Kopf und Kragen 1953

1

In diesem Jahr bedeckte der Herbst Barcelona mit einer Schicht Laub, das wie Schlangenhaut durch die Straßen wirbelte. Die schon ferne Geburtstagsnacht hatte mich auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt, oder vielleicht gewährte mir auch das Leben eine Etappe ohne jugendliches Leiden, damit ich endlich reifen konnte. Ich dachte kaum noch an Clara Barceló, Julián Carax oder die gesichtslose Silhouette, die nach verbranntem Papier roch und auftrat, als wäre sie den Seiten eines Buches entsprungen. Im November hatte ich bereits einen Monat der Enthaltsamkeit hinter mir und mich kein einziges Mal der Plaza Real genähert, um einen Blick auf Clara im Fenster zu erhaschen. Das war eingestandenermaßen nicht allein mein Verdienst. In die Buchhandlung kam zunehmend Leben, und mein Vater und ich hatten mehr zu tun, als wir bewältigen konnten.

»Wenn es so weitergeht, werden wir jemanden einstellen müssen, der uns bei der Suche nach angefragten Büchern hilft«, sagte mein Vater.

»Was wir bräuchten, wäre jemand ganz Besonderes, halb Detektiv, halb Dichter, der billig ist und sich nicht von schwierigen Missionen ins Bockshorn jagen läßt.«

»Ich glaube, ich habe den passenden Kandidaten«, sagte ich.

Ich fand Fermín Romero de Torres an seinem gewohnten Ort unter den Arkaden der Calle Fernando. Der Bettler studierte eben die arg zerknitterte, einem Papierkorb entnommene Frontseite des Montagsblatts. Das Bild des Tages war den öffentlichen Bauten und dem Fortschritt gewidmet.

»Zum Teufel! Franco hat schon wieder einen Stausee eingeweiht!« hörte ich ihn rufen.

»Diese Fasch-, diese Faschingsprinzen werden uns noch alle zu einem Volk von Betschwestern und Froschlurchen machen.«

»Morgen«, sagte ich sanft.

»Erinnern Sie sich noch an mich?« Der Bettler schaute auf, und sogleich erstrahlte sein Gesicht in einem wunderbaren Lächeln.

»Was für ein Vergnügen ist es mir, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen, mein lieber Freund? Sie werden doch ein Schlückchen Kognak nicht verschmähen, nicht wahr?«

»Heute lade ich ein. Sind Sie hungrig?«

»Nun ja, einen schönen Meeresfrüchteteller würde ich nicht ablehnen, aber ich bin für alles zu haben.« Auf dem Weg zur Buchhandlung schilderte mir Fermín Romero de Torres all die Abenteuer, die er in diesen Wochen durchlebt hatte, um den staatlichen Sicherheitskräften aus dem Wege zu gehen und ganz besonders seiner persönlichen Nemesis, einem gewissen Inspektor Fumero, mit dem ihn anscheinend eine lange Reihe von Konflikten verband.

»Fumero?« fragte ich und vergegenwärtigte mir, daß das der Name des Soldaten gewesen war, der bei Kriegsausbruch im Kastell des Montjuïc Clara Barcelós Vater umgebracht hatte.Das Männchen nickte bleich. Er war ausgehungert und schmutzig und stank nach monatelangem Straßenleben. Er hatte keinerlei Vorstellung, wohin ich ihn brachte, und in seinem Blick sah ich eine wachsende Angst, die er mit unablässigem Plappern zu tarnen suchte. Beim Laden angekommen, warf er mir einen besorgten Blick zu.

»Kommen Sie, treten Sie ein. Das ist die Buchhandlung meines Vaters, dem ich Sie vorstellen möchte.« Der Bettler schrumpfte zu einem Schmutz- und Nervenbündel.

»Nein, nein, keinesfalls, ich bin nicht gesellschaftsfähig, und das ist ein Etablissement von Rang — Sie werden sich wegen mir genieren…« Mein Vater trat in die Tür, ließ rasch seinen Blick über ihn gleiten und schaute mich dann aus dem Augenwinkel an.

»Papa, das ist Fermín Romero de Torres.«

»Zu dienen«, sagte der Bettler.Mein Vater lächelte ihm heiter zu und reichte ihm die Hand. Beschämt über sein Aussehen und den Schmutz auf seiner Haut, getraute sich der Bettler nicht, sie zu drücken.

»Ich glaube…, ich glaube, es ist besser, ich gehe und lasse Sie allein«, stammelte er.Mein Vater faßte ihn sanft am Arm.

»Kommt nicht in Frage, mein Sohn hat mir gesagt, Sie gehen mit uns essen.« Verdutzt, erschrocken schaute uns der Bettler an.

»Warum gehen Sie nicht in die Wohnung hinauf und nehmen ein schönes heißes Bad?« sagte mein Vater.

»Danach spazieren wir zu Can Solé hinunter, wenn es Ihnen recht ist.« Fermín Romero de Torres stotterte etwas Unverständliches. Immer noch lächelnd, führte ihn mein Vater zur Haustür und mußte ihn von dort mehr oder weniger die Treppe zur Wohnung hinaufschleifen, während ich den Laden schloß. Mit großer Überredungskunst und heimlichem Taktieren gelang es uns, ihm seine Lumpen abzunehmen und ihn in die Badewanne zu stecken. Nackt sah er aus wie auf einem Kriegsfoto und zitterte wie ein gerupftes Huhn. An Handgelenken und Knöcheln hatte er tiefe Brandmale, und sein Oberkörper und der Rücken waren von schrecklichen Narben bedeckt, die den Augen weh taten. Mein Vater und ich wechselten einen entsetzten Blick, sagten aber nichts.Wie ein Kind ließ sich der Bettler waschen. Während ich in der Truhe frische Kleider für ihn suchte, hörte ich meinen Vater unablässig mit ihm sprechen. Ich fand einen Anzug, den er nie mehr benutzte, ein altes Hemd und etwas Unterwäsche. Von dem, was der Bettler auf dem Leibe getragen hatte, waren nicht einmal mehr die Schuhe zu gebrauchen. Ich suchte ein Paar aus, das meinem Vater zu klein war. Die Lumpen, eingeschlossen eine ledrige lange Unterhose, wickelte ich in Zeitungspapier und warf sie in die Mülltonne. Als ich ins Bad zurückkam, war mein Vater dabei, Fermín Romero de Torres in der Wanne zu rasieren. Er war blaß, roch nach Seife und war um zwanzig Jahre jünger geworden. Offensichtlich hatten sie sich schon angefreundet. Vielleicht unter der Wirkung der Badesalze war wieder Leben in Fermín Romero de Torres gekommen.

