Nuria Monfort: Bericht über Erscheinungen 1933–1955

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Julián Carax und ich lernten uns im Herbst 1933 kennen. Damals arbeitete ich für den Verleger Josep Cabestany. Señor Cabestany hatte Carax 1927 auf einer seiner verlegerischen

»Sondierungsreisen« nach Paris entdeckt. Julián verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit abendlichem Klavierspielen in einem Animierlokal, und des Nachts schrieb er. Die Inhaberin des Lokals, eine gewisse Irène Marceau, verkehrte mit den meisten Pariser Verlegern, und dank ihrer Bitten, Gefälligkeiten und Indiskretionsdrohungen hatte Julián in verschiedenen Verlagen mehrere Romane veröffentlichen können — mit katastrophalem kommerziellem Ergebnis. Für einen Spottpreis, der die Übersetzung der französisch geschriebenen Originale ins Spanische durch den Autor einschloß, hatte Cabestany die Exklusivrechte erworben, um Carax’ Werke in Spanien und Südamerika herauszubringen. Er war zuversichtlich, von jedem etwa dreitausend Exemplare absetzen zu können, aber die ersten beiden in Spanien publizierten Titel waren ein totales Fiasko: Von beiden wurden kaum hundert Exemplare verkauft. Trotz dieser Mißerfolge bekamen wir alle zwei Jahre von Julián ein neues Manuskript, das Cabestany immer bedenkenlos akzeptierte, da er mit dem Autor eine Verpflichtung eingegangen sei, schließlich bedeute Gewinn nicht alles und gute Literatur müsse man fördern.

Neugierig fragte ich ihn eines Tages, warum er weiterhin Romane von Julián Carax veröffentliche und dabei regelmäßig Geld verliere. Wortlos ging er zu seinem Regal, zog eines von Juliáns Büchern heraus und forderte mich auf, es zu lesen. Das tat ich. Zwei Wochen später hatte ich sie alle gelesen. Diesmal lautete meine Frage, wie es möglich war, daß wir von diesen Romanen so wenig Exemplare verkauften.

»Ich weiß es nicht«, sagte Cabestany.

»Aber wir werden es weiterhin versuchen.« Das erschien mir eine bewundernswerte Geste, die nicht zu dem Bild von Geschäftstüchtigkeit passen wollte, das ich mir von Cabestany gemacht hatte. Vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Die Person von Julián Carax interessierte mich immer mehr. Alles mit ihm Zusammenhängende war von Geheimnis umgeben. Zumindest ein- oder zweimal monatlich rief jemand an und fragte nach Julián Carax’ Adresse in Paris. Bald merkte ich, daß es immer dieselbe Stimme war, die sich jedesmal als jemand anders ausgab. Ich sagte jeweils bloß das, was schon auf der letzten Seite der Bücher stand: daß Julián in Paris wohnte. Mit der Zeit meldete sich der Mann nicht mehr. Für alle Fälle hatte ich Juliáns Adresse aus den Verlagsarchiven gestrichen. Ich war die einzige, die ihm schrieb, und ich kannte sie auswendig.Monate später fiel mir zufällig ein Ordner mit Rechnungen in die Hand. Einerseits waren es die, welche die Druckerei für die Herstellungskosten von Julián Carax’ Büchern an Señor Cabestany schickte. Anderseits waren es Kopien der Rechnungen, die Cabestany seinerseits an jemanden schickte, der diese Kosten in voller Höhe übernahm. Es war ein Mann, der mit dem Verlag nichts zu tun und von dem ich noch nie gehört hatte: Miquel Moliner. Aber die Druck- und Auslieferungskosten waren wesentlich niedriger als die Señor Moliner fakturierte Summe, was bedeutete, daß der Verlag Geld verdiente, indem er Bücher druckte, welche direkt in ein Lager wanderten. Ich hatte nicht den Mut, Cabestanys finanzielle Machenschaften zu hinterfragen — ich fürchtete um meine Stelle. Aber ich schrieb mir die Adresse dieses Miquel Moliner auf, eine Hausnummer in der Calle Puertaferrisa. Monatelang trug ich diese Adresse mit mir herum, ehe ich es wagte, ihn aufzusuchen. Schließlich siegte mein Gewissen, und ich ging zu ihm, um ihm zu sagen, daß Cabestany ihn übers Ohr haue. Er lächelte und sagte, er wisse es.

»Jeder macht das, wozu er taugt.« Ich fragte ihn, ob er derjenige sei, der so oft angerufen habe, um Carax’ Adresse herauszufinden. Er verneinte und schärfte mir mit ernster Miene ein, diese Adresse niemandem zu geben. Niemals.Miquel Moliner war ein rätselhafter Mann. Er lebte allein in einem höhlenartigen, halb zerfallenen Palast, der zur Erbschaft seines Vaters gehörte, eines Industriellen, der mit der Fabrikation von Waffen und, wie es hieß, als Kriegsgewinnler reich geworden war. Miquel lebte alles andere als in Saus und Braus, sondern führte ein fast mönchisches Leben und ließ es sich angelegen sein, das in seinen Augen blutbesudelte Geld für die Restaurierung von Museen, Kathedralen, Schulen, Bibliotheken und Krankenhäusern durchzubringen und sicherzustellen, daß die Werke seines Jugendfreundes Julián Carax in seiner Geburtsstadt veröffentlicht wurden.

»Geld habe ich mehr als genug, Freunde wie Julián aber fehlen mir«, sagte er als einzige Erklärung.Mit seinen Geschwistern oder den restlichen Familienmitgliedern, von denen er wie von Fremden sprach, hatte er kaum Kontakt. Er war unverheiratet und verließ selten das Grundstück seines kleinen Palastes, in dem er nur den oberen Stock bewohnte. Dort hatte er sein Büro eingerichtet, wo er fieberhaft Artikel und Kolumnen für mehrere Madrider und Barceloneser Zeitungen und Zeitschriften verfaßte, technische Texte aus dem Französischen und Deutschen übersetzte sowie Lexika und Schulbücher stilistisch überarbeitete. Miquel Moliner war besessen von der Krankheit des Büßerfleißes, und obwohl er bei andern den Müßiggang respektierte, ja sie darum beneidete, mied er ihn selbst wie die Pest. Aber er prahlte nicht mit seinem Arbeitsethos, sondern machte sich über seinen Produktionszwang lustig und nannte ihn eine harmlosere Art der Feigheit.

»Beim Arbeiten braucht man dem Leben nicht in die Augen zu schauen.« Fast ohne es zu merken, wurden wir gute Freunde. Wir hatten vieles gemeinsam, vielleicht allzu vieles. Miquel erzählte mir von Büchern, von seinem angebeteten Dr. Freud, von Musik, vor allem aber von seinem alten Freund Julián. Wir sahen uns fast allwöchentlich. Er erzählte mir Geschichten aus Juliáns Tagen an der SanGabriel-Schule, Er hatte eine Sammlung alter Fotos und von einem halbwüchsigen Julián geschriebener Erzählungen. Er bewunderte Julián, und durch seine Worte und Erinnerungen entdeckte ich ihn allmählich, machte mir in seiner Abwesenheit ein Bild von ihm. Ein Jahr nachdem wir uns kennengelernt hatten, gestand mir Miquel Moliner, er habe sich in mich verliebt. Ich wollte ihn nicht verletzen, ebensowenig aber beschwindeln. Es war unmöglich, Miquel zu beschwindeln. Ich sagte ihm, ich schätze ihn über alles, er sei mein bester Freund geworden, aber verliebt sei ich nicht in ihn. Er sagte, das wisse er bereits.

»Du bist in Julián verliebt, weißt es aber noch nicht.« Im August 1933 kündigte mir Julián brieflich an, er habe das Manuskript eines neuen Romans mit dem Titel Der Kathedralendieb beinahe beendet. Im September mußte Cabestany mit Gallimard einige Verträge erneuern, doch seit Wochen war er durch einen Gichtanfall zur Untätigkeit verurteilt und schickte deshalb — und zur Belohnung für meine Hingabe — an seiner Stelle mich nach Paris, um die neuen Verträge auszuhandeln und gleichzeitig Julián zu besuchen und seinen jüngsten Roman mitzunehmen. Ich kündigte Julián meinen Besuch für Mitte September an und bat ihn, mir ein einfaches, erschwingliches Hotel zu empfehlen. Er antwortete, ich könne bei ihm wohnen, in einer bescheidenen Wohnung in St-Germain, und mir das Geld fürs Hotel für andere Ausgaben sparen. Am Tag vor meiner Abreise besuchte ich Miquel, um ihn zu fragen, ob ich Julián etwas von ihm bestellen könne. Er zögerte lange und verneinte dann.Das erste Mal, daß ich Julián persönlich sah, war auf der Gare d’Austerlitz. Hinterrücks hatte in Paris der Herbst Einzug gehalten, und der Bahnhof war in Nebel gehüllt. Ich wartete auf dem Bahnsteig, während die Fahrgäste dem Ausgang zustrebten. Bald war ich allein und sah einen Mann in schwarzem Mantel am Ende des Bahnsteigs stehen, der mich durch den Rauch seiner Zigarette beobachtete. Auf der Fahrt hatte ich mich immer wieder gefragt, wie ich Julián erkennen würde. Die Fotos, die ich bei Miquel von ihm gesehen hatte, waren mindestens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ich schaute mich auf dem Bahnsteig um. Da war niemand mehr außer dieser Gestalt und mir. Ich sah, daß der Mann mich ziemlich neugierig musterte, vielleicht weil er jemand anders erwartet hatte, wie ich auch. Das konnte nicht er sein. Nach meinen Informationen war Julián inzwischen zweiunddreißig, und dieser Mann sah bejahrt aus. Er hatte weiße Haare und einen traurigen oder abgespannten Ausdruck. Zu blaß und zu dünn, aber möglicherweise war es auch nur der Nebel und meine Ermüdung von der Reise. Ich hatte mir einen jungenhaften Julián vorgestellt. Vorsichtig ging ich auf den Unbekannten zu und schaute ihm in die Augen.

»Julián?« Der Fremde lächelte und nickte. Julián Carax hatte das schönste Lächeln der Welt. Das war ihm als einziges geblieben.Er wohnte in einer Mansardenwohnung in St-Germain, die nur zwei Räume hatte: ein Wohnzimmer mit Küchennische, das auf einen Balkon hinausführte, und ein fensterloses Schlafzimmer mit einem Einzelbett. Das Bad am Ende des Gangs im unteren Stock teilte er mit seinen Mitbewohnern. Insgesamt war die Wohnung kleiner als Señor Cabestanys Büro. Julián hatte gewissenhaft saubergemacht und alles vorbereitet, um mich einfach und schicklich zu empfangen. Ich tat, als wäre ich entzückt von der Wohnung, die noch nach Desinfektionsmitteln und dem Wachs roch, das er mit mehr Eifer als Geschick aufgetragen hatte. Die Bettücher waren neu. Ich glaube, sie waren mit Zeichnungen von Drachen und Schlössern bedruckt. Kinderlaken. Julián entschuldigte sich mit den Worten, er habe sie zu einem Sonderpreis erhalten, sie seien aber von erster Qualität. Die nichtbedruckten seien doppelt so teuer und dazu langweiliger.Im Wohnzimmer stand ein alter Holzschreibtisch mit Sicht auf die Türme der Kathedrale. Darauf die mit Cabestanys Vorschuß gekaufte UnderwoodSchreibmaschine und zwei Stapel Blätter, einer weiß und der andere auf beiden Seiten beschrieben. Julián teilte die Wohnung mit einem riesigen weißen Kater namens Kurtz, der mich zu Füßen seines Herrchens argwöhnisch beobachtete und sich die Pfoten leckte. Ich zählte zwei Stühle, einen Garderobenhalter und wenig mehr. Alles andere waren Bücher. Mauern von Büchern bedeckten in einer Doppelreihe die Wände vom Boden bis zur Decke. Als ich mir alles genau anschaute, seufzte Julián.

»Zwei Straßen weiter gibt es ein Hotel. Sauber, erschwinglich und achtbar. Ich habe mir erlaubt, ein Zimmer zu reservieren…« Ich hatte meine Zweifel, fürchtete aber, ihn zu beleidigen.

»Hier werde ich mich ausgezeichnet fühlen, vorausgesetzt, ich falle dir und Kurtz nicht zur Last.« Kurtz und Julián wechselten einen Blick. Julián schüttelte den Kopf, desgleichen der Kater. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, wie sehr sie einander glichen. Julián wollte mir unbedingt sein Schlafzimmer abtreten. Er schlafe kaum und werde sich im Wohnzimmer auf einem Klappbett einrichten, das ihm sein Nachbar, Monsieur Darcieu, geborgt habe, ein greiser Zauberkünstler, der den Mademoiselles für einen Kuß aus der Hand las. Erschöpft von der Reise, schlief ich diese erste Nacht durch. Als ich am frühen Morgen erwachte, sah ich, daß Julián ausgegangen war. Kurtz schlief auf der Schreibmaschine seines Herrchens und schnarchte wie eine Bulldogge. Ich trat an den Schreibtisch und sah das Manuskript des neuen Romans, das ich holen gekommen war.

Der KathedralendiebAuf der ersten Seite stand, wie in allen Romanen Juliáns, von Hand geschrieben: Für P.

Ich war versucht, auf der Stelle mit dem Lesen zu beginnen. Als ich eben die zweite Seite nehmen wollte, sah ich, daß Kurtz mich drohend anschaute. Wie ich es bei Julián gesehen hatte, schüttelte ich den Kopf. Der Kater tat ein Gleiches, und ich legte die Seiten zurück. Kurz darauf erschien Julián mit duftendem Brot, einer Thermoskanne Kaffee und Frischkäse. Wir frühstückten auf dem Balkon. Er sprach unablässig, wich meinem Blick aber aus. Im Morgenlicht erschien er mir wie ein gealtertes Kind. Er war frisch rasiert und trug seine vermutlich einzige anständige Kleidung, einen zwar abgetragenen, aber eleganten cremefarbenen Anzug. Ich hörte ihm zu, wie er mir von den Geheimnissen von Notre-Dame erzählte und einer angeblichen Barkasse, die nachts auf der Seine kreuze und die Seelen verzweifelter Liebender auflese, welche sich im eisigen Wasser das Leben genommen hatten, von tausend Zaubern, die er fortlaufend erfand, damit ich ihm keine Fragen stellen konnte. Ich betrachtete ihn schweigend, nickte, suchte in ihm den Mann, der die Bücher geschrieben hatte, die ich vor lauter Wiederlesen fast auswendig kannte, den Jungen, den mir Miquel Moliner so oft geschildert hatte.

»Wie viele Tage wirst du in Paris sein?« fragte er.

Meine Geschäfte bei Gallimard würden mich vermutlich zwei oder drei Tage in Anspruch nehmen. Mein erster Termin war auf diesen Nachmittag angesetzt. Ich sagte, ich hätte vor, mir zwei Tage zuzugestehen, um vor meiner Rückkehr nach Barcelona die Stadt kennenzulernen.

»Paris erfordert mehr als zwei Tage«, sagte er.

»Mehr Zeit habe ich nicht, Julián. Señor Cabestany ist ein großzügiger Patron, aber alles hat seine Grenzen.«

»Cabestany ist ein Pirat, aber sogar er weiß, daß man Paris nicht in zwei Tagen sieht, auch nicht in zwei Monaten oder zwei Jahren.«

»Ich kann nicht zwei Jahre in Paris bleiben, Julián.« Er schaute mich lange schweigend an und lächelte.

»Warum eigentlich nicht? Wartet jemand auf dich?« Die Verhandlungen mit Gallimard und meine Höflichkeitsbesuche bei verschiedenen Verlegern, mit denen Cabestany Verträge hatte, beanspruchten wie vorausgesehen drei ganze Tage. Julián hatte mir einen Führer und Beschützer zugewiesen, einen Jungen namens Hervé, knapp dreizehn Jahre alt, der die Stadt in- und auswendig kannte. Er begleitete mich von Tür zu Tür, zeigte mir, in welchen Cafés man einen Happen essen konnte, welche Straßen es zu meiden, was es zu sehen galt. Stundenlang wartete er vor den Verlagsbüros auf mich, ohne irgendein Trinkgeld anzunehmen. Er radebrechte ein lustiges, italienisch und portugiesisch gefärbtes Spanisch.

»Signore Carax ya me ha pagato con tuoda generosidade por meus serviçios…« Wie ich allmählich herausfand, war Hervé Waise einer der Damen aus Irène Marceaus Etablissement, in dessen Dachgeschoß er wohnte. Julián hatte ihm das Lesen, Schreiben und Klavierspielen beigebracht. Sonntags nahm er ihn mit ins Theater oder in ein Konzert. Hervé vergötterte Julián und schien bereit, alles für ihn zu tun, mich wenn nötig sogar ans Ende der Welt zu führen. An unserem dritten gemeinsamen Tag fragte er mich, ob ich Signore Carax’ Freundin sei. Ich verneinte — nur eine Freundin auf Besuch. Er wirkte enttäuscht.Julián verbrachte fast alle Nächte schlaflos, saß mit Kurtz auf dem Schoß an seinem Schreibtisch, überlas einzelne Seiten oder betrachtete einfach die Kathedralentürme in der Ferne. Eines Nachts, als auch ich wegen des aufs Dach prasselnden Regens nicht schlafen konnte, ging ich ins Wohnzimmer hinüber. Wir sahen uns wortlos an, und Julián gab mir eine Zigarette. Lange schauten wir schweigend in den Regen. Dann, als er aufhörte, fragte ich, wer P. sei.

»Penélope«, antwortete er.Ich bat ihn, mir von ihr, von seinen dreizehn Jahren Paris zu erzählen. Mit gedämpfter Stimme sagte er mir im Halbdunkeln, Penélope sei die einzige Frau, die er je geliebt habe.

In einer Winternacht des Jahres 1921 fand Irène Marceau Julián Carax, der, Blut erbrechend, durch die Straßen irrte und sich nicht an seinen Namen erinnern konnte. Er hatte ein paar wenige Münzen und einige zusammengefaltete Manuskriptseiten bei sich. Irène las sie und dachte, sie sei auf einen berühmten Autor gestoßen, einen unverbesserlichen Säufer, und vielleicht würde ein großzügiger Verleger es ihr lohnen, wenn der Mann das Bewußtsein wiedererlangte. Wenigstens war das ihre Version, Julián hingegen wußte, daß sie ihm aus Mitleid das Leben gerettet hatte. Er verbrachte sechs Monate in einem Zimmer im Dachgeschoß ihres Bordells und erholte sich. Die Ärzte machten Irène darauf aufmerksam, daß sie für diesen Mann nicht bürgen könnten, falls er sich noch einmal vergifte. Er hatte sich Magen und Leber zerstört und würde sich für den Rest seiner Tage nur noch von Milch, Frischkäse und Brot ernähren können. Als er wieder sprechen konnte, fragte ihn Irène, wer er sei.

»Niemand«, antwortete Julián.

»Aber niemand lebt auf meine Kosten. Was kannst du?« Julián sagte, er könne Klavier spielen.

»Zeig es.« Er setzte sich im Salon ans Klavier und spielte vor fünfzehn gespannt zuhörenden halbwüchsigen Hürchen in Unterwäsche ein Chopin-Nocturne. Alle applaudierten außer Irène, die sagte, das sei Musik von Toten, sie aber machten ihr Geschäft mit den Lebenden. Julián spielte für sie einen Ragtime und zwei Stücke von Offenbach.

»Das ist schon besser.« Seine neue Stelle bescherte ihm einen Lohn, ein Dach über dem Kopf und zwei Mahlzeiten täglich.

In Paris überlebte er dank der Fürsorge Irène Marceaus, die ihn als einzige zum Weiterschreiben ermunterte. Ihr gefielen romantische Romane und Heiligen- und Märtyrerbiographien. Ihrer Meinung nach bestand Juliáns Problem darin, daß sein Herz vergiftet war und er aus diesem Grund nur solche Schauer- und Düsternisgeschichten schreiben konnte. Trotz ihrer Vorbehalte hatte Julián es ihr zu verdanken, daß er für seine ersten Romane einen Verleger gefunden hatte, und sie war es auch, die ihm zu dieser Mansarde verholfen hatte, in der er sich vor der Welt versteckte, die ihn kleidete und ihn aus dem Haus lockte, damit er an die Sonne und die Luft kam, die ihm Bücher kaufte und ihn sonntags in die Messe und dann auf einen Spaziergang in die Tuilerien mitnahm. Irène Marceau erhielt ihn am Leben, ohne dafür mehr von ihm zu verlangen als seine Freundschaft und das Versprechen weiterzuschreiben. Mit der Zeit erlaubte sie ihm, manchmal eines ihrer Mädchen in seine Mansarde mitzunehmen, und sei es nur, um in jemandes Armen zu schlafen. Sie scherzte, die Mädchen seien so einsam wie er und wünschten sich nichts als ein wenig Zärtlichkeit.

»Mein Nachbar, Monsieur Darcieu, hält mich für den glücklichsten Menschen der Welt.« Ich fragte ihn, warum er nie nach Barcelona zurückgekommen sei, um Penélope zu holen. Er verfiel in langes Schweigen, und als ich in der Dunkelheit sein Gesicht suchte, war es tränenüberströmt. Ohne zu wissen, was ich tat, kniete ich neben ihm nieder und umarmte ihn. So verharrten wir eng umschlungen, bis uns der Morgen überraschte. Ich weiß nicht mehr, wer wen zuerst küßte, noch, ob das von Bedeutung ist. An diesem frühen Morgen und an allen weiteren in den beiden Wochen, die ich bei Julián blieb, liebten wir uns auf dem Boden, immer schweigend. Danach, wenn wir in einem Café saßen oder durch die Straßen spazierten, schaute ich ihm in die Augen und wußte, daß er immer noch Penélope liebte. Ich erinnere mich, daß ich in jenen Tagen dieses siebzehnjährige Mädchen zu hassen lernte (denn für mich war sie immer siebzehn), das ich nie kennengelernt hatte und von dem ich nachts immer öfter träumte. Ich ersann tausend Vorwände, um Cabestany zu telegrafieren und meinen Aufenthalt zu verlängern. Es machte mir keine Sorgen mehr, die Stelle zu verlieren; das graue Dasein, das ich in Barcelona zurückgelassen hatte, lockte mich nicht. Oft habe ich mich gefragt, ob ich denn mit einem so leeren Leben nach Paris gekommen war, daß ich in Juliáns Arme fiel wie Irène Marceaus Mädchen, die widerwillig um ein bißchen Zärtlichkeit buhlten. Ich weiß nur noch, daß diese beiden Wochen, die ich mit Julián verbrachte, die einzige Zeit meines Lebens waren, in der ich spürte, daß ich ich selbst war, und in der ich mit der absurden Deutlichkeit der unerklärlichen Dinge begriff, daß ich nie einen andern Mann so würde lieben können, wie ich Julián liebte, und wenn ich es mein ganzes restliches Leben lang versuchte.Eines Tages schlief er erschöpft in meinen Armen ein. Als wir am Abend zuvor am Schaufenster eines Pfandhauses vorbeigekommen waren, war er stehengeblieben, um mir einen Füllfederhalter zu zeigen, der schon Jahre ausgestellt war und der laut dem Pfandleiher Victor Hugo gehört hatte. Julián hatte nie einen Centime übrig gehabt, um ihn zu kaufen, ging ihn aber jeden Tag anschauen. Ganz leise schlüpfte ich in die Kleider und ging zum Pfandhaus. Der Füllfederhalter kostete ein Vermögen, das ich nicht besaß, doch der Pfandleiher sagte, er würde einen Scheck in Peseten akzeptieren, der auf eine beliebige spanische Bank mit Filiale in Paris ausgestellt sei. Meine Mutter hatte mir schon vor Jahren versprochen, eisern zu sparen, um mir dereinst ein Brautkleid kaufen zu können. Victor Hugos Füllfederhalter gab meinem Schleier den Gnadenstoß, und obwohl ich wußte, daß es verrückt war, habe ich nie lieber für etwas Geld ausgegeben. Als ich mit dem Etui aus der Pfandleihe kam, bemerkte ich, daß mir eine Frau folgte. Es war eine sehr elegante Dame mit silbernem Haar und den blausten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie trat auf mich zu und stellte sich vor. Es war Irène Marceau, Juliáns Beschützerin. Mein Führer Hervé hatte ihr von mir erzählt. Sie wollte mich einfach kennenlernen und mich fragen, ob ich die Frau sei, auf die Julián in den ganzen Jahren gewartet hatte. Sie nickte nur und küßte mich auf die Wange. Ich sah sie die Straße hinunter davongehen, und da war mir klar, daß Julián nie mir gehören würde, daß ich ihn verloren hatte, noch bevor wir richtig angefangen hatten. Das Etui mit dem Füllfederhalter in der Tasche verborgen, ging ich in die Mansarde zurück. Julián war aufgewacht und wartete auf mich. Wortlos zog er mich aus, und wir liebten uns zum letzten Mal. Als er mich fragte, warum ich weine, sagte ich, es seien Tränen des Glücks. Später, als er hinunterging, um etwas zu essen zu holen, packte ich meinen Koffer und legte das Etui mit der Feder auf seine Schreibmaschine. Ich steckte das Manuskript seines Romans in den Koffer und ging, ehe Julián zurückkam. Auf dem Treppenabsatz traf ich Monsieur Darcieu, den alten Zauberkünstler, der den Mädchen für einen Kuß aus der Hand las. Er nahm meine Linke und schaute mich traurig an.

»Vous avez du poison au cœur, mademoiselle.« Als ich ihm meinen Tribut entrichten wollte, schüttelte er sanft den Kopf und küßte mir seinerseits die Hand.

