im Halbdunkel. In der Mitte der Gasse hatte sich ein schwarzer Bach gebildet. Ich erkannte das alte Holztor und die barocke Fassade, wo mich mein Vater an einem Morgen vor sechs Jahren hingeführt hatte. Ich stieg die Stufen hinauf und schützte mich unter dem nach Urin und fauligem Holz muffelnden Torbogen vor dem Regen. Mehr denn je roch der Friedhof der Vergessenen Bücher nach Tod. Ich hatte nicht mehr gewußt, daß der Türklopfer aus dem Gesicht eines kleinen Teufels bestand. Ich packte ihn bei den Hörnern und klopfte dreimal an. Die Antwort war nur ein dumpfes Schweigen. Nach einer Weile klopfte ich abermals, sechs Schläge diesmal, lauter, bis mir die Faust schmerzte. Es vergingen weitere Minuten, und ich dachte schon, bestimmt sei niemand mehr da. Ich hockte mich vor der Tür nieder, zog Carax’ Buch aus dem Jackett hervor, schlug es auf und las erneut diesen ersten Satz, der mich Jahre zuvor gefangengenommen hatte.
In jenem Sommer regnete es Tag für Tag, und obwohl viele Leute sagten, es sei eine Strafe Gottes, da im Dorf neben der Kirche ein Kasino eröffnet worden war, wußte ich, daß es meine und allein meine Schuld war, denn ich hatte lügen gelernt und bewahrte auf den Lippen noch die letzten Worte meiner Mutter auf dem Totenbett: Ich habe den Mann nie geliebt, den ich geheiratet habe, sondern einen andern, von dem man mir gesagt hat, er sei im Krieg gefallen; such ihn und sag ihm, daß ich im Tod mit den Gedanken bei ihm war, denn er ist dein richtiger Vater.
Ich lächelte, als ich mich an die erste Nacht fieberhafter Lektüre vor sechs Jahren erinnerte. Dann klappte ich das Buch zu, um mich ein drittes und letztes Mal bemerkbar zu machen. Bevor ich den Klopfer berühren konnte, öffnete sich das Tor einen Spalt und ließ das Profil des Aufsehers ahnen, der eine Öllampe trug.
»Guten Abend«, sagte ich.
»Isaac, nicht wahr?«
Der Aufseher schaute mich an, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Schein der Lampe meißelte bernsteinfarben und scharlachrot seine eckigen Züge und verlieh ihm eine unübersehbare Ähnlichkeit mit dem Türklopferteufelchen.
»Sie sind Sempere junior«, murmelte er matt.
»Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis.«
»Und Sie einen ekelhaften Sinn für günstige Gelegenheiten. Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Schon hatte sein scharfer Blick das Buch unter meinem Jackett entdeckt. Er machte eine forschende Kopfbewegung. Ich zog das Buch hervor und zeigte es ihm.
»Carax«, sagte er.
»In dieser Stadt dürfte es höchstens zehn Personen geben, die wissen, wer er ist, oder dieses Buch gelesen haben.«
»Eine von ihnen ist erpicht darauf, es zu verbrennen. Mir ist kein besseres Versteck eingefallen als das hier.«
»Das ist ein Friedhof, kein Panzerschrank.«
»Eben. Was dieses Buch braucht, ist, daß man es beerdigt, wo keiner es finden kann.«
Isaac warf einen mißtrauischen Blick in die Gasse. Er stieß die Tür etwas weiter auf und bedeutete mir einzutreten. Die dunkle, unergründliche Vorhalle roch nach verbranntem Wachs und Feuchtigkeit. In der Finsternis hörte man sporadisches Tropfen. Isaac übergab mir die Lampe und zog aus seinem Flanellkittel einen Schlüsselbund, um den ihn jeder Kerkermeister beneidet hätte. Mit Hilfe irgendeiner Geheimwissenschaft traf er sogleich den gesuchten Schlüssel und steckte ihn in ein Schloß an der Tür, das durch ein Glasgehäuse voller Zahnräder und Stangen geschützt war, welches einer überdimensionierten Spieldose glich. Nach einer Drehung seines Handgelenks knackte der Mechanismus, und ich sah, daß sich die Hebel und Drehpunkte in einem wunderlichen mechanischen Ballett bewegten, bis sich das Tor in mehrere Stahlstangen fügte, die in der Mauer versanken.
»Nicht einmal die Bank von Spanien…«, sagte ich beeindruckt.