»Wissen Sie, Señor Sempere, hätte das Leben nicht gewollt, daß sich meines in der Welt der internationalen Intrige abspielte, so wären die alten Sprachen meine Herzensangelegenheit gewesen. Schon als Kind vernahm ich den Ruf des Verses und wollte Sophokles oder Vergil sein, denn die Tragödie und die toten Sprachen verursachen mir Gänsehaut, doch mein Vater, der in Frieden ruhen möge, war ein kurzsichtiger Klotz und wollte immer, daß eines seiner Kinder in die Guardia civil einträte, und keine meiner sieben Schwestern wäre in der Gendarmerie zugelassen worden, trotz des Problems der Gesichtsbehaarung, die für die Frauen meiner Familie mütterlicherseits immer kennzeichnend war. Auf seinem Totenbett ließ mich mein Vater schwören, daß ich, wenn ich es denn nicht bis zum Dreispitz brächte, allermindestens Beamter würde und jedes Bestreben, meiner Neigung zur Lyrik zu folgen, fallenließe. Ich gehöre der alten Generation an, und einem Vater, sei er auch ein Esel, hat man zu gehorchen, Sie verstehen mich. Aber trotzdem dürfen Sie nicht glauben, ich hätte in meinen Abenteurerjahren nur den Kragen riskiert und dabei den Kopf vernachlässigt. Ich habe sehr viel gelesen und könnte Ihnen auswendig Das Leben ein Traum in ausgewählten Fragmenten rezitieren.«

»So, Meister, schlüpfen Sie bitte in diese Kleider, hier zieht niemand Ihre Belesenheit in Zweifel«, sagte ich, um meinem Vater zu Hilfe zu kommen.Fermín Romero de Torres’ Blick schmolz vor Dankbarkeit. Strahlend entstieg er der Wanne. Mein Vater hüllte ihn in ein Tuch. Der Bettler lachte aus dem purem Vergnügen, den sauberen Stoff auf der Haut zu spüren. Ich half ihm in die Kleider, die ihm etliche Nummern zu groß waren. Mein Vater zog den Gürtel aus und gab ihn mir, damit ich ihn dem Bettler umschnallte.

»Sie sind ja wie aus dem Ei gepellt, nicht wahr, Daniel?« sagte mein Vater.

»Jedermann hielte Sie für einen Filmschauspieler.«

»Nicht doch, man ist nicht mehr, was man einmal war. Im Gefängnis habe ich meine herkulische Muskulatur verloren, und seither…«

»Mir jedenfalls kommen Sie vor wie Charles Boyer mit Ihrer Figur«, warf mein Vater ein.

»Und das erinnert mich daran, daß ich Ihnen etwas vorschlagen wollte.«

»Für Sie, Señor Sempere, würde ich töten, wenn es nötig wäre. Sie brauchen mir nur den Namen zu sagen, und ich bringe den Kerl ohne Schmerzen um.«

»Soviel wird nicht nötig sein. Was ich Ihnen anbieten wollte, ist eine Arbeit in der Buchhandlung. Es geht darum, für unsere Kunden seltene Bücher zu suchen. Es ist fast die Stelle eines literarischen Archäologen, der die Klassiker ebenso kennen muß wie die grundlegenden Techniken des Schwarzhandels. Ich kann Ihnen nicht viel zahlen im Moment, aber Sie werden an unserem Tisch essen und, bis wir eine gute Pension finden, Ihre Unterkunft hier bei uns haben, wenn es Ihnen recht ist.« Stumm schaute uns der Bettler beide an.

»Was meinen Sie?« fragte mein Vater.

»Schließen Sie sich dem Team an?« Ich hatte das Gefühl, Fermín Romero de Torres wollte etwas sagen, doch genau dann brach er in Tränen aus.

Von seinem ersten Lohn kaufte sich Fermín Romero de Torres einen fantasievollen Hut und ein Paar Schuhe für den Regen und bestand darauf, meinen Vater und mich zu einem Ochsenschwanzgericht einzuladen, das jeweils montags in einem Restaurant zwei Straßen von der Plaza Monumental entfernt serviert wurde. In einer Pension in der Calle Joaquín Costa hatte mein Vater ein Zimmer für ihn gefunden, wo sich dank der Freundschaft unserer Nachbarin Merceditas mit der Inhaberin die Formalität des polizeilichen Meldescheins umgehen ließ, so daß Fermín Romero de Torres nicht von Inspektor Fumero und seinen Trabanten beschnüffelt werden konnte. Manchmal kam mir das Bild der schrecklichen Narben in den Sinn, die seinen Oberkörper bedeckten. Ich fühlte mich versucht, ihn danach zu fragen, vielleicht weil ich fürchtete, Inspektor Fumero könnte etwas damit zu tun haben, aber etwas in seinem Blick sagte mir, daß ich das Thema besser nicht zur Sprache brachte. Er würde es uns eines Tages schon selbst erzählen, wenn er es für angezeigt hielte. Stets mit einem Lächeln auf den Lippen erwartete uns Fermín allmorgendlich Punkt sieben Uhr vor der Tür der Buchhandlung, bereit, zwölf oder mehr Stunden durchzuarbeiten. Er hatte eine Leidenschaft für Schokolade und Sahnerollen entwickelt, die seiner Begeisterung für die großen griechischen Tragöden durchaus die Waage hielt, wodurch er etwas zugenommen hatte. Er kämmte die Haare mit Brillantine nach hinten und ließ sich ein wie mit dem Stift gezogenes Schnurrbärtchen stehen, um mit der Mode Schritt zu halten. Dreißig Tage nachdem er unserer Badewanne entstiegen war, war der ehemalige Bettler nicht wiederzuerkennen. Aber mehr noch als mit seiner spektakulären Verwandlung verblüffte er uns recht eigentlich an der Front. Seine detektivischen Instinkte waren von chirurgischer Präzision. Er löste die ausgefallensten Bestellungen in Tagen, wenn nicht in Stunden. Kein Titel, den er nicht gekannt, keine List, die ihm nicht eingefallen wäre, um sich das Buch zu einem guten Preis zu verschaffen. In immer fiktiven Identitäten schlich er sich allein auf Grund seiner Redegewandtheit in die Privatbibliotheken von Herzoginnen der Avenida Pearson und von Liebhabern aus dem Privatklub Círculo Ecuestre ein und brachte es fertig, daß man ihm die Bücher schenkte oder für ein paar Heller verkaufte.

Die Verwandlung des Bettlers in einen vorbildlichen Bürger glich einem Wunder — eine dieser Geschichten, wie sie die Geistlichen armer Pfarreien mit Vorliebe erzählten, um die unendliche Barmherzigkeit des Herrn zu illustrieren, die aber immer zu perfekt klangen, um wahr zu sein, so wie die in den Straßenbahnen ausgehängten Haarwuchsmittelreklamen. Dreieinhalb Monate nachdem Fermín in der Buchhandlung zu arbeiten begonnen hatte, weckte uns in der Wohnung der Calle Santa Ana an einem Sonntag früh um zwei das Telefon. Es war die Inhaberin seiner Pension. Mit stockender Stimme erzählte sie uns, Señor Romero de Torres habe sich in seinem Zimmer eingeschlossen und schreie wie ein Irrer, hämmere an die Wände und schwöre, wenn jemand hereinkomme, werde er sich an Ort und Stelle mit einer zerbrochenen Flasche die Kehle durchschneiden.