Ich kam eben rechtzeitig zur Gare d’Austerlitz, um den Zwölf-Uhr-Zug nach Barcelona zu nehmen. Der Schaffner, der mir die Fahrkarte verkaufte, fragte, ob es mir gutgehe. Ich nickte und zog mich in mein Abteil zurück. Der Zug fuhr bereits ab, als ich aus dem Fenster schaute und Juliáns Gestalt auf dem Bahnsteig erblickte, genau dort, wo ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ich schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Zug den Bahnhof und diese verhexte Stadt, in die ich nie würde zurückkehren können, verlassen hatte. Im Morgengrauen des folgenden Tages kam ich in Barcelona an. An diesem Tag wurde ich vierundzwanzig und wußte, daß das Beste meines Lebens bereits Vergangenheit war.

2

Wieder in Barcelona, ließ ich einige Zeit verstreichen, bevor ich Miquel Moliner aufsuchte. Ich mußte Julián vergessen, und mir wurde klar, daß ich keine Antwort wüßte, wenn mich Miquel nach ihm fragen würde. Als wir uns wiedersahen, brauchte ich ihm gar nichts zu sagen. Er schaute mir bloß in die Augen und nickte. Er erschien mir dünner als vor meiner Reise nach Paris, das Gesicht war fast krankhaft blaß, was ich dem Übermaß an Arbeit zuschrieb, mit der er sich kasteite. Er gestand mir, er befinde sich in wirtschaftlicher Bedrängnis, denn er hatte fast das ganze geerbte Geld für seine philanthropischen Schenkungen ausgegeben, und jetzt versuchten ihn die Anwälte seiner Geschwister aus seinem kleinen Palast zu werfen mit dem Argument, eine Klausel im Testament des alten Moliner spezifiziere, daß Miquel nur unter der Voraussetzung dort wohnen könne, daß er das Haus in gutem Zustand erhalte und die erforderliche Solvenz beweisen könne. Andernfalls gehe der Palast in der Calle Puertaferrisa an seine andern Geschwister über.

»Mein Vater hat geahnt, daß ich sein Geld bis auf den letzten Heller für all das ausgeben würde, was er sein Leben lang gehaßt hat.«

Seine Einkünfte als Kolumnist und Übersetzer erlaubten es ihm bei weitem nicht, so einen Wohnsitz zu unterhalten.

»Das schwierige ist nicht, einfach so Geld zu verdienen«, klagte er.

»Das schwierige ist, es mit etwas zu verdienen, was es wert ist, daß man ihm sein Leben widmet.«

Ich vermutete, er beginne heimlich zu trinken. Manchmal zitterten seine Hände. Ich besuchte ihn jeden Sonntag und nötigte ihn hinaus, weg von seinem Schreibtisch und seinen Lexika. Ich wußte, daß es ihn schmerzte, mich zu sehen, und tat, als erinnerte ich mich nicht mehr, daß er mir seine Liebe erklärt und ich ihn abgewiesen hatte, aber manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich voller Sehnsucht und Verlangen anschaute. Meine einzige Entschuldigung dafür, daß ich ihn so grausam behandelte: Nur Miquel kannte die Wahrheit über Julián und Penélope Aldaya.

In diesen Monaten, die ich fern von Julián verbrachte, war Penélope Aldaya zu einem Geist geworden, der mir den Schlaf und den klaren Verstand raubte. Ich erinnerte mich noch immer an Irène Marceaus enttäuschtes Gesicht, als sie sah, daß ich nicht die Frau war, auf die Julián wartete. Penélope Aldaya war — hinterhältig, weil nicht anwesend — eine zu mächtige Gegnerin für mich. Da unsichtbar, war sie in meiner Vorstellung vollkommen, ein Licht, in dessen Schatten ich mich verlor, unwürdig, gewöhnlich, antastbar. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ich, so ganz gegen meinen Willen, jemanden derart hassen konnte, den ich nicht einmal kannte, den ich kein einziges Mal gesehen hatte. Vermutlich dachte ich, wenn er ihr wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünde, wenn er sähe, daß sie aus Fleisch und Blut war, wäre der Bann gebrochen und Julián wieder frei. Und ich mit ihm. Ich nahm an, es sei nur eine Frage der Zeit, der Geduld. Früher oder später würde mir Miquel die Wahrheit erzählen. Und die Wahrheit würde mich frei machen.

Eines Tages, als wir durch den Kreuzgang der Kathedrale spazierten, erklärte mir Miquel erneut seine Liebe. Ich schaute ihn an und sah einen einsamen Menschen ohne Hoffnung. Ich wußte, was ich tat, als ich ihn mit nach Hause nahm und mich von ihm verführen ließ. Ich wußte, daß ich ihn betrog und daß er es ebenfalls wußte, aber ich hatte sonst nichts auf der Welt. So wurden wir Geliebte, aus Verzweiflung. In seinen Augen sah ich, was ich in denen Juliáns hätte sehen wollen. Ich spürte, daß ich mich, wenn ich mich ihm hingab, an Julián und an Penélope und an allem rächte, was mir verwehrt war. Miquel, krank vor Verlangen und Einsamkeit, wußte, daß unsere Liebe eine Farce war, und trotzdem konnte er nicht von mir lassen. Mit jedem Tag trank er mehr, und oft konnte er mich kaum nehmen. Dann scherzte er bitter, nun seien wir doch noch in Rekordzeit ein mustergültiges Ehepaar geworden. Aus Gram und Feigheit taten wir uns gegenseitig weh. Eines Abends, fast ein Jahr nach meiner Rückkehr aus Paris, bat ich ihn, mir die Wahrheit über Penélope zu erzählen. Er hatte getrunken und wurde aufbrausend, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Voller Wut beschimpfte er mich und beschuldigte mich, ihn nie geliebt zu haben, eine ganz gewöhnliche Nutte zu sein. Er riß mir die Kleider in Fetzen vom Leib, und als er mich vergewaltigen wollte, legte ich mich hin, bot mich ihm widerstandslos an und weinte leise. Miquel brach zusammen und flehte um Verzeihung. Wie gern hätte ich ihn und nicht Julián geliebt, wie gern wäre ich bei ihm geblieben, aber ich konnte nicht. Wir umarmten uns im Dunkeln, und ich bat ihn um Vergebung für all die Schmerzen, die ich ihm zugefügt hatte. Da sagte er mir, wenn ich es wirklich wolle, würde er mir die Wahrheit über Penélope Aldaya erzählen. Auch das war ein Fehler von mir.

An jenem Sonntag des Jahres 1919, an dem Miquel Moliner zur Estación de Francia gegangen war, um seinem Freund Julián die Fahrkarte nach Paris zu geben und sich von ihm zu verabschieden, wußte er bereits, daß Penélope nicht zu dem Stelldichein käme. Als Don Ricardo Aldaya nämlich zwei Tage zuvor aus Madrid zurückgekehrt war, hatte ihm seine Frau gestanden, sie habe Julián und ihre Tochter Penélope zusammen im Zimmer der Kinderfrau Jacinta ertappt. Jorge Aldaya wiederum hatte Miquel verraten, was am Vortag geschehen war, und nahm ihm den Schwur ab, es nie jemandem zu erzählen. Er berichtete, auf diese Enthüllung hin sei Don Ricardo vor Wut explodiert und brüllend zum Zimmer Penélopes gelaufen, die sich beim Geschrei ihres Vaters eingeschlossen habe und vor Schreck in Tränen ausgebrochen sei. Don Ricardo trat die Tür ein und fand Penélope auf den Knien, zitternd und um Vergebung bittend. Da gab er ihr eine Ohrfeige, die sie zu Boden warf. Nicht einmal Jorge war fähig, die Worte zu wiederholen, die Don Ricardo ausstieß, glühend vor Zorn. Sämtliche Familienmitglieder und das Gesinde warteten unten, erschreckt und ohne zu wissen, was tun. Jorge versteckte sich in seinem Zimmer, im Dunkeln, aber selbst da waren die Schreie seines Vaters zu hören. Don Ricardo befahl den Bediensteten, Jacinta noch am selben Tag aus dem Haus zu werfen, ohne daß er sie noch einmal zu sehen geruhte, und drohte ihnen dasselbe Los an, falls sich irgend jemand von ihnen mit ihr in Verbindung setze.

Als er in die Bibliothek hinunterging, war es bereits Mitternacht. Er hatte Penélope in Jacintas ehemaligem Zimmer eingeschlossen und verbot allen, Familienmitgliedern wie Angestellten, strikt, zu ihr hinaufzugehen. In seinem Zimmer hörte Jorge seine Eltern im unteren Stock miteinander sprechen. Mitten in der Nacht kam der Arzt. Señora Aldaya führte ihn in das Zimmer, in dem Penélope eingeschlossen war, und wartete in der Tür, während er sie untersuchte. Als er wieder herauskam, nickte der Arzt nur und nahm seine Bezahlung entgegen. Jorge hörte, wie Don Ricardo zu ihm sagte, wenn er jemandem erzähle, was er gesehen habe, werde er persönlich seinen Ruf ruinieren und zu verhindern wissen, daß er je wieder praktiziere. Sogar Jorge war klar, was das bedeutete.

Jorge erzählte Miquel, daß er sich um Julián und Penélope große Sorgen machte. Noch nie hatte er seinen Vater von solchem Zorn besessen gesehen. Auch wenn er ermessen konnte, wie groß die von den Liebenden begangene Sünde war, so verstand er doch die Tragweite dieses Zorns nicht. Da muß sonst noch etwas sein, sagte er. Don Ricardo hatte bereits angeordnet, Julián aus der San-Gabriel-Schule hinauszuwerfen, und sich mit seinem Vater, dem Hutmacher, in Verbindung gesetzt, um ihn unverzüglich in die Armee zu schicken. Als Miquel das hörte, war ihm klar, daß er Julián nicht die Wahrheit sagen konnte. Wenn er ihm erzählte, daß Don Ricardo Penélope eingeschlossen hatte und daß sie vermutlich schwanger war, würde er niemals den Zug nach Paris besteigen. Aber wenn er in Barcelona bliebe, wäre das sein Ende. So beschloß er, ihn anzuschwindeln und nach Paris fahren zu lassen, ohne daß er wußte, was geschehen war, und im Glauben, über kurz oder lang würde Penélope ihm nachfolgen. Als er sich an diesem Tag in der Estación de Francia von Julián verabschiedete, redete er sich ein, noch sei nicht alles verloren.

Tage später, als ruchbar wurde, daß Julián verschwunden war, tat sich die Hölle auf. Don Ricardo Aldaya schäumte. Er setzte ein halbes Polizeikommando auf die Suche und Festnahme des Flüchtigen an, erfolglos. Da beschuldigte er den Hutmacher, den vereinbarten Plan sabotiert zu haben, und drohte ihm den absoluten Ruin an. Der Hutmacher, der nichts verstand, bezichtigte wiederum seine Frau Sophie, die Flucht dieses infamen Sohnes ausgeheckt zu haben, und drohte ihr damit, sie für immer auf die Straße zu setzen. Niemand kam auf die Idee, daß Miquel Moliner alles ersonnen hatte. Niemand außer Jorge Aldaya, der ihn zwei Wochen später aufsuchte. Er war nicht mehr das Angst- und Nervenbündel wie noch wenige Tage zuvor. Das war ein anderer, erwachsener Jorge Aldaya, der seine Unschuld verloren hatte. Was auch immer sich hinter Don Ricardos Wut verbergen mochte, Jorge hatte es herausgekriegt. Was er zu sagen hatte, war bündig: Er wisse, daß Miquel es gewesen sei, der Julián zur Flucht verholfen habe, sie seien keine Freunde mehr, er wolle ihn nie wiedersehen und werde ihn umbringen, wenn er jemandem erzähle, was er ihm vor vierzehn Tagen berichtet habe.

Einige Wochen später erhielt Miquel den Brief, den ihm Julián unter falschem Namen aus Paris schickte, worin er ihm seine Adresse mitteilte und sagte, es gehe ihm gut und er vermisse ihn, und sich nach seiner Mutter und Penélope erkundigte. Eingeschlossen war ein Brief an letztere, den Miquel von Barcelona aus weiterschicken sollte — der erste von vielen, welche Penélope nie zu Gesicht bekommen sollte. Miquel schrieb Julián wöchentlich und erzählte ihm nur das, was er für angebracht hielt, also sozusagen nichts. Julián seinerseits berichtete von Paris, davon, wie schwer ihm alles falle, wie allein und verzweifelt er sich fühle. Miquel schickte ihm Geld, Bücher und seine Freundschaft. Mit jedem Brief sandte Julián auch einen für Penélope. Miquel schickte sie von verschiedenen Postämtern aus weiter, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. In seinen Briefen fragte Julián unermüdlich nach ihr. Miquel konnte ihm nichts sagen. Von Jacinta wußte er, daß sie das Haus in der Avenida del Tibidabo nicht mehr verlassen hatte, seit ihr Vater sie im Zimmer im dritten Stock eingeschlossen hatte.

Eines Abends trat ihm Jorge Aldaya zwei Blocks von seinem Haus entfernt aus dem Schatten entgegen.

»Kommst du schon, um mich umzubringen?« fragte Miquel. Jorge sagte, er komme, um ihm und seinem Freund Julián einen Gefallen zu tun, gab ihm einen Brief und legte ihm nahe, ihn an Julián weiterzuleiten, wo immer er sich auch verstecken möge, »zum Besten von allen«. Der Umschlag enthielt ein von Penélope beschriebenes Blatt:

Lieber Julián, ich schreibe Dir, um Dir zu sagen, daß ich demnächst heiraten werde, und Dich zu bitten, mir nicht mehr zu schreiben, sondern mich zu vergessen und noch einmal neu anzufangen. Ich grolle Dir nicht, aber ich wäre unaufrichtig, wenn ich Dir nicht gestände, daß ich Dich nie geliebt habe und nie werde lieben können. Ich wünsche Dir das Beste, wo immer Du sein magst.

Penélope

Miquel las den Brief wieder und wieder. Die Schrift war unverkennbar, doch er glaubte keinen Moment daran, daß ihn Penélope aus eigenem Antrieb geschrieben hatte.

»Wo immer du sein magst« — sie wußte ganz genau, daß Julián in Paris war und auf sie wartete. Wenn sie vorgab, seinen Verbleib nicht zu kennen, überlegte Miquel, dann, um ihn zu schützen. Aus dem gleichen Grund konnte er auch nicht verstehen, was sie dazu gebracht haben mochte, diese Zeilen zu schreiben. Womit konnte ihr Don Ricardo Aldaya denn sonst noch drohen, als sie monatelang wie eine Gefangene in einem Zimmer einzuschließen? Penélope wußte besser als jeder andere, daß dieser Brief ein vergifteter Dolchstoß in Juliáns Herz war — ein junger Mann von neunzehn Jahren, verloren in einer fernen, feindlichen Stadt, von allen verlassen, knapp überlebend dank der trügerischen Hoffnung, sie wiederzusehen. Wovor wollte sie ihn schützen, wenn sie ihn dergestalt von sich wies? Nach langem Überlegen beschloß er, den Brief nicht weiterzuschicken. Nicht, bevor er den Grund dafür erfuhr. Ohne triftigen Grund sollte nicht seine Hand es sein, die dem Freund diesen Dolch ins Herz stieße.

Ein paar Tage später hörte er, daß Don Ricardo Aldaya, der es leid war, Jacinta Coronado wie einen Wachposten vor der Tür seines Hauses auf Nachrichten von Penélope lauern zu sehen, seine Beziehungen hatte spielen und die Kinderfrau seiner Tochter ins Irrenhaus von Horta einsperren lassen. Als Miquel Moliner sie besuchen wollte, wurde ihm die Erlaubnis verweigert. Die ersten drei Monate sollte sie in Isolation verbringen. Nach drei Monaten Stille und Dunkelheit, erklärte ihm einer der Ärzte, ein blutjunges, strahlendes Bürschchen, sei die Fügsamkeit der Patientin gewährleistet. Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte Miquel die Pension auf, in der Jacinta in den Monaten nach ihrem Hinauswurf gewohnt hatte. Als er sagte, wer er war, erinnerte sich die Inhaberin, daß Jacinta eine Nachricht auf seinen Namen hinterlassen und drei Wochenmieten schuldig geblieben war. Er beglich die Schuld, an deren Richtigkeit er seine Zweifel hatte, und bekam die Nachricht ausgehändigt, in der die Kinderfrau ihm mitteilte, sie wisse, daß eines der Dienstmädchen im Hause Aldaya, Laura, entlassen worden sei, nachdem man erfahren habe, daß sie Julián insgeheim einen von Penélope verfaßten Brief habe zukommen lassen. Miquel sagte sich, die einzige Adresse, wohin Penélope aus ihrer Gefangenschaft den Brief habe schicken können, sei die Wohnung von Juliáns Eltern in der Ronda de San Antonio, weil sie darauf vertraute, daß sie ihn dann an ihren Sohn nach Paris weiterleiten würden.

Also beschloß er, Sophie Carax zu besuchen, um diesen Brief zu holen und Julián zu schicken. Als er beim Haus der Fortunys eintraf, erlebte er eine unheilverkündende Überraschung: Sophie Carax wohnte nicht mehr dort. Sie hatte ihren Mann einige Tage zuvor verlassen — das wenigstens wurde im Treppenhaus gemunkelt. Nun versuchte er, mit dem Hutmacher zu sprechen, der seine Tage zurückgezogen im Laden verbrachte, von Wut und Demütigung zerfressen. Miquel gab ihm zu verstehen, er sei gekommen, um einen vor einigen Tagen für seinen Sohn Julián eingetroffenen Brief zu holen.

»Ich habe keinen Sohn«, bekam er als einzige Antwort zu hören.Miquel Moliner ging wieder, ohne zu wissen, daß dieser Brief bei der Pförtnerin des Hauses gelandet war und daß viele Jahre später du, Daniel, ihn finden und die Worte lesen würdest, die Penélope, diesmal von Herzen, an Julián geschrieben hatte und die er nie zu Gesicht bekommen sollte.Als er den Hutladen Fortuny verließ, trat eine Nachbarin, die sich als Viçenteta zu erkennen gab, zu ihm und fragte ihn, ob er Sophie suche. Er bejahte.

»Ich bin ein Freund von Julián.« Die Viçenteta teilte ihm mit, Sophie vegetiere in einer Pension hinter dem Hauptpostamt dahin und warte auf die Abfahrt des Schiffs, das sie nach Südamerika bringen sollte. Miquel wandte sich dorthin und fand ein enges, elendes Treppenhaus ohne Licht und Luft. Zuoberst in dieser staubigen Spirale mit den schiefen Stufen traf er in einem düsteren, feuchten Zimmer auf Sophie Carax. Dem Fenster zugewandt, saß Juliáns Mutter auf der Kante einer tristen Pritsche, auf der wie Särge zwei noch geschlossene Koffer lagen und ihre zweiundzwanzig Barceloneser Jahre besiegelten.Als sie den von Penélope unterschriebenen Brief las, den Jorge Aldaya Miquel gebracht hatte, vergoß sie Tränen der Wut.

»Sie weiß es«, murmelte sie.

»Das arme Ding, sie weiß es…«

»Sie weiß was?« fragte Miquel.

»Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld.« Verständnislos nahm Miquel ihre Hände. Sophie getraute sich nicht, ihn anzuschauen.

»Penélope und Julián sind Geschwister«, flüsterte sie.

3

Sophie Carax war knapp neunzehn, als sie mittellos nach Barcelona kam. Eine Musikschule in der Calle Diputación erklärte sich bereit, sie als Privatlehrerin für Klavier und Gesang anzustellen. Damals gehörte es zum guten Ton, daß Töchter angesehener Familien in Gesellschaftskünsten unterrichtet wurden und das nötige Rüstzeug für Salonmusik verabreicht bekamen — im Salon war die Polonaise weniger riskant als das Gespräch oder eine zweifelhafte Lektüre. So begann Sophie Carax, palastähnliche Häuser zu besuchen, wo sie von steifen, stummen Hausangestellten in Musiksalons geführt wurde, in denen der feindselige Nachwuchs der industriellen Aristokratie sie erwartete, um sich über ihren Akzent, ihre Schüchternheit oder ihre Dienstmädchenstellung lustig zu machen, Noten hin oder her. Mit der Zeit lernte sie, sich auf das Zehntel derjenigen Schüler zu konzentrieren, die sich über den Rang von parfümiertem Ungeziefer erhoben, und den Rest zu vergessen.

In dieser Zeit lernte sie einen jungen Hutmacher (wie er sich mit zünftigem Stolz nannte) namens Antoni Fortuny kennen, der offensichtlich fest entschlossen war, ihr um jeden Preis den Hof zu machen. Fortuny, für den Sophie eine herzliche Freundschaft und sonst nichts empfand, schlug ihr schon bald die Ehe vor — ein Antrag, den sie von Mal zu Mal ausschlug. Bei jedem Abschied vertraute sie darauf, ihn nicht wiederzusehen, da sie ihn nicht kränken mochte. Der Hutmacher, taub für jeden Korb, versuchte es immer von neuem, lud sie auf einen Ball, zu einem Spaziergang oder zu einem Imbiß mit Biskuit und Schokolade in der Calle Canuda ein. Da sie in Barcelona allein war, konnte sie sich kaum gegen seine Gesellschaft und Verehrung zur Wehr setzen. Sie brauchte ihn aber nur anzuschauen, um zu wissen, daß sie ihn nie würde lieben können — nicht so, wie sie sich eines Tages jemanden lieben zu können erträumte. Aber es fiel ihr schwer, das Bild von sich selbst zurückzuweisen, das sie in des Hutmachers verzauberten Augen sah. Nur in ihnen sah sie die Sophie, die sie gern gewesen wäre.

So tändelte sie aus Einsamkeit oder Schwäche weiter mit dem Werben des Hutmachers und dachte, irgendwann würde er schon ein anderes Mädchen kennenlernen, das eher geneigt wäre, ihn zu erhören. In der Zwischenzeit genügte ihr das Begehrt- und Geliebtwerden, um die Einsamkeit und die Sehnsucht nach allem, was sie zurückgelassen hatte, zu verbrennen. Sie sah Antoni jeweils sonntags nach der Messe. Den Rest der Woche widmete sie sich ihrem Musikunterricht. Ihre Lieblingsschülerin war ein Mädchen mit beachtlichem Talent namens Ana Valls, Tochter eines reichen Textilmaschinenfabrikanten, der mit enormen Anstrengungen und Opfern, vorwiegend anderer Leute, aus dem Nichts ein Vermögen geschaffen hatte. Ana machte kein Hehl aus ihrem Wunsch, einmal eine große Komponistin zu werden, und spielte Sophie kleine selbstkomponierte Stücke vor, in denen sie nicht ohne Geist Motive von Grieg und Schumann nachempfunden hatte. Señor Valls war zwar überzeugt, daß Frauen unfähig waren, etwas anderes als Strümpfe und gehäkelte Decken zu schaffen, sah aber mit Wohlwollen, daß seine Tochter zu einer kundigen Klavierspielerin heranwuchs, denn er hatte Pläne, sie mit irgendeinem Erben eines guten Namens zu verheiraten, und wußte, daß distinguierte Leute an heiratsfähigen jungen Mädchen irgendeine hübsche Begabung schätzten — neben der Folgsamkeit und der üppigen Fruchtbarkeit einer blühenden Jugend.

Im Hause Valls lernte Sophie einen von Señor Valls’ größten Wohltätern und finanziellen Bürgen kennen: Don Ricardo Aldaya, den Erben des Aldaya-Imperiums, schon damals die große, aufstrebende Hoffnung der katalanischen Plutokratie des ausgehenden Jahrhunderts. Monate zuvor hatte Ricardo Aldaya eine reiche Erbin von blendender Schönheit und mit unaussprechlichem Namen geheiratet, Attribute, die, wie böse Zungen erklärten, nur allzugut paßten, denn es hieß, ihr frisch angetrauter Ehemann sehe in ihr weder irgendeine Schönheit, noch bemühe er sich, ihren Namen zu erwähnen. Es sei eine Eheschließung zwischen Familien und Banken gewesen, keine romantische Kinderei, sagte Señor Valls, dem klar war, daß Neigung und Eignung nicht dasselbe waren.

Sophie brauchte mit Don Ricardo nur einen Blick zu wechseln, um zu wissen, daß sie für immer verloren war. Aldaya hatte Wolfsaugen, gefräßig und scharf. Er küßte ihr langsam die Hand und liebkoste dabei mit den Lippen ihre Knöchel. Was der Hutmacher an Freundlichkeit und Aufmerksamkeit verströmte, war bei Don Ricardo Grausamkeit und Kraft. Sein Lächeln ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er ihre Gedanken und Wünsche lesen konnte und darüber lachte. Sophie empfand diese schwächliche Verachtung für ihn, welche die Dinge wecken, die wir uns am meisten wünschen, ohne es zu wissen. Sie dachte, sie würde ihn nicht wiedersehen, wenn nötig würde sie ihre Lieblingsschülerin aufgeben, wenn sie dadurch ein weiteres Zusammentreffen mit Ricardo Aldaya vermeiden konnte. Nie hatte etwas in ihrem Leben sie so erschreckt, wie unter Anzug und Haut das Raubtier zu erkennen. All diese Gedanken gingen ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf, während sie sich eine plumpe Ausrede zurechtlegte, um sich zur Verblüffung von Señor Valls und unter Aldayas Gelächter und dem geschlagenen Blick der kleinen Ana zurückzuziehen, die mehr von den Menschen als von Musik verstand und wußte, daß sie ihre Lehrerin unwiderruflich verloren hatte.