»Wie eine Erfindung von Jules Verne.«
»Von Kafka«, korrigierte mich Isaac und nahm die Lampe wieder an sich, um in die Tiefen des Hauses hineinzugehen.
»Wenn Sie erst einmal begreifen, daß die Sache mit den Büchern Unglück bringt, und lernen wollen, wie man eine Bank ausraubt oder eine gründet, was auf ein und dasselbe hinausläuft, dann besuchen Sie mich wieder, und ich erkläre Ihnen ein paar Dinge über Schlösser.« Ich folgte ihm durch die Gänge voller Fresken mit Engeln und Schimären. Isaac hielt die Lampe in die Höhe, so daß sie eine flackernde Blase aus rötlichem Licht an die Wände warf. Er hinkte ein wenig, und sein fadenscheiniger Flanellmantel sah trostlos aus. Ich dachte, dieser Mann würde sich auf Julián Carax’ Seiten bestimmt wohl fühlen.
»Wissen Sie etwas über Carax?« fragte ich.
Isaac blieb am Ende einer Galerie stehen und blickte mich gleichgültig an.
»Nicht viel. Was man mir eben so erzählt hat.«
»Wer?«
»Jemand, der ihn gut gekannt hat — oder es geglaubt hat.« Das Herz schlug mir bis zum Hals.
»Wann war das?«
»Als ich mich noch kämmte. Sie haben vermutlich noch in den Windeln gesteckt, und es sieht nicht so aus, als hätten Sie sich stark weiterentwickelt, ehrlich gesagt. Schauen Sie sich an — Sie zittern ja.«
»Das ist wegen der nassen Kleider und der Kälte hier drin.«
»Das nächste Mal geben Sie mir Bescheid, und ich schalte die Zentralheizung ein, um Sie auf Händen zu tragen, Schätzchen. Los, kommen Sie mit. Da ist mein Büro, da gibt es eine Heizung und etwas, was Sie sich überziehen können, während wir Ihre Kleider trocknen. Und ein wenig Mercurochrom und Wasserstoffperoxid würde auch nicht schaden, Sie haben ja eine Visage, als kämen Sie geradewegs vom Polizeirevier in der Vía Layetana.«
»Machen Sie bitte keine Umstände.«
»Ich mache keine Umstände. Das tue ich für mich, nicht für Sie. Hinter dieser Tür stelle ich die Regeln auf, und die einzigen Toten hier sind die Bücher. Nicht, daß Sie sich noch eine Lungenentzündung holen und ich die Leute von der Leichenhalle holen muß. Um das Buch da kümmern wir uns später. In achtunddreißig Jahren habe ich noch keins davonlaufen sehen.«
»Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin…«
»Reden Sie keinen Unsinn. Wenn ich Sie hereingebeten habe, dann aus Respekt vor Ihrem Vater, sonst hätte ich Sie auf der Straße gelassen. Folgen Sie mir bitte. Und wenn Sie sich anständig benehmen, erzähle ich Ihnen vielleicht, was ich über Ihren Freund Julián Carax weiß.« Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, daß er lächelte wie ein gerissener Gauner, als er sich unbeobachtet fühlte. Ganz offensichtlich genoß Isaac seine Rolle als unheimlicher Zerberus. Auch ich mußte bei mir lächeln. Jetzt war der letzte Zweifel ausgeräumt, wem das Gesicht des Türklopferteufelchens gehörte.
Isaac warf mir zwei dünne Decken über die Schultern und gab mir eine Tasse mit einem dampfenden Gesöff, das nach heißer Schokolade mit Schnaps roch.