»Rufen Sie bitte nicht die Polizei. Wir kommen gleich.«

Wir machten uns schleunigst auf den Weg zur Calle Joaquín Costa. Es war eine kalte Nacht mit schneidendem Wind und pechschwarzem Himmel. Eilig gingen wir an der Casa de la Misericordia und der Casa de la Piedad vorüber, ohne auf die Blicke und das Gezischel zu achten, das uns aus dunklen, nach Mist und Kohle riechenden Portalen entgegenkam. Wir gelangten an die Ecke zur Calle Ferlandina. Wie eine Schlucht führte die Calle Joaquín Costa ins Raval hinunter. Der ältere Sohn der Pensionsinhaberin erwartete uns auf der Straße.

»Haben Sie die Polizei gerufen?« fragte mein Vater.

»Noch nicht.« Wir rannten die Treppen hinauf. Die Pension befand sich im zweiten Stock, und die Treppe war eine Schmutzspirale, die man im ockerfarbenen Glimmen nackter, an einem Kabel hängender Glühbirnen kaum erahnen konnte. Doña Encarna, Witwe eines Korporals der Guardia civil und Inhaberin der Pension, empfing uns am Eingang der Wohnung in einem himmelblauen Morgenrock, den Kopf voller dazu passender Lockenwickler.

»Schauen Sie, Señor Sempere, das ist ein anständiges, erstklassiges Haus. Ich habe mehr als genug Angebote, um solche Jammergestalten nicht tolerieren zu müssen«, sagte sie, während sie uns durch einen finsteren, nach Feuchtigkeit und Ammoniak miefenden Gang führte.

»Das verstehe ich«, murmelte mein Vater.

Fermín Romero de Torres’ Schreie am Ende des Gangs durchbohrten die Wände. Aus den halboffenen Türen schauten mehrere eingefallene, verängstigte Gesichter, Pensions- und Wassersuppengesichter.

»Marsch, die andern ab ins Bett, verdammt, das ist doch keine Molino-Revue«, rief Doña Encarna zornig.Vor der Tür von Fermíns Zimmer blieben wir stehen. Mein Vater klopfte leise an.

»Fermín? Sind Sie da? Ich bin’s, Sempere.« Das durch die Wand dringende Geheul ließ mir die Haare zu Berge stehen. Sogar Doña Encarna verlor ihre gouvernantenhafte Würde und legte beide Hände auf das unter ihrem üppigen Busen verschanzte Herz.Mein Vater rief noch einmal.

»Fermín? Na los, machen Sie auf.« Fermín heulte abermals, rannte gegen die Wände und schrie sich mit Obszönitäten die Seele aus dem Leib. Mein Vater seufzte.

»Haben Sie einen Schlüssel zu diesem Zimmer?«

»Aber selbstverständlich.«

»Geben Sie ihn mir.« Doña Encarna zögerte. Die andern Mieter waren wieder auf den Gang herausgetreten, schreckensbleich. Diese Schreie mußten selbst im Generalkapitanat zu hören sein.

»Und du, Daniel, lauf zu Dr. Baró und bring ihn her, er wohnt gleich nebenan, in der Calle Riera Alta 12.«

»Hören Sie, wäre es nicht besser, einen Pfarrer zu rufen? Für mich tönt das nach einem Besessenen«, meinte Doña Encarna.

»Nein. Mit einem Arzt geht es bestens. Los, Daniel, lauf. Und geben Sie mir bitte diesen Schlüssel.«

Dr. Baró war ein eingefleischter Junggeselle, der in seinen schlaflosen Nächten zur Bekämpfung der Langeweile Zola las und Stereogramme leicht bekleideter junger Damen betrachtete. Er war Stammkunde im Laden meines Vaters, und obwohl er sich selbst als zweitrangigen Quacksalber bezeichnete, traf er mit seinen Diagnosen öfter ins Schwarze als die Hälfte der piekfeinen Ärzte mit Praxis in der Calle Muntaner. Seine Kundschaft bestand großenteils aus alten Nutten des Viertels und armen Teufeln, die ihm kaum das Honorar zahlen konnten, aber trotzdem von ihm behandelt wurden. Mehr als einmal hatte ich ihn sagen hören, die Welt sei ein Nachtgeschirr und er warte bloß darauf, daß Barça endlich einmal die verdammte Liga gewinne, damit er in Frieden sterben könne. Im Hausmantel, mit einer Weinfahne und einer erloschenen Zigarette zwischen den Lippen öffnete er mir die Tür.

»Daniel?«

»Mein Vater schickt mich. Es handelt sich um einen Notfall.«

Wieder in der Pension, sahen wir Doña Encarna vor lauter Schrecken schluchzen; die übrigen Mieter waren bleich wie Altarkerzen, und in einer Ecke seines Zimmers hielt mein Vater Fermín Romero de Torres in den Armen. Fermín war nackt, weinte und zitterte vor Angst. Das Zimmer war verwüstet, die Wände mit Blut oder Exkrementen beschmiert. Dr. Baró warf einen raschen Blick auf die Situation und bedeutete meinem Vater mit einer Handbewegung, Fermín müsse aufs Bett gelegt werden. Doña Encarnas Sohn, der Boxer werden wollte, ging ihnen zur Hand. Fermín wimmerte und wand sich in Zuckungen, als verbrennten ihm die Eingeweide.

»Aber was hat denn dieser arme Mann, um Gottes willen? Was hat er bloß?« klagte Doña Encarna kopfschüttelnd in der Tür.

Der Arzt fühlte ihm den Puls, untersuchte mit einer Taschenlampe seine Pupillen und bereitete wortlos aus einem Fläschchen seines Koffers eine Spritze vor.

»Halten Sie ihn fest. Das wird ihn zum Schlafen bringen. Daniel, hilf uns.«

Zu viert machten wir Fermín bewegungsunfähig, den es heftig durchzuckte, als er den Nadelstich im Schenkel spürte. Seine Muskeln strafften sich wie Stahlseile, aber innerhalb weniger Sekunden trübten sich die Augen, und sein Körper fiel regungslos zurück.

»Hören Sie, passen Sie auf, dieser Mann ist ein Nichts, und je nachdem, was Sie ihm geben, bringen Sie ihn um«, sagte Doña Encarna.

»Keine Angst. Er schläft bloß«, antwortete der Arzt und untersuchte die Narben auf Fermíns hagerem Körper.

Ich sah ihn schweigend den Kopf schütteln.

»Fills de puta, diese Dreckskerle«, murmelte er.

»Woher stammen diese Narben?« fragte ich.

»Schnitte?«

Dr. Baró schüttelte den Kopf, ohne aufzuschauen. Unter den Trümmern suchte er eine Decke und legte sie auf den Patienten.

»Verbrennungen. Der Mann ist gefoltert worden. Solche Brandmale verursacht ein Lötkolben.« Fermín schlief zwei ganze Tage. Beim Erwachen erinnerte er sich an nichts, außer daß er glaubte, in einer dunklen Zelle aufgewacht zu sein. Er schämte sich so sehr über sein Benehmen, daß er vor Doña Encarna auf die Knie ging und sie um Verzeihung bat. Er schwor ihr, die Pension frisch zu streichen und, da er wußte, daß sie sehr fromm war, in der Belén-Kirche zehn Messen für sie lesen zu lassen.