Eine Woche später sah sich Sophie am Eingang der Musikschule in der Calle Diputación Don Ricardo Aldaya gegenüber, der rauchend und in der Zeitung blätternd auf sie wartete. Sie wechselten einen Blick, und ohne daß ein Wort fiel, führte er sie zu einem Haus an der übernächsten Kreuzung. Es war ein neues Gebäude, noch ohne Mieter. Sie fuhren mit dem Aufzug hinauf. Don Ricardo öffnete eine Tür und ließ ihr den Vortritt. Sophie trat in ein Labyrinth von Korridoren mit nackten Wänden und unsichtbaren Decken. Außer einem mit dem Nötigsten ausgestatteten Schlafzimmer gab es weder Möbel noch Bilder, noch Lampen, noch sonst einen Gegenstand, der diese Räume als Wohnung ausgewiesen hätte. Don Ricardo Aldaya schloß die Tür, und die beiden schauten sich an.

»Ich habe die ganze Woche nicht aufgehört, an dich zu denken. Du brauchst mir nur zu sagen, daß es dir nicht ebenso ergangen ist, und ich lasse dich gehen, und du wirst mich nie wiedersehen«, sagte Ricardo.

Sophie schüttelte den Kopf.

Die Geschichte ihrer heimlichen Begegnungen dauerte sechsundneunzig Tage. Sie sahen sich immer in dieser leeren Wohnung Ecke Diputación/Rambla de Cataluña, dienstags und donnerstags, nachmittags um drei. Ihre Rendezvous dauerten nie länger als eine Stunde. Manchmal blieb Sophie allein zurück, nachdem Aldaya gegangen war, und weinte oder zitterte in einer Ecke des Schlafzimmers. Später, wenn der Sonntag kam, suchte sie in den Augen des Hutmachers verzweifelt Spuren der Frau, die allmählich verschwand, und sehnte sich nach wirklicher Hingabe. Der Hutmacher sah nicht die Verzweiflung in ihrem Lächeln, in ihrer Fügsamkeit. Er sah nichts. Vielleicht deshalb nahm sie sein Eheversprechen an. Schon damals spürte sie, daß sie Aldayas Kind im Leib trug, aber sie fürchtete sich, es ihm zu sagen, fast so sehr, wie sie fürchtete, ihn zu verlieren. Einmal mehr sah Aldaya ihr an, was sie zu gestehen außerstande war. Er gab ihr fünfhundert Peseten, eine Adresse in der Calle Plateriá und den Befehl, sich das Kind wegmachen zu lassen. Als Sophie sich weigerte, ohrfeigte er sie, bis sie aus den Ohren blutete, und drohte ihr damit, sie umbringen zu lassen, sollte sie es wagen, ihre Begegnungen zu erwähnen oder zu behaupten, das Kind sei von ihm. Als sie dem Hutmacher sagte, auf der Plaza del Pino hätten ein paar Halunken versucht, ihr die Handtasche zu entreißen, glaubte er ihr. Als sie ihm sagte, sie wolle seine Frau werden, glaubte er ihr. Am Tag der Hochzeit schickte jemand irrtümlich einen großen Totenkranz in die Kirche. Angesichts der Verwirrung des Floristen lachten alle nervös. Alle außer Sophie, die genau wußte, daß sich Don Ricardo Aldaya an ihrem Hochzeitstag noch immer an sie erinnerte.

4

Sophie Carax hatte nie gedacht, daß sie Don Ricardo nach Jahren wiedersehen würde (nun ein reifer Mann, Vorsteher des Familienimperiums und Vater von zwei Kindern) und daß er zurückkäme, um den Sohn kennenzulernen, den er für fünfhundert Peseten hatte verschwinden lassen wollen.

In Jorge, seinem Erstgeborenen, vermochte er nicht sich selbst zu sehen. Der Junge war schwach, zurückhaltend und entbehrte der geistigen Präsenz des Vaters. Es fehlte ihm an allem, außer am Namen. Eines Tages war Don Ricardo im Bett eines Dienstmädchens mit dem Gefühl erwacht, sein Körper werde alt, Venus habe ihm ihre Gnade entzogen. Von Panik befallen, eilte er zum Spiegel, und als er sich nackt darin betrachtete, hatte er den Eindruck, belogen zu werden. Das war doch nicht er.

Da wollte er den Mann wiederfinden, den man ihm genommen hatte. Seit Jahren wußte er um den Sohn des Hutmachers. Auch Sophie hatte er auf seine Weise nicht vergessen. Als der Moment gekommen war, beschloß er, den Jungen kennenzulernen. Zum ersten Mal in fünfzehn Jahren traf er auf jemanden, der ihn nicht fürchtete, sondern ihn herauszufordern, ja sich über ihn lustig zu machen wagte. Er erkannte in ihm die Männlichkeit, den stillen Ehrgeiz, den die Narren nicht sehen, der aber im Innern brennt. Sophie, ein fernes Echo der Frau, an die er sich erinnerte, hatte nicht einmal mehr die Kraft einzuschreiten. Der Hutmacher war bloß ein Hanswurst, ein boshafter, nachtragender Tölpel, dessen Komplizenschaft ihm als gegeben galt. Er wollte Julián aus dieser unerträglich mittelmäßigen, ärmlichen Welt herausnehmen, um ihm die Tore zu seinem Finanzparadies zu öffnen. Er sollte in der San-Gabriel-Schule unterrichtet werden, sämtliche Privilegien seiner Klasse genießen und in die Wege eingeweiht werden, die er, sein Vater, für ihn ausgesucht hatte. Don Ricardo wollte einen würdigen Nachfolger. Jorge würde immer im Schatten seiner Vorrechte leben, verhätschelt und zum Scheitern verurteilt. Penélope, die reizende Penélope, war eine Frau und als solche ein Schatz, keine Schatzmeisterin. Julián, der eine unergründliche und also eine mörderische Fantasie hatte, vereinigte in sich die nötigen Eigenschaften. Es war nur eine Frage der Zeit. Don Ricardo rechnete sich aus, daß er sich innerhalb von zehn Jahren in dem Jungen selbst herausgemeißelt hätte. Niemals in der ganzen Zeit, die Julián bei den Aldayas verbrachte, und zwar als einer ihresgleichen, ja als der Auserwählte, fiel ihm ein, der Junge könnte gar nichts von ihm wollen — außer Penélope. Nicht einen Augenblick kam er auf den Gedanken, daß ihn Julián insgeheim verachtete und daß diese ganze Farce für ihn nichts weiter als ein Vorwand war, um in Penélopes Nähe zu sein, um sie mit Haut und Haaren zu besitzen. Darin glichen sie sich tatsächlich.

Als ihm seine Frau berichtete, sie habe Julián und Penélope in einer eindeutigen Situation gesehen, ging für ihn die Welt in Flammen auf. Der Schrecken und der Verrat, die unsägliche Wut, in seinem eigenen Spiel an der Nase herumgeführt und von dem betrogen worden zu sein, den er aufs Podest zu heben gelernt hatte wie sich selbst — das alles stürmte so mächtig auf ihn ein, daß niemand seine Reaktion verstehen konnte. Als der Arzt, der Penélope untersuchen kam, bestätigte, daß sie entjungfert worden war, spürte Don Ricardo Aldaya nur noch blinden Haß. Der Tag, an dem er Penélope im Zimmer des dritten Stocks einzuschließen befahl, war auch der Tag, an dem sein Niedergang einsetzte. Alles, was er von da an tat, war nur noch Ausdruck der Selbstzerstörung.

Gemeinsam mit dem Hutmacher, den er so verachtet hatte, beschloß er, Julián von der Bildfläche verschwinden zu lassen und in die Armee zu schicken, wo man seinen Tod als Unfall auszugeben hatte. Niemand, weder Ärzte noch Hausangestellte, noch Familienmitglieder außer ihm und seiner Frau, durfte Penélope besuchen in all den Monaten, in denen sie in diesem Zimmer eingesperrt war. Inzwischen hatten ihm seine Teilhaber hinter seinem Rücken die Unterstützung entzogen und schmiedeten Ränke, um ihm mit genau dem Vermögen, zu dem er ihnen verholfen hatte, die Macht zu entreißen. Aldayas Imperium bröckelte in Geheimsitzungen und in Besprechungen auf Madrider Gängen und in Genfer Banken bereits leise vor sich hin. Wie er hatte annehmen müssen, war Julián entkommen. Im Grunde war er sogar stolz auf den Jungen, selbst wenn er ihm den Tod wünschte — an seiner Stelle hätte er genauso gehandelt. Irgend jemand würde für ihn büßen müssen.

Am 26. September 1919 gebar Penélope Aldaya einen Jungen, der tot zur Welt kam. Hätte ein Arzt sie untersuchen dürfen, so hätte er diagnostiziert, daß das Baby schon seit Tagen in Gefahr war und daß man hätte einschreiten und einen Kaiserschnitt machen müssen. Wäre ein Arzt zugegen gewesen, hätte er vielleicht die Blutung stillen können, die Penélopes Leben ein Ende setzte. Wäre ein Arzt zugegen gewesen, hätte er Don Ricardo Aldaya des Mordes bezichtigt. Doch da war niemand, und als man schließlich die Tür öffnete und Penélope fand, tot in einer Lache ihres Blutes liegend und ein purpurnes, glänzendes Baby in den Armen, brachte keiner einen Laut heraus. Ohne Zeugen und Zeremonie wurden die beiden Leichen in der Krypta im Keller begraben, Laken und sonstige Überbleibsel in den Heizkessel geworfen und das Zimmer mit Pflastersteinen zugemauert.

Als Jorge Aldaya, der sich aus Schuldgefühl und Scham betrunken hatte, Miquel Moliner erzählte, was geschehen war, entschloß sich dieser, Julián Penélopes Brief zu schicken, in dem sie erklärte, ihn nicht zu lieben, und ihn mit dem Hinweis auf ihre Heirat bat, sie zu vergessen. Er hielt es für besser, daß Julián diese Lüge glaubte und im Schatten eines Verrats ein neues Leben begann, als ihm die Wahrheit preiszugeben. Zwei Jahre später, als Señora Aldaya starb, wollten einige Leute der Verhexung des Hauses die Schuld daran geben, aber ihr Sohn Jorge wußte, daß die Ursache für ihren Tod das Feuer war, das sie aufzehrte, Penélopes Schreie und ihre verzweifelten Schläge an die Tür, die unablässig in ihr weiterhämmerten. Mittlerweile hatte die Familie alles Ansehen verloren, und das Aldaya-Vermögen zerrieselte wie eine Sandburg. Die engsten Mitarbeiter und der Chefbuchhalter planten die Flucht nach Argentinien, den Anfang eines neuen, bescheideneren Geschäfts. Das einzig Wichtige war, Distanz zu schaffen, Distanz zu den Geistern, die sich in den Gängen des Hauses Aldaya bewegten, die sich darin immer bewegt hatten.

An einem Morgen des Jahres 1926 verließen sie Barcelona unter falschem Namen an Bord des Schiffes, das sie über den Atlantik zum Hafen von La Plata bringen sollte. Jorge und sein Vater teilten die Kabine. Der alte Aldaya, todkrank, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Ärzte, die er nicht zu Penélope gelassen hatte, hatten ihn zu sehr gefürchtet, um ihm die Wahrheit zu sagen, doch er wußte, daß der Tod mit ihnen an Bord gegangen war und daß sein Körper immer mehr verfiel. Als er auf dieser langen Reise auf dem Deck saß, eingemummt und dennoch zitternd und die unendliche Leere des Ozeans vor Augen, wurde ihm klar, daß er das Festland nicht mehr erblicken würde. Manchmal saß er auf dem Hinterdeck und beobachtete den Haifischschwarm, der dem Schiff seit Teneriffa folgte. Er hörte einen der Offiziere sagen, dieses Gefolge sei normal bei Überseekreuzern, die Tiere ernährten sich von den Abfällen, die das Schiff zurücklasse. Doch Don Ricardo Aldaya glaubte es nicht. Er war überzeugt, diese Teufel verfolgten ihn. Ihr wartet auf mich, dachte er, der in ihnen das wahre Antlitz Gottes sah. Da ließ er seinen Sohn Jorge, den er so oft mit Verachtung gestraft hatte und der jetzt seine einzige Zuflucht geblieben war, schwören, seinen Letzten Willen zu erfüllen.

»Du wirst Julián Carax finden und ihn töten. Schwöre es mir.«

Als Jorge eines Morgens, zwei Tage vor der Ankunft in Buenos Aires, erwachte, stellte er fest, daß die Koje seines Vaters leer war. Er ging ihn auf dem nebligen, verlassenen Deck suchen. Auf dem Achterdeck fand er den noch warmen Morgenmantel seines Vaters. Die Kielspur des Schiffs verlor sich im Nebel, und das ruheglänzende Meer blutete. Da sah er, daß ihnen der Haifischschwarm nicht mehr folgte und in der Ferne Rückenflossen im Kreis tanzten. Auf dem Rest der Überfahrt erblickte kein Passagier mehr die Fische, und als Jorge Aldaya in Buenos Aires an Land ging und der Zolloffizier ihn fragte, ob er allein unterwegs sei, nickte er nur. Seit langer Zeit war er allein unterwegs.

5

Zehn Jahre nachdem er in Buenos Aires an Land gegangen war, kehrte Jorge Aldaya oder das Überbleibsel von einem Menschen, das er geworden war, nach Barcelona zurück. Die Mißgeschicke, die die Familie Aldaya schon in der Alten Welt aufzureiben begonnen hatten, hatten sich in Argentinien nur noch vermehrt. Dort hatte Jorge der Welt allein die Stirn bieten müssen, ein Kampf, für den er weder die Waffen noch das Selbstbewußtsein des Vaters je gehabt hatte. Er war mit leerem Herzen und von Gewissensbissen zerfressener Seele nach Buenos Aires gekommen. Südamerika ist, sagte er später zur Entschuldigung, eine Fata Morgana, ein Land von Ausbeutern und Aasgeiern, und er war für die Privilegien und das leichtsinnige Gehabe des alten Europas erzogen worden. Im Laufe weniger Jahre verlor er alles, vom Ruf bis zur goldenen Uhr, die ihm sein Vater zur Erstkommunion geschenkt hatte — damit konnte er die Fahrkarte für die Rückreise kaufen. Der Mann, der nach Spanien heimkehrte, war ein Bettler, ein Ausbund an Bitterkeit und Mißerfolg, dem nur noch die Erinnerung an das geblieben war, was ihm nach seinem Empfinden weggenommen worden war, und der Haß auf denjenigen, dem er die Schuld an seinem Untergang gab: Julián Carax.

Noch brannte in seiner Erinnerung das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte. Sowie er in Barcelona eintraf, erschnüffelte er Juliáns Spur, um festzustellen, daß dieser immer noch aus einem Barcelona verschwunden zu sein schien, das nicht mehr dasjenige war, das er selbst zehn Jahre zuvor verlassen hatte. Da brachte ihn der Zufall wieder mit einer Figur aus seiner Jugend zusammen. Nach einer Karriere in Besserungsanstalten und Staatsgefängnissen war Francisco Javier Fumero in die Armee eingetreten, wo er es zum Oberleutnant gebracht hatte. Viele prophezeiten ihm eine Zukunft als General, aber ein undurchsichtiger Skandal, in den nie Licht gebracht werden sollte, führte zu seinem Ausschluß aus dem Militär. Trotzdem übertraf sein Ruhm seinen Rang und seine Kompetenzen. Vieles wurde über ihn gesagt, doch mehr noch wurde er gefürchtet. Francisco Javier Fumero, jener schüchterne, verwirrte Junge, der den Hof der San-Gabriel-Schule geharkt hatte, war nun ein Mörder. Man munkelte, für Geld liquidiere er bekannte Persönlichkeiten, räume auf Auftrag verschiedener Hintermänner politische Figuren aus dem Weg.

Im Dunst des Café Novedades erkannten sich Aldaya und er sogleich. Aldaya war krank, mitgenommen von einem seltsamen Fieber, an dem er den Insekten in Südamerika die Schuld gab.

»Dort sind selbst die Mücken Schweinehunde«, lamentierte er. Fumero hörte ihm mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu zu. Er verehrte die Mücken und die Insekten ganz allgemein. Er bewunderte ihre Disziplin, ihre Ausdauer und Organisation. Da gab es keinen Müßiggang, keine Respektlosigkeit, Homosexualität oder Rassendegeneration. Seine Lieblingsspezies waren die Spinnentiere mit ihrer seltsamen Fähigkeit, eine Falle zu spinnen, in der sie mit unendlicher Geduld auf ihre Beute warteten, die früher oder später aus Dummheit oder Nachlässigkeit den Tod fand. Seiner Meinung nach hatte die bürgerliche Gesellschaft von den Insekten viel zu lernen. Aldaya war ein klarer Fall von moralischem und physischem Ruin. Er war beträchtlich gealtert und sah verwahrlost aus, ohne Muskeltonus. Fumero haßte Leute ohne Muskeltonus.

»Javier, mir geht es elend — kannst du mir ein paar Tage helfen?« flehte Jorge.Fumero nahm ihn mit nach Hause. Er lebte in einer düsteren Wohnung im Raval, in der Calle Cadena, zusammen mit zahlreichen, in Apothekerfläschchen verwahrten Insekten und einem halben Dutzend Büchern. Bücher verabscheute er ebenso, wie er die Insekten anbetete, doch die seinen waren keine beliebigen Bände, sondern Julián Carax’ vom Verlag Cabestany publizierte Romane. Fumero gab den beiden Weibsbildern in der Wohnung gegenüber etwas Geld, damit sie Aldaya pflegten, während er zur Arbeit ging. Er hatte nicht das geringste Interesse, ihn sterben zu sehen. Noch nicht.Francisco Javier Fumero war in die Kriminalpolizei eingetreten, wo es immer Arbeit gab für qualifizierte Personen, die in der Lage waren, die undankbarsten Aufgaben zu übernehmen, welche es diskret zu lösen galt, damit die achtbaren Leute weiterhin in Illusionen leben konnten. Etwas in dieser Art hatte Oberleutnant Durán zu ihm gesagt, ein zum Pathos neigender Mann, unter dessen Kommando er im Korps Einzug hielt.

»Polizist sein ist keine Arbeit, es ist eine Mission«, verkündete Durán.

»Spanien braucht mehr Männer mit Schneid und weniger Kaffeekränzchen.« Leider verlor Oberleutnant Durán bei einem spektakulären Unfall während einer Razzia in Barcelona bald das Leben. In der Hitze des Gefechts mit einigen Anarchisten war er durch ein Oberlicht über fünf Stockwerke in die Tiefe gestürzt. Stolz nahm Fumero seinen Posten ein, im Wissen, daß er gut daran getan hatte, ihn zu schubsen, denn Durán war schon zu alt für die Arbeit. Fumero widerten die Alten ebenso an wie Krüppel, Zigeuner und Schwule, mit oder ohne Muskeltonus. Manchmal irrte sich selbst Gott, und es war die Pflicht eines jeden integren Menschen, solche kleinen Fehler zu korrigieren und die Welt sauberzuhalten.Einige Wochen nach ihrer Begegnung im Café Novedades fühlte sich Jorge Aldaya allmählich besser und sprach sich Fumero gegenüber aus. Er bat ihn um Verzeihung, daß er ihn als Halbwüchsiger so schlecht behandelt hatte, und erzählte ihm seine ganze Geschichte, ohne etwas auszulassen. Fumero hörte ihm schweigend zu, nickend, aufnehmend. Dabei fragte er sich, ob er Aldaya gleich umbringen oder noch etwas zuwarten sollte. Aber tatsächlich machte ihn die Geschichte neugierig, insbesondere was Julián Carax betraf.Aus den Informationen, die er vom Verlag Cabestany bekommen hatte, wußte er, daß Carax in Paris lebte, aber Paris war eine riesige Stadt, und im Verlag schien niemand seine genaue Adresse zu kennen. Niemand außer einer Frau namens Monfort, die sich weigerte, sie preiszugeben. Zwei-, dreimal war ihr Fumero unbemerkt gefolgt, wenn sie den Verlag verlassen hatte. Er hatte sogar in der Straßenbahn einen halben Meter neben ihr gestanden. Frauen nahmen ihn nie wahr, und wenn sie es doch taten, schauten sie gleich wieder weg.Julián Carax war die einzige Person, die Fumero zu töten sich vorgenommen hatte, ohne es bislang zu schaffen. Vielleicht weil er der erste gewesen war, und mit der Zeit lernt man schließlich alles. Als er diesen Namen nun wieder hörte, lächelte er auf die Art, die die Frauen der Nachbarwohnung so erschreckte, sich langsam die Oberlippe leckend. Noch erinnerte er sich, wie Carax im Aldaya-Haus in der Avenida del Tibidabo Penélope küßte. Seine Liebe zu Penélope war eine keusche, wahrhaftige Liebe gewesen, dachte er, wie man sie im Film sah. Fumero ging zweimal wöchentlich ins Kino. Dort war ihm auch klargeworden, daß Penélope die Liebe seines Lebens gewesen war. Als er die letzten Teile von Aldayas Bericht hörte, beschloß er, ihn doch nicht umzubringen. Er freute sich sogar, daß das Schicksal sie wieder zusammengeführt hatte. Er hatte eine filmreife Vision: Aldaya würde ihm alle andern auf einem Silbertablett servieren.

6

Im Winter 1934 schafften es die Geschwister Moliner endlich, Miquel aus dem Palast in der Puertaferrisa auszuweisen, der, vom Zerfall bedroht, bis auf den heutigen Tag leer steht. Sie hatten einzig den Wunsch, ihn auf der Straße zu sehen und ihm auch das wenige zu nehmen, was ihm noch geblieben war, seine Bücher und die Freiheit und Abgeschiedenheit, die sie beleidigte und mit tiefem Haß erfüllte. Er mochte mir nichts sagen und auch nicht bei mir Hilfe suchen. Ich wußte nur, daß er fast an den Bettelstab gelangt war, als ich ihn in seinem ehemaligen Zuhause aufsuchte und auf seine halsabschneiderischen Geschwister traf, die dabei waren, das Inventar des Besitzes zu erstellen und seine wenigen Gegenstände zu liquidieren. Schon seit mehreren Tagen übernachtete Miquel in einer Pension in der Calle Canuda, einem düsteren, feuchten Loch. Als ich das Zimmer sah, in das er verbannt war, eine Art fensterloser Sarg mit Gefängnispritsche, nahm ich ihn mit zu mir nach Hause. Er hustete pausenlos und sah abgemagert aus. Er sagte, es handle sich bloß um einen nicht ausgeheilten Katarrh, ein kleines Altjungfernübel, das irgendwann aus purer Langeweile wieder verschwinden werde. Nach zwei Wochen ging es ihm nur noch schlimmer.

Da er immer schwarz gekleidet war, begriff ich erst nach längerer Zeit, daß die Flecken an seinen Ärmeln Blut waren. Ich rief einen Arzt, der mich, sowie er ihn untersucht hatte, fragte, warum ich ihn erst jetzt geholt habe. Miquel hatte Tuberkulose. Er war der gütigste, anfälligste Mensch, den ich je kennengelernt habe, mein einziger Freund. Wir heirateten an einem Februarmorgen auf einem Amtsgericht. Unsere Hochzeitsreise bestand in einer Fahrt mit der Zahnradbahn auf den Tibidabo, wo wir von den Parkterrassen aus auf Barcelona hinunterschauten, eine Miniatur im Nebel. Wir sagten niemandem, daß wir geheiratet hatten, weder Cabestany noch meinem Vater, noch seiner Familie, die ihn für tot hielt. Einzig Julián schrieb ich einen Brief, in dem ich es ihm erzählte, den ich aber nie abschickte. Wir führten eine Geheimehe.

Mehrere Monate nach unserer Hochzeit klingelte jemand an der Tür, der sich als Jorge Aldaya ausgab. Es war ein kaputter Mann mit schweißüberströmtem Gesicht, trotz der Kälte, die sogar den Steinen zusetzte. Angesichts der Wiederbegegnung nach über zehn Jahren lächelte Aldaya bitter und sagte, ohne mich zu beachten:

»Wir sind alle verflucht, Miquel. Du, Julián, Fumero und ich.« Der Grund für seinen Besuch sei der Anfang einer Versöhnung mit einem alten Freund in der Zuversicht, dieser werde ihm nun verraten, wie er sich mit Julián Carax in Verbindung setzen könne, denn er habe eine hochwichtige Botschaft seines verstorbenen Vaters, Don Ricardo Aldaya, für ihn. Miquel sagte, er wisse nicht, wo sich Carax befinde.

»Wir haben uns seit Jahren aus den Augen verloren«, log er.

»Als letztes habe ich von ihm gehört, daß er in Italien lebt.« Aldaya hatte diese Antwort erwartet.

»Du enttäuschst mich, Miquel. Ich habe damit gerechnet, daß dich Zeit und Unglück weiser gemacht hätten.«

»Es gibt Enttäuschungen, die den ehren, der sie bereitet.« Aldaya lachte, kurz davor, sich in Bitterkeit aufzulösen.