»Sie wollten mir von Carax erzählen…«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Der erste, den ich Carax habe erwähnen hören, war Toni Cabestany, der Verleger. Das war vor zwanzig Jahren, als der Verlag noch existierte. Immer wenn Cabestany von seinen Reisen nach London, Paris oder Wien zurückkam, ist er hier aufgekreuzt, und wir haben eine Weile geplaudert. Wir waren beide verwitwet, und er beklagte sich, daß wir jetzt mit den Büchern verheiratet seien, ich mit den alten und er mit denen der Buchhaltung. Wir waren gute Freunde. Bei einem seiner Besuche hat er mir erzählt, er habe soeben für ein paar Münzen die spanischen Rechte der Romane eines gewissen Julián Carax gekauft, eines Barcelonesen, der in Paris lebe. Das muß im Jahr 28 oder 29 gewesen sein. Anscheinend hat Carax nachts in einem schäbigen Bordell in Pigalle als Pianist gearbeitet und tagsüber in einer elenden Dachwohnung in Saint-Germain geschrieben. Paris ist die einzige Stadt der Welt, wo Verhungern noch als Kunst gilt. Carax hatte in Frankreich zwei Romane veröffentlicht, die sich als absolute Ladenhüter erwiesen haben. In Paris gab keiner einen Pfifferling für ihn, und Cabestany hatte schon immer gern billig Rechte erworben.«
»Hat Carax denn nun auf spanisch oder französisch geschrieben?«
»Nun, vermutlich beides. Seine Mutter war Französin, Musiklehrerin, glaube ich, und er hatte in Paris gelebt, seit er neunzehn oder zwanzig war. Cabestany sagte, sie bekämen die Manuskripte von Carax auf spanisch. Ob es Übersetzungen oder Originale waren, hat ihn nicht gekümmert. Cabestanys Lieblingssprache war die der klingenden Münze, alles andere war ihm vollkommen egal. Er hatte sich gedacht, vielleicht könne er mit einem glücklichen Zufall einige tausend Carax-Exemplare auf dem spanischen Markt plazieren.«
»Und — ist es ihm gelungen?« Isaac runzelte die Stirn und schenkte mir noch etwas von seinem wohltuenden Gebräu nach.
»Ich glaube, der Roman, von dem er am meisten verkauft hat, war Das rote Haus — etwa neunzig Exemplare.«
»Aber er hat weiterhin Carax veröffentlicht, obwohl er Geld damit verlor«, bemerkte ich.
»So ist es. Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, warum. Cabestany war nicht eben ein Romantiker. Aber vielleicht hat jeder Mensch seine Geheimnisse… Zwischen 1928 und 36 hat er acht Romane von ihm herausgebracht. Womit Cabestany wirklich Geld gemacht hat, das war mit den Katechismen und einer Reihe von billigen Liebesromanen, in denen eine Heldin aus der Provinz die Hauptrolle spielte, Violeta LaFleur, die sind an den Kiosken sehr gut gelaufen. Carax’ Romane hat er vermutlich nur zum Spaß publiziert.«
»Was ist aus Señor Cabestany geworden?« Isaac seufzte und schaute auf.
»Das Alter, das von uns allen seinen Tribut fordert. Er wurde krank und bekam Geldprobleme. 1936 hat der ältere Sohn den Verlag übernommen, aber er gehörte zu denen, die nicht einmal ihren Namen fehlerfrei schreiben können. In weniger als einem Jahr ist die Firma auf den Hund gekommen. Zum Glück hat Cabestany nicht mehr gesehen, was seine Erben mit der Frucht eines langen Arbeitslebens angestellt haben — und was der Krieg mit dem Land angestellt hat. Am Abend von Allerheiligen raffte ihn eine Embolie dahin, mit einer Cohiba im Mund und einem fünfundzwanzigjährigen Mädchen auf den Knien. Der Sohn hatte einen andern Charakter. Arrogant, wie nur Dummköpfe sein können. Seine erste große Idee war der Versuch, den ganzen Lagerbestand des Verlags zu verkaufen, also das Vermächtnis seines Vaters, um die Bücher zu Papiermasse zu machen oder so. Ein Freund von ihm, noch so ein verwöhntes Burschen mit einem Haus in Caldetas und einem Bugatti, hatte ihn davon überzeugt, daß Liebes-Fotoromane und Mein Kampf sich fantastisch verkaufen würden und daß man tonnenweise Zellulose brauche, um die Nachfrage zu befriedigen.«
»Und hat er es getan?«
»Er ist nicht mehr dazu gekommen. Kurz nachdem er den Verlag übernommen hatte, besuchte ihn ein Mann und machte ihm eine äußerst großzügige Offerte. Er wollte die ganzen noch vorhandenen Bestände von Julián Carax’ Romanen kaufen und ihm dafür das Dreifache des Marktpreises bezahlen.«
»Sagen Sie nichts weiter. Um sie zu verbrennen«, murmelte ich.Isaac lächelte überrascht.
»Genau. Sie haben sich doch so dumm gestellt, soviel gefragt, als wüßten Sie nichts.«
»Wer war dieser Mann?«
»Ein gewisser Aubert oder Coubert, ich weiß nicht mehr genau.«
»Laín Coubert?«
»Sagt Ihnen der Name was?«
»So heißt eine Figur in Der Schatten des Windes, Carax’ letztem Roman.« Isaac runzelte die Stirn.
