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Der Pilger, die Satrapen und


das Siegel des Verhörs

An den Großwesir

Reshid Pascha

Topkapi-Palast

Istanbul

Assalaamu Alaikum Wa Rahmatullahi Wa Barakatuhu.

Friede sei mit Ihnen, Friede sei mit Ihren Schutzbefohlenen!

Wir möchten Ihr Augenmerk auf eine Angelegenheit lenken, die auf den ersten Blick vielleicht nicht von überragender Bedeutung erscheint und die Interessen des Kalifats gewiß nicht unmittelbar gefährdet, die aber meiner bescheidenen Ansicht nach trotzdem die höchste Aufmerksamkeit der Regierung verlangt. Sie entsinnen sich gewiß, daß ich vor mehr als einem Jahr berichtet habe, ein britischer Offizier habe die Hadj vollbracht, zum beachtlichen Ergötzen der hiesigen Presse, die ihn als Helden der Saison feierte. Vor einigen Wochen publizierte der Verlag Longman Green den persönlichen Bericht dieses Mannes namens Richard Francis Burton, Leutnant der britischen Armee, über seine frevelhafte Hadj, die er in Verkleidung als Pathan aus Indien unternommen hat. Die hiesigen Zeitungen haben dieser Publikation erheblichen Platz eingeräumt, sie überschlagen sich mit Lob ob der beherzten Tat, der glanzvollen Leistung, sie übertreffen sich gegenseitig in Lobhudelei. Anscheinend regt in dieser Epoche nichts die Phantasie der Leserschaft im britischen Königreich mehr an, als wagemutige Erforschungen in Regionen jenseits der öffentlichen Vorstellungskraft. Bücher der Kategorie ›Ich war dort und habe gesehen‹ verkaufen sich in höherer Zahl als bei uns die Sammlungen mit Geschichten über Nasruddin Hodja.

Der Grund dieses Erfolgs erscheint mir einerseits offenkundig harmlos, andererseits teuflisch verborgen. Die Untertanen des britischen Imperiums wollen an dem Abenteuer der Welteroberung teilhaben, sie wollen gefüttert werden mit zeitgenössischen Legenden, die ihnen zur Identifikation gereichen können. Doch hege ich den Verdacht, durch Publikationen dieser Art soll der Boden bereitet werden für eine nahe Zukunft, in der diese Regionen nicht mehr fern und unbekannt sind, sondern Teil des Imperiums, eine vorauseilende Gewöhnung an eine Fremde, die das britische Imperium sich bald einzuverleiben beabsichtigt. So spiegelt sich meiner Einschätzung nach in dieser scheinbar nebensächlichen Angelegenheit eine beunruhigende Entwicklung, die gesteigerter Aufmerksamkeit bedarf, insbesondere weil es sich in diesem Fall nicht um Wüsten in Afrika oder Dschungel in Indien handelt, sondern um unser Allerhöchstes Heiligtum, um die Gesegneten Stätten von Mekka und Medina, Gott möge sie erhöhen.

Es ist mir durchaus bekannt, daß Botschafter Viscount Stratford de Redcliffe Ihr Vertrauen genießt sowie jenes des Sultans, und gewiß ist seine Unterstützung notwendig, um jene Reformen durchzusetzen, die Eure Exzellenz mit gesegneter Weitsicht in die Wege geleitet hat, aber wenn ich in aller Demut einen Vorschlag unterbreiten dürfte, so plädiere ich dafür, die Hintergründe dieses Falles mit angemessener Entschlossenheit, aber auch entschiedener Geheimhaltung offenzulegen. Die wahren Absichten des Leutnants Richard F. Burton und seiner Auftraggeber (angeblich die Royal Geographical Society, eine dubiose Organisation, die vorgibt, nur an Längen- und Breitengraden interessiert zu sein) lassen sich seinen Aufzeichnungen nicht entnehmen, obwohl sie in drei Bänden insgesamt 1264 Seiten umfassen. Anhand des vorliegenden und mit aller gebotenen Sorgfalt studierten Materials konnten wir keine Klarheit gewinnen über die Motivation für dieses sogenannte Abenteuer — bei Entdeckungen wird gemeinhin nur der erste belohnt, und wie wir wissen, haben schon mehrere Christen die Hadj in betrügerischer Art unternommen — oder über die tatsächlichen Resultate dieser angeblichen Forschungsreise. Um Ihnen einen genaueren Eindruck zu ermöglichen, übersende ich Ihnen die drei Bände, denn ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß Ihnen das Englische weiterhin keine Schwierigkeiten zu bereiten vermag.

Möge der Segen und die Gnade Gottes mit Ihnen sein.

Ebu Bekir Ratib Effendi

Botschafter der Hohen Pforte in London


— Ich kenne dich!

— Mich? Sie meinen mich?

— Ja, dich da, ich kenne dich.

— Wie kann das sein, Effendi?

— Bleib stehen.

— Ein Irrtum.

— Dein Gesicht, es ist nicht das gewöhnlichste.

— Sie täuschen sich. Wir sehen alle gleich aus.

— Reist du nach Alexandria?

— Nein.

— Wohin?

— Ich fahre auf Hadj, mashallah.

— Auf einem britischen Schiff?

— Ich war im Land der Franken.

— Als Diener?

— Als Händler.

— Eine lange Überfahrt, nicht wahr?

— Ja, eine lange Überfahrt.

— Stürmische See heute. Bekommt euch Leuten nicht so gut, oder? Bald hast du ja wieder festen Boden unter den Füßen.

— Es macht mir nichts aus, ja, fester Boden, das ist besser, natürlich.

— Warte, du stammst aus Indien, nicht wahr?

— Nein.

— Doch, doch, wir sind uns dort begegnet.

— Nein, ich war in meinem ganzen Leben nicht in Indien.

— Dein Englisch aber, du sprichst mit dem Anklang eines Inders.

— Mein Englisch ist nicht gut.

— Wieso bist du so sehr darauf erpicht, daß wir uns noch nie gesehen haben?

— Sagen wir also, wir kennen uns, aber da wir uns nicht daran erinnern, von woher wir uns kennen, ist es doch so, als würden wir uns nicht kennen.

— Wie heißt du?

— Mirza Abdullah.

— Aus Persien, nicht wahr? Du stammst aus Persien! Mirza? Ein Shia, oder?

— Wie lautet Ihr hochgeschätzter Name?

— So eine Unverschämtheit, das wäre in Indien undenkbar … Captain Kirkland, wenn du es unbedingt wissen mußt.

— Wenn wir über meinen Glauben sprechen, sollten wir uns wenigstens vorgestellt haben.

— Nun, Abdalla, ein vornehmes Gesicht hast du, das muß ich dir lassen, und ich vergesse nie ein vornehmes Gesicht. Wir laufen Alexandria erst morgen an. Bis dahin fällt mir bestimmt ein, wo wir uns begegnet sind.

— Inshallah, Captain Kirkland. Es wäre schön zu erfahren, was uns verbindet.


Was für ein arroganter Grobian. Nicht zu fassen. In Bombay, zu seiner Zeit, da hat er kleine Brötchen gebacken. Einer aus der unscheinbaren Füllmasse am unteren Ende der Rangordnung. Eine Witzfigur in der Messe. Konnte sich die Namen seiner Untergebenen nie merken. Einer der Wichte. Der Appetit wächst mit dem Aufstieg, ebenso die Selbsteinschätzung. Wie der ihn gerade behandelt hat! Dieser aufgeblasene Versager bildet sich ein, er sei etwas Besseres. Er bräuchte einen Tritt in den Hintern, aber das kann er sich leider nicht erlauben, nicht jetzt, nicht als Mirza Abdullah. Würde zuviel Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Er ist gefangen, gefangen in dieser Rolle, und allen Dummköpfen ausgeliefert. Das Gewand anzulegen, das war leicht, und gar nicht so schwer, sich an Anstand und Etikette zu erinnern. Nun muß er lernen, die Erniedrigungen auszuhalten. Vornehmes Gesicht? Was weiß diese kastrierte Vogelscheuche, dieser Nichtswuchs, von vornehmen Gesichtern? Erstaunlich, daß dieser Barbar aus Wiltshire ihn wiedererkannt hat. Ein halbes Dutzend Jahre haben sie sich nicht gesehen. Wie hat er hinter seine Gewänder, hinter das Walnußöl, hinter den vollen Bart geblickt? Möglich, daß ihn sein Gang verraten hat, seine Haltung. Darauf achtet einer wie Kirkland, der seine Tage auf dem Exerzierplatz verbringt. Er war sich seiner Sache allerdings nicht so sicher gewesen, wie er behauptete. Darauf ist bei diesen Spatzenhirnen Verlaß: Sie plustern sich auf, wenn sie sich ihrer Sache unsicher sind. Vor den Einheimischen selbstverständlich, nur vor den Einheimischen. Eine Warnung, diese Begegnung, ohne Zweifel, ein hilfreicher Wink des Schicksals. Sei vorsichtig, hüte dich vor Zufällen, sie bringen die allzu Selbstsicheren zu Fall.