»Was Sie tun müssen, ist gesund werden und mir nicht wieder einen solchen Schrecken einjagen, dafür bin ich zu alt.« Mein Vater kam für die Schäden auf und bat Doña Encarna, Fermín noch einmal eine Chance zu geben. Sie willigte gern ein. Die meisten ihrer Mieter waren Ausgestoßene, Leute, die allein auf der Welt waren wie sie selbst. Als der Schrecken vorbei war, gewann sie Fermín noch lieber und nahm ihm das Versprechen ab, die Pillen zu schlucken, die ihm Dr. Baró verschrieben hatte.

»Für Sie, Doña Encarna, verschlucke ich einen Ziegelstein, wenn es sein muß.« Mit der Zeit gaben wir alle vor, den Zwischenfall vergessen zu haben, aber nie wieder nahm ich die Geschichten über Inspektor Fumero auf die leichte Schulter. Um Fermín Romero de Torres nach dieser Episode nicht allein zu lassen, luden wir ihn fast jeden Sonntag zum Nachmittagsimbiß ins Café Novedades ein. Danach spazierten wir zum Kino Fémina an der Ecke Diputación/Paseo de Gracia hinauf. Einer der Platzanweiser war mit meinem Vater befreundet und ließ uns während der Filmwochenschau durch den Notausgang ins Parterre hinein, immer in dem Augenblick, in dem der Generalissimus zur Einweihung eines neuen Stausees das Band durchschnitt, was Fermín Romero de Torres auf die Nerven ging.

»So eine Schande«, sagte er empört.

»Gehen Sie nicht gern ins Kino, Fermín?«

»Im Vertrauen gesagt, mich läßt diese siebte Kunst völlig kalt. Meiner Meinung nach ist das nichts weiter als Nahrung zur Verdummung der verrohten Plebs, schlimmer als Fußball oder Stierkämpfe. Der Cinematograph ist entstanden als eine Erfindung zur Unterhaltung der analphabetischen Massen, und fünfzig Jahre später hat sich daran nichts geändert.« Mit dem Tag, an dem Fermín Romero de Torres Carole Lombard entdeckte, schmolzen diese ganzen Vorbehalte dahin.

»Was für ein Busen, Jesus, Maria und Josef, was für ein Busen!« rief er wie besessen mitten in der Vorstellung.

»Das sind keine Brüste, das sind zwei Karavellen!«

»Halten Sie den Mund, Sie Ferkel, oder ich rufe auf der Stelle den Geschäftsführer«, zischte eine Stimme zwei Reihen hinter uns.

»Unerhört, so ein schamloser Kerl. Was für ein Land von Schweinen.«

»Sie sprechen besser leiser, Fermín«, riet ich.Fermín Romero de Torres hörte mich nicht. Er war dem sanften Wogen dieses mirakulösen Ausschnitts verfallen, mit verzücktem Lächeln und technicolorbesprenkelten Augen. Als wir später durch den Paseo de Gracia zurückspazierten, stellte ich fest, daß unser bibliographischer Detektiv immer noch wie in Trance war.

»Ich glaube, wir werden Ihnen eine Frau suchen müssen«, sagte ich.

»Eine Frau wird Ihr Leben verschönern, Sie werden schon sehen.« Fermín Romero de Torres seufzte, sein Geist spulte noch einmal die Wonnen des Wogens ab.

»Reden Sie aus Erfahrung, Daniel?« fragte er unschuldig.Ich lächelte nur, weil ich wußte, daß mich mein Vater schräg ansah.Nach diesem Tag ging Fermín Romero de Torres mit Vergnügen jeden Sonntag mit mir ins Kino. Mein Vater blieb lieber zu Hause, um zu lesen, aber Fermín ließ keine Vorstellung aus. Er kaufte einen Berg Schokoladenplätzchen und setzte sich in Reihe siebzehn, um sie zu verschlingen und auf den Starauftritt der jeweiligen Diva zu warten. Der Plot war ihm vollkommen egal, und er sprach unablässig, bis eine Dame mit ansehnlichen Attributen die Leinwand ausfüllte.

»Ich habe darüber nachgedacht, was Sie neulich gesagt haben, von wegen eine Frau für mich suchen«, sagte er.

»Vielleicht haben Sie recht. In der Pension gibt es einen neuen Mieter, einen ehemaligen Absolventen des Priesterseminars in Sevilla, sehr geistreich, und der bringt ab und zu imponierende Bienen mit nach Hause. Unglaublich, wie sich die Sippe verbessert hat. Ich weiß auch nicht, wie er es anstellt, denn viel macht der Junge nicht her, aber womöglich betäubt er sie mit Vaterunsern. Da sein Zimmer gleich nebenan liegt, höre ich alles, und nach dem zu schließen, was man mitkriegt, muß der Mönch ein Künstler sein. Was doch eine Uniform ausmacht. Wie gefallen denn Ihnen die Frauen, Daniel?«

»Ich verstehe nicht viel von Frauen, ehrlich gesagt.«

»Wirklich verstehen tut keiner was, nicht einmal Freud, nicht einmal sie selber, aber das ist wie bei der Elektrizität, man braucht nicht zu wissen, wie sie funktioniert, um eine gewischt zu kriegen. Na los, erzählen Sie schon. Wie gefallen sie Ihnen denn? Es sei mir verziehen, aber für mich muß eine Frau die Figur eines Vollblutweibes haben, damit man etwas zwischen die Finger kriegt, aber Sie sehen aus, als gefielen Ihnen die Mageren, und das ist ein Gesichtspunkt, den ich durchaus respektiere, nicht wahr, verstehen Sie mich nicht falsch.«

»Wenn ich aufrichtig sein soll, habe ich nicht viel Erfahrung mit Frauen. Eigentlich gar keine.« Fermín Romero de Torres schaute mich aufmerksam an, neugierig geworden angesichts dieser Offenbarung von Askese.

»Ich dachte, die Geschichte in jener Nacht, Sie wissen schon, der Keulenschlag…«

»Wenn alles so schmerzte wie eine Ohrfeige…« Fermín schien meine Gedanken zu lesen und lächelte solidarisch.