»Eine fiktive Figur?«
»Im Roman ist Laín Coubert der Name, dessen sich der Teufel bedient.«
»Ein wenig theatralisch, wenn Sie mich fragen. Aber wer er auch sein mochte, wenigstens hatte er Sinn für Humor.« Da ich meine Begegnung mit diesem Menschen noch in frischer Erinnerung hatte, fand ich das nicht im geringsten lustig, aber ich sparte mir meine Meinung für eine bessere Gelegenheit auf.
»Dieser Mann, Coubert oder wie er heißt, hatte er ein verbranntes, entstelltes Gesicht?« Isaac schaute mich mit einem halb belustigten, halb besorgten Lächeln an.
»Nicht die geringste Ahnung. Die Person, die mir das alles erzählt hat, hat ihn nie gesehen, und sie erfuhr es nur, weil Cabestany junior es am nächsten Tag seiner Sekretärin erzählte. Von verbrannten Gesichtern hat er nichts erwähnt. Wollen Sie etwa sagen, daß Sie das nicht aus einem Hintertreppenroman haben?« Ich schüttelte nur den Kopf, um das Thema herunterzuspielen.
»Wie ist die Geschichte ausgegangen? Hat der Sohn des Verlegers die Bücher an Coubert verkauft?« fragte ich.
»Dieser verwöhnte Luftikus wollte besonders schlau sein und hat mehr verlangt, als Coubert ihm angeboten hatte, und daraufhin hat der seine Offerte zurückgezogen. Einige Tage später ist das Lager des Verlages Cabestany in Pueblo Nuevo kurz nach Mitternacht bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Und das ganz umsonst.«
»Und was geschah mit Carax’ Büchern? Sind sie vernichtet worden?«
»Fast alle. Zum Glück hat Cabestanys Sekretärin, als sie von der Offerte hörte, eine Eingebung gehabt und von jedem Carax-Titel ein Exemplar mit nach Hause genommen. Sie war es auch, die die ganze Korrespondenz mit ihm geführt hatte, und im Laufe der Jahre hat sich zwischen den beiden eine gewisse Freundschaft ergeben. Sie hieß Nuria, und ich glaube, sie war die einzige Person im Verlag — und wahrscheinlich in ganz Barcelona —, die Carax’ Romane gelesen hat. Sie hat eine Schwäche für aussichtslose Angelegenheiten. Als kleines Mädchen hat sie auf der Straße Tierchen aufgelesen und nach Hause gebracht. Mit der Zeit hat sie dann verkrachte Romanautoren adoptiert, vielleicht weil ihr Vater ein Schriftsteller sein wollte und es nie geschafft hat.«
»Sie scheinen sie sehr gut zu kennen.« Isaac lächelte wie das hinkende Teufelchen.
»Besser, als sie glaubt. Sie ist meine Tochter.« Das Schweigen und der Zweifel nagten an mir. Je mehr ich von dieser Geschichte vernahm, desto verwirrter war ich.
»Soviel ich weiß, ist Carax 1936 nach Barcelona zurückgekehrt. Es gibt Leute, die sagen, er ist hier gestorben. Hat er noch Angehörige in der Stadt? Jemand, der etwas von ihm wissen könnte?«
»Schwer zu sagen. Ich glaube, Carax’ Eltern hatten sich schon lange vorher getrennt. Die Mutter ist nach Südamerika gegangen und hat dort wieder geheiratet. Mit seinem Vater hat er meines Wissens nicht mehr gesprochen, seit er nach Paris gegangen ist.«
»Warum nicht?«
»Was weiß ich. Die Leute machen sich das Leben schwer, als wäre es nicht auch so schwer genug.«
»Wissen Sie, ob er noch lebt?«
»Das hoffe ich doch. Er war jünger als ich, aber unsereiner geht ja nur noch selten aus, und Nachrufe lese ich seit Jahren keine mehr, die Bekannten sterben wie Fliegen dahin, da wird man ganz ängstlich, ehrlich gesagt. Carax war übrigens der Name der Mutter. Der Vater hieß Fortuny und hatte einen Hutladen in der Ronda de San Antonio, und soviel ich weiß, hat er sich mit seinem Sohn nicht sehr gut vertragen.«
»Könnte es denn sein, daß sich Carax bei seiner Rückkehr nach Barcelona versucht fühlte, Ihre Tochter Nuria aufzusuchen, wo es doch zwischen ihnen eine gewisse Freundschaft gab und er mit seinem Vater nicht sehr gut auskam?« Isaac lachte bitter.