— Ich möchte einen Paß beantragen.

— Wo kommst du her?

— Aus Indien.

— Wozu brauchst du einen Paß?

— Für die Hadj.

— Name?

— Mirza Abdullah.

— Alter?

— Dreißig.

— Betätigung?

— Arzt.

— Arzt? Soso, ein Arzt aus Indien? Soll ich nicht Quacksalber hinschreiben?

— Scharlatan wäre mir lieber.

— Du wagst es, mir zu widersprechen?

— Im Gegenteil. Ich bestätige nur Ihr Urteil.

— Besondere Kennzeichen, abgesehen von Unverschämtheit?

— Keine.

— Das kostet einen Dollar.

— Einen Dollar?

— Dafür erhältst du den Schutz des mächtigen britischen Imperiums. Das wird dir doch einen Dollar wert sein.

— Das große Imperium benötigt meinen Dollar?

— Schweig, du Henne, sonst laß ich dich hinauswerfen. Unterschreibe hier, wenn du schreiben kannst. Wenn nicht, kritzele ein Zeichen deiner Dummheit aufs Papier. So. Nun mußt du noch zum Zabit, die hiesige Polizei muß den Paß gegenzeichnen, sonst ist er nicht gültig.


Er wird nicht nur Arzt sein. Auch Derwisch: eine hervorragende Kombination. Als Arzt wird er das Vertrauen der Menschen gewinnen. Wenn er ihnen helfen kann, nur wenn er ihnen helfen kann. Er traut sich einiges zu. Er hat in der Heilkunst schon dilettiert. Die letzten Monate hat er intensiv studiert, Buch für Buch sein Wissen erweitert. Nun bedarf er der Übung; an Gelegenheiten dürfte es in Kairo nicht mangeln. Die einheimische Medizin, sie hat sich seit Jahrhunderten von ihrem Goldenen Zeitalter entfernt; zudem, die meisten Menschen in diesen Breiten sind durch Suggestion zu heilen, und darin ist er ein Meister. Und die Gestalt des Derwischs wird ihn schützen vor den Angriffen der Bigotten. Ihm wird eine gewisse Narrenfreiheit zugestanden werden. Unübliches Verhalten wird ihm nachgesehen werden. Ein Derwisch kann aus der Mißachtung des Gesetzes seinen eigenen wirren Segen schöpfen. Es ist gut ausgedacht: Er heißt Mirza Abdullah, er ist Derwisch, und er ist Arzt.


Vom Zabit zum Muhafiz, wo er eine lange Weile kauerte, bis ein Amtsträger ihm die Information zuwarf, die Bestätigung sei beim Diwan Kharijiyah einzuholen. Er fand seinen Weg zu einem Gebäude von wirrer Geometrie, gewaltig groß, die Außenwände so weißgewaschen, daß ihr Anblick im grellen Sonnenlicht schmerzte. In den Korridoren krümmten sich die Harrenden. Es erwies sich als Fehler, die offenen Zimmertüren als Einladung zu verstehen. Der angesprochene Amtsträger richtete sich von seinem Pult auf, um seinen Schreien Nachdruck zu verleihen, inmitten von Aktenstapeln, die fast bis zur Decke reichten. Mirza Abdullah trat wieder hinaus. Die wenigen Bäume im Innenhof waren aller Blätter beraubt. Keine Brise schlüpfte an den Wachen am Eingangstor vorbei. Er richtete sein Anliegen an einen Offizier, der es sich in einem schattigen Plätzchen bequem gemacht hatte. Störe mich nicht, sagten die geschlossenen Augen und die ausgestreckten Beine, das feistbeglückte Gesicht. Schon bei der Anrede spürte der Fragesteller die Vergeblichkeit seines Bemühens. Keine Ahnung, grummelte der Offizier, kaum vernehmbar, mit unbewegten Lidern. Mirza Abdullah hätte es mit Bestechung versuchen können, aber das war verfrüht und nicht billig, oder mit einer Drohung, der seine armselige Kleidung jedoch keinen Nachdruck verleihen konnte. So blieb ihm nur die Möglichkeit, die jedem Bittsteller zur Verfügung stand, die Option der Machtlosen: Er konnte den Offizier beharrlich belästigen, bis dieser seiner Ruhe zuliebe etwas unternahm. Er trat einen Schritt vor und wiederholte seine Frage. Hau ab, zur lauten Antwort öffneten sich die Augen. Der Bittsteller hielt die Stellung, mit gesenktem Kopf und unbeugsamer Bescheidenheit. Er lehnte sich vor und äußerte sein Anliegen ein drittes Mal. Hau endlich ab, Hund du! Aber, flüsterte Mirza Abdullah, wie steht es mit der Brüderschaft unter Moslems … Sein Plädoyer brach ab, denn der Offizier entriß sich seinen Träumen, eine Nilpferdschwanzpeitsche in der Hand.

Mirza Abdullah suchte weiter nach Auskunft, wo immer sie verfügbar schien, bei anderen Polizisten, bei Schreibern, Stallburschen, Eseltreibern und Herumlungernden. Er fühlte sich zunehmend in einer Enzyklopädie verloren, die nur aus Querverweisen bestand. In seiner matten Verzweiflung bot er einem Soldaten Tabak an und versprach ihm ein sattes Geldstück, wenn er ihm helfe, und der Mann fand Gefallen an dem Tabak und der versprochenen Münze, er nahm ihn an der Hand und führte ihn von einem Hochgestellten zum nächsten, bis sie eine mächtige Treppe hinaufstiegen und sich in die Gegenwart von Abbas Effendi begaben, des stellvertretenden Gouverneurs, eines kleinen Mannes mit hochgezogenem Kopf und zwei kleinen Butteraugen, die auf Lauer trieben. Wer bist du? fragte Abbas Effendi, und seine Augen verloren den Appetit, als der Mann ihm als Derwisch auf Hadj vorgestellt wurde. Nach unten! spuckte er aus, eine für den Bittsteller unverständliche Angabe, doch dem Soldaten reichte dieser Bescheid, um ein Zimmer ausfindig zu machen, das sich mit seiner Angelegenheit befassen würde.

Er wartete vor der Tür, inmitten von Männern aus Bosnien, Rumelien und Albanien, allesamt barfüßig, breitschultrig, mit finsteren Augenbrauen und erzürnten Gesichtsausdrücken, Bergbauern, die lange Pistolen und Jatagans am Gurt trugen sowie einige Kleidungsstücke über der Schulter, und deren brodelnde Unzufriedenheit zum Ausbruch kam, als ein Untergeordneter verkündete, sein Herr, der Zuständige, sei an diesem Tag nicht mehr zu sprechen. Die Wartenden packten den Überbringer des Hohns am Kragen und bezichtigten ihn und seinen Herrn der Faulheit, und die Flüche, die aus ihrem Rachen knurrten, zwangen den Beamten zu elaborierten Entschuldigungen, Beschwörungsformeln eines Dompteurs, dem die Kontrolle über seine wilden Tiere entgleitet.

Am nächsten Tag erhielt Mirza Abdullah die Erlaubnis, jeden Teil Ägyptens frei bereisen zu dürfen.


Es war nicht leicht, zu den Zimmern in der Karawanserei hinaufzusteigen. Das enge Treppenhaus war besetzt. Die Stufen waren so steil, daß die Träger von Wand zu Wand schwankten. Auf die Träger folgten Frauen in massiger Gruppe, die ihr Gespräch Stufe um Stufe nach unten führten, während ihre Kinder die Lücken zwischen ihnen ausfüllten und mit ihren Händen die schmutzigen Wände entlangrutschten. Als die letzte der Frauen an ihm vorbeiging, erschienen oben drei Soldaten, die sich in der Enge einen Witz teilten. Sie blieben stehen, für die Pointe, und setzten ihren Abstieg grölend fort. Mirza Abdullah schlüpfte hinter ihnen sofort in den Aufgang. Auf halbem Weg kam ihm ein übergewichtiger älterer Mann entgegen, der keine Anstalten machte, sich gegen die Wand zu drücken. Mirza Abdullah stellte sich vor und der Mann auch: Hadji Wali, Händler, Stammgast in diesem Wakalah. Dürfte ich Sie einladen zu einem Tee? Höflich nahm Mirza Abdullah an. Ich muß einige Anweisungen geben, der Händler wies zum Innenhof und lachte wohlbeherrscht. Unten waren die Werkstätten, die Läden, die Lagerräume. Und ich muß hinauf, sagte Mirza Abdullah. Sie sind der Jüngere, meinte der Händler, diese wenigen Stufen, fast keine Anstrengung für Sie. Und er lachte wieder. Seine trübseligen Augen und sein redseliger Mund hatten sich offenkundig nicht miteinander abgesprochen.