»Fumero schickt euch seine aufrichtigsten Glückwünsche zu eurer Heirat«, sagte er auf dem Weg zur Tür.Diese Worte ließen mir das Herz gefrieren. Miquel wollte nichts sagen, aber als ich ihn an diesem Abend umarmte und wir beide so taten, als sänken wir in einen unmöglichen Schlaf, wurde mir klar, daß Aldaya recht gehabt hatte. Wir waren verflucht.Mehrere Monate hörten wir nichts mehr von Aldaya und auch nicht von Julián. Miquel war weiterhin fester freier Mitarbeiter bei einigen Barceloneser und Madrider Zeitungen. Unermüdlich arbeitend, saß er an der Schreibmaschine und erzeugte das, was er als Sottisen und Gesprächsstoff für Straßenbahnleser bezeichnete. Ich hatte meine Stelle in Cabestanys Verlag beibehalten, vielleicht weil das die einzige Art war, wie ich mich Julián näher fühlen konnte. In einer kurzen Notiz hatte er mir angekündigt, er arbeite an einem neuen Roman mit dem Titel Der Schatten des Windes, den er in einigen Monaten fertigzustellen hoffe. Der Brief, frostiger und distanzierter im Ton denn je, erwähnte mit keinem Wort, was in Paris geschehen war. Umsonst versuchte ich ihn zu hassen. Allmählich kam ich zu der Überzeugung, daß Julián weniger ein Mensch war als ein Verhängnis.Miquel gab sich hinsichtlich meiner Gefühle keiner Täuschung hin. Er schenkte mir seine Liebe und Verehrung, ohne dafür mehr zu verlangen als meine Gesellschaft und vielleicht mein Feingefühl. Nie wieder hörte ich aus seinem Mund einen Vorwurf oder eine Klage. Mit der Zeit verspürte ich jenseits von Freundschaft und Mitleid eine unendliche Zärtlichkeit für ihn. Er hatte ein Sparkonto auf meinen Namen eröffnet, auf das er nahezu all seine Einkünfte aus den Zeitungsartikeln einzahlte. Nie lehnte er einen Auftrag ab, weder eine Kritik noch einen Kurzbericht. Er schrieb unter drei Pseudonymen, vierzehn oder sechzehn Stunden täglich. Wenn ich ihn fragte, warum er soviel arbeite, lächelte er nur oder sagte, wenn er untätig sei, langweile er sich. Nie gab es Täuschungen zwischen uns, nicht einmal ohne Worte. Miquel wußte, daß er bald sterben würde, daß ihm die Krankheit gierig die Monate wegfraß.

»Du mußt mir versprechen, daß du, wenn mir etwas zustößt, dieses Geld nimmst und wieder heiratest, daß du Kinder haben und uns alle vergessen wirst, mich zuallererst.«

»Wen sollte ich denn heiraten, Miquel? Red doch keinen Unsinn.« Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich mit sanftem Lächeln aus einer Ecke heraus anschaute, als ob das reine Betrachten meiner Erscheinung sein größter Schatz wäre. Jeden Abend holte er mich am Eingang des Verlages ab, seine einzige Ruhepause des ganzen Tages. Ich sah, wie gebeugt er ging, hustend und eine Kraft vortäuschend, die bloß gespielt war. Er ging mit mir etwas Kleines essen oder in der Calle Fernando Schaufenster anschauen, dann kehrten wir nach Hause zurück, wo er bis nach Mitternacht weiterarbeitete. Insgeheim pries ich jede Minute, die wir gemeinsam verbrachten, und jede Nacht schlief er an mich geklammert ein, und ich mußte die Tränen der Wut verstecken, weil ich unfähig war, diesen Mann so zu lieben wie er mich, unfähig, ihm das zu geben, was ich Julián umsonst zu Füßen gelegt hatte. Nächtelang schwor ich mir, Julián zu vergessen, nur noch diesen armen Menschen glücklich zu machen und ihm wenigstens einige Krumen dessen zurückzugeben, was er mir geschenkt hatte. Zwei Wochen lang war ich Juliáns Geliebte gewesen, aber für den Rest meines Lebens wollte ich Miquels Frau sein. Wenn diese Seiten einmal den Weg zu Dir finden und Du über mich urteilst, so, wie ich es beim Schreiben getan und mich in diesem Spiegel der Verwünschungen und Gewissensbisse angeschaut habe, dann behalte mich so in Erinnerung, Daniel.Das Manuskript von Juliáns letztem Roman traf Ende 1935 ein. Ich weiß nicht, ob aus Erbitterung oder Angst, jedenfalls gab ich es ungelesen in die Druckerei. Miquels letzte Ersparnisse hatten die Herausgabe schon vor Monaten sichergestellt. Cabestany, der nach wie vor Probleme mit seiner Gesundheit hatte, war alles andere egal. In derselben Woche kam der Arzt, der bei Miquel Krankenbesuche machte, sehr besorgt zu mir in den Verlag und erklärte, wenn Miquel sein Arbeitstempo nicht reduziere und sich mehr Ruhe gönne, nütze auch das wenige nichts mehr, was er tun könne, um die Schwindsucht zu bekämpfen.

»Er sollte in den Bergen sein, nicht in der schlechten Barceloneser Luft. Weder ist er eine Katze mit neun Leben, noch bin ich sein Kindermädchen. Bringen Sie ihn zur Vernunft. Auf mich hört er nicht.« An diesem Mittag ging ich nach Hause, um mit ihm zu sprechen. Bevor ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich Stimmen im Innern. Miquel stritt sich mit irgendwem. Anfänglich dachte ich, es sei jemand von der Zeitung, dann aber glaubte ich im Gespräch Juliáns Namen aufzuschnappen. Ich hörte Schritte auf die Tür zukommen und versteckte mich eilig auf dem Treppenabsatz des Dachgeschosses. Von dort aus konnte ich den Besucher erspähen.Ein Mann in Schwarz mit grob gemeißelten Zügen und schmalen Lippen, wie eine offene Narbe. Seine Augen waren ohne Ausdruck, Fischaugen. Bevor er sich treppab verlor, blieb er stehen und schaute ins Halbdunkel herauf. Mit angehaltenem Atem drückte ich mich an die Wand. Einige Augenblicke blieb er so stehen, als könnte er mich wittern, und lächelte hündisch. Ich wartete, bis seine Schritte vollständig verklungen waren, ehe ich mein Versteck verließ und die Wohnung betrat. Ein Kampfergeruch schwebte in der Luft. Miquel saß am Fenster, die Arme hingen ihm zu beiden Seiten des Stuhls hinunter. Seine Lippen zitterten. Ich fragte ihn, wer dieser Mann sei und was er gewollt habe.

»Das war Fumero. Er hat Nachrichten von Julián gebracht.«

»Was weiß denn der von Julián?« Er schaute mich an, niedergeschlagener denn je.

»Julián heiratet.« Das verschlug mir die Sprache. Ich ließ mich in einen Stuhl fallen, und Miquel nahm meine Hände. Er sprach mühsam und schleppend. Noch bevor ich irgend etwas sagen konnte, faßte er zusammen, was ihm Fumero erzählt hatte und was man sich darunter vorzustellen hatte. Fumero hatte sich an seine Verbindungsleute bei der Pariser Polizei gewandt, um Julián Carax’ Aufenthaltsort herauszufinden und ihn zu observieren. Miquel vermutete, das könne durchaus schon vor Monaten oder Jahren geschehen sein. Was ihm Sorgen bereitete, war nicht so sehr, daß Fumero Carax ausfindig gemacht hatte, das war nur eine Frage der Zeit gewesen, sondern daß er beschlossen hatte, es gerade jetzt zu verkünden, zusammen mit der befremdlichen Nachricht von einer unwahrscheinlichen Hochzeit. Diese sollte, soweit man wußte, Anfang Sommer 1936 stattfinden. Von der Verlobten war nur der Name bekannt, was in diesem Fall mehr als ausreichend war: Irène Marceau, die Inhaberin des Etablissements, in dem Julián jahrelang als Pianist arbeitete.

»Das versteh ich nicht«, murmelte ich.

»Julián heiratet seine Mäzenin?«

»Genau. Das ist keine Hochzeit, das ist ein Vertrag.« Irène Marceau war fünfundzwanzig oder dreißig Jahre älter als Julián. Miquel vermutete, Irène habe diese Ehe mit Julián schließen wollen, um ihr Vermögen auf ihn zu übertragen und so seine Zukunft abzusichern.

»Aber sie hilft ihm doch schon. Sie hat ihm schon immer geholfen.«

»Sie weiß wohl, daß sie nicht ewig da ist«, mutmaßte Miquel.Ich kniete neben ihm nieder, umarmte ihn und biß mir auf die Lippen, damit er mich nicht weinen sähe.

»Julián liebt diese Frau nicht, Nuria.« Miquel dachte, das sei der Grund für meinen Kummer.

»Julián liebt niemand außer sich selbst und seine verdammten Bücher.« Ich schaute auf und sah Miquels Lächeln, das Lächeln eines alten, weisen Kindes.

»Und was beabsichtigt Fumero damit, daß er diese ganze Sache gerade jetzt ans Licht bringt?« Es sollte nicht lange dauern, bis wir es erfuhren. Nach einigen Tagen erschien zornentbrannt ein geisterhafter, ausgehungerter Jorge bei uns. Fumero hatte ihm erzählt, Julián Carax werde in einer Zeremonie von romanhaftem Prunk eine reiche Frau heiraten. Seit Tagen zerfraß sich Aldaya bei der Vorstellung, wie sich der Urheber seines Elends in Flitter und Tand kleidete und in den Genuß eines Vermögens kam, das er hatte davonschwimmen sehen. Nicht erzählt hatte ihm Fumero, daß Irène Marceau zwar eine Frau mit einer gewissen wirtschaftlichen Position, aber Bordellinhaberin und keine Märchenprinzessin war. Nicht erzählt hatte er ihm, daß die Braut dreißig Jahre älter war als Carax und daß das Ganze weniger eine Hochzeit denn ein Akt der Nächstenliebe gegenüber einem erledigten Mann ohne Lebensunterhalt war. Nicht genannt hatte er ihm Ort und Zeitpunkt der Vermählung. Er hatte bloß den Keim zu einer Fantasie gelegt, die das wenige zerfraß, was das Fieber in seinem abgezehrten Körper noch übriggelassen hatte.

»Fumero hat dich belogen, Jorge«, sagte Miquel.

»Gerade du wagst es, von Lügen zu sprechen!« fauchte Jorge.Aldaya brauchte seine Gedanken nicht offenzulegen, sie waren von seinem leichenhaften Gesicht abzulesen. Miquel durchschaute Fumeros Spiel ganz genau. Schließlich hatte er ihm vor über zwanzig Jahren in der San-Gabriel-Schule das Schachspiel beigebracht. Miquel schickte Julián eine Notiz, um ihn zu warnen.Sowie Fumero es für angezeigt hielt, nahm er Aldaya beim Schlafittchen und sagte ihm, Julián heirate in drei Tagen. Als Polizeioffizier, argumentierte er, könne er sich in einer solchen Angelegenheit nicht kompromittieren. Aldaya als Zivilist dagegen könne nach Paris fahren und dafür sorgen, daß diese Hochzeit nie stattfinde. Wie? fragte ein fiebriger, vor Haß ausgebrannter Aldaya. Indem er ihn am Hochzeitstag zum Duell fordere. Fumero verschaffte ihm sogar die Pistole, mit der Jorge, so dessen Überzeugung, dieses gallige Herz durchlöchern würde, das die Aldaya-Dynastie in den Ruin getrieben hatte. Später würde es im Bericht der Pariser Polizei heißen, die bei Aldaya gefundene Waffe sei schadhaft und hätte niemals mehr ausrichten können, als sie ausgerichtet hatte, nämlich sein eigenes Gesicht zu zerschmettern. Das wußte Fumero natürlich, als er sie ihm auf dem Bahnsteig der Estación de Francia aushändigte. Er wußte ganz genau, daß Fieber, Dummheit und blinde Wut ihn daran hindern würden, Julián Carax frühmorgens auf dem Friedhof Père Lachaise in einem verkaterten Ehrenduell zu töten. Nicht Carax sollte in diesem Duell sterben, sondern Aldaya. Sein sinnloses Leben, sein Körper und seine unentschlossene Seele, die Fumero geduldig hatte dahinvegetieren lassen, hätten ihre Schuldigkeit getan.Fumero sagte Aldaya ganz genau, welche Schritte er zu unternehmen habe. Er sollte Julián gestehen, der Brief, in dem ihm Penélope vor Jahren ihre Hochzeit angekündigt und ihn gebeten habe, sie zu vergessen, sei ein Schwindel gewesen. Er, Jorge Aldaya, habe seine Schwester persönlich gezwungen, dieses ganze Lügengewebe zu verfassen, während sie Tränen der Verzweiflung weinte. Er sollte ihm sagen, seither habe sie in tödlicher Verlassenheit mit gebrochener Seele und blutendem Herzen auf ihn gewartet. Das würde genügen. Es würde genügen, daß Carax abdrückte. Es würde genügen, daß er seine Hochzeitspläne fallenließe und keinen andern Gedanken zu fassen mehr imstande wäre, als nach Barcelona zu Penélope zurückzukehren. Und in Barcelona, diesem großen Spinnennetz, das er sich zu eigen gemacht hatte, würde ihn Fumero erwarten.

7

Julián Carax überschritt die Grenze zu Spanien wenige Tage vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Die erste und einzige Auflage von Der Schatten des Windes hatte zwei Wochen zuvor die Druckerei verlassen und befand sich auf dem Weg in die graue Anonymität und Unsichtbarkeit der Vorgängerromane. In dieser Zeit konnte Miquel kaum noch arbeiten, und obwohl er sich täglich zwei oder drei Stunden an die Schreibmaschine setzte, verwehrten es ihm Schwäche und Fieber, mehr als ein paar Worte zu Papier zu bringen. Wegen verspäteter Abgabe der Artikel hatte er die Aufträge mehrerer Zeitungen verloren. Andere fürchteten sich, seine Texte zu veröffentlichen, nachdem sie verschiedentlich anonyme Drohungen erhalten hatten. Es blieb ihm nur noch eine tägliche Kolumne beim Diario de Barcelona, die er mit Adrián Maltés unterzeichnete. Schon war der Geist des Krieges in der Luft zu spüren. Das Land roch nach Angst. Ohne Beschäftigung und sogar zum Jammern zu schwach, pflegte Miquel auf den Platz hinunterzugehen oder wagte sich bis zur Avenida de la Catedral vor; immer hatte er, wie ein Amulett, ein Buch von Julián bei sich. Das letzte Mal, als der Arzt ihn wog, brachte er keine sechzig Kilo mehr auf die Waage. Im Rundfunk hörten wir die Nachricht vom Aufstand in Marokko, und wenige Stunden später besuchte uns ein Kollege von Miquel aus der Redaktion und sagte, vor zwei Stunden sei Cansinos, der Chefredakteur, vor dem Café Canaletas durch einen Nackenschuß umgebracht worden. Niemand wagte die Leiche wegzubringen; sie blieb dort liegen und zeichnete ein blutiges Netz auf den Gehweg.

Die Tage des Anfangsterrors ließen nicht lange auf sich warten. General Godeds Truppen rückten über die Diagonal und den Paseo de Gracia zum Zentrum vor, wo sie das Feuer eröffneten. Es war Sonntag, und viele Barcelonesen waren noch ausgegangen, um den Tag in einem Ausflugslokal auf der Carretera de Las Planes zu verbringen. Doch bis zu den schwärzesten Kriegstagen in Barcelona sollte es noch zwei Jahre dauern. Kurz nach Ausbruch der Schießereien ergaben sich General Godeds Truppen — wie durch ein Wunder oder aber wegen schlechter Kommunikation unter den Führern. Lluís Companys’ Regierung schien die Kontrolle zurückgewonnen zu haben, aber was wirklich geschehen war, hatte eine viel größere Tragweite und sollte sich in den kommenden Wochen allmählich zeigen.

Barcelona befand sich nun in der Hand der anarchistischen Gewerkschaften. Nach Tagen der Unruhen und Straßenkämpfe ging schließlich das Gerücht um, die vier Putschgeneräle seien kurz nach der Kapitulation im Kastell des Montjuïc hingerichtet worden. Ein Freund von Miquel, ein englischer Journalist, der zugegen war, sagte, das Exekutionskommando habe aus sieben Mann bestanden, aber im letzten Moment hätten sich Dutzende Milizangehörige zugesellt, und nachdem der Schießbefehl erteilt worden sei, hätten die Körper so viele Kugeln bekommen, daß sie bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden seien. Manche dachten, das sei das Ende des Konflikts, die faschistischen Truppen würden nie nach Barcelona gelangen und der Aufstand würde sich unterwegs auflösen. Doch es war erst der Anfang gewesen.

Daß Julián in Barcelona war, erfuhren wir durch einen Brief von Irène Marceau, den wir am Tag von Godeds Kapitulation bekamen und in dem sie uns mitteilte, Julián habe bei einem Duell auf dem Friedhof Père Lachaise Jorge Aldaya getötet. Noch bevor Aldaya die Seele aushauchte, habe ein anonymer Anruf die Polizei von dem Vorfall unterrichtet. Da ihn diese wegen Mordes suchte, mußte Julián auf der Stelle aus Paris verschwinden. Wir hatten keinen Zweifel, von wem dieser Anruf stammte, und warteten sehnlichst auf Julián, um ihn vor der Gefahr, die auf ihn lauerte, zu warnen und vor einer noch schlimmeren: vor der Entdeckung der Wahrheit. Nach drei Tagen hatte er noch immer kein Lebenszeichen gegeben. Miquel mochte seine Ängste nicht mit mir teilen, aber ich wußte ganz genau, was er dachte. Julián war wegen Penélope zurückgekommen, nicht unseretwegen.

»Was geschieht, wenn er die Wahrheit herauskriegt?« fragte ich.

»Das werden wir zu verhindern wissen«, antwortete Miquel.Zunächst einmal würde Julián feststellen, daß die Familie Aldaya spurlos verschwunden war. Viele Orte, um mit der Suche nach Penélope zu beginnen, gab es nicht. Wir stellten eine Liste dieser Orte zusammen und fingen mit unserer Suche an. Das Haus in der Avenida del Tibidabo war verlassen, unzugänglich hinter Ketten und Efeuteppichen. Ein Straßenhändler, der an der gegenüberliegenden Ecke Rosen- und Nelkensträußchen verkaufte, sagte uns, er erinnere sich nur an eine einzige Person, die sich in letzter Zeit dem Haus genähert habe, aber das sei ein älterer Mann, ja fast ein Greis gewesen, der leicht gehinkt habe.

»Eine Saulaune hatte der, ehrlich. Ich wollte ihm eine Nelke fürs Knopfloch verkaufen, da hat er mich zum Teufel geschickt und gesagt, es sei Krieg und ich solle ihm nicht auf den Wecker fallen.« Sonst hatte er niemanden gesehen. Miquel kaufte ihm ein paar schlaffe Rosen ab und gab ihm für alle Fälle die Telefonnummer der Redaktion des Diario de Barcelona, damit er dort eine Nachricht für ihn hinterlasse, wenn zufällig jemand auftauche, der Julián Carax sein könnte. Als nächstes gingen wir zur San-Gabriel-Schule, wo Miquel seinen ehemaligen Schulkameraden Fernando Ramos wiedertraf.Fernando war mittlerweile Latein- und Griechischlehrer und trug das Ordensgewand. Als er Miquel in so prekärem Gesundheitszustand erblickte, erschrak er. Er sagte, Julián habe ihn nicht aufgesucht, versprach uns aber, sich mit uns in Verbindung zu setzen, falls er es tue. Fumero sei schon vor uns dagewesen, sagte er. Er nenne sich jetzt Inspektor Fumero und habe drohend zu ihm gesagt, er sehe sich besser vor, es sei Kriegszeit und viele Leute würden bald sterben. Er solle nicht glauben, Uniformen, ob die von Geistlichen oder Soldaten, könnten Kugeln aufhalten. Fernando sagte, es sei nicht klar, welchem Korps oder was für einer Gruppe Fumero angehöre, und ihn danach zu fragen habe er schon gar nicht den Mut gehabt.Ich kann dir diese ersten Tage des Krieges in Barcelona unmöglich beschreiben, Daniel. Die Luft war wie vergiftet vor Angst und Haß. Die Blicke waren mißtrauisch, und die Stille auf den Straßen schlug einem auf den Magen. Mit jedem Tag und jeder Stunde gab es neue Gerüchte, neues Gerede. Ich erinnere mich, wie wir eines Abends auf dem Heimweg die Ramblas hinuntergingen. Sie waren wie ausgestorben, kein Mensch weit und breit. Miquel schaute an den Fassaden hoch, sah die zwischen den Fensterflügeln verborgenen Gesichter, die die Schatten auf der Straße absuchten, und sagte, man könne förmlich spüren, wie hinter den Mauern die Messer gewetzt würden.Am nächsten Tag gingen wir zur Hutmacherei Fortuny, ohne große Hoffnung, Julián dort zu finden. Ein Hausbewohner sagte uns, der Hutmacher habe sich, erschreckt über die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage, in seinem Laden eingeschlossen. Wir konnten klopfen, soviel wir wollten, er mochte uns nicht öffnen. An diesem Nachmittag war es eine Hausecke weiter zu einer Schießerei gekommen, und die Blutlachen auf der Ronda de San Antonio waren noch frisch; auf dem Pflaster lag ein totes Pferd, dem die Köter den durchlöcherten Bauch aufzureißen begannen, während einige Kinder in der Nähe zuschauten und sie mit Steinen bewarfen. Alles, was wir zu sehen bekamen, war Fortunys entsetztes Gesicht durch einen Türspalt. Wir sagten, wir suchten seinen Sohn Julián. Er antwortete, sein Sohn sei tot und wir sollten verschwinden oder er hole die Polizei. Entmutigt gingen wir wieder.Tagelang klapperten wir Cafés und Läden ab und fragten nach Julián. Wir forschten in Hotels und Pensionen, auf Bahnhöfen und in Banken nach, wo er hätte Geld wechseln können — niemand erinnerte sich an einen Mann, dessen Beschreibung auf Julián gepaßt hätte. Wir fürchteten, er könne Fumero in die Hände geraten sein, und Miquel brachte einen seiner Kollegen von der Zeitung, der auf dem Polizeipräsidium Gewährsleute hatte, dazu, nachzuforschen, ob Julián ins Gefängnis eingeliefert worden war. Dafür gab es jedoch keinen Hinweis. Mehrere Wochen waren vergangen, und er schien wie vom Erdboden verschluckt.Miquel schlief kaum noch, sondern wartete nur auf Nachrichten von seinem Freund. Eines Abends kam er bei Einbruch der Dunkelheit von seinem Spaziergang doch tatsächlich mit einer Flasche Portwein zurück. Man habe sie ihm auf der Zeitungsredaktion geschenkt, sagte er, denn der stellvertretende Chefredakteur habe ihm mitgeteilt, sie könnten seine Kolumne nicht mehr abdrucken.

»Sie wollen keine Schwierigkeiten, und ich verstehe sie.«

»Und was wirst du jetzt tun?«

»Mich besaufen, zunächst einmal.« Er trank kaum ein halbes Glas, aber ich becherte beinahe die Flasche leer, auf nüchternen Magen und ohne es zu merken. Kurz vor Mitternacht befiel mich eine unglaubliche Müdigkeit, und ich sank auf dem Sofa in Schlaf. Ich träumte, Miquel küsse mich auf die Stirn und decke mich mit einer Stola zu. Beim Erwachen hatte ich schreckliche Kopfschmerzen, Vorspiel zu einem grauenhaften Kater. Ich suchte Miquel, um die Stunde zu verfluchen, in der es ihm eingefallen war, eine Flasche mitzubringen, sah aber, daß ich allein in der Wohnung war. Ich trat an den Schreibtisch und fand auf der Maschine eine Notiz, in der er mich bat, mich nicht zu beunruhigen und zu Hause auf ihn zu warten, er sei Julián holen gegangen und werde bald mit ihm zurückkommen. Am Schluß schrieb er, er liebe mich. Der Zettel fiel mir aus den Händen. Da bemerkte ich, daß Miquel, bevor er gegangen war, den Schreibtisch abgeräumt hatte, als hätte er nicht vor, ihn noch einmal zu benutzen, und ich wußte, daß ich ihn nie wiedersehen würde.

8

An diesem Nachmittag hatte der Blumenverkäufer die Redaktion des Diario de Barcelona angerufen und für Miquel die Nachricht hinterlassen, er habe den beschriebenen Mann wie ein Gespenst um die alte Villa herumschleichen sehen. Mitternacht war vorüber, als Miquel beim Haus Nummer 32 der Avenida del Tibidabo ankam, die sich wie ein düsteres, einsames, zwischen den Bäumen hindurch von Mondpfeilen getroffenes Tal ausnahm. Obwohl er ihn seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte er Julián an dem leichten, fast katzenhaften Gang wieder. Seine Silhouette glitt in der Nähe des Brunnens durch den Dämmer des Gartens. Julián war über die Mauer geklettert und belauerte das Haus wie ein unruhiges Tier. Miquel hätte ihn von draußen rufen können, aber er wollte keine möglichen Zeugen auf sich aufmerksam machen. Er hatte den Eindruck, aus den dunklen Fenstern der angrenzenden Villen beobachteten heimliche Blicke die Straße. Er ging die Mauer entlang bis zu dem Teil, wo die ehemaligen Tennisplätze und die Garagen lagen. Im Stein konnte er die Löcher erkennen, die Julián als Stufen benutzt hatte, und auf der Mauer sah er die losen Steinplatten. Fast ohne Atem stemmte er sich hinauf und spürte dabei tiefe Stiche in der Brust und in den Augen. Auf der Mauer legte er sich mit zitternden Händen hin und zischte Julián zu. Die Gestalt neben dem Brunnen blieb reglos stehen, als wäre sie eine der Statuen. Miquel konnte den Glanz zweier auf ihn gehefteter Augen sehen. Er fragte sich, ob Julián ihn wohl erkennen würde, nach siebzehn Jahren und einer Krankheit, die ihm sogar den Atem geraubt hatte. Langsam kam die Gestalt näher, in der rechten Hand einen glänzenden langen Gegenstand — eine Glasscherbe.

»Julián…«, flüsterte Miquel.Abrupt blieb die Gestalt stehen. Miquel hörte die Scherbe auf den Kies fallen. Aus dem Dunkel tauchte Juliáns Gesicht auf. Ein Zweiwochenbart bedeckte seine spitzer gewordenen Züge.