»Schauen Sie, ich will Sie nicht kränken, aber das Beste an den Frauen ist, sie zu entdecken. Nichts ist wie das erste Mal. Man weiß nicht, was das Leben ist, bis man zum ersten Mal eine Frau auszieht. Knopf um Knopf, als schälten Sie in einer Winternacht eine siedend heiße Kartoffel. Ahhh…« Wenige Sekunden später erschien Veronica Lake auf der Bildfläche, und Fermín geriet in eine andere Dimension. In einer Sequenz, wo sie Pause hatte, kündigte er an, er werde dem Stand mit Naschereien in der Eingangshalle einen Besuch abstatten, um seine Bestände aufzufüllen. Nach Monaten des Hungerleidens hatte mein Freund jeden Sinn fürs Maß verloren, doch da er ein guter Verbrenner war, schaffte er es trotzdem nicht, seine ausgemergelte Figur loszuwerden. Ich blieb allein, verfolgte das Geschehen auf der Leinwand aber kaum. Ich würde lügen, wenn ich sagte, ich hätte an Clara gedacht. Ich dachte nur an ihren Körper, der unter den Stößen des Musiklehrers zitterte und vor Schweiß und Lust glänzte. Mein Blick glitt von der Leinwand ab, und erst jetzt bemerkte ich den Zuschauer, der eben hereingekommen war. Ich sah seine Silhouette zur Mitte des Parketts gehen, sechs Reihen weiter vorn, und dort Platz nehmen. Die Kinos sind voll von einsamen Menschen, dachte ich. Wie ich.Ich versuchte, mich zu konzentrieren und den Handlungsfaden wiederzufinden. Der Verehrer, ein zynischer, aber gutherziger Detektiv, erklärte einer Nebenfigur, warum Frauen wie Veronica Lake das Verderben jedes richtigen Mannes seien und warum es trotzdem keine andere Möglichkeit gebe, als sie verzweifelt zu lieben und an ihrer Treulosigkeit zugrunde zu gehen. Fermín Romero de Torres, der allmählich zu einem sachkundigen Kritiker wurde, bezeichnete diese Art Geschichten als Märchen von der Gottesanbeterin. Seiner Meinung nach waren das nur frauenfeindliche Fantasien für Büroangestellte mit Verstopfungsproblemen und vor Langeweile verwelkte Frömmlerinnen, die davon träumten, sich ins Laster zu stürzen und das Leben einer verdorbenen Hure zu führen. Ich lächelte, als ich mir die Anmerkungen vorstellte, die mein Kritikerfreund von sich gegeben hätte, wäre er nicht zum Naschwerkstand gegangen. In weniger als einer Sekunde gefror mir das Lächeln. Der sechs Reihen weiter vorn sitzende Zuschauer hatte sich umgedreht und starrte mich an. Das Lichtbündel des Projektors bohrte sich durch das Dunkel im Saal, ein Anflug von flackerndem Licht, das gerade eben bunte Linien und Flecken zeichnete. Sogleich erkannte ich den Mann ohne Gesicht, Coubert. Sein lidloser Blick glänzte stählern. Im Dunkeln war sein lippenlos tückisches Lächeln zu ahnen. Ich spürte, wie sich mir kalte Finger ums Herz schlossen. Auf der Leinwand brüllte ein Posaunenchor los, es wurde geschossen und geschrien, dann wurde die Szene ausgeblendet. Für einen Augenblick versank das Parkett in vollkommene Dunkelheit, und ich hörte nichts als die Pulsschläge, die mir in den Schläfen hämmerten. Langsam wurde auf der Leinwand eine neue Szene hell, so daß sich die Schwärze des Saals in Schwaden blauen und purpurroten Halbdunkels auflöste. Der Mann ohne Gesicht war verschwunden. Ich wandte mich um und sah, wie sich eine Silhouette durch den Parterregang entfernte und Fermín Romero de Torres kreuzte, der von seinem Süßigkeitenfeldzug zurückkam. Er drängte sich in die Reihe herein und setzte sich wieder in seinen Sessel. Dann reichte er mir ein Schokoladenplätzchen und schaute mich ein wenig irritiert an.

»Daniel, Sie sind ja weiß wie ein Nonnenhintern. Geht es Ihnen nicht gut?« Ein Luftzug wischte durchs Parkett.

»Es riecht merkwürdig«, bemerkte Fermín Romero de Torres.

»Wie nach ranzigem Notarsfurz.«

»Nein. Es riecht nach verbranntem Papier.«

»Kommen Sie, nehmen Sie ein Lutschbonbon, das kuriert alles.«

»Ich mag nicht.«

»Dann behalten Sie es eben, man weiß nie, wann einem ein Lutschbonbon aus der Patsche helfen kann.« Ich steckte es in die Jackettasche und ließ mich durch den Rest des Films treiben, ohne Veronica Lake oder den Opfern ihrer fatalen Reize Beachtung zu schenken. Fermín Romero de Torres war im Film und in seinen Schokoladenplätzchen aufgegangen. Als nach der Vorstellung das Licht anging, glaubte ich aus einem schlechten Traum zu erwachen und hätte die Erscheinung dieses Mannes im Parkett am liebsten als Sinnestäuschung, als Trick der Erinnerung betrachtet, doch sein kurzer Blick im Dunkeln hatte genügt, um mir seine Botschaft zuzutragen. Er hatte weder mich noch unser Gespräch vergessen.

2

Die erste Auswirkung von Fermíns Erscheinen war bald zu spüren: Ich hatte viel mehr Freizeit. Wenn er nicht gerade einem exotischen Band nachjagte, um einen Kundenwunsch zu befriedigen, ordnete er die Ladenbestände neu ein, ersann Werbestrategien fürs Viertel, brachte Ladenschild und Schaufensterscheiben auf Hochglanz oder polierte mit einem Lappen und Alkohol die Buchrücken. Unter diesen Gegebenheiten beschloß ich, meine Mußezeit auf zwei in letzter Zeit vernachlässigte Dinge zu verwenden: dem Rätsel Carax weiter nachzuspüren und, vor allem, nach Möglichkeit mehr Zeit mit meinem Freund Tomás Aguilar zu verbringen, den ich vermißte.

Tomás war ein nachdenklicher, zurückhaltender Junge, der wegen seines ernsten, ja bedrohlichen Raufboldaussehens gefürchtet war. Er hatte den Körper eines Ringers, Gladiatorenschultern und einen harten, durchdringenden Blick. Wir hatten uns viele Jahre zuvor während meiner ersten Woche in der Jesuitenschule der Calle Caspe bei einer Keilerei kennengelernt. Nach Schulschluß hatte ihn sein Vater abgeholt, begleitet von einem hochnäsigen Mädchen, das sich als Tomás’ Schwester herausstellte. Ich hatte die unglückliche Idee, dumm über sie zu witzeln, und noch bevor ich mit der Wimper zucken konnte, stürzte sich Tomás Aguilar wie ein Platzregen aus Faustschlägen auf mich, die mich noch wochenlang schmerzten. Er war doppelt so stark und so wild wie ich. Umringt von einer Gruppe blutrünstiger Jungen, verlor ich bei diesem Pausenhofduell einen Zahn und gewann einen neuen Sinn für Größenverhältnisse. Meinem Vater und den Geistlichen mochte ich nicht sagen, wer mich dermaßen zugerichtet hatte, noch ihnen erklären, daß der Vater meines Gegners die Keilerei nicht nur verfolgt, sondern, befriedigt über das Schauspiel, ihr gemeinsam mit den andern Schülern sogar begeistert applaudiert hatte.

»Es war meine Schuld«, sagte ich, um das Thema zu begraben.Drei Wochen später kam Tomás in einer Pause auf mich zu. Ich war halb tot vor Angst und wie gelähmt. Der will mir den Rest geben, dachte ich. Er begann zu stammeln, und nach kurzer Zeit begriff ich, daß er nichts anderes im Sinn hatte, als sich für die Prügel zu entschuldigen, da er wisse, daß es ein ungleicher, ungerechter Kampf gewesen sei.