Die zwei Zimmer, die jedem Gast zur Verfügung gestellt wurden, waren nicht möbliert. Flecken von der Größe zerquetschter Mücken dekorierten die Wände. Dicke Spinnweben hingen von den schwarzen Sparren hinab, durch die Fenster schlüpfte staubige Luft, vom ursprünglichen Glas war Fraktur geblieben, an Stellen mit Papier überklebt. Mirza Abdullah lehnte sich hinaus. Immerhin besser, als sich den Innenhof teilen zu müssen mit angebundenem Vieh, heulenden Bettlern und Dienern, die sich auf gewaltigen Baumwollballen ausstreckten und versonnen kratzten. Hadji Wali durchquerte den Innenhof, er winkte ihm zu und wiederholte mit Gesten die ausgesprochene Einladung. Wenig später tauchte ein Diener auf, der ihn ins behaglich eingerichtete Außenzimmer des Händlers führte.

Diese Stadt, dieses Kairo ist eine Pestilenz — Hadji Wali hatte sich auf den Kelim gelegt, aber sein Kopf kam auf dem runden Kissen nicht zur Ruhe —, wer hat die verfluchte Eingebung gehabt, hier eine Stadt zu errichten, zwischen stinkendem Wasser und totem Gestein? Alles, was an diesem Ort kriecht und kreucht, beißt entweder oder sticht. Es ist mir zuwider, Alexandria zu verlassen, aber die Geschäfte können keinen Bogen um Kairo machen; mit Plagen zahlen wir für Wohltat und Segen. Und Sie, was hat Sie hierher verschlagen? Daß Sie nicht aus diesem Staubloch stammen, das sehe ich Ihnen an, das höre ich Ihnen an. Rauchen Sie, was zieren Sie sich so, rauchen Sie nur, mir bekommt der Rosengeschmack nicht, aber der Geruch, er vertreibt für einige Augenblicke das Hiersein. Wie ein gewöhnlicher Perser sehen Sie mir nicht aus. Ich verstehe, ich verstehe. Wahrlich, Sie sind weit gereist, dagegen erscheinen mir meine Reisen wie Besuche bei den Nachbarn. Sie begehen einen Fehler, das muß ich Ihnen sagen, ich kenne meine Landsleute, wenn sie schwach sind im Glauben, richten sie sich auf, indem sie über die irregeleiteten Perser herziehen, mit Beschimpfungen, aber manchmal auch mit Hieben. Ich versichere Ihnen, Sie werden ein Dreifaches von dem zahlen, was die anderen Pilger zahlen, und Sie werden sich glücklich schätzen, wenn Sie während der Hadj nur einmal verprügelt werden. Trinken Sie noch einen, trinken Sie. Legen Sie den Titel Mirza ab, Sie müssen sich nicht in Ihrer ganzen Wahrhaftigkeit vorstellen, als Sheikh werden Sie um einiges sicherer unterwegs sein. Da Sie bewandert sind in den Geheimnissen der Medizin, sollten Sie Ihre Kenntnisse anwenden, auch wenn es bei uns wimmelt von Ärzten, aber wer mit Erfolg wirkt, der wird schnell bekannt und erfährt einen Respekt, der nützlich sein kann. Ich merke, Sie wählen Ihren eigenen Weg durchs Leben, das weiß ich zu schätzen, nur ergibt sich die Gelegenheit selten, anderen seinen Weg zu erklären. Die Dummköpfe, die werfen alles in einen Topf, und dann zerschlagen sie ihn, weil er die falsche Form hat. Sheikh Abdullah, Sie werden mein Freund sein, aber hüten Sie sich vor Offenheit und Ehrlichkeit. Verbergen Sie stets, wie wir zu sagen pflegen, Ihre Ansichten, Ihre Absichten und Ihre Aussichten.


An den Gouverneur des Hijaz

Abdullah Pascha

Djidda

Unseren Informationen nach hat der Ungläubige, der die Hadj unternommen und einen Bericht darüber verfaßt hat, schon in Hindustan als Spion gedient. Wir können nur folgern, daß die Royal Geographical Society als Camouflage dient für das Auskundschaften jener Regionen, die noch nicht der britischen Königin untertan sind. Für uns steht nicht die Schändung der heiligen Stätten im Vordergrund, sondern die Sorge um die geheimen Absichten des britischen Imperiums. Der als Safarnamah verkleidete Bericht, ein Steinbruch genauer Beobachtung und Berechnung, ist erstaunlich kenntnisreich — unsere Ulema haben die Gelehrsamkeit des Autors bestätigt, doch Wissen ist nicht Glauben, fügen sie hinzu. Wir müssen annehmen, daß der Autor den gemeinen Lesern nicht alles anvertraut. Wir vermuten, daß Leutnant Richard Francis Burton unsere Position im Hijaz ausspioniert hat, die Stärke unserer Truppen sowie die Beschaffenheit unserer Verteidigungsanlagen. Wir vermuten weiter, daß er die Einstellung der Beduinen zu unserer Herrschaft und ihre Bereitschaft, die Waffen gegen uns zu erheben, erforscht hat. Wir senden anbei alle relevanten Dokumente: eine Liste der Personen, die mit ihm gereist sind, Kopien der wichtigsten Textstellen samt seiner gelegentlich sehr aufschlußreichen Kommentare, Fußnoten und dergleichen mehr. Prüft mit Sorgfalt, ob dieser Mann alleine unterwegs war, ob er gegebenenfalls Helfer und Helfershelfer hatte, ob er in irgendeiner Weise aufgefallen ist und ob sein Verhalten uns irgendeinen Aufschluß über seine Absichten geben kann. Anhand der Zeugnisse über seine Handlungen während der Hadj werden wir begreifen, wie sein Auftrag lautete und in welche Richtung die politischen Überlegungen seiner Auftraggeber zielen. Der Sultan vermutet, dies könnte auf einen gewaltigen unterirdischen Fluß hinweisen, der die Fundamente unserer Macht im Hijaz zu unterspülen droht. Bedenkt, daß Abdulmecids Scharfsinn schon oft die engen Grenzen unseres Verstandes beschämt hat, und werdet tätig, mit Gottes Hilfe.

gez. Großwesir Reshid Pascha


Die Sonne muß untergehen und der Mond schrumpfen, bis Kairo sich öffnet, wie eine Muschel, und seine Schönheit in Silhouetten offenbart. Sommerliche Sterne, auf die unsichtbare Bedürftigkeit gestreut, sprechen von einer besseren Schöpfung. Streifen von Indigo trennen die Stirnen der Häuser. Mit jedem seiner Schritte taucht er in Blei ein. Ist es das, was ihn immer wieder in die Fremde zieht — die vorübergehende Blindheit? In England, sanft, grün und manierlich, lag alles aufgeschlagen da. Wie kann ein Land so geheimnislos sein? Schwere Balkons mit hölzernem Gitterwerk verzahnen sich in der Flucht; jeder Weg gaukelt eine Sackgasse vor. Was er sonst noch erkennen kann, entschlüpft mit Hilfe schwacher Öllampen der festen Umarmung der Nacht. Durchgänge, Aufgänge, goldene Lichtspenden fließen über die Treppen hinab. Keine Linie ist gerade; in diesen Breiten wird der Bogen bevorzugt, angebetet sogar. Die Rundung, daran läßt sich nicht rütteln, stärkt den Glauben mehr als der rechte Winkel. Zumal wenn sie fein beschrieben ist mit heiligen Worten. Gebäude nagen an der Gasse, vorspringende Pfeiler stellen sich plötzlich auf wie unscheinbare Wachen. Zuerst sieht er nur das Minarett über dem Dachgesims und dann, auf einmal, die leuchtende Einladung der Gewölbe. Es ist Zeit für ein weiteres Gebet. Er hört auf den eigenen Atem, während er seine Hände in das Becken taucht und jeden Finger einzeln wäscht. Das Plätschern ist einlullend. Seine nassen Füße trocknen mit jedem Schritt auf den Teppichen. Er findet Platz neben einem Pfeiler. Jedes Wort wäre sinnlos ohne Absichtserklärung, der Kompaßnadel, die dem Gebet vorangeht. Die nahe Kerze wirft einen Schein auf seine übereinandergelegten Hände. Hinter seinen halbgeschlossenen Augen ist alle Unruhe verflogen. Die letzten Gedanken lösen sich auf, wie die Tropfen an seinen Augenbrauen, an seinem Bart. Er überläßt sich dem Rhythmus der Bewegungen. Alles ist vergessen außer den Regularien des Gebets. Reine Selbstverständlichkeit. Nachher, als er aus der Moschee tritt, fühlt er sich mit allem versöhnt. Einige Palmen legen ihre Köpfe in den Wind, die Nacht ist in jedem Ausschnitt wundersam, den eigenen und den fremden Geistern verdankt, und er, der einsame Wanderer, kann sich das schmutzige, hastige, grelle und bedrückende Leben des hellichten Tages nicht vorstellen.