»Miquel?« Unfähig, auf die andere Seite oder auf die Straße zurückzuspringen, reichte ihm Miquel die Hand. Julián richtete sich auf die Höhe der Mauer auf und ergriff die Faust seines Freundes. Sie erahnten die Wunden, die ihnen das Leben je und je geschlagen hatte.

»Wir müssen hier weg, Julián. Fumero sucht dich. Das mit Aldaya war eine Falle.«

»Ich weiß«, murmelte Carax tonlos.

»Das Haus ist geschlossen. Seit Jahren wohnt hier keiner mehr. Komm, hilf mir runter, und wir gehen.« Carax kletterte auf die Mauer. Als er Miquel mit beiden Händen ergriff, spürte er, wie dünn der Körper des Freundes unter den zu weiten Kleidern geworden war — es waren kaum Fleisch oder Muskeln zu erahnen. Als sie beide auf der Straße standen, faßte Carax Miquel unter den Schultern und übernahm fast sein ganzes Gewicht, und so gingen sie in der Dunkelheit durch die Calle Román Macaya davon.

»Was hast du?« fragte Carax leise.

»Nichts weiter. Irgendein Fieber. Es geht mir schon wieder besser.« Miquel verströmte bereits den Geruch der Krankheit, und Julián drang nicht weiter in ihn. Sie gingen die Calle León XIII hinunter bis zum Paseo de Gervasio, wo sie die Lichter eines Cafés erblickten. Sie setzten sich an einen Tisch im Hintergrund, fern von Eingang und Fenstern. Zwei Gäste wachten im Duo über die Theke bei einer Zigarette und dem Gemurmel des Radios. Der Kellner, ein Mann mit wächserner Haut und am Boden festgenagelten Augen, nahm ihre Bestellung auf. Lauwarmer Brandy, Café und was es noch zu essen gab.Miquel nahm keinen Bissen zu sich, dafür aß Carax offensichtlich gierig und für zwei. Im schmierigen Licht des Cafés schauten sich die beiden Freunde an, wie in Trance. Das letzte Mal, als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatten, waren sie halb so alt gewesen. Sie hatten sich als Jünglinge getrennt, und jetzt gab das Leben dem einen einen Flüchtigen, dem andern einen Todgeweihten zurück. Beide fragten sich, ob es die Karten gewesen waren, die ihnen das Leben ausgeteilt, oder die Art und Weise, wie sie sie ausgespielt hatten.

»Ich habe mich nie bei dir bedankt für alles, was du in diesen Jahren für mich getan hast, Miquel.«

»Das brauchst du nicht jetzt zu tun. Ich habe getan, was ich mußte und wollte. Da gibt es nichts zu danken.«

»Wie geht es Nuria?«

»So, wie du sie verlassen hast.« Carax senkte die Augen.

»Wir haben vor Monaten geheiratet. Ich weiß nicht, ob sie dir geschrieben und das erzählt hat.« Carax’ Lippen gefroren, und er schüttelte langsam den Kopf.

»Du hast kein Recht, ihr etwas vorzuwerfen, Julián.«

»Ich weiß. Ich habe auf nichts ein Recht.«

»Warum bist du nicht zu uns gekommen?«

»Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen.«

»Das liegt nicht mehr in deiner Hand. Wo bist du diese ganzen Tage gewesen? Du warst ja wie vom Erdboden verschwunden.«

»Beinahe. Ich war zu Hause. Zu Hause bei meinem Vater.« Miquel schaute ihn erstaunt an. Julián begann zu erzählen, wie er nach seiner Ankunft in Barcelona, da er nicht wußte, wohin, zu dem Haus seiner Kindheit gegangen war, in der Befürchtung, es sei niemand mehr dort. Doch den Hutladen gab es noch, er war sogar geöffnet, und ein alter Mann welkte hinter dem Ladentisch dahin. Julián hatte nicht hineingehen wollen, doch Antoni Fortuny hatte bereits zu dem Fremden vor dem Schaufenster aufgeschaut, und ihre Augen hatten sich getroffen. Julián blieb wie angewurzelt stehen. Er sah Tränen auf dem Gesicht des Hutmachers, als er stumm auf die Straße hinaustrat. Fortuny führte seinen Sohn in den Laden, ließ die Gitter hinunter, und als die Außenwelt ausgesperrt war, umarmte er ihn zitternd.Später erklärte ihm der Hutmacher, gerade vor zwei Tagen habe sich die Polizei nach ihm erkundigt. Ein gewisser Fumero, ein übelbeleumdeter Mann, von dem es hieß, er wechsle die politische Seite wie das Hemd, habe ihm mitgeteilt, Carax sei auf dem Weg nach Barcelona, er habe in Paris kaltblütig Jorge Aldaya ermordet und werde auch wegen vieler weiterer Delikte gesucht, deren Aufzählung sich Fortuny gar nicht anhören mochte. Fumero baue darauf, daß der Hutmacher, sollte es der unwahrscheinliche Zufall wollen, daß der verlorene Sohn hier auftauche, seine Bürgerpflicht zu erfüllen beliebe und Bericht erstatte. Fortuny sagte, natürlich sei auf ihn Verlaß. Es ärgerte ihn, daß eine Viper wie Fumero seine Niedertracht für ausgemacht hielt, aber sowie das unselige Polizeigefolge aus dem Laden verschwunden war, brach er zu der Kapelle in der Kathedrale auf, wo er einst Sophie kennengelernt hatte, um Gott darum zu bitten, die Schritte seines Sohnes zurück nach Hause zu lenken, bevor es zu spät wäre. Der Hutmacher warnte ihn vor der Gefahr, die sich über ihm zusammenbraute.

»Was dich auch immer nach Barcelona geführt haben mag, mein Sohn, laß es mich an deiner Stelle tun, während du dich zu Hause versteckst. Dein Zimmer ist noch genau so, wie du es verlassen hast, und es gehört dir, solange du es brauchst.« Julián sagte, er sei zurückgekommen, um Penélope Aldaya zu suchen. Der Hutmacher schwor, sie zu finden und ihnen, wären sie erst einmal wiedervereint, zur Flucht an einen sicheren Ort zu verhelfen, fern von Fumero und der Vergangenheit, fern von allem.Tagelang hielt sich Julián in der Wohnung in der Ronda de San Antonio verborgen, während der Hutmacher die Stadt nach Penélopes Spur abklopfte. Er verbrachte die ganze Zeit in seinem ehemaligen Zimmer, das getreu der väterlichen Zusicherung immer noch gleich war, obwohl jetzt alles kleiner erschien, als würden Häuser und Gegenstände — oder vielleicht auch nur das Leben — mit der Zeit schrumpfen. Viele seiner alten Hefte waren noch da, Bleistifte, die er, wie er sich erinnerte, in der Woche seiner Abreise nach Paris gespitzt hatte, Bücher, die darauf warteten, gelesen zu werden, saubere Jungenkleidung im Schrank. Der Hutmacher erzählte ihm, Sophie habe ihn kurz nach seiner Flucht verlassen, und nachdem er jahrelang nichts von ihr gehört habe, habe sie ihm schließlich aus Bogotá geschrieben, wo sie seit geraumer Zeit mit einem Mann zusammenlebte. Sie schrieben sich regelmäßig, »immer über dich«, wie er ihm gestand, »denn das ist das einzige, was uns verbindet«. Julián war es, als habe der Hutmacher den Verlust seiner Frau abgewartet, um sich in sie zu verlieben.

»Man liebt nur einmal im Leben wirklich, Julián, obwohl man es nicht merkt.« Der Hutmacher schien am Ende seines Lebens Jahrzehnte des Unglücks tilgen zu wollen. Er hatte keinen Zweifel, daß im Leben seines Sohnes Penélope diese große Liebe war, und dachte, wenn er sie ihm zurückgewänne, könnte er vielleicht auch seine eigene Leere ausfüllen.Trotz all seiner Bemühungen und zu seiner Verzweiflung fand er bald heraus, daß es in ganz Barcelona keine Spur von Penélope Aldaya und ihrer Familie gab. Als ein Mann einfacher Herkunft, der ein Leben lang hatte arbeiten müssen, um sich über Wasser zu halten, hatte er immer fest daran geglaubt, daß Geld und die entsprechende Gesellschaftsschicht der Schlüssel zur Unsterblichkeit seien. Bei der Erwähnung des Namens Aldaya erkannten viele den Klang des Wortes wieder, aber kaum einer vermochte sich an seinen Sinn zu erinnern. An dem Tag, an dem Miquel Moliner und ich zum Hutladen gingen, um uns nach Julián zu erkundigen, war der Hutmacher überzeugt, es handle sich bloß um Schergen Fumeros. Niemand sollte ihm noch einmal seinen Sohn nehmen. Diesmal mochte selbst der Allmächtige vom Himmel herunterkommen, derselbe Gott, der ein Leben lang seine Gebete überhört hatte, und er würde ihm persönlich und mit Vergnügen die Augen auskratzen, sollte er es wagen, Julián noch einmal aus seinem gescheiterten Leben zu nehmen.Der Hutmacher war der Mann, den der Blumenverkäufer vor Tagen um das Haus in der Avenida del Tibidabo hatte schleichen sehen. Was er als schlechte Laune interpretiert hatte, war nichts als die Entschlossenheit gewesen. Doch Fortuny war außerstande, in der Spur eines jungen Mädchens, an das sich niemand erinnerte, die Rettung seines Sohnes, seiner selbst zu finden.

»Ich finde sie nicht, Julián… Ich schwöre dir, ich habe…«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Vater. Das ist etwas, was ich selbst tun muß. Sie haben mir geholfen, soweit Sie konnten.« An diesem Abend war Julián endlich aus dem Haus gegangen, um Penélopes Spur zu finden.

Miquel hörte sich die Erzählung seines Freundes an und wußte nicht, ob es sich um ein Wunder oder einen Fluch handelte. Während ihm Julián die Ereignisse nach seiner Ankunft in Barcelona schilderte, kam Miquel nicht auf die Idee, auf den Kellner zu achten, der zum Telefon ging und mit dem Rücken zu ihnen hineinflüsterte und danach immer wieder zur Tür schielte, während er allzu eifrig die Gläser reinigte in einem Lokal, in dem sich überall Schmutzschichten breitmachten. Er kam nicht auf den Gedanken, daß Fumero auch in diesem Café gewesen war, in Dutzenden von Cafés wie diesem, einen Steinwurf vom Aldaya-Haus entfernt, und daß, sobald Carax seinen Fuß in eines von ihnen setzen würde, der Anruf in Sekundenschnelle erfolgen würde. Als das Polizeiauto vor dem Café hielt und der Kellner sich in die Küche zurückzog, spürte Miquel die gelassene Ruhe des Verhängnisses. Carax las seinen Blick. Beide wandten sich gleichzeitig um und sahen die geisterhafte Erscheinung von drei grauen Mänteln hinter den Fenstern flattern, drei Gesichter an die Scheibe hauchen. Keiner von ihnen war Fumero. Er hatte die Aasgeier vorgeschickt.

»Laß uns verschwinden, Julián…«

»Wir können nirgends hin«, sagte Carax so ruhig, daß ihn sein Freund alarmiert anschaute. Da sah er den Revolver in Juliáns Hand und die Entschlossenheit in seinem Blick. Die Klingel der Eingangstür schnitt ins Gemurmel des Radios.

Miquel riß Carax die Pistole aus der Hand und blickte ihn fest an.

»Gib mir deine Papiere, Julián.« Die drei Polizisten setzten sich scheinbar gleichgültig an die Theke. Einer von ihnen behielt sie im Augenwinkel, die andern beiden tasteten das Innere ihrer Mäntel ab.

»Die Papiere, Julián, jetzt gleich.« Carax schüttelte schweigend den Kopf.

»Mir bleibt noch ein, mit Glück zwei Monate. Einer von uns beiden muß hier raus, Julián. Du hast mehr Chancen als ich. Ich weiß nicht, ob du Penélope finden wirst. Aber Nuria wartet auf dich.«

»Nuria ist deine Frau.«

»Erinnere dich an unser Abkommen. Wenn ich sterbe, wird alles, was mein ist, dir gehören…«

»…außer den Träumen.« Zum letzten Mal lächelten sie sich an. Julián schob ihm rasch seinen Paß zu. Miquel steckte ihn zu dem Exemplar von Der Schatten des Windes, das er im Mantel mittrug seit dem Tag, an dem er es erhalten hatte.

»Auf bald«, murmelte Julián.

»Es eilt nicht. Ich werde warten.« Miquel stand vom Tisch auf und ging auf die Polizisten zu, die noch miteinander flüsterten. Zuerst sahen sie nur eine blasse, zitternde Spottgestalt. Als sie den Revolver in seiner Rechten erblickten, war Miquel nur noch knapp drei Meter von ihnen entfernt. Einer von den dreien wollte noch aufschreien, aber der erste Schuß zerschmetterte ihm den Unterkiefer. Sein Körper sackte träge zusammen. Die beiden andern Polizisten zogen ihre Waffen. Der zweite Schuß ging in den Bauch dessen, der älter aussah. Für den dritten Schuß blieb Miquel keine Zeit mehr. Der letzte Polizist hatte ihm die Pistole an die Rippen gesetzt, über dem Herzen. Miquel sah den panikerfüllten Blick des andern.

»Ganz ruhig, du Schweinehund, oder ich blase dich um.« Miquel lächelte und hob langsam den Revolver zum Gesicht des Polizisten. Der war höchstens fünfundzwanzig, und seine Lippen bebten.

»Richte Fumero einen schönen Gruß von Carax aus und daß ich mich noch immer an sein Matrosengewändchen erinnere.« Er spürte keinen Schmerz. Der Schuß warf ihn gegen die Glastür. Als er sie durchschlug, sah er eben noch Julián die Straße hinunterlaufen. Er war sechsunddreißig Jahre alt, älter, als er zu werden gehofft hatte.

9

Nachdem Julián in dieser Nacht in der Dunkelheit verschwunden war, fuhr auf einen Anruf des Mannes hin, der Miquel erschossen hatte, ein Lieferwagen ohne Kennzeichen vor. Nie bekam ich den Namen dieses Polizisten heraus, und ich glaube, auch er wußte nicht, wen er da umgebracht hatte. Zwei Männer luden die beiden toten Polizisten ein und legten dem Kellner des Cafés nahe, zu vergessen, was geschehen war, wenn er nicht ernsthafte Probleme wolle. Unterschätze nie die Fähigkeit zu vergessen, die Kriege in einem wecken, Daniel. Zwölf Stunden später, damit sein Tod nicht mit dem der beiden Polizisten in Zusammenhang gebracht werden konnte, wurde Miquels Leiche in eine Gasse des Raval geworfen. Als er schließlich ins Leichenhaus kam, war er schon zwei Tage tot. Bei seinem Weggang hatte Miquel seine ganzen Ausweispapiere zu Hause gelassen. Alles, was die Beamten des Leichenhauses fanden, waren ein von Blut verschmierter Paß auf den Namen von Julián Carax und ein wunderbarerweise heil gebliebenes Exemplar von Der Schatten des Windes. Daraus schloß die Polizei, der Tote sei Carax. Als Adresse nannte der Paß noch die Wohnung der Fortunys in der Ronda de San Antonio.

Mittlerweile war die Nachricht zu Fumero gelangt, der ins Leichenhaus kam, um sich von Julián zu verabschieden. Dort traf er auf den Hutmacher, den die Polizei geholt hatte, um die Leiche identifizieren zu lassen. Señor Fortuny, der Julián seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte, befürchtete das Schlimmste. Als er die Leiche des Mannes sah, der eine knappe Woche zuvor bei ihm angeklopft und sich nach Julián erkundigt hatte (und den er für einen Schergen Fumeros gehalten hatte), schrie er auf und ging. In dieser Reaktion sah die Polizei ein Eingeständnis, daß er den Toten erkannt hatte. Fumero, der der Szene beigewohnt hatte, trat zur Leiche und studierte sie schweigend. Seit siebzehn Jahren hatte er Julián Carax nicht mehr gesehen. Als er Miquel Moliner erkannte, lächelte er bloß, unterschrieb das gerichtsmedizinische Formular zur Bestätigung, daß es sich um Julián Carax’ Leiche handle, und ordnete ihre unverzügliche Überführung in ein Massengrab auf dem Montjuïc an.

Lange Zeit fragte ich mich, warum Fumero so etwas tun sollte. Aber das entsprach genau seiner Logik. Dadurch, daß Miquel als Julián gestorben war, hatte er Fumero unfreiwillig ein perfektes Alibi geliefert. Von diesem Moment an existierte Julián Carax nicht mehr. Jetzt existierte keine Verbindung mehr zwischen Fumero und diesem Mann, den er früher oder später zu finden und umzubringen hoffte. Es herrschte Bürgerkrieg, und kaum jemand würde zum Tod von jemandem, der nicht einmal einen Namen hatte, Erklärungen verlangen. Julián hatte seine Identität verloren, er war ein Schatten. Zwei Tage lang wartete ich zu Hause auf Miquel oder Julián und dachte, ich würde wahnsinnig. Am dritten Tag, einem Montag, ging ich wieder in den Verlag zur Arbeit. Señor Cabestany war vor einigen Wochen ins Krankenhaus gebracht worden und sollte nicht mehr ins Büro kommen. Sein ältester Sohn, Alvaro, hatte die Geschäfte übernommen. Ich sagte zu niemandem etwas. Ich hätte nicht gewußt, zu wem.

Am selben Vormittag rief mich im Verlag ein Beamter des Leichenhauses an, Manuel Gutiérrez Fonseca. Dieser Herr erklärte mir, zu ihnen ins Totenhaus sei die Leiche eines gewissen Julián Carax gekommen und als er den Paß des Verstorbenen mit dem Namen des Autors des Buches verglichen habe, welches er bei seinem Eintritt ins Leichenhaus bei sich gehabt habe, habe er, da er gleichzeitig seitens der Polizei wenn nicht einen klaren Mißbrauch der Amtsgewalt, so doch eine gewisse Laxheit im Umgang mit dem Reglement geargwöhnt habe, die moralische Pflicht verspürt, den Verlag anzurufen, um über das Vorkommnis Bericht zu erstatten. Während ich ihm zuhörte, meinte ich sterben zu müssen. Mein erster Gedanke war, es handle sich um eine Falle Fumeros. Señor Gutiérrez drückte sich mit der Umständlichkeit des gewissenhaften Beamten aus, obwohl in seiner Stimme noch etwas mehr durchklang, etwas, was vermutlich nicht einmal er selbst hätte erklären können. Ich hatte den Anruf in Señor Cabestanys Büro entgegengenommen. Gott sei Dank war Alvaro schon zum Mittagessen gegangen, und ich war allein, sonst hätte ich die Tränen und das Zittern meiner Hände beim Halten des Hörers nur schwer erklären können.

Ich bedankte mich bei Señor Gutiérrez Fonseca für seinen Anruf mit der Förmlichkeit der verschlüsselten Gespräche. Kaum hatte ich aufgehängt, schloß ich die Bürotür und biß mir in die Fäuste, um nicht loszuschreien. Ich wusch mir das Gesicht und ging sogleich nach Hause, nachdem ich Alvaro eine Mitteilung hinterlassen hatte, ich sei krank und würde am nächsten Tag sehr früh kommen, um die Korrespondenz zu erledigen. Ich mußte mich zusammenreißen, damit ich auf der Straße nicht lief, sondern mit der grauen Bedächtigkeit dessen ging, der nichts zu verbergen hat. Als ich den Schlüssel ins Schloß der Wohnung steckte, sah ich, daß es aufgebrochen worden war. Ich war wie gelähmt. Von innen drehte sich langsam der Knauf. Ich fragte mich, ob ich nun so sterben müßte, in einem finsteren Treppenhaus und ohne zu wissen, was aus Miquel geworden war. Die Tür ging auf, und ich sah mich Julián Carax’ dunklem Blick gegenüber. Gott möge mir verzeihen, aber in diesem Augenblick dankte ich dem Himmel, daß er mir Julián statt Miquel zurückgegeben hatte.

Wir verschmolzen in einer unendlichen Umarmung, aber als ich seine Lippen suchte, wich Julián zurück und senkte die Augen. Ich schloß die Tür, nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Wir legten uns aufs Bett und umarmten uns schweigend.

Es dämmerte, und die Schatten in der Wohnung waren purpurrot. In der Ferne vernahm man vereinzelte Schüsse wie jeden Abend seit Kriegsbeginn. Julián weinte an meiner Brust, und ich spürte, daß mich eine Müdigkeit befiel, die sich den Worten entzog. Später, als es Nacht geworden war, fanden sich unsere Lippen, und im Schutz der Dunkelheit zogen wir uns aus. Ich wollte an Miquel denken, doch das Feuer dieser Hände auf meinem Bauch nahm mir Scham und Schmerz. Am liebsten hätte ich mich darin verloren und wäre nie mehr zurückgekommen, aber ich wußte, daß wir uns am Morgen, erschöpft und beschämt, nicht würden in die Augen schauen können, ohne uns zu fragen, wozu wir geworden waren.

10

Am Morgen weckte mich das Trommeln des Regens. Das Bett war leer, das Zimmer lag in grauem Dunkel.

Ich sah Julián an Miquels ehemaligem Schreibtisch sitzen, wo er mit den Fingern über die Tasten seiner Maschine strich. Er schaute auf und schenkte mir das laue, ferne Lächeln, das besagte, daß er nie mir gehören würde. Ich verspürte den Wunsch, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern, ihn zu verletzen. Es wäre so leicht gewesen. Ihn wissen zu lassen, daß Penélope tot war. Daß er von Täuschungen lebte. Daß ich alles war, was er jetzt noch auf der Welt hatte.

»Ich hätte nie nach Barcelona zurückkommen dürfen«, murmelte er kopfschüttelnd.Ich kniete neben ihm nieder.

»Was du suchst, ist nicht hier, Julián. Laß uns fortgehen, wir beide. Weit weg von hier. Solange noch Zeit ist.« Er schaute mich unverwandt an.

»Du weißt etwas, was du mir nicht gesagt hast, stimmt’s?« fragte er.Ich schüttelte den Kopf und biß mir auf die Lippen. Julián nickte nur.

»Heute abend werde ich wieder hingehen.«

»Julián, bitte…«

»Ich muß Gewißheit haben.«

»Dann geh ich mit.«

»Nein.«

»Das letzte Mal, daß ich hiergeblieben bin und gewartet habe, habe ich Miquel verloren. Wenn du gehst, komme ich mit.«

»Das geht dich nichts an, Nuria. Das ist etwas, was nur mich allein betrifft.« Ich fragte mich, ob er tatsächlich nicht merkte, wie weh mir seine Worte taten, oder ob es ihm einfach egal war.

»Das glaubst du.« Er wollte meine Wange streicheln, aber ich schob seine Hand weg.

»Du solltest mich hassen, Nuria. Das würde dir Glück bringen.«

»Ich weiß.« Wir verbrachten den Tag draußen, fern der beklemmenden Dunkelheit in der Wohnung, die noch nach lauwarmen Laken und Haut roch. Julián wollte das Meer sehen. Ich ging mit ihm in die Barceloneta und dann an den fast menschenleeren Strand, der in der Ferne mit dem Dunst verschmolz. Wir setzten uns in den Sand, dicht ans Wasser, wie die Kinder und die Alten. Julián lächelte schweigend, in seinen Erinnerungen versunken.Als es dämmerte, nahmen wir beim Aquarium die Straßenbahn und fuhren durch die Vía Layetana zum Paseo de Gracia hinauf, dann zur Plaza de Lesseps und schließlich durch die Avenida de la República Argentina bis zur Endhaltestelle. Julián schaute sich still die Straßen an, als fürchte er, die Stadt zu verlieren, während er sie durchquerte. Auf halbem Weg nahm er meine Hand und küßte sie, ohne etwas zu sagen. Er hielt sie fest, bis wir ausstiegen. Ein alter Mann in Begleitung eines Mädchens in Weiß schaute uns lächelnd an und fragte, ob wir verlobt seien. Es war schon dunkle Nacht, als wir durch die Calle Román Macaya auf das Aldaya-Haus in der Avenida del Tibidabo zugingen. Feiner Regen tünchte die Hauswände silbern. Im hinteren Teil des Grundstücks, bei den Tennisplätzen, kletterten wir über die Mauer. Ich erkannte das im Regen aufragende Haus sogleich, dessen Erscheinung ich auf Juliáns Seiten in tausend Verkörperungen und aus tausend Blickwinkeln gelesen hatte. In Das rote Haus erschien der kleine Palast als düsterer Kasten, innen größer als außen, der langsam seine Gestalt änderte, sich in unmögliche Gänge, Galerien und Dachgeschosse, in unendliche Treppen auswuchs, die nirgends hinführten, und dunkle Räume aufblitzen ließ, welche auftauchten und über Nacht wieder verschwanden und mit ihnen die Leichtsinnigen, die sich hineinwagten, um nie wiedergesehen zu werden. Wir blieben vor der mit Ketten und einem faustgroßen Vorhängeschloß gesicherten Eingangstür stehen. Die hohen Fenster im ersten Stock waren mit starken, efeuüberwucherten Brettern verrammelt. Die Luft roch nach vermodertem Unkraut und feuchter Erde. Der Stein, dunkel und schleimig im Regen, glänzte wie die Haut eines Reptils.Ich wollte ihn schon fragen, wie er durch diese Eichentür einzudringen gedenke, die an eine Basilika oder ein Gefängnis erinnerte, als er ein Fläschchen aus dem Mantel zog und den Deckel abschraubte. Ein übelriechender Dampf stieg in einer langsamen, bläulichen Spirale auf. Er hielt das Schloß am einen Ende fest und goß die Säure ins Schlüsselloch. In eine gelbliche Rauchwolke gehüllt, zischte das Metall wie glühendes Eisen. Nach einigen Sekunden nahm er einen Pflasterstein aus dem Unkraut und zerschlug das Schloß mit einigen harten Schlägen. Dann stieß er die Tür mit einem Fußtritt auf. Sie öffnete sich langsam, und feuchte Luft strömte heraus. Jenseits der Schwelle lauerte Dunkelheit. Julián zog ein Benzinfeuerzeug aus der Tasche und knipste es an, nachdem er einige Schritte in die Vorhalle hinein getan hatte. Ich folgte ihm und lehnte die Tür hinter uns an. Die Flamme über seinen Kopf haltend, ging Julián ein paar Meter weiter. Zu unseren Füßen lag ein Staubteppich, der nur unsere eigenen Spuren zeigte. Die nackten Wände verfärbten sich im Licht der Flamme wie Bernstein. Es gab weder Möbel noch Spiegel oder Lampen. Die Türen hingen noch in ihren Angeln, aber die Bronzeklinken waren abgerissen. Das alte Haus offenbarte nichts mehr als sein blankes Skelett. Am Fuß der breiten Treppe blieben wir stehen. Juliáns Blick verlor sich hinauf. Er wandte sich einen Augenblick um und schaute mich an, und ich wollte lächeln, aber im Halbdunkel errieten wir kaum unsere Blicke. Dann folgte ich ihm die Treppe hinauf, über die Stufen, auf denen er Penélope zum ersten Mal gesehen hatte. Ich wußte, wohin uns der Weg führte, und es packte mich eine Kälte, die nichts von der feuchten, ätzenden Luft dieses Hauses hatte.Wir stiegen in den dritten Stock hinauf, wo ein schmaler Gang zum Südflügel des Hauses führte. Hier war die Decke sehr viel niedriger und die Türen kleiner. Es war die Etage der ehemaligen Dienstbotenzimmer. Das letzte, das wußte ich, ohne daß Julián etwas zu sagen brauchte, war das von Jacinta Coronado gewesen. Er ging zaghaft, ängstlich auf es zu. Das war der letzte Ort gewesen, wo er Penélope gesehen hatte, wo er mit einem kaum siebzehn Jahre alten Mädchen geschlafen hatte, das Monate später in derselben Zelle verbluten sollte. Ich wollte ihn zurückhalten, doch er stand schon auf der Schwelle und schaute gedankenverloren hinein. Ich trat zu ihm. Das Zimmer war nur ein gänzlich schmuckloses Gemach. Unter dem Staubteppich auf den Bohlen erkannte man noch die Spuren eines Betts. Verwirrt betrachtete Julián diese Leere fast eine Minute lang. Ich entnahm seinem Blick, daß er das Zimmer kaum wiedererkannte, daß ihm alles als makabrer, grausamer Trick erschien. Ich nahm ihn am Arm und führte ihn zur Treppe zurück.