»Wahrscheinlich bin ich der Ungeeignetste, um das zu wissen. Immerhin bin ich ihr Vater. Ich weiß, daß Nuria einmal, im Jahr 32 oder 33, für Cabestany nach Paris gereist ist und zwei Wochen lang bei Julián Carax gewohnt hat. Das hat mir Cabestany erzählt, denn sie hat mir gesagt, sie sei in einem Hotel abgestiegen. Damals war sie noch ledig, und ich hatte das Gefühl, daß Carax ein wenig in sie verschossen war. Meine Nuria gehört zu denen, die bloß einen Laden zu betreten brauchen, um Herzen zu brechen.«
»Sie meinen, die beiden waren ein Paar?«
»Sie mögen billige Romane, wie? Schauen Sie, ich habe mich nie in Nurias Privatleben eingemischt, meines ist nämlich auch nicht gerade zum Einrahmen. Wenn Sie einmal eine Tochter haben, ein Segen, den ich niemandem wünsche, denn es ist ein Gesetz des Lebens, daß sie einem über kurz oder lang das Herz brechen wird, also, was ich sagen wollte, wenn Sie einmal eine Tochter haben, werden Sie, ohne es zu merken, anfangen, die Männer in zwei Gruppen einzuteilen: die, von denen Sie annehmen, daß sie mit ihr ins Bett gehen, und die, die es nicht tun. Derjenige, der das bestreitet, lügt wie gedruckt. Ich ahnte, daß Carax zu den ersteren gehörte, und somit war es mir einerlei, ob er ein Genie war oder ein armer Teufel, ich habe ihn immer für einen unverschämten Kerl gehalten.«
»Vielleicht haben Sie sich geirrt.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sind noch sehr jung und verstehen von Frauen etwa soviel wie ich vom Marzipanbrötchenherstellen.«
»Das stimmt wohl. Was ist mit den Büchern geschehen, die Ihre Tochter aus Cabestanys Büro mitgenommen hat?«
»Die sind hier.«
»Hier?«
»Was glauben Sie denn, woher das Buch stammt, das Sie an dem Tag gefunden haben, an dem Ihr Vater Sie herbrachte?«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es ist doch ganz einfach. Eines Abends, Tage nach dem Brand von Cabestanys Lager, ist meine Tochter hierhergekommen. Sie war sehr nervös und sagte, jemand sei ihr gefolgt; sie hatte Angst, daß dieser Coubert die Bücher an sich bringen wolle, um sie zu vernichten. Sie war gekommen, um die Bücher zu verbergen. Sie ging in den großen Saal und hat sie im Labyrinth der Regale versteckt, als vergrübe sie einen Schatz. Ich habe sie nicht gefragt, wo sie sie hingestellt hatte, und sie hat es mir auch nicht gesagt. Vor dem Gehen sagte sie noch, sobald sie Carax auftreibe, werde sie sie wieder holen. Ich hatte den Eindruck, sie war noch immer in ihn verliebt, aber ich sagte nichts. Ich habe sie gefragt, ob sie ihn in letzter Zeit gesehen habe, ob sie etwas von ihm wisse. Sie sagte, sie habe seit Monaten nichts mehr von ihm gehört, praktisch seit dem Tag, an dem er die letzten Korrekturen am Manuskript seines letzten Buches aus Paris geschickt habe. Ich könnte Ihnen nicht sagen, ob sie mich angelogen hat. Was ich aber weiß, ist, daß Nuria nach diesem Tag nie wieder etwas von Carax gehört hat, und diese Bücher sind hier geblieben und haben Staub angesetzt.«
»Glauben Sie, Ihre Tochter wäre einverstanden, sich mit mir über all das zu unterhalten?«