Sheikh Mohammed Ali Attar wurde ihm als Lehrer empfohlen, und tatsächlich, als dieser alte Mann eintrat, stand ein Vortrag auf seiner gerunzelten Stirn geschrieben. Aywa, aywa, aywa, murmelte er, bevor er mit seiner Unterweisung begann, einem Sachverhalt voller juristischer Vernietung und Vernagelung. Sheikh Abdullah ließ den Lehrer reden, bis dieser ausgelaugt war, aber keineswegs ans Ende gelangt. Dann erst ergriff er das Wort, um zu beschreiben, was er sich selber an geistiger Nahrung verordnet hatte, und er bat den gelehrten Sheikh Mohammed Ali Attar, ihm diese zu liefern und keine andere. Sheikh Mohammed erfüllte seinen Wunsch auf Umwegen; bald mischte er sich ein, mit Rat und mit Tadel über das Verhalten seines Schülers, in allen Bereichen des Lebens. Aywa, aywa, aywa, was bedeutet also Hadj? Ein Streben! Wonach? Nach der besseren Welt. Was sind wir auf Erden, wenn nicht Reisende mit einem höheren Ziel. Was ist schon die Mühsal jetzt im Vergleich zur ewigen Belohnung. Wer also gesund ist, versorgt für die Dauer der Reise, und wohlhabend genug, überall Wasser kaufen und die Fahrtstrecke zahlen zu können … was schreibst du denn ständig auf, mein Guter, was für eine schlechte Angewohnheit ist das? Gewiß hast du sie aufgegriffen im Land der Farandjah. Bereue, bevor es zu spät ist. Bereue. Aywa, aywa, aywa, im Ihram darfst du dein Haar nicht schneiden und nicht zupfen, selbst nicht, um es zu kürzen, weder am Kopf noch unter den Armen, am Geschlecht, am Bart oder an irgendeinem anderen Teil des Körpers, und solltest du dich einer Verfehlung schuldig machen, so mußt du zum Ausgleich 0,51 Liter Nahrung den Armen zu Mekka spenden, das gilt für ein Haar, für zwei Haare das Doppelte, ich muß dir sagen, vergeude nicht dein kostbares Wissen, mein Sohn, du hast dich selbst und deine zwei Diener zu ernähren. Die Ärzte Ägyptens, sie würden nicht einmal Alif und Baa schreiben ohne eine Entlohnung. Schämst du dich deiner Leistungen, daß du keinen Lohn verlangst? Was suchst du dir und uns zu beweisen? Besser wäre es, du würdest dich auf einen Berg zurückziehen und Tag und Nacht deine Gebete sprechen. Aywa, aywa, aywa, merke dir, du mußt in Safa beginnen und nach Marwa gehen, und diese Strecke mußt du siebenmal wiederholen, die gesamte Strecke, keinen Schritt weniger, und solltest du dir nicht mehr sicher sein, wie oft du die Strecke gegangen bist, so gehe von der niedrigeren Zahl aus und rezitiere den Glorreichen Koran, und wenn du die grüne Markierung in der Mitte erreichst, so nimm deine Füße in die Hand und laufe die wenigen Schritte bis zur zweiten grünen Markierung, ich kann es nicht verstehen, mein Lieber, dein Diener hat zwei Pfund Fleisch aufgeschrieben und du läßt ihn gewähren, du hast ihn nicht zur Rede gestellt. Wohin soll das führen? Sagst du niemals: Gott hüte uns vor der Sünde der Verschwendung! Aywa, aywa, aywa, sieben Steine hast du bereitzuhalten, für die erste Säule, jene, die der Al-Khayf-Moschee am nächsten ist, und du wirfst die Steine einen nach dem anderen, du zielst so gut du kannst auf die Säule, und wenn du nicht triffst, so mußt du noch einmal werfen, und wenn du fertig bist, gehst du weiter zur nächsten Säule. Hast du eine Frau? Nein? Wahrlich, dann mußt du dir eine Sklavin kaufen, mein Junge! Dein Verhalten ist nicht Rechtens, und die Männer werden von dir sagen — Reue, ich nehme Zuflucht in Gott —, in Wahrheit wässert sein Mund nach den Weibern anderer Moslems.

So lehrte Sheikh Mohammed seinen Schüler Sheikh Abdullah, in dem vorderen Zimmer einer Unterkunft in einem Wakalah in Kairo, aber er war bereit, wie er am Ende ihrer Treffen laut und wiederholt verkündete, ihn überallhin zu begleiten, bis zur dunklen Seite des Berges Kaf.


Es ist eine Frage der Geduld, seiner Zunge Zeit zu geben, sich zu akklimatisieren, sich zu dehnen und zu strecken nach den gaumennahen, den kehlig asthmatischen Lauten. Seinen Oberkörper zu wiegen bei den Hebungen und Senkungen eines flüssigen Rezitierens. Der rechten Hand zu überlassen, was Rechtens und rein ist. Im Sitzen und in drei dankbaren Schlucken zu trinken. Seinen Bart in Verwunderung und Überlegung einzubeziehen. Jede Hoffnung, jeden Gedanken an die Zukunft in ein Inshallah zu kleiden. Sich daran zu gewöhnen, daß er nun, nach reiflicher Überlegung, ein Pathan ist, in Britisch-Indien geboren und aufgewachsen, und daher im Hindustani eher beheimatet als in den Dialekten seiner afghanischen Vorfahren. Er hat sich gewöhnt daran, es ist ihm geläufig geworden, selbstverständlich. Wie weit ist er gekommen seit damals, als er, der junge Student, auf eigene Faust die arabische Schrift zu entschlüsseln versuchte und einem Spanier stolz vorführte, wie fließend er schon schreiben konnte. Doch anstelle von Lob erntete er nur Hohn, der Señor mit einem jener drapierten iberischen Namen belehrte ihn, daß er rechts beginnen müsse. Es gab keinen Arabischunterricht in Oxford, keine Alternative zum Latein, falsch ausgesprochen von den Greisen, die sich nichts sagen ließen.

Viel schwieriger ist es, den Erwartungen an einen Derwisch zu genügen. Salbungsvolles Gerede ist von geringem Nutzen. Ebenso unangemessen wirkt überlegtes und zurückhaltendes Benehmen. Roh und ungezogen muß er sich geben, der Zivilisation kein Untertan, die kleineren menschlichen Sorgen verachtend, der rationalen Ordnung enthoben. Nähe zu Gott kann nicht mit den Gewichten gemessen werden, die im Basar Verwendung finden. Das Zikr singt er nach dem Morgengebet, bis seine Hingabe aufkocht und seine Rufe sich den schläfrigen Ohren seiner Nachbarn einprägen. Wer seinen Weg kreuzt, dem wirft er einen finsteren Blick voller verschlüsselter Drohungen zu. Er läßt keine Gelegenheit aus, Willige zu hypnotisieren — und wenn sie willenlos sind, fordert er sie zu Handlungen auf, die sie entlarven als lächerliche Kreaturen. Schmerzhaft sind die Lektionen eines Derwisch für Kleingeister und Krämer. Er wartet nicht lange, bevor er die Hypnotisierten zurückholt und sie auffordert, den Versammelten ihr Wohlbefinden zu bestätigen. Die Magie muß in der Heilung ihren Ausgleich finden.