»Da gibt es nichts, Julián«, flüsterte ich.

»Die Familie hat alles verkauft, bevor sie nach Argentinien aufgebrochen ist.« Er nickte schwach. Wir stiegen wieder ins Erdgeschoß hinunter. Dort wandte er sich zur Bibliothek. Die Borde waren leer, der Kamin voller Schutt. Auf den fahlen Wänden flackerte die Flamme.

»Ich bin umsonst gekommen«, murmelte Julián.

»Du hast zurückkommen und es noch einmal sehen müssen«, sagte ich.

»Jetzt siehst du, daß hier nichts ist. Es ist nur ein alter, leerstehender Kasten. Gehen wir nach Hause.« Er schaute mich an, bleich, und nickte. Ich nahm ihn an der Hand, und wir gingen durch den Gang auf die Eingangstür zu. Die Helligkeitsbresche von draußen war keine zehn Meter mehr entfernt. Ich konnte schon die frische Luft riechen. Da spürte ich, wie mir Juliáns Hand entglitt. Ich blieb stehen, wandte mich um und sah ihn reglos in die Dunkelheit starren.

»Was ist denn, Julián?« Er gab keine Antwort, sondern betrachtete gebannt die Öffnung zu einem schmalen Gang, der zu den Küchen führte. Ich ging zu ihm und spähte in das vom Feuerzeug schwach erhellte Dunkel. Die Tür am Ende des Ganges war zugemauert — eine Mauer aus roten, unbeholfen gemörtelten Backsteinen. Ich begriff nicht genau, was das zu bedeuten hatte, aber ich spürte, daß mir die Kälte den Atem benahm. Langsam ging Julián näher. Alle andern Türen des Ganges — und des ganzen Hauses — waren offen, ohne Schlösser und Klinken. Außer der hier. Eine zuhinterst in einem düsteren, versteckten Gang verborgene Schutzmauer aus scharlachroten Backsteinen. Julián legte die Hände darauf.

»Julián, bitte, laß uns endlich gehen…« Der Schlag seiner Faust an die Backsteinwand erzeugte auf der andern Seite ein hohles Echo. Ich hatte den Eindruck, seine Hände zitterten, als er das Feuerzeug auf den Boden stellte und mich einige Schritte zurücktreten hieß.

»Julián…« Der erste Fußtritt löste einen rötlichen Staubregen. Julián trat erneut zu. Ich dachte, ich hätte seine Knochen krachen hören. Er ließ sich nicht beirren und hämmerte, nun auch mit den Fäusten, immer wieder auf die Mauer ein, rasend wie ein Gefangener, der sich einen Weg in die Freiheit bahnt. Seine Knöchel bluteten, als der erste Backstein brach und auf die andere Seite fiel. Mit bloßen Fingern vergrößerte er den Durchlaß. Er keuchte erschöpft und von einer Wut besessen, die ich ihm nie zugetraut hätte. Einer nach dem andern gaben die Backsteine nach, und die Mauer fiel. Schweißbedeckt, mit wunden Händen hielt Julián inne. Er nahm das Feuerzeug vom Boden auf und stellte es auf einen der Backsteine. Auf der andern Seite erhob sich eine Holztür mit Engelsmotiven. Er strich über die Reliefs, als entzifferte er Hieroglyphen. Unter dem Druck seiner Hände gab die Tür nach.Auf der andern Seite war eine Treppe zu erahnen. Schwarze Steinstufen führten in die Dunkelheit hinab. Julián drehte sich kurz um, und ich fand seinen Blick. Angst und Verzweiflung lagen darin. Mit einem Kopfschütteln flehte ich ihn an, nicht hinunterzusteigen. Mutlos wandte er sich wieder ab und tauchte ins Dunkel. Ich schaute durch den Ziegelsteinrahmen und sah ihn die Treppe hinuntersteigen, beinahe taumelnd. Die Flamme flackerte, ein Hauch durchsichtigen Blaus.

»Julián?« Ich hörte nur Stille. Am Ende der Treppe konnte ich seine reglose Silhouette sehen. Ich trat über die Ziegelsteinschwelle und stieg ebenfalls hinunter. Der Raum war rechteckig und mit marmornen Wänden ausgekleidet. Im Innern herrschte eine schneidende Kälte. Die beiden Grabsteine waren von dicken Spinnweben überwuchert, die in der Flamme des Feuerzeugs wie faulige Seide zerfielen. Aus den vom Graveur gemeißelten Kerben rannen schwarze Feuchtigkeitstränen über den weißen Marmor. Da lagen sie, dicht nebeneinander.

11

Oft habe ich an diesen Moment der Stille zurückgedacht und mir dabei vorzustellen versucht, was Julián empfinden mußte, als er feststellte, daß die Frau, auf die er siebzehn Jahre gewartet hatte, tot war, daß ihr beider Kind mit ihr gegangen war, daß das, was ihn am Leben erhalten hatte, sein einziger Antrieb, eine Illusion gewesen war. Die meisten von uns haben das Glück oder das Pech, zu sehen, wie das Leben nach und nach zerbröselt, fast ohne daß wir es merken. Für Julián dagegen stellte sich diese Gewißheit in Sekundenschnelle ein. Einen Augenblick dachte ich, er werde die Treppe hinaufstürmen, diesen verfluchten Ort fliehen, und ich würde ihn nie wiedersehen. Vielleicht wäre es besser gewesen so.

Ich erinnere mich, daß ich ihn im Dunkeln suchte und spürte, daß er zitterte, stumm. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und schleppte sich in eine Ecke. Ich umarmte ihn und küßte ihn auf die Stirn. Er regte sich nicht. Ich tastete sein Gesicht ab, doch da waren keine Tränen. Ich dachte, vielleicht habe er es unterschwellig die ganzen Jahre über gewußt, vielleicht sei diese Begegnung notwendig gewesen, um Gewißheit zu erlangen und sich zu befreien. Wir hatten das Ende des Weges erreicht. Jetzt würde er begreifen, daß ihn in Barcelona nichts mehr hielt, jetzt könnten wir weit weggehen. Ich redete mir ein, unser Schicksal würde sich ändern und Penélope habe uns verziehen.

Ich suchte das Feuerzeug am Boden und knipste es wieder an. Julián starrte ins Leere, fern dem blauen Flämmchen. Ich nahm sein Gesicht zwischen die Hände, um ihn zu zwingen, mich anzuschauen, und traf auf leere, von Wut und Verlust gequälte Augen. Ich spürte, wie sich in seinen Adern langsam das Gift des Hasses ausbreitete, und konnte seine Gedanken lesen. Er haßte mich und Miquel, weil wir ihn getäuscht hatten. Vor allem aber haßte er den Mann, der an dem ganzen Unglück die Schuld trug: sich selbst. Er haßte die Bücher, denen er sein Leben gewidmet hatte und die keinen Menschen interessierten; sie kamen ihm jetzt frivol und nichtig vor. Er haßte ein der Täuschung und Lüge verpflichtetes Leben. Er haßte jede verlorene Sekunde, jeden Atemzug.

Er musterte mich, wie man einen Fremden oder einen unbekannten Gegenstand anschaut. Langsam schüttelte ich den Kopf und suchte seine Hände. Er wandte sich brüsk ab und stand auf. Ich versuchte ihn am Arm zu fassen, doch er stieß mich an die Wand. Ich sah ihn wortlos die Treppe hinaufsteigen, ein Mann, den ich nicht mehr kannte. Julián Carax war tot. Als ich in den Garten hinaustrat, war nichts mehr von ihm zu sehen. Ich kletterte über die Mauer. Die Avenida del Tibidabo mitten auf der Fahrbahn hinunterlaufend, rief ich seinen Namen. Niemand antwortete. Als ich zu Hause ankam, war es beinahe vier Uhr früh. Die Wohnung war voller Rauch, und es roch verbrannt. Julián war dagewesen. Eilig riß ich die Fenster auf. Auf meinem Schreibtisch fand ich ein Etui mit dem Füllfederhalter, den ich ihm vor Jahren in Paris gekauft, dem Füllfederhalter, für den ich ein Vermögen bezahlt hatte, weil er mutmaßlich Alexandre Dumas oder Victor Hugo gehört hatte. Der Rauch kam aus dem Ofen. Ich öffnete das Türchen und stellte fest, daß Julián sämtliche Exemplare seiner Romane hineingeworfen hatte, die auf dem Regal gestanden hatten und dort jetzt fehlten. Auf den Lederrücken waren kaum noch die Titel zu lesen. Der Rest war Asche.

Stunden später, als ich im Lauf des Vormittags im Verlag eintraf, rief mich Alvaro Cabestany in sein Büro. Sein Vater war schon lange nicht mehr in den Verlag gekommen, und die Ärzte hatten ihm gesagt, seine Tage seien gezählt — so wie die meinen an diesem Arbeitsplatz. Cabestanys Sohn eröffnete mir, früh an diesem Morgen habe sich ein Herr namens Laín Coubert eingefunden und sich dafür interessiert, sämtliche Exemplare von Julián Carax’ Romanen zu kaufen, die wir am Lager hätten. Er habe ihm geantwortet, in Pueblo Nuevo habe er eine ganze Lagerhalle voll, doch die Nachfrage sei sehr groß; aus diesem Grund habe er einen höheren Preis verlangt, als Coubert geboten habe. Coubert habe nicht angebissen, sondern sich davongemacht. Jetzt sollte ich also diesen Laín Coubert finden und sein Angebot annehmen. Ich sagte diesem Schwachkopf, Laín Coubert gebe es nicht, er sei eine Romanfigur von Carax. Der Mann habe nicht das geringste Interesse, die Bücher zu kaufen, sondern wolle bloß wissen, wo sie sich befänden. Señor Cabestany hatte die Angewohnheit gehabt, von jedem der bei uns publizierten Titel ein Exemplar in seinem Büro zu behalten, auch von Julián Carax’ Werken. Ich schlich mich in sein Büro und nahm sie mit.

Am selben Abend besuchte ich meinen Vater im Friedhof der Vergessenen Bücher und versteckte die Bände, wo niemand sie finden konnte, vor allem nicht Julián. Es war Nacht geworden, als ich wieder ging. Die Ramblas hinunterschlendernd, kam ich in die Barceloneta und ging an den Strand, wo ich die Stelle suchte, an der ich mit Julián aufs Meer hinausgeschaut hatte. In der Ferne loderte das Lager von Pueblo Nuevo wie ein Scheiterhaufen, ein bernsteinfarbener Schein ergoß sich aufs Meer, und Feuer- und Rauchspiralen züngelten zum Himmel empor. Als die Feuerwehrmänner kurz vor Tagesanbruch die Flammen endlich löschen konnten, blieb nichts mehr übrig außer einem Skelett aus Ziegelsteinen und Metall, das das Gewölbe gestützt hatte. Dort traf ich Lluís Carbó, der zehn Jahre lang Nachtwächter gewesen war und jetzt fassungslos in die rauchenden Trümmer schaute. Seine Brauen und die Haare auf den Armen waren versengt, und seine Haut glänzte wie feuchte Bronze. Er erzählte mir, der Brand sei kurz nach Mitternacht ausgebrochen, und Zehntausende von Bänden seien ihm zum Opfer gefallen, bis am Morgen nur noch ein Aschenmeer übriggeblieben sei. Lluís hatte noch ein paar Bücher in der Hand, die er als einzige hatte retten können, Gedichtsammlungen von Verdaguer und zwei Bände Geschichte der Französischen Revolution. Die Feuerwehrleute hatten in den Trümmern einen verbrannten Körper gefunden. Zuerst hatten sie ihn für tot gehalten, aber einer hatte festgestellt, daß er noch atmete, und so hatten sie ihn ins Hospital del Mar gebracht.

Ich erkannte ihn an den Augen. Das Feuer hatte seine Haut, die Hände und das Haar verzehrt. Wie mit Peitschenhieben hatten ihm die Flammen die Kleider weggerissen, und sein Körper war eine einzige offene Wunde, die unter dem Verband eiterte. Man hatte ihn am Ende eines Korridors in ein abgelegenes Zimmer mit Sicht auf den Strand verbannt und ihn mit Morphium vollgepumpt, in der Erwartung, er werde sterben. Ich wollte seine Hand halten, aber eine der Krankenschwestern machte mich darauf aufmerksam, daß unter dem Verband kaum noch Fleisch sei. Das Feuer hatte ihm die Lider weggemäht, so daß sein Blick ununterbrochen ins Leere gerichtet war. Die Schwester, die mich weinend auf dem Boden kauern sah, fragte mich, ob ich wisse, wer er sei. Ich bejahte — es sei mein Mann. Einen gierigen Geistlichen, der seine letzten Segnungen spenden wollte, schrie ich in die Flucht. Nach drei Tagen atmete Julián immer noch. Die Ärzte sagten, es sei ein Wunder, die Lust zu leben halte ihn mit Kräften, mit denen die Medizin nicht wetteifern könne, am Leben. Sie täuschten sich. Es war nicht die Lust zu leben, es war der Haß. Eine Woche später, als man sah, daß sich dieser vom Tod überzogene Körper zu sterben weigerte, wurde er offiziell unter dem Namen Miquel Moliner aufgenommen. Er sollte zwölf Monate dableiben. Immer schweigend, der rastlose Blick glühend.

Ich ging täglich ins Krankenhaus. Bald begannen mich die Schwestern zu duzen und luden mich ein, mit ihnen in ihrem Raum zu essen. Es waren alles einsame, starke Frauen, die darauf warteten, daß ihre Männer von der verworrenen Front zurückkehrten. Sie brachten mir bei, Juliáns Wunden zu reinigen, ihm die Verbände zu wechseln, ein Bett mit einem bewegungsunfähigen Körper darin frisch zu beziehen. Sie lehrten mich auch, die Hoffnung aufzugeben, den Mann wiederzusehen, den diese Knochen einmal getragen hatten. Nach dem dritten Monat nahmen wir ihm den Gesichtsverband ab. Hervor kam ein Totenschädel. Er hatte keine Lippen, keine Wangen. Es war ein Gesicht ohne Züge, wie eine verbrannte Puppe. Die Augenhöhlen hatten sich vergrößert und beherrschten jetzt seinen Ausdruck. Vor mir gaben es die Krankenschwestern nicht zu, aber sie empfanden Ekel, fast Angst. Die Ärzte hatten gesagt, wenn die Wunden verheilten, werde sich allmählich eine Art violette Haut wie bei einem Reptil bilden. Niemand wagte etwas über seinen Geisteszustand zu sagen. Alle nahmen als sicher an, daß Julián — Miquel — bei dem Brand den Verstand verloren hatte, daß er nur dank der besessenen Pflege dieser Ehefrau vegetierte und überlebte, welche standhaft blieb, wo jede andere entsetzt das Weite gesucht hätte. Ich schaute ihm in die Augen und wußte, daß Julián noch da drin war, lebend, langsam verfallend. Wartend.

Er hatte die Lippen verloren, aber die Ärzte vermuteten, die Stimmbänder hätten keinen irreparablen Schaden erlitten und die Verbrennungen an Zunge und Kehlkopf seien schon vor Monaten geheilt. Ihrer Meinung nach sagte Julián nur deshalb nichts, weil sein Geist erloschen war. Als wir beide eines Abends, sechs Monate nach dem Brand, allein im Zimmer waren, beugte ich mich über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

»Ich liebe dich«, sagte ich.

Ein bitteres, heiseres Geräusch quoll aus der Hundegrimasse, zu der der Mund geworden war. Seine Augen waren gerötet. Ich wollte sie ihm mit einem Taschentuch trocknen, aber er wiederholte dieses Geräusch.

»Laß mich«, hatte er gesagt.Laß mich.Zwei Monate nach dem Brand des Lagers in Pueblo Nuevo hatte der Verlag Cabestany Konkurs gemacht. Der alte Cabestany, der noch in diesem Jahr das Zeitliche segnete, hatte prophezeit, sein Sohn werde es fertigbringen, die Firma in sechs Monaten zu ruinieren — ein unverbesserlicher Optimist bis ins Grab. Ich versuchte, in einem andern Verlag Arbeit zu finden, doch der Krieg verschlang alles. Jedermann sagte, er werde bald zu Ende sein und dann werde alles besser. Doch er sollte noch zwei Jahre dauern, und was nachher kam, war womöglich noch schlimmer. Elf Monate nach dem Brand sagten die Ärzte, was sich in einem Krankenhaus tun lasse, sei getan worden, die Zeiten seien schwierig und man brauche das Zimmer, ich solle ihn doch in ein Sanatorium wie das Heim Santa Lucía einweisen. Doch ich weigerte mich. Im Oktober 1937 nahm ich ihn mit nach Hause. Seit jenem

»Laß mich« hatte er kein Wort mehr gesagt.

Ich sagte ihm jeden Tag, ich liebe ihn. Er saß in einem Sessel vor dem Fenster, in Wolldecken eingepackt. Ich ernährte ihn mit Fruchtsäften, Toast und Milch, wenn ich welche fand. Täglich las ich ihm zwei Stunden vor, Balzac, Zola, Dickens… Allmählich nahm er wieder zu. Kurz nach unserer Rückkehr nach Hause begann er die Hände und Arme zu bewegen und neigte den Kopf zur Seite. Manchmal lagen, wenn ich zurückkam, die Decken auf dem Boden, und einige Gegenstände waren umgeworfen. Eines Tages robbte er über den Boden. Anderthalb Jahre nach dem Brand erwachte ich einmal mitten in einer Gewitternacht. Jemand hatte sich auf mein Bett gesetzt und strich mir übers Haar. Die Tränen verbergend, lächelte ich ihm zu. Er hatte einen meiner Spiegel ausfindig gemacht, obwohl ich sie alle versteckt hatte. Mit krächzender Stimme sagte er, er sei zu einem seiner Romanungeheuer geworden, zu Laín Coubert. Ich wollte ihn küssen, ihm zeigen, daß mich sein Aussehen nicht schreckte, aber er ließ mich nicht. Bald würde er nicht einmal mehr zulassen, daß ich ihn berührte. Täglich gewann er neue Kraft. Er strich in der Wohnung umher, während ich etwas zu essen auftrieb. Mit den Ersparnissen, die Miquel hinterlassen hatte, hielten wir uns zwar zunächst über Wasser, aber nach kurzer Zeit mußte ich anfangen, Schmuck und alten Krempel zu verkaufen. Als es nicht mehr anders ging, versilberte ich die in Paris erstandene Füllfeder Victor Hugos an den Meistbietenden. Hinter dem Gebäude der Militärregierung fand ich einen Laden, der diese Art Waren annahm. Den Geschäftsführer schien mein feierlicher Schwur nicht sehr zu beeindrucken, der Füller habe Victor Hugo gehört, aber er anerkannte, daß es ein meisterhaftes Stück war, und bezahlte mir, soviel er konnte, schließlich waren es Zeiten der Not und des Elends. Als ich Julián sagte, ich hätte sie verkauft, fürchtete ich, er werde zornig werden. Doch er sagte bloß, ich hätte gut daran getan, er habe sie nie wirklich verdient.

Eines Tages war ich wie so oft auf Arbeitssuche gegangen, und bei meiner Rückkehr war Julián nicht da. Er kam erst am frühen Morgen wieder. Auf meine Frage, wo er gewesen sei, leerte er die Manteltaschen (der Mantel hatte Miquel gehört) und legte eine Handvoll Münzen auf den Tisch. Von da an ging er fast jede Nacht aus. In der Dunkelheit, einen Hut auf dem Kopf und in einen Schal gehüllt, mit Handschuhen und Mantel, war er ein Schatten unter Schatten. Nie sagte er mir, wohin er ging, fast immer aber brachte er Geld oder Schmuckstücke nach Hause. Er schlief vormittags, aufrecht in seinem Sessel sitzend und mit offenen Augen. Einmal fand ich in einer seiner Taschen ein Messer, eine zweischneidige Waffe mit automatischer Springfeder. Die Klinge war mit dunklen Flecken gesprenkelt.

In dieser Zeit hörte ich auf der Straße immer wieder Geschichten über einen Menschen, der nachts die Schaufensterscheiben der Buchhandlungen einschlug und Bücher verbrannte. Andere Male schlich sich der merkwürdige Vandale in eine Bibliothek oder in die Schatzkammer eines Sammlers. Immer nahm er zwei, drei Bücher mit und verbrannte sie. Einmal suchte ich ein Antiquariat auf und erkundigte mich, ob auf dem Markt irgendein Buch von Julián Carax zu finden sei. Der Verkäufer sagte, das sei unmöglich, jemand habe sie alle verschwinden lassen. Er habe selbst zwei besessen und sie einem seltsamen Mann mit vermummtem Gesicht verkauft, dessen Stimme kaum zu verstehen gewesen sei.

»Bis vor kurzem gab es noch einige Exemplare in Privatsammlungen, bei uns und auch in Frankreich«, sagte er, »aber viele Sammler stoßen sie inzwischen ab. Sie haben Angst, und ich kann es ihnen nicht verdenken.«

Manchmal verschwand Julián tagelang und dann bald für Wochen. Er ging und kam immer nachts, und immer brachte er Geld mit. Nie gab er eine Erklärung ab, und wenn er es einmal tat, erzählte er unsinnige Details. Er sagte, er sei in Frankreich gewesen, in Paris, Lyon, Nizza. Gelegentlich kamen Briefe aus Frankreich auf den Namen Laín Coubert, stets von Antiquaren, Sammlern. Jemand hatte ein verloren geglaubtes Exemplar eines von Julián Carax’ Werken ausfindig gemacht. Dann verschwand er mehrere Tage und kam zurück wie ein Wolf, stank nach Rauch und Rache.

Während einer seiner Abwesenheiten traf ich im Kreuzgang der Kathedrale auf den Hutmacher Fortuny. Er erinnerte sich noch an mich von dem Besuch her, den ich ihm vor zwei Jahren mit Miquel abgestattet hatte, um ihn nach Julián zu fragen. Er führte mich in einen Winkel und sagte mir vertraulich, er wisse, daß Julián am Leben sei, irgendwo, aber vermutlich sei es ihm aus einem bestimmten Grund, den er nicht erahnen könne, unmöglich, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

»Das muß irgendwas mit diesem Schuft von Fumero zu tun haben.« Ich sagte ihm, ich dächte genauso. Die Kriegsjahre erwiesen sich als sehr ergiebig für Fumero. Seine Allianzen wechselten von Monat zu Monat, von den Anarchisten zu den Kommunisten und von diesen zu dem, was sich gerade anbot. Die einen wie die andern bezeichneten ihn als Spion, Häscher, Helden, Mörder, Verschwörer, Intriganten, Retter oder Demiurgen. Spielte keine Rolle. Fürchten taten ihn alle. Alle wollten ihn auf ihrer Seite haben. Vielleicht zu sehr beschäftigt mit den Intrigen im Kriegsbarcelona, schien er Julián vergessen zu haben. Möglicherweise vermutete er, wie der Hutmacher, er sei geflohen und längst nicht mehr in seiner Reichweite.

Señor Fortuny fragte mich, ob ich eine alte Freundin seines Sohnes sei, was ich bejahte. Er bat mich, von Julián zu erzählen, von dem Mann, zu dem er geworden war, er selbst kenne ihn nicht, wie er mir traurig gestand.