»Nun, wann immer es ums Reden geht, ist meine Tochter dabei, aber ich weiß nicht, ob sie Ihnen etwas sagen kann, was nicht schon ich Ihnen erzählt habe. Denken Sie daran, seit alledem ist viel Zeit vergangen. Und Tatsache ist, daß wir uns nicht so gut verstehen, wie ich möchte. Wir sehen uns einmal im Monat. Wir gehen hier in der Nähe zu Mittag essen, und danach verschwindet sie wieder, wie sie gekommen ist. Was ich weiß, ist, daß sie schon vor Jahren einen anständigen Burschen geheiratet hat, Journalist und ein wenig unvernünftig, ehrlich gesagt, einer von denen, die sich immer in politische Schwierigkeiten bringen, aber mit einem guten Herzen. Sie haben zivil geheiratet, ohne Gäste. Ich habe es einen Monat später erfahren. Ihren Mann hat sie mir nie vorgestellt. Er heißt Miquel oder so. Vermutlich ist sie nicht sehr stolz auf ihren Vater, und ich gebe ihr keine Schuld. Jetzt ist sie eine andere Frau. Stellen Sie sich vor, sie hat sogar stricken gelernt und soll sich scheint’s nicht mehr wie Simone de Beauvoir kleiden. Demnächst werde ich erfahren, daß ich Großvater geworden bin. Seit Jahren arbeitet sie zu Hause als Französisch- und Italienischübersetzerin. Ich weiß nicht, woher sie diese Begabung hat, ehrlich gesagt. Von ihrem Vater jedenfalls nicht. Ich werde Ihnen ihre Adresse aufschreiben, obwohl ich nicht weiß, ob es eine gute Idee ist, wenn Sie ihr sagen, daß ich Sie schicke.« Isaac kritzelte etwas auf die Ecke einer alten Zeitung und gab mir den Ausriß.
»Vielen Dank. Man weiß nie, vielleicht erinnert sie sich an etwas…« Isaac lächelte ein wenig traurig.
»Als kleines Mädchen hat sie sich an alles erinnert. An alles. Dann werden die Kinder groß, und man weiß nicht mehr, was sie denken und fühlen. Und vermutlich muß es auch so sein. Sagen Sie Nuria nicht, was ich Ihnen erzählt habe, ja? Was hier gesagt worden ist, bleibt unter uns.«
»Seien Sie unbesorgt. Glauben Sie, daß sie noch an Carax denkt?« Isaac seufzte lange und senkte den Blick.
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob sie ihn wirklich geliebt hat. Diese Dinge bleiben im Herzen jedes einzelnen verschlossen, und jetzt ist sie eine verheiratete Frau. Als ich so alt war wie Sie, hatte ich eine kleine Freundin, Teresita Boadas hieß sie und nähte Schürzen in der Textilfabrik Santamaría in der Calle Comercio. Sie war siebzehn, zwei Jahre jünger als ich, und war die erste Frau, in die ich mich verliebte. Machen Sie nicht so ein Gesicht, ich weiß schon, daß ihr jungen Leute glaubt, wir Alten hätten uns nie verliebt. Teresitas Vater hatte einen zweirädrigen Eiswagen auf dem Borne-Markt und war von Geburt an stumm. Sie können sich nicht vorstellen, was ich an dem Tag für eine Angst hatte, als ich ihn um die Erlaubnis bat, seine Tochter zu heiraten, und er mich volle fünf Minuten lang anstarrte, ohne ein Wort zu sagen und mit dem Eispickel in der Hand. Ich hatte zwei Jahre gespart, um einen Ehering zu kaufen, da wurde Teresita krank. Etwas, was sie in der Fabrik aufgelesen habe, sagte sie. Innerhalb von sechs Monaten ist sie an Tuberkulose gestorben. Ich erinnere mich noch, wie der Stumme wimmerte, als wir sie auf dem Friedhof von Pueblo Nuevo beerdigt haben.« Isaac versank in tiefes Schweigen. Ich wagte nicht zu atmen. Kurz darauf schaute er auf und lächelte mich an.