Erstaunlich, wie schnell er es in Kairo zum begehrten Arzt gebracht hatte. Bald nach seiner Ankunft hatte er sich zu einem der Träger im Hinterhof der Karawanserei gesetzt und in dessen trübes Auge etwas Silbernitrat getröpfelt und ihm zugeflüstert, daß er — Sheikh Abdullah — niemals Geld nehme von jenen, die es sich nicht leisten könnten. Du verstehst, einem Derwisch gebührt fettere Beute. Am nächsten Tag klopfte der Träger an seiner Tür und bedankte sich — dem Auge ginge es viel besser —, und hinter ihm stand ein Freund, der ein anderes Leiden mitbrachte. Sheikh Abdullah verabreichte einige Pillen, der Zustand des Kranken verbesserte sich, ebenso der Ruf des neuen Medikus. Die Tür zu seinem vorderen Zimmer — ins innere Zimmer ließ er niemanden hinein — wurde belagert von Armseligen, die den Arzt auch nach ihrer Heilung aufsuchten, um ihm nun die Mittel abzuverlangen, jenes Leben zu erhalten, das er bewahrt hatte. Worüber er in Wut geriet, in schreckliche Wut, und die Fordernden sich rasch verabschiedeten, bevor dem Derwisch einfiel, daß er Schaden nicht nur abwenden, sondern auch heraufbeschwören konnte.

Nachdem das Volk ihn berühmt gemacht hatte, meldeten sich Patienten aus besseren Verhältnissen an, die ersten, die sich aufrafften, selber den Wahrheitsgehalt der Gerüchte zu überprüfen. Er wurde in ein Patrizierhaus gerufen, und fast hätte er einen gravierenden Fauxpas begangen, wäre ihm nicht im Hinterhof Hadji Wali begegnet, der sich wunderte, wohin der Arzt zu Fuß aufbrach. Der Händler beschwor ihn, er schulde es seiner Position, nach einem Diener mit Maulesel zu verlangen, der ihn abzuholen und zu geleiten habe, selbst wenn das Haus des Kranken sich um die Ecke befinden sollte. Einer meiner Leute kann die Botschaft überbringen, bot Hadji Wali an, und rief sogleich einen der Herumlungernden zu sich.

Auf dem Weg zum Patrizierhaus war es nützlich, so lernte er mit der Zeit, die Diener der Reichen auszuhorchen, die einem strengen Derwisch die Antworten nicht verweigern konnten. Kenntnis der Familienverhältnisse, der Befindlichkeiten, war die halbe Heilung. Er gab ein demutsvolles Entree, er verbeugte sich vor allen Anwesenden und führte die rechte Hand an seine Lippen und seine Stirn. Wenn sie ihn fragten, was er zu trinken wünsche, so verlangte er etwas, das mit Sicherheit nicht vorrätig war, um sich schließlich mit einem Kaffee und einer Wasserpfeife zu bescheiden. Er prüfte zuerst den Puls seines Patienten, betrachtete dann die Zunge und blickte ihm schließlich in die Pupillen. Er befragte ihn ausgiebig und führte dann seine Gelehrsamkeit vor. Seine Ausführungen waren mal griechisch, mal persisch furniert, oder zumindest, wenn sein Wissen nicht ausreichte, mit griechischen und persischen Suffixen angereichert. Der Patient redete ohne Amen von seinen Beschwerden — die Diagnose erkannte auf eine vorübergehende Schwächung einer der vier Verfassungen, worauf der Arzt aus Indien etwas Handfestes verschrieb, etwas Deftiges: ein Dutzend gewaltiger Brotpillen, getunkt in Aloesaft oder Zimtwasser, gegen die Dyspepsie des Wohlhabenden, und er versäumte es nie ›im Namen Gottes‹ eine schmerzhafte Therapie hinzuzufügen ›des Allbarmherzigen‹ die Haut regelmäßig zu reiben etwa ›des Erbarmers‹ mit einer Pferdehaarbürste. Die Behandlung gipfelte in dem unvermeidlichen Feilschen um das Entgelt. Der Arzt verlangte fünf Piaster, der Patient beschwerte sich, der Arzt gab sich unbeugsam, bis der Patient, über die maßlose Gier der Inder schimpfend, einige Münzen auf den Boden warf, sich weiter empörte, gar seine Heilung in Zweifel zog, und zu dem Schluß gelangte: Die Welt ist ein Kadaver, und jene, die nach ihr verlangen, sind Aasgeier. Der Derwisch konnte sich solch ein ungebührendes Verhalten nicht gefallen lassen: Er drohte, künftige Erkrankungen nicht zu behandeln, dies Haus auf ewig zu meiden und den anderen Meistern der Heilkunst nicht zu verschweigen, welch seelische Kränkung er hier erlitten habe.

Schließlich und letztlich hatte er ein Rezept zu hinterlassen, weswegen er um Feder, Tinte und Papier bat, und dann schrieb er, in einer Schrift, die ihre eigene Verschnörkelung kaum im Zaum halten konnte … im Namen Gottes … Lob an den Herrn aller Welten, den Heiler, den Gesunder … und Friede sei mit seiner Familie und seinen Begleitern … danach möge er aber Honig und Zimt und Album Graecum zu gleichen, halben Einheiten vermengen, und ein ganzes Teil von Ingwer, das zu mahlen ist mit der Honigmischung, und daraus sind Kügelchen zu drehen in Fingernagelgröße, und täglich eines von ihnen auf die Zunge zu legen, bis es mit dem Speichel zerrinnt. Wahrlich, die Wirkung wird wundersam sein … und er möge Abstand halten von Fleisch und Fisch, von Gemüse und Süßspeisen und von aller Nahrung, die Blähungen oder Sodbrennen verursacht … so wird er gesunden durch die Hilfe des Herrschers und Heilers.

Und der Friede — Wassalaam!

War das Rezept mit dem Ringsiegel des Arztes versiegelt, am Anfang sowie am Ende des Textes, so hatte sein Besuch ein erfolgreiches Ende gefunden, und der Abschied verlief in beiderseitig ausgesprochener Hochachtung.


An den Sharif von Makkah,

Abd al-Muttalib bin Ghalib,

und an den Obersten Kadi,

Sheikh Jamal

In Kenntnis setzen möchte ich meine verehrten Brüder im Islam von unserer Untersuchung betreffs des britischen Offiziers Richard Francis Burton, der vor zwei Jahren die Hadj unternommen hat, mit der Absicht, wie wir vermuten, das Hijaz und die heiligen Stätten auszukundschaften. Anhand seiner detaillierten Beschreibungen ist es uns gelungen, einige der Männer ausfindig zu machen, die mit ihm gereist sind und viele Tage und Monate an seiner Seite verbracht haben, die ihn sogar in al-Madinah und al-Makkah, Gott möge sie erhöhen, in ihren Häusern empfangen und bewirtet haben. Wir beabsichtigen, diese Männer zu verhören, um Aufschluß über diesen Frevler zu erhalten. Wir können es uns nicht anders vorstellen, als daß Sie bei diesen Verhören anwesend sein möchten, und wir würden Ihre Weisheit als einen willkommenen Berater erachten.

gez. Abdullah Pascha,

Gouverneur von Djidda und dem Hijaz


In der Medizin erfuhr er beachtliche Bestätigung. Er arbeitete sich hoch, von Verstopfung zu Gallensteinen, er öffnete seinen ersten Abszeß, er erzielte Erfolge bei Schlafstörungen und Kreuzschmerzen. Dieser Sheikh Abdullah, hieß es bald, ist ein Spurenleser der Gebrechen, er vermag Krankheiten zu ertasten. Mittlerweile waren es überwiegend Patriarchen, die ihn riefen, Männer mit fester Stimme und Fettsucht, denen Gicht und Mißmut zu schaffen machten. Herrschaften, die ihn wie einen König empfingen und wie einen Fälscher bezahlten. Väter, die das Leben ihrer Kinder in seine Hände legten.