»Das Leben hat uns auseinandergerissen, müssen Sie wissen.« Er hatte in sämtlichen Buchhandlungen Barcelonas nach Juliáns Romanen gesucht, hatte sie aber nicht finden können. Jemand hatte ihm erzählt, ein Verrückter klappere die Landkarte nach ihnen ab, um sie zu verbrennen. Fortuny war überzeugt, der Schuldige könne niemand anders als Fumero sein. Ich widersprach ihm nicht und log das Blaue vom Himmel herunter, aus Mitleid oder aus Verbitterung, ich weiß es nicht. Ich sagte, meiner Meinung nach sei Julián nach Paris zurückgegangen, es gehe ihm gut und ich sei überzeugt, er achte den Hutmacher sehr und werde zu ihm zurückkommen, sobald die Umstände es erlaubten.

»Es ist dieser Krieg«, klagte er, »der alles kaputtmacht.« Bevor wir uns auf Wiedersehen sagten, wollte er mir unbedingt noch einmal seine Adresse und auch die seiner ehemaligen Frau Sophie geben, mit der er nach langen Jahren der

»Mißverständnisse« den Kontakt wiederaufgenommen hatte. Sie lebe jetzt in Bogotá mit einem angesehenen Arzt zusammen, leite ihre eigene Musikschule und erkundige sich in ihren Briefen immer nach Julián.

»Das ist noch das einzige, was uns verbindet, wissen Sie. Die Erinnerung. Man macht in seinem Leben viele Fehler, Señorita, und merkt es erst, wenn man alt ist. Sagen Sie, sind Sie gläubig?«

Ich verabschiedete mich von ihm mit dem Versprechen, ihn und Sophie zu informieren, wenn ich etwas von Julián höre.

»Nichts würde seine Mutter glücklicher machen, als wieder von ihm zu hören. Frauen achten mehr aufs Herz und weniger auf Dummheiten«, schloß er traurig.

»Darum leben sie länger.«

Obwohl ich so viele böse Geschichten über ihn gehört hatte, konnte ich nicht umhin, mit diesem armen Greis Mitleid zu empfinden. Ich hatte ihn mir als rohen Kerl vorgestellt, als gemeinen, unverträglichen Menschen, aber er erschien mir als gutmütiger Mann, wenn auch blind, verloren wie alle. Vielleicht weil er mich an meinen eigenen Vater erinnerte, der sich vor allen und vor sich selbst in diesem Refugium von Büchern und Schatten versteckte, vielleicht weil uns auch der heftige Wunsch verband, Julián zurückzubekommen, gewann ich ihn lieb und wurde zu seiner einzigen Freundin. Ohne daß Julián etwas davon wußte, besuchte ich ihn oft in seiner Wohnung in der Ronda de San Antonio. Der Hutmacher arbeitete nicht mehr.

Er erwartete mich meistens am Donnerstag und servierte mir Kaffee, Kekse und Süßigkeiten, die er kaum anrührte. Stundenlang erzählte er mir von Juliáns Kindheit, wie sie zusammen in der Hutmacherei gearbeitet hatten, und zeigte mir Fotos. Er führte mich in Juliáns Zimmer, das er in makellosem Zustand bewahrte wie ein Museum, legte mir alte Hefte und unbedeutende Gegenstände vor, die für ihn wie Reliquien eines Lebens waren, das es nie gegeben hatte, und merkte nicht, daß er sie mir bereits früher gezeigt, daß er mir die ganzen Geschichten schon einmal erzählt hatte. An einem solchen Donnerstag begegnete ich auf der Treppe einem Arzt, der eben bei Señor Fortuny gewesen war. Ich fragte ihn nach dem Gesundheitszustand des Hutmachers, und er schaute mich argwöhnisch an.

»Sind Sie eine Angehörige von ihm?«

Ich sagte, von allem, was der arme Mann habe, komme ich dem wohl am nächsten. Da eröffnete mir der Arzt, Fortuny sei sehr krank und habe höchstens noch ein paar Monate zu leben.

»Was hat er denn?«

»Ich könnte Ihnen sagen, es ist das Herz, aber was ihn umbringt, ist die Einsamkeit. Erinnerungen sind schlimmer als die Wunden des Krieges.«

Als er mich erblickte, freute sich der Hutmacher und sagte, dieser Arzt sei nicht vertrauenswürdig, Ärzte seien doch nichts als Hampelmänner einer fragwürdigen Wissenschaft. Allenthalben sehe er die Hand des Teufels, der Teufel trübe den Verstand und führe die Menschen ins Verderben.

»Schauen Sie bloß den Krieg, und schauen Sie mich an. Jetzt wirke ich alt und schlaff, aber als junger Mann war ich ein echter Schurke und sehr niederträchtig.«

Einmal sagte ich zu Julián, falls er seinen Vater lebend wiedersehen wolle, müsse er sich beeilen. Da stellte sich heraus, daß auch er seinen Vater besucht hatte, ohne daß der es wußte. Aus der Ferne, in der Dämmerung, am andern Ende eines Platzes sitzend, wo er zuschaute, wie der Hutmacher alt wurde. Julián war es lieber, daß der Alte die Erinnerung an seinen Sohn mitnahm, die er damals in seinem Kopf geschmiedet hatte, und nicht die Wirklichkeit, zu der er geworden war.

»Die behältst du mir vor«, sagte ich zu ihm und bereute es auf der Stelle.Er gab keine Antwort, aber einen Augenblick schien es, als ob die Klarheit zu ihm zurückkehre und er erkenne, in was für eine Hölle wir uns da eingeschlossen hatten. Die Prophezeiungen des Arztes verwirklichten sich rasch. Señor Fortuny erlebte das Kriegsende nicht mehr. Man fand ihn in seinem Sessel sitzend, wie er alte Fotos von Sophie und Julián anschaute, in einem Meer von Erinnerungen versunken.Die letzten Tage des Krieges waren das Vorspiel zur Hölle. Die Stadt hatte das Ganze aus der Distanz erlebt, wie eine Wunde, die im Schlaf pulsiert. Es waren Monate voller Scharmützel und Kämpfe, Bombardements und Hunger vergangen. Mord und Verrat zerfraßen die Seele der Stadt seit Jahren, aber dennoch glaubten viele lieber, der Krieg spiele sich in der Ferne ab, sei ein vorüberziehendes Gewitter. Aber das Warten machte das Unvermeidliche noch schlimmer.Bald hatte Julián fast keine Bücher mehr zum Verbrennen. Dieser Zeitvertreib war in höhere Hände übergegangen. Der Tod seines Vaters hatte ihn zu einem Schatten seiner selbst gemacht, in dem weder die Wut noch der Haß loderte, die ihn anfänglich aufgezehrt hatten. Wir lebten von der Welt zurückgezogen und von Gerüchten. Wir erfuhren, daß Fumero alle verraten hatte, die ihn im Krieg hatten aufsteigen lassen, und daß er jetzt im Dienst der Sieger stand. Es hieß, er richte seine Hauptverbündeten und Gönner in den Kerkern des Kastells des Montjuïc persönlich hin, indem er sie mit einem Schuß in den Mund erledige. Die Maschinerie des Vergessens begann am selben Tag zu hämmern, an dem die Waffen verstummten. Ich lernte, daß nichts mehr Angst macht als ein Überlebender, der erzählen kann, was alle, die an seiner Seite fielen, niemals werden erzählen können. Die Wochen nach dem Fall Barcelonas waren unbeschreiblich. In diesen Tagen wurde ebensoviel Blut vergossen wie in den Gefechten oder noch mehr, nur im verborgenen. Als endlich der Friede kam, roch er nach Gefängnissen und Friedhöfen, ein Leichentuch des Schweigens und der Scham. Es gab weder unschuldige Hände noch harmlose Blicke. Wir, die wir da waren, werden alle ohne Ausnahme schreckliche Geheimnisse mit in den Tod nehmen.Trotz der Ruhe, die wieder einkehrte, lebten Julián und ich im Elend. Wir hatten sämtliche Ersparnisse und die magere Beute aus Laín Couberts nächtlichen Streifzügen ausgegeben, und zu verkaufen gab es nichts mehr im Haus. Verzweifelt suchte ich Arbeit als Übersetzerin, Stenotypistin oder Putzfrau, aber anscheinend war ich wegen meiner ehemaligen Verbindung zu Cabestany unerwünscht. Ein Beamter im abgeschabten Anzug und mit bleistiftschmalem Schnurrbärtchen, einer von Hunderten, die in diesen Monaten unter den Steinen hervorzukriechen schienen, gab mir zu verstehen, eine attraktive Frau wie ich brauche doch nicht so triviale Verrichtungen auszuüben. Die Nachbarn, die meiner Geschichte, ich pflege meinen armen, vom Krieg invalide gewordenen und entstellten Mann Miquel, Glauben schenkten, boten uns als milde Gaben Milch, Käse oder Brot an, manchmal sogar gesalzenen Fisch oder Würste, die ihnen die Verwandten aus dem Dorf schickten. Da ich nach Monaten der Not zur Überzeugung kam, ich würde noch lange keine Stelle finden, ersann ich eine Kriegslist, die ich einem von Juliáns Romanen entnahm.Im Namen eines angeblichen frischgebackenen Anwalts, den der verstorbene Señor Fortuny in seinen letzten Tagen zu Rate gezogen habe, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, schrieb ich Juliáns Mutter nach Bogotá und teilte ihr mit, nachdem der Hutmacher gestorben sei, ohne ein Testament zu hinterlassen, gehöre seine Hinterlassenschaft, die auch die Wohnung in der Ronda de San Antonio und den Laden im selben Haus einschließe, jetzt theoretisch seinem Sohn Julián, der mutmaßlich im französischen Exil lebe. Da gewisse Fragen der Erbschaftssteuer noch nicht geregelt seien und sie sich im Ausland befinde, bitte sie der Anwalt, dem ich in Erinnerung an den ersten Jungen, der mich auf den Mund geküßt hatte, den Namen José María Requejo gab, um Erlaubnis, die entsprechenden Schritte zu unternehmen, um die Übertragung der Besitztümer auf den Namen ihres Sohnes Julián in die Wege zu leiten, mit dem ich durch die spanische Botschaft in Paris in Kontakt treten wolle, wobei ich in der Zwischenzeit vorübergehend deren Rechtsinhaberschaft übernehmen werde. Desgleichen bat ich sie, Verbindung mit dem Hausverwalter aufzunehmen, damit er das Urkundenmaterial und die Rechnungen für die Auslagen der Wohnung Fortuny an das Anwaltsbüro Requejo überweise, auf dessen Namen ich ein Postfach mit fiktiver Adresse eröffnete, eine alte, leerstehende Garage zwei Straßen vom Aldaya-Haus entfernt. Meine Hoffnung bestand darin, daß Sophie, blind angesichts der Möglichkeit, Julián zu helfen und den Kontakt zu ihm wiederherzustellen, diesen ganzen Unsinn nicht in Frage stellen und sich bereit erklären würde, uns aufgrund ihres Wohlstands im fernen Kolumbien zu helfen.Zwei Monate später begannen dem Hausverwalter monatliche Überweisungen zuzufließen, die die Auslagen für die Wohnung in der Ronda de San Antonio und die Bezüge des Anwaltsbüros von José María Requejo deckten, welche er in Form eines Inhaberschecks ans Postfach 2321 in Barcelona überwies, wie Sophie Carax in ihren Briefen verfügt hatte. Ich stellte fest, daß der Verwalter monatlich ohne Ermächtigung einen bestimmten Prozentsatz für sich behielt, sagte aber nichts. So war er zufrieden und stellte keine Fragen zu diesem mühelosen Geschäft. Vom Rest konnten Julián und ich überleben. Auf diese Weise vergingen schreckliche, hoffnungslose Jahre. Mit der Zeit war ich zu ein paar Aufträgen als Übersetzerin gekommen. Niemand erinnerte sich mehr an Cabestany — es wurde eine Politik des Vergessens betrieben, die über alte Rivalitäten und Haßgefühle Gras wachsen ließ. Doch ich war in ständiger Angst, Fumero könnte von neuem in der Vergangenheit wühlen und Juliáns Verfolgung wiederaufnehmen. Manchmal überzeugte ich mich vom Gegenteil und sagte mir, bestimmt halte er ihn für tot oder habe ihn vergessen. Er war nicht mehr der Auftragsmörder von ehedem. Jetzt war er eine öffentliche Persönlichkeit, ein Mann, der im Regime Karriere machte, der sich die Verfolgung eines Gespenstes nicht mehr leisten konnte. Andere Male erwachte ich mitten in der Nacht, schweißgebadet und mit laut pochendem Herzen, und glaubte die Polizei an die Tür hämmern zu hören. Ich fürchtete, einer der Nachbarn könnte diesen kranken Ehemann, der nie aus dem Haus ging, der manchmal weinte oder wie ein Wahnsinniger an die Wände schlug, verdächtig finden und uns bei der Polizei anzeigen. Ich fürchtete, Julián würde wieder verschwinden, um hinter seinen Büchern herzujagen und sie zu verbrennen, das wenige zu verbrennen, was von ihm noch übrig war, und endgültig jeden Hinweis beseitigen, daß es ihn je gegeben hatte. Bei dieser ganzen Furcht vergaß ich, daß ich älter wurde, daß das Leben an mir vorüberzog, daß ich meine Jugend geopfert hatte, um einen geisterhaften Mann zu lieben.Doch die Jahre gingen in Frieden vorüber. Die Zeit verfliegt desto schneller, je leerer sie ist. Ein bedeutungsloses Leben saust vorbei wie ein Zug, der am eigenen Bahnhof nicht hält. Inzwischen verheilten zwangsläufig die Narben des Krieges. In zwei Verlagen fand ich Arbeit. Den größten Teil des Tages verbrachte ich außer Haus. Ich hatte namenlose Geliebte, verzweifelte Gesichter, die ich im Kino oder in der U-Bahn fand und mit denen ich meine Einsamkeit teilte. Dann nagten absurderweise Schuldgefühle an mir, und wenn ich Julián sah, war ich den Tränen nahe und schwor mir, ihn nie wieder zu verraten, als wäre ich ihm etwas schuldig gewesen. Im Bus oder auf der Straße ertappte ich mich dabei, wie ich jüngere Frauen mit Kindern an der Hand anschaute. Sie sahen glücklich oder friedlich aus, als füllten diese kleinen Geschöpfe in ihrer Unzulänglichkeit jedes Vakuum aus und ließen keine Frage offen. In solchen Momenten erinnerte ich mich an Tage, an denen ich mir ausgemalt hatte, ebenfalls eine dieser Frauen zu sein, mit einem Kind in den Armen, einem Kind von Julián. Dann kam mir der Krieg in den Sinn — und daß die, die ihn führten, ebenfalls Kinder gewesen waren.Als ich schon beinahe glaubte, die Welt habe uns vergessen, erschien eines Tages ein junger Mensch bei uns, noch fast bartlos, ein Lehrling, der bei jedem Blick in meine Augen errötete. Er fragte nach Señor Miquel Moliner, um angeblich ein Archiv des Journalistenverbandes routinemäßig zu aktualisieren. Er sagte, vielleicht könnte Señor Moliner eine monatliche Pension empfangen, aber um das in die Wege zu leiten, müsse eine Reihe von Daten auf den neusten Stand gebracht werden. Ich sagte ihm, Señor Moliner wohne seit Kriegsbeginn nicht mehr hier, er sei ins Ausland gezogen. Er antwortete, das tue ihm sehr leid, und machte sich mit seinem öligen Denunziantenlächeln davon. Mir war klar, daß ich Julián unbedingt noch am selben Abend verschwinden lassen mußte. Zu dieser Zeit war fast nichts mehr von ihm übriggeblieben. Er war gefügig wie ein kleines Kind, und sein ganzes Leben schien von den paar Abenden abzuhängen, wo wir zusammen eine Weile Rundfunkmusik hörten, während er meine Hand ergriff und wortlos streichelte.Am selben Abend nahm ich die Schlüssel zur Wohnung in der Ronda de San Antonio, die der Hausverwalter dem nicht existierenden Anwalt Requejo geschickt hatte, und begleitete Julián zum Ort seiner Kindheit zurück. Ich brachte ihn in seinem Zimmer unter und versprach, am nächsten Tag zurückzukommen, wir müßten sehr vorsichtig sein.

»Fumero ist wieder auf der Suche nach dir«, sagte ich.Er nickte unbestimmt, als erinnerte er sich nicht mehr oder als wäre ihm egal, wer Fumero war. So vergingen mehrere Wochen. Jeden Tag suchte ich nach Mitternacht die Wohnung auf. Ich fragte Julián, was er tagsüber getan habe, und er schaute mich verständnislos an. Wir verbrachten die Nacht gemeinsam, eng umschlungen, und am frühen Morgen ging ich wieder mit dem Versprechen, so bald wie möglich zurückzukommen. Immer schloß ich dabei die Wohnung ab. Julián hatte keinen Zweitschlüssel. Ich hatte ihn lieber als Gefangenen denn als Toten.Nie wieder kam jemand vorbei, um sich nach meinem Mann zu erkundigen, aber ich streute im Viertel aus, er befinde sich in Frankreich. In zwei Briefen schrieb ich der spanischen Botschaft in Paris, ich wisse mit Bestimmtheit, daß der spanische Staatsangehörige Julián Carax in der Stadt sei, und bat sie, mir bei der Suche nach ihm behilflich zu sein. Ich vermutete, früher oder später würden die Briefe in die entsprechenden Hände fallen. Zwar ergriff ich sämtliche denkbaren Vorsichtsmaßnahmen, doch ich wußte, daß alles nur eine Frage der Zeit war. Leute wie Fumero hören nie auf zu hassen. Ihr Haß kennt weder Sinn noch Grund. Sie hassen, wie sie atmen.Die Wohnung in der Ronda de San Antonio war eine Dachgeschoßwohnung. Ich entdeckte, daß man vom Treppenhaus durch eine Tür auf die Dachterrasse gelangen konnte. Die Dächer des ganzen Häusergevierts bildeten ein Netz von zusammengebauten, durch knapp meterhohe Mauern voneinander getrennten Terrassen, auf denen die Bewohner ihre Wäsche aufhängten. Bald machte ich ein Haus auf der andern Seite des Blocks ausfindig, das auf die Calle Joaquín Costa hinausging und auf dessen Dach ich Zugang hatte, so daß ich über die Mauer zum Haus in der Ronda de San Antonio gelangen konnte, ohne daß mich dort jemand hineingehen oder herauskommen sah. Einmal teilte mir der Verwalter brieflich mit, einige Nachbarn hätten in der Fortuny-Wohnung Geräusche gehört. Im Namen von Anwalt Requejo antwortete ich, gelegentlich habe ein Mitarbeiter des Büros dort Papiere oder Dokumente holen müssen, und es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, auch wenn die Geräusche nachts zu hören seien. Ich deutete an, unter Gentlemen, Buchhaltern und Anwälten sei eine geheime Absteige heiliger als der Palmsonntag. Der Verwalter zeigte Korpsgeist und antwortete, ich brauchte mich nicht im geringsten zu sorgen, er verstehe die Situation vollauf.In jenen Jahren bestand mein einziges Vergnügen darin, die Rolle des Anwalts Requejo zu spielen. Einmal im Monat besuchte ich meinen Vater im Friedhof der Vergessenen Bücher. Nie äußerte er ein Interesse daran, diesen unsichtbaren Ehemann kennenzulernen, und ich bot ihm auch nie an, sie einander vorzustellen. In unseren Gesprächen umgingen wir das Thema, wie erfahrene Seeleute eine Klippe knapp unter der Wasseroberfläche umschiffen. Bisweilen schaute er mich einfach schweigend an und fragte dann, ob ich Hilfe brauche, ob er irgend etwas für mich tun könne. An manchen Samstagen führte ich Julián frühmorgens ans Meer. Wir stiegen auf die Dachterrasse hinauf und dann aufs Nachbarhaus hinüber, um von dort aus auf die Calle Joaquín Costa zu gelangen. Dann spazierten wir durch die Gassen des Raval zum Hafen hinunter. Niemand stellte sich uns in den Weg, vor Julián hatte man sogar aus der Ferne Angst. Ab und zu gingen wir bis zum Wellenbrecher hinaus. Julián setzte sich gern auf die Felsblöcke und schaute gegen die Stadt. Stundenlang saßen wir so dort, mehr oder weniger ohne ein Wort zu wechseln. Manchmal schlichen wir uns nachmittags nach Vorstellungsbeginn auch ins Kino. In der Dunkelheit schenkte Julián niemand Beachtung. Wir lebten nachts und schweigend. Während die Monate vergingen, lernte ich, Routine mit Normalität zu verwechseln, und mit der Zeit glaubte ich sogar, mein Plan sei vollkommen gewesen. Ich arme Irre.

12

1945, Jahr der Asche. Erst sechs Jahre waren seit dem Ende des Bürgerkriegs vergangen, und obwohl seine Narben allenthalben spürbar waren, sprach auch jetzt fast niemand offen über ihn. Jetzt redete man vom andern Krieg, vom Weltkrieg, der den Globus mit einem Gestank von Aas und Niedertracht überzogen hatte, den er nie wieder loswerden sollte. Es waren Jahre der Not und des Elends. Nachdem ich jahrelang vergeblich Arbeit als Übersetzerin gesucht hatte, fand ich schließlich eine Stelle als Mitarbeiterin eines Verlegers namens Pedro Sanmartí. Dieser, neu in der Branche, hatte den Verlag mit dem Vermögen seines Schwiegervaters gegründet, den er danach in ein Altenheim am See von Banolas gesteckt hatte, in der Erwartung, per Post seine Sterbeurkunde zugeschickt zu bekommen. Sanmartí, der gern jungen Mädchen den Hof machte, die halb so alt waren wie er, hatte sich mit der damals modischen Bezeichnung Selfmademan selig gesprochen. Überzeugt, es sei die Sprache der Zukunft, schloß er all seine Sätze mit einem lässigen okay.

Der Verlag — den Sanmartí auf den seltsamen Namen Endymion getauft hatte, weil er nach Kathedrale klang und geeignet schien, die Kasse klingeln zu lassen — gab Katechismen, Benimmbücher und eine Reihe erbaulicher Romane heraus, in denen Nonnen, Helden des Roten Kreuzes und regimetreue Beamte tragende Rollen spielten. Unter dem Titel Kommando Mut publizierten wir auch Bildergeschichten von amerikanischen Soldaten, die unter der Jugend Furore machten, welche nach Helden gierte, die aussahen, als äßen sie an sieben Tagen der Woche Fleisch. In Sanmartís Sekretärin hatte ich eine gute Freundin gewonnen, eine Kriegswitwe namens Mercedes Pietro, zu der ich bald eine vollkommene Affinität empfand, so daß ich mich mit ihr durch einen Blick oder ein Lächeln verständigen konnte. Mercedes und ich hatten vieles gemeinsam: Wir waren zwei Frauen auf Abdrift, umgeben von toten Männern oder solchen, die sich vor der Welt versteckt hielten. Sie hatte einen siebenjährigen, an Muskeldystrophie erkrankten Sohn, den sie durchbrachte, wie es immer ging. Noch war sie keine zweiunddreißig, und doch war ihr das Leben an einzelnen Runzeln abzulesen. In all diesen Jahren war sie der einzige Mensch, dem ich alles zu erzählen, mein ganzes Leben offenzulegen versucht war.

Sie sagte mir, Sanmartí sei ein Busenfreund des täglich mit neuen Orden ausgezeichneten Chefinspektors Francisco Javier Fumero. Beide gehörten einer sich wie ein Spinnenetz über die ganze Stadt ausbreitenden Clique von Emporkömmlingen an. Die neue Gesellschaft. Eines schönen Tages erschien Fumero im Verlag, um seinen Freund abzuholen, mit dem er zum Mittagessen verabredet war. Unter irgendeinem Vorwand versteckte ich mich im Archivraum, bis die beiden verschwunden waren. Als ich an meinen Arbeitsplatz zurückkehrte, warf mir Mercedes einen vielsagenden Blick zu. Von da an warnte sie mich jedesmal, wenn Fumero im Büro erschien, so daß ich mich verstecken konnte.

Es verging kein Tag, ohne daß mich Sanmartí zum Abendessen, ins Theater oder Kino einlud. Ich antwortete immer, zu Hause erwarte mich mein Mann und auch seine Frau mache sich bestimmt schon Sorgen, es sei spät geworden. Señora Sanmartí, kaum mehr als ein austauschbares Möbelstück, das in der Zuneigungsskala ihres Gatten sehr viel weiter unten rangierte als sein Bugatti, schien ihre Rolle in dieser Operettenehe ausgespielt zu haben, sowie das Vermögen des Schwiegervaters in Sanmartís Hände gelangt war. Mercedes hatte mir schon gesagt, woher der Wind wehte. Sanmartí, dessen Konzentrationsfähigkeit im Raum und in der Zeit begrenzt war, begehrte frisches, noch unbeschautes Fleisch und richtete seine donjuanesken Kaprizen auf die jeweils Neue, in diesem Fall auf mich. Er zog sämtliche Register, um mit mir ins Gespräch zu kommen.

»Wie ich höre, ist dein Mann, dieser Moliner, Schriftsteller… Vielleicht interessiert es ihn, ein Buch über meinen Freund Fumero zu schreiben, für das ich auch schon einen Titel habe: Fumero, Geißel des Verbrechens oder Das Gesetz der Straße. Was meinst du, Nurieta?«

»Ich danke Ihnen herzlich, Señor Sanmartí, aber Miquel steckt tief in einem Roman, und ich glaube, in diesem Moment kann er nicht…«

Sanmartí brach in schallendes Gelächter aus.