»Das war vor fünfundfünfzig Jahren, nicht zu fassen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht an sie erinnere, an die Spaziergänge, die wir zu den Ruinen der Weltausstellung von 1888 gemacht haben, und wie sie über mich gelacht hat, wenn ich ihr die Gedichte vorlas, die ich im Hinterzimmer des Wurst- und Lebensmittelladens meines Onkels Leopoldo schrieb. Ich erinnere mich sogar noch an das Gesicht einer Zigeunerin, die uns am Bogatell-Strand aus der Hand gelesen und uns gesagt hat, wir würden ein Leben lang zusammenbleiben. Auf ihre Art hat sie nicht gelogen. Was soll ich Ihnen sagen? Doch, ich glaube, Nuria erinnert sich noch immer an diesen Mann, auch wenn sie es nicht sagt. Und ehrlich gesagt, das werde ich Carax niemals verzeihen. Sie sind noch sehr jung, aber ich weiß, wie sehr so etwas schmerzt. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, so war Carax ein Herzensbrecher, und das Herz meiner Tochter hat er mit sich ins Grab oder in die Hölle genommen. Ich bitte Sie nur um eines, falls Sie sie sehen und mit ihr sprechen: daß Sie mir sagen, wie es ihr geht. Daß Sie herauskriegen, ob sie glücklich ist. Und ob sie ihrem Vater vergeben hat.«
Kurz vor dem Morgengrauen drang ich, nur mit einer Öllampe bewehrt, ein weiteres Mal in den Friedhof der Vergessenen Bücher ein. Dabei stellte ich mir vor, wie Isaacs Tochter durch dieselben dunklen, unendlichen Gänge geschritten war, mit demselben Entschluß, wie er jetzt auch mich lenkte: das Buch in Sicherheit zu bringen. Anfänglich dachte ich, ich erinnere mich an den Weg, dem ich bei meinem ersten Besuch hier an der Hand meines Vaters gefolgt war, aber bald ging mir auf, daß die Wirrungen des Labyrinths die Gänge in Spiralen krümmten, die man unmöglich im Kopf behalten konnte. Dreimal versuchte ich einem Weg zu folgen, den ich im Gedächtnis zu haben meinte, und dreimal führte mich das Labyrinth zum Ausgangspunkt zurück. Dort wartete Isaac lächelnd auf mich.
»Haben Sie vor, es später einmal wieder zu holen?« fragte er.
»Selbstverständlich.«
»In diesem Fall sollten Sie vielleicht einen kleinen Kniff anwenden.«
»Einen Kniff?«
»Junger Mann, Sie haben eine ziemlich lange Leitung, nicht wahr? Erinnern Sie sich doch an den Minotaurus.« Erst nach einigen Sekunden begriff ich seinen Vorschlag. Er. zog ein altes Federmesser aus der Tasche und streckte es mir hin.
»Bringen Sie an jeder Ecke, um die Sie biegen, eine kleine Markierung an, eine Kerbe, die nur Sie kennen. Es ist altes Holz und hat schon so viele Kratzer und Rillen, daß niemand es bemerken wird, es sei denn, er weiß, was er sucht…« Ich folgte seinem Rat und drang wieder ins Zentrum des Baus ein. Immer wenn ich die Richtung änderte, blieb ich stehen und markierte mit einem C und einem X die Regale auf derjenigen Seite des Gangs, wo ich abbog. Nach zwanzig Minuten hatte ich mich in den Eingeweiden des Turms vollkommen verirrt, und der Ort, wo ich das Buch vergraben würde, offenbarte sich mir nur zufällig. Zu meiner Rechten erkannte ich eine Reihe von Bänden über die Aufhebung von lehnsrechtlicher Bindung beim Vermögen aus der Feder eines gewissen Jovellanos. In meinen Halbwüchsigenaugen hätte eine derartige Tarnung selbst die hinterlistigsten Geister abgeschreckt. Ich nahm einige Bände heraus und untersuchte die hinter dieser Mauer granitener Prosa verborgene zweite Reihe. Zwischen Staubwölkchen wechselten sich mehrere Komödien von Moratín und eine prächtige Ausgabe von Curial e Güelfa mit Spinozas Tractatus TheologicusPoliticus ab. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, entschloß ich mich, Carax zwischen ein Jahrbuch mit Gerichtsurteilen der Zivilgerichte von Gerona aus dem Jahr 1901 und eine Sammlung von Juan Valeras Romanen zu verbannen. Um Platz zu gewinnen, nahm ich den Gedichtband aus dem Goldenen Zeitalter heraus, der sie trennte, und stellte an seiner Statt Der Schatten des Windes hinein. Mit einem Augenzwinkern verabschiedete ich mich von dem Roman und stellte die Jovellanos-Bände wieder zurück, so daß sie die erste Reihe zumauerten.Geführt von meinen Kerben, fand ich ohne weitere Umstände wieder zurück. Während ich im Halbdunkel durch Büchertunnel um Büchertunnel schritt, wurde ich unwillkürlich von einem Gefühl der Trauer und Mutlosigkeit befallen. Ich konnte den Gedanken nicht verhindern, daß, wenn ich in der Unendlichkeit dieser Nekropolis rein zufällig in einem einzigen unbekannten Buch ein ganzes Universum entdeckt hatte, Zehntausende weitere unerforscht und für immer vergessen blieben. Ich spürte Millionen verlassener Seiten, herrenloser Welten und Seelen um mich herum, die in einem Ozean der Dunkelheit untergingen, während die außerhalb dieser Mauern pulsierende Welt Tag für Tag mehr die Erinnerung verlor, ohne es zu merken, und sich um so schlauer fühlte, je mehr sie vergaß.