Eines Tages rief einer von ihnen den Arzt zu sich, um mit vielen pietätvollen Wendungen auszuloten, ob er auch bereit sei, die Frau des Hauses zu behandeln. Und der Arzt, der sich seit längerem ausgemalt hatte, wie es wäre, Zugang zum Harem zu erhalten, dem letzten ihm verschlossenen Bereich, verbarg seine Freude hinter dem feierlich vorgetragenen Gebot, es sei seine Pflicht, jedem Menschen beizustehen, ungeachtet seiner Herkunft, seines Einkommens, seines Geschlechts. Worauf der Patriarch von den Beschwerden seiner Frau berichtete, von Schmerz und Brechreiz, Symptome, die fast jeder Krankheit geschuldet sein konnten. Nur meine Untersuchung, erwiderte der Arzt, kann Aufschluß geben über die Natur der Erkrankung. Schon einmal, bald nach seiner Ankunft in Kairo, hatte er Frauen behandelt, Sklavinnen aus Abessinien. Der Eigentümer, der gegenüber der Karawanserei lebte, hatte den Arzt um Hilfe in einer Angelegenheit gebeten, die ihn zur Verzweiflung treibe. Sheikh Abdullah hatte eine tödliche Krankheit und das eigene Versagen befürchtet. Die Sklavinnen waren in einem elenden Zimmer zusammengepfercht. Sie blickten ihn offen an, sie kicherten. Der Sklavenhändler deutete auf eine der jungen Frauen. Sie ist schön, hatte er gesagt, sie ist mindestens fünfzig Dollar wert. Ihr Gebrechen allerdings drückt den Preis. Der Fehler ist mir beim Kauf nicht aufgefallen. Nicht, daß ich ihn hätte bemerken können. Auch der Arzt konnte nichts Ungewöhnliches an der Frau erkennen, abgesehen von ihrem gewaltigen Gesäß, aber das gehörte wohl zu den Merkmalen, die ihren hohen Wert bestimmten. Vielleicht könnten Sie mir erklären, worin ihr Gebrechen besteht, hatte er gefragt. Selbstverständlich, schließlich können Sie es tagsüber gar nicht feststellen. Das Grinsen des Sklavenhändlers war ungenießbar. Sie schnarcht! Wie ein Nashorn. Sheikh Abdullah lachte auf, aus Erleichterung. Ein Nashorn? Ungewöhnlich, nicht wahr? Die anderen amüsieren sich darüber, sie sind jung, sie können trotzdem schlafen. Diese kleine Schwäche, sie stellt für mich keinerlei Herausforderung dar. Ich bin berühmt in meinem Land, einer meiner Namen lautet Ghargharesha, und Sie werden staunen, was das bedeutet: der Eroberer des Schnarchens. Die Erleichterung setzte auch beim Sklavenhändler ein. Eine Hypnose später war die junge Frau geheilt, zumindest behauptete es der Arzt. Der Sklavenhändler versprach zu zahlen, nachdem er die nächste Nacht abgewartet hatte. Einer seiner leichtesten Erfolge.

Ein Diener des Patriarchen sprach ihn an, er möge ihm bitte folgen. Der Arzt ging seinen Erwartungen entgegen: langes, lockiges, tuscheschwarzes Haar, samtige Haut, schlanke Arme, die Fortsetzung des Augenlächelns, das ihn in den Gassen ansprach, mit anderen Reizen. Er kannte das Alter der Patientin nicht, vielleicht war seine Erregung verfrüht. Dem Diener hinterher, einige Treppen hinauf, an einem Balustergeländer entlang, zu einer Tür. Der Diener blieb stehen, drehte sich zum Arzt um und fragte ihn, welches seiner Augen stärker sei. Der Arzt, unvorbereitet, wußte keinem seiner Augen den Vorzug zu geben. Der Diener trat hinter seinen Rücken, zog eine schwarze Binde über das linke Auge des Arztes und schnürte sie an seinem Hinterkopf fest. Er vergewisserte sich, daß die Binde richtig saß, erst dann öffnete er die Tür, vor der sie standen. Wenn Frauen nur halb soviel wert sind wie Männer, kam dem Arzt in den Sinn, dann ist es nur billig, daß Männer sie nur halb zu Angesicht bekommen. Zunächst glaubte er, sie seien alleine, doch dann vernahm er ein Tuscheln. Er vermutete, daß einige Frauen hinter dem Paravent standen, der das Zimmer teilte. Vor ihm stand ein niedriges Bett, daneben einige breite, dicke Kissen. Nehmen Sie Platz, Sheikh, bat der Diener. Der Arzt nahm die würdevollste Sitzhaltung ein, zu der er fähig war. Er spürte, wie sich jemand von hinten näherte. Leicht, fast unmerklich wandte er seinen Kopf nach rechts, und aus dem Augenwinkel traten drei Frauen in sein Sichtfeld, drei Paar Pantoffeln, drei Überwürfe. Zwei der Frauen schienen die dritte zu stützen. Sheikh, hörte er den Diener zu seiner Linken sagen, wenn Sie nun bitte dies hier benutzen würden. Der Arzt blickte auf den Gegenstand, der ihm in die Hand gelegt wurde. Es war ein Kaleidoskop. Setzen Sie es an Ihr Auge, sagte der Diener. Rufen Sie laut, wenn Sie mich brauchen; ich stehe vor der Tür. Der Arzt drückte den Zylinder an sein rechtes Auge. Farben zerbrachen, Bruchstücke, zusammengewürfelt, auseinandergeschleudert. Er riß das Kaleidoskop weg — Wie soll das denn gehen! — , die Stimme des Dieners ermahnte ihn: Entfernen Sie es nicht! Geduld, Sie werden schon genug zu sehen bekommen. Erneut stülpte er sich das zerfließende Mosaik über das Auge. Er hörte Stoff rascheln, er spürte den Mißmut, den eine chronische Krankheit verursacht. Jemand berührte das Kaleidoskop. Die Farben sprangen heraus, er sah eine kleine Hand, einen Wandteppich, eine Nase, die sich in ein Gesicht zurückzog, das unverhüllte Gesicht eines Mädchens, dessen Blick belustigt und neugierig auf den halb blinden, halb binokulierten Arzt ruhte. Er lächelte und richtete das Gerät auf die Lippen des Mädchens, die sich bewegten. Ich bin gar nicht krank, sagte das Mädchen, aber meine Mutter. Das Sichtrohr in seiner Hand wanderte weiter, zu der Frau, die auf dem Bett lag. Alles an ihr war verborgen, außer ihrem Schmerz. Wie soll ich sie untersuchen? Der Arzt lachte grimmig. Ich hätte zum Zwecke der Diagnose genausogut zu Hause bleiben können. Wir können es wie bei den anderen Ärzten machen, sagte das Mädchen. Sie sagen mir, was Sie brauchen, und ich helfe Ihnen. Wenn wir mit dem Puls beginnen könnten, sagte der Arzt, das wäre ein guter Anfang. Der Arm der Kranken wurde ihm gereicht. Auf das Handgelenk folgten die Augen, der Rachen. Mit der Linken hielt er das Kaleidoskop, mit der Rechten tastete er die Schmerzlinien ab, die sich über den Rücken der Frau zogen, über die Nieren und die Leber bis zum gekröselten Bauch, wo seine Untersuchung endete. Einmal mußte er das Okular zur Seite legen, um eine Schwellung mit beiden Händen abzutasten. Er wurde von den Frauen nicht abgemahnt.