»Ein Roman? Mein Gott, Nurieta… Der Roman ist doch tot und begraben. Das hat mir neulich ein Freund erzählt, der eben aus New York zurück war. Die Amerikaner sind dabei, etwas zu erfinden, was Fernsehen heißt und wie Kino ist, aber zu Hause. Da wird es keine Bücher und keine Messe mehr brauchen, rein gar nichts. Sag deinem Mann, er soll die Romane lassen. Wenn er wenigstens einen Namen hätte, Fußballspieler oder Torero wäre… Na, was hältst du davon, wenn wir im Bugatti nach Castelldefels fahren, um eine Paella zu essen und über all das zu diskutieren? Du mußt natürlich schon auch etwas dazu beitragen… Du weißt ja, daß ich dir gern helfen möchte. Und auch deiner Seele von Mann. Wie du weißt, ist in diesem Land ohne Beschützer nichts zu wollen.«

Ich begann mich wie eine Fronleichnamswitwe zu kleiden oder wie eine dieser Frauen, die das Sonnenlicht mit Todsünde zu verwechseln scheinen. Ich kam mit einem Haarknoten und ungeschminkt zur Arbeit. Aber trotz meiner Kniffe überschüttete mich Sanmartí weiterhin mit seinen Anspielungen, immer begleitet von einem schmierigen Lächeln. Ich führte zwei, drei Einstellungsgespräche für einen andern Job, aber bald sah ich mich jeweils einer neuen Spielart Sanmartís gegenüber. Einer von ihnen machte sich die Mühe, Sanmartí anzurufen und ihm zu sagen, ich suche hinter seinem Rücken eine Stelle. Von meiner Undankbarkeit verletzt, zitierte er mich in sein Büro, griff mir an die Backe und machte Anstalten, mich zu streicheln. Seine Finger stanken nach Tabak und Schweiß. Mir wurde übel.

»Hör zu, wenn du nicht zufrieden bist, brauchst du es mir nur zu sagen. Was kann ich tun, um deine Arbeitsbedingungen zu verbessern? Du weißt doch, daß ich dich schätze, und es schmerzt mich, von Dritten zu erfahren, daß du uns verlassen willst. Was meinst du, wenn wir zusammen irgendwo zu Abend essen gehen und Frieden schließen?«

Ich schob seine Hand aus meinem Gesicht, da ich den Ekel nicht weiter unterdrücken konnte.

»Du enttäuschst mich, Nuria. Ich muß dir gestehen, daß ich in dir weder Teamgeist noch Glauben an das Projekt dieses Unternehmens sehe.« Mercedes hatte mich schon darauf vorbereitet, daß früher oder später etwas Derartiges geschehen würde. Nach einigen Tagen begann Sanmartí, dessen Sinn für Grammatik und Stilistik nicht eben ausgeprägt war, mir sämtliche von mir für den Druck vorbereiteten Manuskripte zurückzugeben mit der Begründung, sie wimmelten von Fehlern. Fast jeden Tag blieb ich bis zehn oder elf Uhr abends im Büro, um wieder und wieder die vor Streichungen und Kommentaren von Sanmartí strotzenden Seiten zu überarbeiten.

»Zu viele Verben in der Vergangenheit. Klingt tot, kraftlos… Nach einem Strichpunkt wird kein Infinitiv gesetzt. Das weiß doch jedes Kind…« An manchen Abenden harrte auch er, zurückgezogen in seinem Büro, bis spät aus. Mercedes war nach Möglichkeit ebenfalls anwesend, aber mehr als einmal schickte Sanmartí sie nach Hause. Dann, sobald wir allein im Verlag waren, kam er aus seinem Büro und trat an meinen Schreibtisch.

»Du arbeitest viel, Nurieta. Arbeit ist nicht alles. Man muß sich auch amüsieren. Und du bist noch jung. Aber die Jugend geht vorbei, und wir verstehen es nicht immer, sie zu nutzen.«

Er setzte sich auf die Schreibtischkante und starrte mich an. Manchmal stellte er sich hinter mich und blieb zwei Minuten dort stehen, so daß ich seinen stinkenden Atem in den Haaren spüren konnte. Andere Male legte er mir die Hand auf die Schultern.

»Du bist angespannt. Entspanne dich.«

Ich zitterte, wollte schreien oder davonlaufen und nicht mehr in dieses Büro kommen, aber ich brauchte die Stelle und den Hungerlohn, den ich verdiente. Eines Abends begann Sanmartí mit seiner routinehaften Massage und befummelte mich dann gierig.

»Irgendwann verliere ich deinetwegen noch den Kopf«, stöhnte er.

Mit einem Satz entwand ich mich seinen Pranken, riß Mantel und Handtasche an mich und rannte zum Ausgang. Sanmartí lachte mir hinterher. Im Treppenhaus begegnete ich einer düsteren Gestalt, die durch die Eingangshalle zu gleiten schien, ohne den Boden zu berühren.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen, Señora Moliner…«

Inspektor Fumero offerierte mir sein Reptilienlächeln.

»Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Sie für meinen guten Freund Sanmartí arbeiten? Er ist auf seinem Gebiet genauso der Beste wie ich auf meinem. Und sagen Sie, wie geht es Ihrem Mann?«

Ich wußte, daß meine Tage im Verlag gezählt waren. Am nächsten Morgen wurde im Büro gemunkelt, Nuria Monfort sei eine Lesbe, sie sei ja immun gegen Don Pedro Sanmartís Charme und Knoblauchatem und verstehe sich dafür um so besser mit Mercedes Pietro. Manches junge Bürschchen mit Zukunft im Betrieb versicherte, er habe gesehen, wie sich ›diese beiden Schlampen‹ im Archiv abgeküßt hätten. An diesem Abend bat mich Mercedes bei Büroschluß um ein Gespräch. Sie konnte mir kaum in die Augen schauen. Wortlos gingen wir ins Café an der Ecke. Dort sagte sie mir, Sanmartí habe ihr zu verstehen gegeben, er sehe unsere Freundschaft nicht gern, die Polizei habe ihm Informationen über mich und meine angebliche Vergangenheit als kommunistische Aktivistin gegeben.

»Nuria, ich darf diese Stelle nicht verlieren. Ich brauche sie, um meinen Jungen durchzubringen…«, sagte sie unter Tränen.

»Mach dir keine Sorgen, Mercedes. Ich verstehe es«, sagte ich.

»Dieser Mann, Fumero, hat es auf dich abgesehen, Nuria. Ich weiß nicht, was er gegen dich hat, aber man sieht es seinem Gesicht an…«

»Ich weiß es.«

Als ich am folgenden Montag ins Büro kam, saß an meinem Schreibtisch ein hagerer Mann mit angepapptem Haar. Er stellte sich als Salvador Benades vor, die neue rechte Hand Sanmartís.

»Und wer sind Sie?« Kein einziger Mensch im ganzen Büro wagte einen Blick oder ein Wort mit mir zu wechseln, während ich meine Siebensachen zusammenpackte. Als ich die Treppe hinunterstieg, lief mir Mercedes nach und reichte mir einen Umschlag, der ein Bündel Geldscheine und Münzen enthielt.

»Fast alle haben beigesteuert, was sie konnten. Nimm es, bitte. Nicht deinet-, sondern unseretwegen.« Als ich an diesem Abend in die Wohnung in der Ronda de San Antonio ging, erwartete mich Julián wie immer im Dunkeln sitzend. Er habe ein Gedicht für mich geschrieben, sagte er. Das erste, was er seit neun Jahren geschrieben hatte. Ich wollte es lesen, doch ich zerbrach in seinen Armen. Ich erzählte ihm alles, ich konnte einfach nicht mehr. Ich fürchtete, Fumero würde ihn über kurz oder lang finden. Julián hörte mir schweigend zu, während er mich in den Armen hielt und mir übers Haar strich.Zum ersten Mal seit Jahren spürte ich, daß ich mich bei ihm anlehnen konnte. Krank vor Einsamkeit, wollte ich ihn küssen, aber Julián hatte mir weder Lippen noch Haut zu geben. Zusammengekauert auf dem Bett in seinem Zimmer, einer Jungenpritsche, schlief ich in seinen Armen ein. Als ich erwachte, war er nicht da. Im Morgengrauen vernahm ich seine Schritte auf dem Dach und stellte mich schlafend. Später an diesem Vormittag hörte ich im Radio die Nachricht, ohne mir etwas dabei zu denken. Auf einer Bank auf dem Paseo del Borne war eine Leiche gefunden worden, die Hände im Schoß gefaltet und den Blick auf die Basilika Santa María del Mar gerichtet. Einem Nachbarn fiel ein Schwarm Tauben auf, die ihr die Augen auspickten, und er benachrichtigte die Polizei. Die Leiche hatte einen gebrochenen Hals. Señora Sanmartí identifizierte sie als ihren Mann, Pedro Sanmartí Monegal. Als der Schwiegervater des Verstorbenen in seinem Altenheim die Nachricht hörte, dankte er dem Himmel und sagte sich, jetzt könne er in Frieden sterben.

13

Julián hatte einmal geschrieben, Zufälle seien die Narben des Schicksals. Es gibt keine Zufälle, Daniel. Jahrelang hatte ich mir eingeredet, Julián sei noch immer der Mann, in den ich mich verliebt hatte — oder seine Asche. Ich hatte geglaubt, mit ein bißchen Seufzen und Hoffen kämen wir irgendwie weiter. Ich hatte geglaubt, Laín Coubert sei gestorben und in die Seiten eines Buches zurückgekehrt. Wir Menschen sind fest entschlossen, alles eher zu glauben als die Wahrheit.

Der Mord an Sanmartí öffnete mir die Augen. Mir wurde klar, daß Laín Coubert noch immer lebte, verbissener denn je. Er wohnte im von den Flammen entstellten Körper des Mannes, von dem nicht einmal mehr die Stimme geblieben war, und ernährte sich von der Erinnerung. Ich entdeckte, daß er herausgefunden hatte, wie er durch ein Fenster, das auf den zentralen Lichtschacht hinausführte, in der Wohnung in der Ronda de San Antonio ein- und ausgehen konnte, ohne die Tür aufbrechen zu müssen, die ich beim Gehen jedesmal abschloß. Ich entdeckte, daß Laín Coubert alias Julián Carax die ganze Stadt durchquert hatte, um das Aldaya-Haus aufzusuchen. Ich entdeckte, daß er in seinem Wahn irgendwann zu der Krypta zurückgekehrt war und die Gräber geöffnet hatte, daß er Penélopes Sarg und den ihres Kindes herausgenommen hatte.

»Was hast du getan, Julián?«

Kurz nachdem ich den Verlag verlassen hatte, wartete eines Tages, als ich vom Einkaufen zurückkehrte, zu Hause die Polizei auf mich, um mich zum Tod von Sanmartí zu verhören. Ich wurde aufs Präsidium gebracht, wo sich nach fünf Stunden Warten in einem dunklen Büro Fumero in Schwarz einstellte und mir eine Zigarette anbot.

»Sie und ich, wir könnten doch gute Freunde sein, Señora Moliner. Meine Leute sagen mir, Ihr Mann ist nicht zu Hause.«

»Mein Mann hat mich verlassen. Ich weiß nicht, wo er ist.« Mit einer brutalen Ohrfeige warf er mich vom Stuhl. Voller Panik schleppte ich mich in eine Ecke. Ich wagte nicht aufzuschauen. Fumero kniete neben mir nieder und riß mich an den Haaren.

»Paß gut auf, du Scheißnutte: Ich werde ihn finden, und dann bring ich euch beide um. Dich zuerst, damit er dich mit heraushängenden Därmen sieht. Und dann ihn, nachdem ich ihm erzählt habe, daß die andere Hure, die er ins Grab gebracht hat, seine Schwester war.«

»Zuerst wird er dich umbringen, du Schweinehund.« Fumero spuckte mir ins Gesicht und ließ mich los. Ich dachte, jetzt werde er mich zu Tode prügeln, aber ich hörte, wie sich seine Schritte auf dem Gang entfernten. Zitternd stand ich auf und wischte mir das Blut aus dem Gesicht.Sechs Stunden wurde ich in diesem Raum festgehalten, im Dunkeln und ohne Wasser. Als man mich freiließ, war es bereits Nacht. Es goß in Strömen, und die Straßen dampften. Wieder zu Hause, fand ich mich in einem Trümmermeer. Fumeros Leute waren dagewesen. Zwischen umgestürzten Möbeln und zu Boden geworfenen Schubladen und Regalen sah ich meine in Stücke gerissenen Kleider und Juliáns zerfetzte Bücher. Auf meinem Bett lag ein Haufen Kot, und an die Wand war mit Exkrementen das Wort Hure geschmiert.Über tausend Umwege eilte ich in die Wohnung in der Ronda de San Antonio und versicherte mich, daß mir keiner von Fumeros Schergen zum Eingang in der Calle Joaquín Costa gefolgt war. Ich überquerte die vom Regen überschwemmten Dächer und stellte fest, daß die Wohnungstür nach wie vor verschlossen war. Leise trat ich ein, aber Julián war nicht da. Ich erwartete ihn im dunklen Eßzimmer sitzend, wo ich bis zum Morgen dem Gewitter zuhörte. Als der Morgennebel die Fensterläden des Balkons erreichte, ging ich aufs Dach hinauf und betrachtete die unter bleiernem Himmel erdrückte Stadt. Ich wußte, daß Julián nicht mehr hierher zurückkommen würde. Jetzt hatte ich ihn für immer verloren.Zwei Monate später sah ich ihn wieder. Ich war an einem Abend allein ins Kino gegangen, unfähig, in die leere, kalte Wohnung zurückzukehren. In der Mitte des Films, einer läppischen Liebesgeschichte zwischen einer abenteuerlustigen rumänischen Prinzessin und einem geschniegelten, gegen Verstrubbelung gefeiten amerikanischen Reporter, setzte sich jemand neben mich. Das war nicht das erste Mal. Zu jener Zeit waren die Kinos voll von Hanswursten, die nach Einsamkeit, Urin und Kölnisch Wasser stanken und mit verschwitzten, zitternden Händen fummelten. Schon wollte ich aufstehen und den Platzanweiser rufen, als ich Juliáns verunstaltetes Profil erkannte. Er umklammerte meine Hand, und so verharrten wir und schauten auf die Leinwand, ohne sie zu sehen.

»Hast du Sanmartí umgebracht?« fragte ich.

»Vermißt ihn denn jemand?« Wir unterhielten uns flüsternd, aufmerksam beobachtet von den einsamen Männern im Parkett. Ich fragte ihn, wo er sich die ganze Zeit versteckt habe, bekam aber keine Antwort.

»Es gibt noch ein Exemplar von Der Schatten des Windes«, murmelte er.

»Hier in Barcelona.«

»Du irrst dich, Julián. Du hast alle vernichtet.«

»Alle außer einem. Anscheinend hat es jemand, der schlauer ist als ich, an einem Ort versteckt, wo ich es nie finden könnte. Du.« So hörte ich ihn erstmals von dir reden. Ein großmäuliger Buchhändler namens Gustavo Barceló hatte sich vor einigen Sammlern gebrüstet, ein Exemplar von Der Schatten des Windes ausfindig gemacht zu haben. Die Welt der antiquarischen Bücher ist ein Echoraum. In knapp zwei Monaten bekam Barceló Angebote von Sammlern aus Berlin, Paris und Rom für das Buch. Juliáns rätselhafte Flucht aus Paris nach einem blutigen Duell und das Gemunkel über seinen Tod im Spanischen Bürgerkrieg hatten seinen Werken einen Wert verliehen, den sich niemand je hätte träumen lassen. Die schwarze Legende eines Mannes ohne Gesicht, der Buchhandlungen, Bibliotheken und Privatsammlungen heimsuchte, um sie abzufackeln, trug dazu bei, Interesse und Schätzwert zu vervielfachen.

»Wir haben den Zirkus im Blut«, sagte Barceló.Bald kam das Gerücht Julián zu Ohren, der weiterhin den Schatten seiner eigenen Worte verfolgte. So erfuhr er, daß Gustavo Barceló das Buch gar nicht besaß, daß es anscheinend einem Jungen gehörte, der es zufälligerweise entdeckt hatte und sich, fasziniert von dem Roman und seinem rätselhaften Autor, weigerte, es zu verkaufen, und es wie seinen Augapfel hütete.

»Um Gottes willen, Julián, du wirst doch einem Kind nicht weh tun wollen…«, flüsterte ich, nicht sehr sicher.Da sagte Julián, sämtliche Bücher, die er gestohlen und vernichtet habe, habe er Leuten weggenommen, die nichts für sie empfunden, sondern nur mit ihnen gehandelt oder sie als Kuriositäten für wurmstichige Sammler behalten hätten. Du, der du das Buch zu keinem Preis verkaufen wolltest und Carax aus den Winkeln der Vergangenheit zu retten versuchtest, flößtest ihm eine seltsame Sympathie, ja Respekt ein. Ohne daß du es wußtest, beobachtete und studierte er dich.

»Vielleicht, wenn er einmal herausfindet, wer und was ich bin, entschließt er sich ebenfalls, das Buch zu verbrennen.« Julián sprach mit dieser kategorischen Klarheit der Verrückten, die sich von der Heuchelei befreit haben, sich nach einer Wirklichkeit zu richten, die nicht stimmt.

»Wer ist denn dieser Junge?«

»Er heißt Daniel. Er ist der Sohn eines Buchhändlers in der Calle Santa Ana, den Miquel oft aufgesucht hat. Er wohnt bei seinem Vater in einer Wohnung über dem Laden und hat als kleiner Junge seine Mutter verloren.«

»Es ist, als sprichst du von dir.«

»Vielleicht. Dieser Bursche erinnert mich an mich selbst.«

»Laß ihn in Ruhe, Julián. Er ist nur ein Junge. Sein einziges Verbrechen ist, daß er dich bewundert.«

»Das ist kein Verbrechen, das ist Naivität. Aber es wird vorbeigehen. Vielleicht gibt er mir dann auch das Buch zurück — wenn er mich einmal nicht mehr bewundert und mich zu verstehen beginnt.«

Eine Minute vor Filmende stand Julián auf und schlich sich im Schutz der Dunkelheit davon. Monatelang sahen wir uns immer so, im Dunkeln, in Kinos oder in einer Gasse um Mitternacht. Er fand mich immer. Immer auf der Hut, spürte ich seine stille Anwesenheit, ohne ihn zu sehen. Manchmal sprach er über dich, und dann meinte ich aus seiner Stimme eine Art Zärtlichkeit herauszuhören, die ihn verwirrte und die ich seit vielen Jahren verloren geglaubt hatte. Ich erfuhr, daß er zum Aldaya-Haus zurückgegangen war und jetzt, halb Gespenst, halb Bettler, dort lebte, die Ruinen seines Lebens abschritt und die Gräber von Penélope und ihrer beider Kind bewachte. Das war der einzige Ort auf der Welt, den er noch als ihm gehörend empfand. Es gibt schlimmere Gefängnisse als die Worte.Einmal im Monat ging ich ebenfalls dorthin, um mich zu vergewissern, daß er wohlauf war oder wenigstens noch lebte. Ich kletterte im hinteren, von der Straße aus nicht sichtbaren Teil über die halb eingestürzte Mauer. Manchmal traf ich ihn an, manchmal war er verschwunden. Ich ließ ihm Lebensmittel, Geld, Bücher zurück… Stundenlang wartete ich auf ihn, bis es dunkel wurde. Bisweilen getraute ich mich sogar, das Haus auszukundschaften. So fand ich heraus, daß er die Gräber in der Krypta geöffnet und die Särge herausgenommen hatte. Ich dachte nicht mehr, Julián sei verrückt, und sah in dieser Schändung auch keine Ungeheuerlichkeit mehr, nur noch ein tragisches Verhängnis. Wenn er dort war, redeten wir stundenlang vor dem Kaminfeuer. Julián gestand mir, er habe wieder zu schreiben versucht, aber nicht gekonnt. Er erinnerte sich undeutlich an seine Bücher, als hätte er sie gelesen, als wären sie die Werke von jemand anderem. Ich entdeckte, daß er die in meiner Abwesenheit fieberhaft geschriebenen Seiten ins Feuer geworfen hatte. Als er einmal nicht da war, nutzte ich die Gelegenheit und rettete ein Bündel Seiten aus der Asche. Sie handelten von dir. Julián hatte einmal gesagt, ein Roman, eine Erzählung seien Briefe, die sich der Autor selbst schreibe, um sich Dinge zu erzählen, welche er anders nicht herausfinden könnte. Schon seit einiger Zeit fragte er sich, ob er den Verstand verloren hatte. Weiß der Verrückte, daß er verrückt ist? Oder sind die andern die Verrückten, diejenigen, die ihn von seiner Unvernunft zu überzeugen versuchen, um ihre schimärische Existenz zu bewahren? Julián beobachtete dich, sah dich groß werden und fragte sich, wer du seist. Er fragte sich, ob dein Dasein vielleicht einfach ein Wunder sei, eine Vergebung, die er sich verdienen mußte, indem er dich lehrte, nicht die gleichen Fehler zu begehen wie er. Mehr als einmal fragte ich mich, ob er in der verqueren Logik seines Universums nicht schließlich zu der Überzeugung gekommen war, du seist zu dem Sohn geworden, den er verloren hatte, zu einem neuen unbeschriebenen Blatt, um diese Geschichte, die er nicht erfinden konnte, noch einmal von vorn zu beginnen.So vergingen die Jahre im Aldaya-Haus, und Julián lebte immer stärker durch dich, deine Fortschritte. Er erzählte mir von deinen Freunden, von einer Frau namens Clara, in die du dich verliebt hattest, von deinem Vater, einem Mann, den er bewunderte und schätzte, von deinem Freund Fermín und einem Mädchen, in dem er eine neue Penélope sah, deiner Bea. Er sprach von dir wie von einem Sohn. Ihr habt einander gesucht, Daniel. Er glaubte, deine Unschuld würde ihn vor sich selbst retten. Er hatte aufgehört, seine Bücher zu verfolgen, hatte den Wunsch aufgegeben, seine Spur im Leben zu verbrennen und zunichte zu machen. Er lernte, die Welt durch deine Augen neu zu buchstabieren, in dir den Jungen wiederzufinden, der er gewesen war. Als du zum ersten Mal zu mir kamst, spürte ich, daß ich dich schon kannte. Ich spielte die Argwöhnische, um die Angst zu verbergen, die du mir einflößtest. Ich hatte Angst vor dir, vor dem, was du herausfinden könntest. Ich hatte Angst, Julián zuzuhören und allmählich wie er zu glauben, daß wir tatsächlich alle durch eine seltsame Kette von Schicksalen und Zufällen miteinander verbunden seien. Ich hatte Angst, in dir den verlorenen Julián zu erkennen. Ich wußte, daß du und dein Freund in unserer Vergangenheit forschtet. Ich wußte, daß du früher oder später die Wahrheit herauskriegen würdest, hoffte aber, es geschähe zu gegebener Zeit — dann, wenn du auch ihre Bedeutung verstehen könntest. Ich wußte, daß du und Julián euch irgendwann begegnen würdet. Aber es gab noch einen, der es wußte, einen, der spürte, daß du ihn mit der Zeit zu Julián führen würdest: Fumero.Erst als es kein Zurück mehr gab, begriff ich, was da vor sich ging, aber ich verlor nie die Hoffnung, du könntest die Spur verlieren, könntest uns vergessen oder das Leben, deins, nicht unseres, würde dich weit weg führen, in Sicherheit bringen. Die Zeit hat mich gelehrt, die Hoffnung nicht zu verlieren, aber auch, nicht allzusehr auf sie zu bauen. Die Hoffnung ist grausam und eitel, hat kein Gewissen. Fumero ist mir schon seit langem auf den Fersen. Er weiß, daß er mich früher oder später kriegen wird. Er hat keine Eile, darum ist er unberechenbar. Er lebt, um sich zu rächen. An allen und an sich selbst. Ohne Rache, ohne Wut würde er sich auflösen. Er weiß, daß du ihn zu Julián führen wirst. Er weiß, daß ich nach fast fünfzehn Jahren keine Kraft und keine Mittel mehr habe. Er hat mich jahrelang sterben sehen und wartet nur den geeigneten Moment ab, um mir den letzten Schlag zu versetzen. Ich habe nie daran gezweifelt, daß ich von seiner Hand sterben werde. Jetzt weiß ich, daß der Moment nahe ist. Ich werde diese Seiten meinem Vater anvertrauen, damit er sie dir weitergibt, wenn mir etwas zustößt. Ich bitte diesen Gott, dem ich nie begegnet bin, du mögest sie nie zu lesen bekommen, aber ich spüre, daß es, entgegen meinem Willen und meinen Hoffnungen, mein Schicksal ist, dir diese Geschichte zu übergeben.

Wenn du diese Worte liest, dieses Gefängnis der Erinnerungen, heißt das, daß ich mich nicht mehr von dir werde verabschieden können, wie ich es gewollt hätte, daß ich dich nicht bitten kann, uns zu verzeihen, vor allem Julián, und für ihn zu sorgen, wenn ich nicht mehr da bin, um es zu tun. Ich weiß, daß ich dich um nichts bitten darf, außer daß du dich rettest. Vielleicht haben mich all diese Seiten zur Überzeugung gebracht, daß ich, was auch geschehen möge, in dir immer einen Freund haben werde, daß du meine einzige wirkliche Hoffnung bist. Von allem, was Julián geschrieben hat, ist mir immer das am nächsten gewesen, daß wir, solange man sich unser erinnert, am Leben bleiben. So, wie es mir oft mit Julián ergangen ist, Jahre bevor ich ihm begegnete, so spüre ich, daß ich dich kenne und daß, wenn ich überhaupt jemandem vertrauen kann, du es bist. Denk an mich, Daniel, und sei es bloß im verborgenen. Laß mich nicht gehen.

Nuria Monfort

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