Die ersten Lichter der Morgendämmerung zeigten sich, als ich in die Wohnung in der Calle Santa Ana zurückkam. Leise öffnete ich die Tür und glitt über die Schwelle, ohne das Licht anzumachen. Vom Vorzimmer aus sah man am Ende des Gangs im Eßzimmer den noch festlich gedeckten Tisch. Die Torte stand unberührt da, das Geschirr wartete aufs Abendessen. Im Sessel zeichnete sich unbeweglich die Silhouette meines Vaters ab, der aus dem Fenster spähte. Er war wach und trug noch seinen Ausgehanzug. Aus einer Zigarette, die er ungeschickt in den Fingern hielt, stiegen träge Rauchspiralen auf. Seit Jahren hatte ich meinen Vater nicht mehr rauchen sehen.
»Guten Morgen«, sagte er mit rauher Stimme und drückte die Zigarette in einem mit halb aufgerauchten Stummeln fast bis zum Rand gefüllten Aschenbecher aus.
Ich schaute ihn an und wußte nicht, was sagen. Im Gegenlicht war sein Blick nicht zu sehen.
»Clara hat gestern abend mehrmals angerufen, zwei Stunden nachdem du gegangen bist«, sagte er.
»Sie klang sehr besorgt. Sie hat gesagt, du sollst sie anrufen, wie spät es auch immer sei.«
»Ich habe nicht vor, Clara wiederzusehen oder mit ihr zu sprechen.« Mein Vater nickte nur schweigend. Ich sank auf einen der Eßtischstühle. Mein Blick fiel zu Boden.
»Willst du mir nicht sagen, wo du gewesen bist?«
»Einfach so da draußen.«
»Du hast mir eine furchtbare Angst eingejagt.« In seiner Stimme lag kein Zorn, kaum ein Vorwurf, nur Müdigkeit.
»Ich weiß. Und es tut mir leid.«
»Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?«
»Ich bin im Regen ausgerutscht und hingefallen.«
»Dieser Regen hat offenbar eine tüchtige Rechte gelandet. Tu was drauf.«
»Es ist nicht schlimm. Ich spür’s nicht einmal«, log ich.
»Ich muß jetzt bloß schlafen gehen. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.«
»Pack doch wenigstens dein Geschenk aus, bevor du zu Bett gehst.« Er deutete auf das in Cellophan eingeschlagene Päckchen, das er am Vorabend auf den Eßtisch gelegt hatte. Ich zögerte einen Moment. Mein Vater nickte. Ich nahm das Päckchen und wog es in der Hand ab. Dann gab ich es ihm ungeöffnet.
»Du bringst es am besten zurück. Ich habe kein Geschenk verdient.«
»Geschenke macht man zum Vergnügen des Schenkenden, nicht weil es der Beschenkte verdient hätte. Zudem kann man es jetzt nicht mehr zurückgeben. Pack es aus.« In der Morgendämmerung löste ich die sorgfältige Verpackung. Sie enthielt ein Kästchen aus glänzendem, mit goldenen Nieten beschlagenem Holz. Bevor ich es aufklappte, mußte ich lächeln. Das Geräusch des Verschlusses beim Öffnen war erlesen, wie ein Uhrwerk. Innen war das Etui mit dunkelblauem Samt ausgekleidet. In der Mitte lag glänzend Victor Hugos märchenhafter Montblanc Meisterstück. Ich nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn im Licht des Balkons. Auf der goldenen Klammer der Verschlußkappe war eine Inschrift eingraviert: Daniel Sempere, 1953
Mit offenem Mund schaute ich meinen Vater an. Ich glaube, ich habe ihn nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick. Wortlos stand er von seinem Sessel auf und umarmte mich fest. Ich spürte, wie sich mir der Hals zusammenzog, und da mir die Worte fehlten, preßte ich die Lippen zusammen.