Die Untersuchung bereitete ihm wenig Freude. Die Frau gab von Zeit zu Zeit gnatzige Laute von sich, auf die ihre Tochter mit gurrenden Beschwichtigungen reagierte. Nichts an ihrem Leiden weckte sein Mitgefühl. Der Arzt wollte die Enttäuschung so rasch wie möglich hinter sich bringen, zumal er sich nicht sicher war, wie er der Patientin Erleichterung verschaffen, geschweige denn sie heilen konnte. Er begann über eine Diät zu referieren, und er erklärte, er werde ein Rezept schreiben und dem Hausherrn übergeben. Er wollte sich verabschieden, als die dritte Frau, die sich bislang in Schweigen gehüllt hatte, ihn bat, er möge noch ein wenig länger bleiben, da er schon im Haus sei, sie habe auch eine Beschwerde, eine kleinere. Zuerst aber müßten sie ihre Mutter in ihr Bett zurückbringen. Der Arzt erklärte sich einverstanden. Er blieb sitzen und kostete den Nachgeschmack der Stimme aus, die zuletzt gesprochen hatte. Die dritte Frau war älter als ihre Schwester, erwachsen, schlank, würdevoll, eine selbstbewußte Frau. Die zwei jüngeren Frauen kehrten zurück. Ich bin verheiratet, sagte die Ältere. Bitte setzen Sie das Teil wieder auf, sagte die Jüngere. Mein Mann erwartet von mir Kinder — jedes Wort schien sie viel Überwindung zu kosten —, und Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Sie zog ihren Schleier weg und entledigte sich ihres Überwurfes. Alles liegt in Gottes Hand, murmelte der Arzt. Gewiß, Sheikh, sagte sie, aber vielleicht ist etwas an mir nicht in Ordnung, etwas, das in Ihrer Hand liegt? Sie trug dunkles Rot. Wenn ein so berühmter Arzt wie Sie mir versichern könnte, daß ich gebären kann. Der Arzt konnte sein Kaleidoskop nicht von ihrem Gesicht abwenden. Gewiß, murmelte er und verlor sich in ihren Zügen, die von Trauer geprägt waren. Wenn ich in Ihre Augen sehen dürfte? Er näherte sich ihrem Gesicht, bis auf die halbe Elle, die das Okular maß. Ihre tiefdunklen Augen waren zwei Fische, die in einem unergründlichen Geist schwammen. Weit oben auf ihrer Wange, unter dem rechten Auge, war ein Muttermal, als hätte sie vergessen, eine schwarze Träne wegzuwischen. Aus der Nähe wirkte es überflüssig, doch in ihrem Gesicht war es ein Bestandteil ihrer Vollkommenheit. Sie legte sich hin. Beginnen Sie, Sheikh. Er zögerte. Wie sollte er die Gebärfähigkeit einer Frau prüfen? Er maß zuerst den Puls, um Zeit zu gewinnen, aber die Zeit lieferte nur Bedenken. Er konnte ihr kein Kind versprechen. Einige harmlose Fragen nach Appetit und Verdauung bescherten ihm weiteren Aufschub. Die Schuldzuweisungen einer fremden Ehe gingen ihn nichts an, nicht einmal als Arzt. Wie sollte er eine Zusicherung von solcher Tragweite abgeben? Sie sind gehemmt, Sheikh, unterbrach sie seine Gedanken, in greifbarer Ferne. Sie müssen mich richtig untersuchen, es geht um mehr als nur um mein Leben. Ich weiß, Ihnen ist unwohl dabei, aber ich bitte Sie, überwinden Sie sich, untersuchen Sie mich. Ihre Schwester kniete sich neben ihr nieder und begann sie auszuziehen. Und wenn es Sie zu sehr behindert, legen Sie das Gerät ab. In Notfällen dürfen wir die Regeln mißachten, nicht wahr? Und sie sah ihn mit einem Blick an, in dem er gerne stundenlang gelesen hätte. Er sah ihren Bauch, hell und leicht gerundet. Die Schwester ergriff seine Hand und legte sie auf den Nabel. Er sah seine Hand durch das Okular, als würde sie zu einem anatomischen Stilleben gehören. Er traute sich nicht, sie zu bewegen. Die Haut war kühl und samten. Wie erwartet. Mit Erschrecken nahm er seine Erregung wahr. Ob etwas unter seiner Gellabiya zu erkennen war? Er konnte nicht mit dem Kaleidoskop in der Hand an sich selbst hinabblicken. Die Peinlichkeit. Sie würde sich noch weiter ausziehen, und er, er würde auf ihr Leid nur mit triebhafter Lust reagieren können. Er mußte verschwinden. Er zog seine Hand zurück. Verzeihen Sie mir, ich muß gehen. Beide Schwestern blickten ihn erstaunt an. Er stand schon, ließ das Kaleidoskop fallen, blickte zur Tür. Es hat nichts mit Ihnen zu tun, verzeihen Sie mir. Schon war er an der Tür. Ich habe keine Entschuldigung. Warten Sie, rief die ältere Schwester. Wenn es so nicht geht, Sie können auch die Augenbinde abnehmen. Der Arzt riß die Tür auf und eilte hinaus. Er entfernte sich mit dem Geschmack der eigenen Unzulänglichkeit auf der Zunge.


Im Monat von Muharram des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

SHARIF: Wir danken dem Gouverneur für seine Einladung. Wahrlich, diese Angelegenheit, wir können es nicht anders ausdrücken, als daß sie von einer Bedeutung ist, die unser Augenmerk, unser aller Augenmerk in allerhöchstem Maße erfordern dürfte.

GOUVERNEUR: Bevor wir uns mit ihr befassen, vielleicht sollten wir zuerst, solange wir noch bei wachem Verstand sind, die Abrechnung der Naib al-Haram vornehmen.

KADI: Selbstverständlich, selbstverständlich. Das Geläufige vor dem Ungewissen. Heute morgen haben der Sharif und ich alle Rechnungen der Wächter der Kaaba überprüft. Die Einnahmen sind gestiegen, Gott sei gedankt, um zwölf von hundert.

SHARIF: In diesem Schriftstück hier ist die Zahl der Beutel, die wir in diesem Jahr nach Istanbul schicken werden, vermerkt, und wir überreichen Ihnen wie üblich alle betreffenden Dokumente, nicht nur die abschließende Bilanz, auch die Aufschlüsselung aller Einnahmen, aller festen Kosten, aller unerwarteten Ausgaben, Renovierungen und alles weitere, was mir im Augenblick nicht einfällt, wie gewünscht, damit nicht der Verdacht einer Unregelmäßigkeit auf uns fällt, die offene Abrechnung, so wie Sie sie eingeführt haben.

GOUVERNEUR: Hervorragend. Auf die Eunuchen scheint Verlaß zu sein. Erfreulich, unsere Zusammenarbeit in diesem Bereich, wirklich erfreulich.

KADI: Erfreulich für Sie, schließlich zahlen wir. Sie haben Anlaß zur Zufriedenheit, und uns bleibt die Pflicht zur Freude.

SHARIF: Der Kadi meint …

GOUVERNEUR: Ich verstehe wohl, was der geschätzte Kadi meint. Er übersieht, wie teuer uns die heiligen Stätten zu stehen kommen. Ihr Schutz kostet uns jährlich soviel wie ein Feldzug, und in diesem Jahr, da wir einen kostspieligen Krieg zu führen haben, ist die Finanzlage des Kalifats auf das äußerste angespannt.

SHARIF: Wundervolle Erfolge, das muß ich sagen, auf dem Schlachtfeld, unsere Gebete sind erhört worden, wir haben die Ungläubigen in die Schranken gewiesen.

KADI: Vortrefflich. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, die Siege gegen Moskau seien vor allem den britischen und französischen Armeen zu verdanken.

SHARIF: Und Gott dem Allmächtigen …

KADI: Sei gedankt.

SHARIF: Um so mehr Grund, den Frieden zu schätzen, der bei uns herrscht.

GOUVERNEUR: Der Kadi ist zu jung, um sich an die grimmigen Zeiten zu erinnern, als wir nicht den gleichen Schutz gewähren konnten wie heute. Als vierzigtausend Wilde Mekka, Gott möge sie erhöhen, überfallen haben. Sharif Ghalib, Sohn von Sharif Masad, hatte die Wahhabi unterschätzt. Sie haben geraubt, gemordet, sie haben heilige Orte zerstört, weil sie angeblich den Irrglauben förderten. Was lernen wir daraus? Wir dürfen nie wieder so schwach sein wie damals. Unsere Truppen mußten sich in der Festung verschanzen, sie waren bereit, sich zu wehren, aber nicht in der Lage, die Stadt zu verteidigen.

KADI: Und Sharif Ghalib?

SHARIF: Ich war ein Kind, meiner eigenen Erinnerung kann ich nicht trauen, aber mir ist zugetragen worden, daß mein verehrter Vater, Friede sei mit ihm, nach Djidda geeilt ist, um von dort aus den Widerstand zu organisieren.

GOUVERNEUR: Das habe ich auch gehört. Obwohl sich hartnäckige Gerüchte halten, er habe sich dort versteckt.

SHARIF: Je ehrenvoller eine Familie, desto mehr Feinde hat sie. Manche Feindschaften überdauern Generationen.

GOUVERNEUR: Unser Schutz, denke ich, ist mehr als diese Bündel wert. Der Appetit der Wahhabi ist groß, ebenso der Appetit der Briten. Wir sind von großer Gier umgeben, wir sollten gemeinsam auf der Hut sein. Wenn wir nicht alles verlieren wollen.

KADI: Manche von uns haben mehr zu verlieren als andere. Die Wahhabi, sie übertreiben gelegentlich, aber sie sind stark im Glauben, und das sind nicht viele in diesen Zeiten.

GOUVERNEUR: Wir sollten uns der Angelegenheit widmen, mit der wir uns zu befassen haben. Sie haben die Unterlagen gelesen, die ich Ihnen geschickt habe? Dieser britische Offizier, er hat die Leute, die ihn auf seiner Hadj begleitet haben, sehr genau beschrieben. Er nennt sogar ihre Namen. Falsche Namen, dachten wir zuerst, aber dem war nicht so: Wir haben die meisten von ihnen ausfindig machen können. Wir werden sie im Laufe der nächsten Monate verhören, wenn Gott es so will. Zwei von ihnen leben allerdings in Ägypten. Wir haben unsere Brüder dort gebeten, sie zu befragen. Erst heute morgen haben wir Antwort erhalten. Die gute Nachricht: Beide Männer leben noch — sie haben bereitwillig Auskunft gegeben.