»Ich bin es, der sich zu entschuldigen hat, ich habe ja deine Schwester gehänselt«, sagte ich.

»Ich hätte es schon damals getan, aber du hast mir die Hucke voll gehauen, bevor ich reden konnte.« Beschämt senkte Tomás die Augen. Ich schaute diesen schüchternen, schweigsamen Riesen an, der durch die Schulzimmer und Gänge irrte wie eine herrenlose Seele. Alle andern Jungen — und ich als erster — fürchteten ihn, und keiner sprach oder wechselte einen Blick mit ihm. Mit gesenkten Augen fragte er mich, ob ich sein Freund sein wolle. Ich bejahte. Er reichte mir die Hand, und ich ergriff sie. Sein Druck schmerzte, aber ich beherrschte mich. Noch am selben Nachmittag lud er mich zum Imbiß bei sich ein und zeigte mir seine Sammlung seltsamer Geräte aus Apparateteilen und Alteisen, die er in seinem Zimmer verwahrte.

»Die habe ich gemacht«, erklärte er stolz.Ich war unfähig, zu begreifen, was sie waren oder darstellten, aber ich schwieg und nickte staunend. Ich hatte das Gefühl, dieser hoch aufgeschossene Einzelgänger hatte sich seine eigenen Freunde aus Blech gebaut und ich war der erste, dem er sie zeigte. Es war sein Geheimnis. Ich erzählte ihm von meiner Mutter und wie sehr ich sie vermißte. Als meine Stimme unhörbar wurde, umarmte er mich schweigend. Wir waren zehn Jahre alt. Von diesem Tag an wurde er mein bester und ich sein einziger Freund.Trotz seines kriegerischen Äußeren war er ein friedfertiger Mensch, dem sein Aussehen jegliche Konfrontation ersparte. Er stotterte ziemlich stark, vor allem wenn er mit Leuten sprach, die nicht seine Mutter, seine Schwester oder ich waren, was er fast nie tat. Er war fasziniert von verrückten Erfindungen und mechanischen Vorrichtungen, und bald entdeckte ich, daß er Gerätschaften aller Art, vom Grammophonapparat bis zur Addiermaschine, in ihre Einzelteile zerlegte, um ihre Geheimnisse zu ergründen. Wenn er nicht mit mir zusammen war oder für seinen Vater arbeitete, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Zimmer beim Basteln. Was er an Intelligenz zuviel hatte, fehlte ihm an Sinn fürs Praktische. Sein Interesse an der realen Welt konzentrierte sich auf Aspekte wie die Synchronisierung der Ampeln auf der Gran Vía, die Geheimnisse des illuminierten Brunnens am Fuß des Montjuïc oder die Automaten im Vergnügungspark auf dem Tibidabo.Jeden Nachmittag arbeitete er im Büro seines Vaters, und manchmal kam er nach Feierabend in der Buchhandlung vorbei. Mein Vater erkundigte sich immer nach seinen Erfindungen und schenkte ihm Handbücher der Mechanik oder Biographien von Ingenieuren wie Eiffel und Edison, die Tomás vergötterte. Mit den Jahren hatte er große Zuneigung zu meinem Vater gefaßt und erfand für ihn aus Teilen eines alten Ventilators ein automatisches System zur Archivierung bibliographischer Karteikarten. Seit vier Jahren arbeitete er an dem Projekt, aber mein Vater zeigte noch immer Begeisterung für dessen Fortschritte, damit Tomás den Mut nicht verlöre. Anfänglich hatte ich mich nicht ohne Sorge gefragt, wie Fermín auf meinen Freund reagieren würde.

»Sie sind bestimmt Daniels Erfinderfreund. Hoch erfreut, Sie kennenzulernen. Fermín Romero de Torres, bibliographischer Berater der Buchhandlung Sempere, zu dienen.«

»Tomás Aguilar«, stotterte mein Freund lächelnd und drückte Fermíns Hand.

»Vorsicht, was Sie da haben, ist keine Hand, sondern eine hydraulische Presse, und für meine Arbeit im Unternehmen muß ich mir meine Violinistenfinger bewahren.« Unter Entschuldigungen gab ihn Tomás frei.

»Ach, übrigens, was halten Sie vom Fermatschen Prinzip?« fragte Fermín und rieb sich die Finger.Sogleich verwickelten sie sich in eine unverständliche Diskussion über höhere Mathematik, die mir wie Chinesisch vorkam. Fermín siezte ihn immer oder nannte ihn Doktor und überhörte geflissentlich sein Stottern. Um sich für Fermíns unendliche Geduld mit ihm erkenntlich zu zeigen, brachte ihm Tomás schachtelweise Schweizer Schokoladenplätzchen, deren Verpackung mit Fotos von unglaublich blauen Seen, Kühen auf technicolorgrünen Wiesen und Kuckucksuhren geschmückt war.

»Ihr Freund Tomás hat Talent, aber es fehlt ihm eine Richtung im Leben und ein wenig Chuzpe, damit macht man Karriere«, meinte Fermín Romero de Torres.

»Der wissenschaftliche Geist hat das so an sich. Schauen Sie doch bloß Albert Einstein. So viele Wunderdinge hat er erkannt, und das erste, für das man eine praktische Verwendung hat, ist die Atombombe, und auch noch ohne seine Einwilligung. Und mit dieser Boxervisage, die Tomás hat, wird man es ihm in akademischen Kreisen sehr schwer machen — was in diesem Dasein den Ausschlag gibt, ist allein der Schein.« Da er Tomás vor Not und Unverständnis bewahren wollte, hatte Fermín beschlossen, man müsse seine latente Redekunst und Geselligkeit schulen.

»Als guter Affe ist der Mensch ein soziales Wesen, und als wesentliche Norm ethischen Verhaltens zeichnen ihn Vetternwirtschaft, Nepotismus, Schwindel und Klatsch aus«, argumentierte er.

»Reine Biologie.«

»So schlimm wird es ja wohl nicht sein.«

»Was für ein Simpel Sie manchmal sein können, Daniel.« Das Aussehen eines harten Kerls hatte Tomás von seinem Vater geerbt, einem erfolgreichen Grundstücksverwalter, dessen Büro in der Calle Pelayo neben dem Warenhaus El Siglo lag. Señor Aguilar gehörte der privilegierten Menschengruppe an, die immer recht hat. Ein Mann von tiefen Überzeugungen, war er sich unter anderem sicher, daß sein Sohn eine verzagte Seele und ein Geistesschwacher war. Um solch schmähliche Behinderungen auszugleichen, nahm er die verschiedensten Privatlehrer in Dienst, die seinen Erstgeborenen auf Gleichmaß bringen sollten.

»Sie haben meinen Sohn zu behandeln, als wäre er ein Dummkopf, ist das klar?« hatte ich ihn oft sagen hören. Die Lehrer versuchten es auf alle erdenklichen Weisen, selbst mit inständigem Bitten, doch Tomás pflegte ausschließlich Lateinisch mit ihnen zu sprechen, eine Sprache, die er so fließend wie der Papst und ohne zu stottern beherrschte. Über kurz oder lang legten die Hauslehrer ihr Amt nieder, aus Verzweiflung und weil sie fürchteten, der Junge sei besessen und behexe sie auf aramäisch mit Teufelsparolen. Señor Aguilars einzige Hoffnung war der Militärdienst, der aus seinem Sohn einen rechtschaffenen Menschen machen sollte.Tomás hatte eine Schwester, die um ein Jahr älter war als wir, Beatriz. Ihr hatte ich unsere Freundschaft zu verdanken, denn hätte ich an jenem weit zurückliegenden Nachmittag nicht gesehen, wie sie an der Hand ihres Vaters auf den Schulschluß wartete, so hätte ich mich nicht über sie lustig gemacht, mein Freund hätte mir nie eine Abreibung verpaßt, und er hätte niemals den Mut gehabt, mich anzusprechen. Bea Aguilar war das lebendige Abbild ihrer Mutter und der Augapfel ihres Vaters. Rothaarig und totenblaß, steckte sie immer in sündhaft teuren Seiden- oder luftigen Wollkleidern. Sie hatte die Figur eines Mannequins und schritt kerzengerade einher, selbstgefällig und wie die Prinzessin ihres eigenen Märchens. Ihre Augen waren grünblau, aber sie betonte immer wieder, sie seien smaragd- und saphirfarben. Obwohl — oder vielleicht gerade weil — sie Jahre bei den Theresianerinnen verbracht hatte, trank sie hinter dem Rücken ihres Vaters Anis im hohen Stielglas, trug Seidenstrümpfe der Marke La Perla Gris und schminkte sich wie die Filmvamps, die meinen Freund Fermín um den Schlaf brachten. Ich konnte sie nicht ausstehen, und sie erwiderte meine offene Feindseligkeit mit verächtlichen Blicken. Sie hatte einen Freund, der als Leutnant in Murcia Militärdienst leistete, einen herausgeputzten Falangisten namens Pablo Cascos Buendía, Sproß einer uralten Familie, die an den galicischen Rias zahllose Werften besaß. Leutnant Cascos Buendía, welcher dank eines in der Militärregierung sitzenden Onkels sein halbes Leben in Urlaub war, gab immer Sermone über die genetische und geistige Überlegenheit der spanischen Rasse und den unmittelbar bevorstehenden Verfall des bolschewistischen Reichs von sich.

»Marx ist tot«, sagte er feierlich.

»Genau seit dem Jahr 1883«, sagte ich.

»Halt bloß das Maul, du elender Wicht, sonst kriegst du eine geschmiert, daß du in der Rioja landest.« Mehr als einmal hatte ich Bea dabei ertappt, wie sie bei sich die Einfältigkeiten belächelte, die ihr Leutnantfreund zum besten gab. Dann blickte sie auf und betrachtete mich undurchdringlich. Ich lächelte ihr mit der matten Herzlichkeit von Feinden in unbestimmter Waffenruhe zu, schaute aber gleich wieder weg. Eher wäre ich gestorben, als es zuzugeben, aber im Grunde meines Wesens hatte ich Angst vor ihr.

3

Zu Beginn dieses Jahres beschlossen Tomás und Fermín Romero de Torres, ihre jeweilige Erfindungsgabe in einem neuen Projekt zu verschmelzen, das meinen Freund und mich ihrer Meinung nach vom Militärdienst befreien sollte. Besonders Fermín teilte Señor Aguilars Begeisterung für die Felderfahrung gar nicht.

»Der Militärdienst ist einzig dazu gut, den Anteil von Kaffern in der Bevölkerung auszumachen«, war seine Meinung.

»Und der läßt sich in den beiden ersten Wochen feststellen, dazu braucht es nicht zwei Jahre. Armee, Ehe, Kirche und Bankwesen: die vier apokalyptischen Reiter. Ja, ja, lachen Sie nur.«

An einem Oktoberabend, als wir im Laden Besuch von einer alten Freundin bekamen, sollte Fermín Romero de Torres’ anarchistisches Denken ins Wanken geraten. Mein Vater war nach Argentona gefahren, um den Wert einer Büchersammlung zu bestimmen, und würde erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehren. Ich bediente im Laden die Kundschaft, während Fermín mit seinen gewohnten Seiltänzerkunststücken die Leiter hochgeklettert war und knapp eine Handbreit unter der Decke das oberste Buchregal ordnete. Kurz vor Ladenschluß, als die Sonne schon untergegangen war, sah ich hinter dem Ladentisch hervor die Gestalt der Bernarda vor dem Schaufenster. Sie war donnerstäglich gekleidet, da es ihr freier Tag war, und winkte mir zu. Bei ihrem bloßen Anblick leuchtete mir das Herz, und ich bedeutete ihr hereinzukommen.

»Oh, wie groß Sie geworden sind!« sagte sie auf der Schwelle.

»Man erkennt Sie kaum wieder… Sie sind ja schon ein Mann!«

Sie umarmte mich, verdrückte einige Tränchen und tätschelte mir Kopf, Schultern und Gesicht, um zu sehen, ob ich in ihrer Abwesenheit nicht zerbrochen sei.

»Sie werden vermißt bei uns, junger Herr«, sagte sie und senkte den Blick.

»Und ich habe dich vermißt, Bernarda. Komm, gib mir einen Kuß.« Sie küßte mich schüchtern, und ich drückte ihr zwei schmatzende Küsse auf jede Wange. Sie lachte. Ihren Augen sah ich an, daß sie eine Frage nach Clara erwartete, aber ich hatte nicht vor, sie zu stellen.

»Du bist sehr hübsch heute, und sehr elegant. Was führt dich zu uns?«

»Nun, eigentlich wollte ich Sie schon lange aufsuchen, aber Sie wissen ja, wie das so ist, und unsereins hat viel zu tun — Señor Barceló ist zwar sehr gelehrt, aber er ist wie ein Kind, und da muß man eben mit beiden Händen zupacken. Aber was mich herführt, nun, morgen hat meine Nichte Geburtstag, die in San Adrián, und ich möchte ihr ein Geschenk mitbringen. Ich habe gedacht, ich schenke ihr ein gutes Buch, mit viel Text und wenig Bildern, aber ich bin ja schwer von Begriff und verstehe nichts von…« Bevor ich antworten konnte, erzitterte der Laden mit großem Getöse, als aus der Höhe einige Bände von Blasco Ibáñez’ gesammelten Werken in die Tiefe sausten. Erschrocken schauten die Bernarda und ich hinauf. Wie ein Äffchen glitt Fermín die Leiter herab, ein listiges Lächeln im Gesicht, die Augen voll lüsterner Wonne.

»Bernarda, das ist…«

»Fermín Romero de Torres, bibliographischer Berater von Sempere und Sohn, mit untertänigster Empfehlung, Señora«, verkündete er, während er Bernardas Hand ergriff und nach allen Regeln der Kunst küßte.In Sekundenschnelle verfärbte sie sich zum Tomatenpaprika.

»Oh, Sie irren sich, ich und eine Señora…«

»Zum wenigsten Marquise«, unterbrach sie Fermín.

»Und ich muß es ja wissen, da ich die elegantesten Häuser der Avenida Pearson betrete. Erweisen Sie mir die Ehre, Sie zu unserer Abteilung Klassiker für Jugendliche und Kinder zu geleiten, wo ich wie von Gott gefügt ein Kompendium mit dem Besten von Emilio Salgari und die epische Erzählung Sandokar erblicke.«

»Ach, ich weiß nicht recht, Heiligengeschichten — da habe ich Bedenken, weil doch der Vater des Kindes ganz im Arbeiterbund aufgegangen ist, verstehen Sie?«

»Seien Sie unbesorgt, hier habe ich nichts weniger als Die geheimnisvolle Insel von Jules Verne, eine hochabenteuerliche Erzählung von großem erzieherischem Gehalt, von wegen der technologischen Fortschritte.«

»Wenn Sie meinen…« Schweigend folgte ich ihnen und stellte fest, daß sich Fermín vollkommen in sie vergafft hatte und die Bernarda über die Aufmerksamkeiten dieses Männchens staunte, das aussah wie eine billige Zigarre, das Mundwerk eines Schaustellers hatte und sie mit einem Feuer anschaute, das er sonst nur für Nestlé-Schokoladenpralinen aufbrachte.

»Und Sie, Señorito Daniel, was meinen Sie?«

»Señor Romero de Torres ist der Fachmann, du kannst dich ganz auf ihn verlassen.«

»Dann nehme ich also das von der Insel, wenn Sie es mir einpacken wollen. Was macht das?«

»Das geht auf Rechnung des Hauses«, sagte ich.

»Oh, nein, auf keinen Fall…«

»Señora, wenn Sie es mir gestatten und mich so zum glücklichsten Manne Barcelonas machen wollen, geht es auf Rechnung von Fermín Romero de Torres.« Die Bernarda schaute uns an.

»Hören Sie, was ich kaufe, zahle ich, und das ist ein Geschenk, das ich meiner Nichte machen will…«

»Dann werden Sie mir erlauben, Sie im Sinne eines Tauschhandels zum Vesperbrot einzuladen«, sagte er und strich sich die Haare glatt.

»Na, klar«, ermunterte ich sie.

»Du wirst sehen, wie gut ihr euch amüsiert. Schau, ich pack dir das ein, während Fermín sein Jackett holt.« Fermín sauste nach hinten, um sich zu kämmen und zu parfümieren und ins Jackett zu schlüpfen. Ich steckte ihm einige Duros aus der Ladenkasse zu, damit er die Bernarda einladen konnte.

»Wo soll ich denn hin mit ihr?« flüsterte er mir zu, nervös wie ein Gymnasiast.

»Ich würde sie ins Els Quatre Gats führen. Ich weiß sehr genau, daß es in Herzensangelegenheiten Glück bringt.« Ich gab der Bernarda das Paket mit dem Buch und blinzelte ihr zu.

»Was bin ich Ihnen also schuldig, Señorito Daniel?«

»Ich weiß es nicht. Ich werd’s dir schon sagen. Es steht kein Preis im Buch, ich muß erst meinen Vater fragen«, log ich.Ich sah die ungleichen Gestalten davongehen und sich in der Calle Santa Ana verlieren und dachte, vielleicht hält ja jemand im Himmel die Augen offen und gewährt diesem Paar ausnahmsweise ein wenig Glück. Ich hängte die Tafel Geschlossen ins Schaufenster und ging einen Moment in den Raum hinter dem Ladenlokal, um das Buch durchzusehen, in das mein Vater die Bestellungen notierte. Da hörte ich die Glocke der sich öffnenden Ladentür. Ich dachte, es sei Fermín, der etwas vergessen hatte, oder vielleicht mein Vater, der schon aus Argentona zurück war.

»Hallo?« Es vergingen einige Sekunden, ohne daß eine Antwort zu vernehmen war. Ich blätterte weiter im Bestellbuch.Im Laden hörte ich langsame Schritte.

»Fermín? Papa?« Keine Antwort. Dann glaubte ich ein ersticktes Lachen zu hören und klappte das Bestellbuch zu. Vielleicht hatte ein Kunde die Tafel Geschlossen nicht bemerkt. Eben wollte ich nach vorn gehen, um ihn zu bedienen, als ich im Laden mehrere Bücher vom Regal fallen hörte. Ich schluckte. Ich packte einen Brieföffner und ging langsam auf die Tür zum Laden zu. Ich getraute mich nicht, noch einmal zu rufen. Gleich darauf hörte ich wieder Schritte, die sich diesmal entfernten. Abermals klingelte die Ladentür, und ich spürte einen Luftzug von der Straße. Ich schaute in den Laden hinein. Niemand. Ich lief zur Ladentür und verriegelte sie. Ich atmete tief durch, fühlte mich lächerlich und feige. Auf dem Weg zurück in den hinteren Raum sah ich auf dem Ladentisch ein Blatt Papier. Beim Nähertreten stellte ich fest, daß es ein Foto war, eine alte Aufnahme, wie sie früher gern auf dicken Karton gedruckt worden waren. Die Ränder waren verbrannt, und das rauchgeschwärzte Bild schien Spuren von aschebeschmutzten Fingern aufzuweisen. Ich studierte es unter einer Lampe. Auf dem Foto war ein sehr junges Paar zu sehen, das in die Kamera lächelte. Er sah nicht älter aus als siebzehn oder achtzehn, hatte helles Haar und feine Züge. Sie mochte etwas jünger sein, höchstens ein oder zwei Jahre, und hatte ein blasses, ziseliertes, von schwarzem Kurzhaar eingefaßtes Gesicht. Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt, und sie schien ihm spöttisch etwas zuzuraunen. Das Bild strahlte eine Wärme aus, die mir ein Lächeln entlockte, als hätte ich in diesen beiden Unbekannten alte Freunde erkannt. Hinter ihnen war das Schaufenster eines Ladens zu erkennen, vollgestopft mit aus der Mode gekommenen Hüten. Ich konzentrierte mich auf das Paar. Nach den Kleidern zu schließen, mußte das Bild mindestens fünfundzwanzig oder dreißig Jahre alt sein. Es war ein Bild von Licht und Hoffnung. Die Flammen hatten fast den gesamten Rand des Fotos verzehrt, aber hinter dem uralten Ladentisch war noch ein ernstes Gesicht zu erahnen, ein geisterhafter Umriß hinter den Lettern auf dem Glas.

Antonio Fortuny Söhne Gegr. 1888

In der Nacht, in der ich wieder zum Friedhof der Vergessenen Bücher gegangen war, hatte Isaac mir erzählt, daß Carax den Namen seiner Mutter gebraucht hatte, nicht den des Vaters, Fortuny. Carax’ Vater hatte einen Hutladen in der Ronda de San Antonio. Wieder schaute ich das Bild des Paares an und gelangte zur Überzeugung, daß dieser junge Mann Julián Carax war, der mir aus der Vergangenheit zulächelte, unfähig, die Flammen zu sehen, die über ihm zusammenschlugen.

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