KADI: Und die schlechte Nachricht?

GOUVERNEUR: Sie werden sehen. Ich bin mir nicht sicher, was uns diese Zeugnisse sagen. Doch lesen Sie selbst.

SHEIKH MOHAMMED

Gewiß entsinne ich mich dieses Mannes. Ich bin stolz, sein Lehrer gewesen zu sein. Aywa, aywa, aywa. Sheikh Abdullah war ein gebildeter, ein vornehmer Mann, ein hervorragender Arzt, seine Hilfe habe ich selber nicht benötigt, Gott sei gedankt, aber Geschichten über seine Fähigkeiten waren in aller Munde, er war ein Arzt, der tatsächlich heilte. Ein guter Moslem, fast verlor er sich in den Fragen des Glaubens, den praktischen Dingen war er nicht zugetan, ich mußte ihn des öfteren warnen, ohne meine Aufsicht, er wäre um so viel mehr belogen und bestohlen worden. Nur eine Angelegenheit, wenn Sie mich so nachdrücklich fragen, was mir an ihm nicht in Ordnung schien, er war ohne Ehefrau — wissen Sie, ob er in der Zwischenzeit geheiratet hat? — , ich bete seitdem für ihn, daß er eine gute Frau finden möge, es hat mir nicht gefallen, die Blicke, die ihm manche Frauen zuwarfen, er war ein hochgewachsener Mann mit einem schönen Gesicht, voller Licht, keiner kann der Versuchung ein Leben lang widerstehen, der Prophet, möge Gott ihm Frieden und Segen geben, er wußte, am besten erwehrt der Mensch sich der Sünde, indem er die Versuchung beseitigt. Aber abgesehen von dieser Sorge? Nein, nein, Sie säen Zweifel, die ohne Berechtigung sind, das ist nicht nur ungebührend, das ist gefährlich. Er war der ernsthafteste Schüler, den ich je hatte, gewissenhaft, Sie glauben nicht, manchmal, wenn ich einer der schwierigen Passagen des Glorreichen Korans nicht ausweichen konnte, wir lasen die Strophe gemeinsam, mehrere Male, und er drängte mich dazu, sie zu erleuchten, dann, ich muß gestehen, in seltenen Fällen täuscht der Lehrer Wissen vor, und so gab ich, nicht blind, aber doch mit altersschwachen und halb zugekniffenen Augen, eine Schätzung der Bedeutung ab, und ich erwartete, wie es bei allen anderen Schülern geschieht, daß meine kleine Täuschung akzeptiert wird und bald darauf in Vergessenheit gerät, so daß meine Ehre gewahrt bleibt, doch dieser Schüler, er vernahm jedes meiner Worte zu genau, er durchschaute den Betrug, und er verlor darüber seine Beherrschung, er rief mit lauter Stimme aus: Wahrlich, es gibt keine Kraft und keine Macht, wenn nicht in Gott, dem Höchsten, dem Größten. Worauf Scham mich ergriff, und ich flüsterte, zur Demut zurückfindend, die jedem von uns gebührt: Fürchte Gott, oh Mensch! Fürchte Gott. Nun sagen Sie mir, würde ein Ungläubiger das heilige Buch so schützen vor dem Hochmut eines alten Lehrers?


Von Anfang an hatte er gespürt, daß er diesem Mann nicht trauen durfte. Nun, da er so laut bullerte, wie wohl nur ein korpulenter albanischer Bashibazuk zu bullern vermag, war es zu spät. Was hatte ihn nur zu diesem Wahnsinn getrieben? Gleich würde die ganze Karawanserei erfahren, daß der angesehene Arzt einem ungehobelten Klotz seine Freundschaft geschenkt hatte. Schlimmer, viel schlimmer noch: der geachtete Derwisch hatte an einem Trinkgelage teilgenommen. Als Derwisch durfte er sich einiges erlauben, aber nicht dies! Auch wenn er sich nicht in Rage und um jegliche Vernunft gesoffen hat, im Gegensatz zu dem Albaner, der um sich schlug, als versuche er die Ehre seiner Schwester zu verteidigen, nachdem er sie selbst an ein Bordell verkauft hat.

Erst am Tag zuvor hatten sie sich kennengelernt. Sheikh Abdullah, auf einen Gruß vorbeigekommen, traf im Zimmer von Hadji Wali auf Ali Agha, einen breitschultrigen Mann mit gewaltigen Augenbrauen, feurigen Augen, dünnen Lippen und einem Kinn, an dem man ein Boot hätte vertäuen können. Dieser Mann war ihm schon mehrmals aufgefallen, wie er mit militärischem Gehabe durch die Herberge stolzierte, eine Hand angelegt, als befände sich eine Waffe an seinem Gurt. Sein Gang wurde von einem Hinken gehemmt, und er versuchte, seine Kultiviertheit mit einer übertriebenen Schroffheit zu verhüllen. Die Unterhaltung mit ihm verlief schleppend. Er bediente sich des Arabischen nur, wenn er sich verständlich machen mußte, ansonsten sprudelte es türkisch aus ihm heraus. Als Hadji Wali in den Hof gerufen wurde, beugte sich Ali Agha zu Sheikh Abdullah und flüsterte ihm zu: Raki? So etwas gibt es in diesem Haus nicht, antwortete der Sheikh vorsichtig, worauf der albanische Offizier von den irregulären Truppen höhnisch grinste und den Sheikh einen Esel schimpfte.

Doch am nächsten Tag suchte Ali Agha ihn wie selbstverständlich in seinem Zimmer auf. Er redete sich in Fahrt, holte kaum Atem, zog gierig an der Wasserpfeife und begleitete seinen türkischen Schwall mit Gesten, die durch die verrauchte Luft schlugen. Als er sich schließlich erhob und der Sheikh es ihm nachtat, schlang er seine Arme um dessen Taille, als wollte er Kräfte messen. Der albanische Offizier traute dem indischen Arzt wenig zu, so locker und nachlässig war sein Griff. Im nächsten Augenblick flog er durch die Luft, sein Kopf landete auf der Matratze, sein Hintern auf dem steinernen Boden und seine Beine knapp neben der Wasserpfeife. Er richtete sich auf und blickte seinen Gastgeber zum ersten Mal mit Interesse an. Wir beide, wir werden gut miteinander zurechtkommen! Er richtete sich auf. Du darfst mir noch eine Pfeife anbieten. Er stemmte die Fäuste in die Hüften. Ich bleibe noch ein wenig. Aus frisch erworbener Hochachtung vor dem Sheikh wechselte er ins Arabische und radebrechte eifrig wie zuvor, aber nun verständlich, von den Heldentaten seines Lebens. Zur Veranschaulichung krempelte er die Ärmel hoch, zog die Hosenbeine hoch, zeigte auf Wunden, er folgte mit seinem Finger den Topographien alter Verletzungen, denen alles nachgesagt werden konnte. Bei uns in den Bergen, selbst Kinder spielen mit dem Leben, wer einen Türken ärgert, wird von allen anderen geachtet. Ich war der Frechste, der Türke hat angelegt, ich hatte keine Angst, die Kugel hat mein Schienbein zertrümmert. Drei Elogen auf die eigene Größe später erklärte er den Arzt zu seinem Kumpanen, weswegen er ihn um einen kleinen Gefallen bitten müsse, etwas Gift solle er ihm geben, ein Gift von geringer Wirkung, das niemals lügt, da gebe es diesen Feind, der ruhiggestellt werden müsse. Er zeigte sich nicht überrascht, als der Arzt sofort eine Schatulle öffnete und ihm fünf Körner überreichte. Vorsichtig ließ er sie in das Säckchen fallen, das ihm um den Hals hing. Hätte er nachgefragt, der Arzt hätte ihm wahrheitsgemäß mitgeteilt, es handele sich um Kalomel, oder — wenn dir dieser Begriff geläufiger ist — Hornquecksilber, das regt den Harn und die Galle an und führt ab wie kein anderes Mittel. Zum Abschied zwang der Bashibazuk dem Sheikh eine Umarmung auf und beschwor ihn, wir müssen zusammen trinken, nicht jetzt, aber am Abend, am späten Abend, du kommst in mein Zimmer.

Als es still war in der Karawanserei, schlich Sheikh Abdullah mit dem Dolch im Gürtel in das Zimmer von Ali Agha. Keiner würde etwas merken; zudem, er konnte jederzeit wieder gehen. Nur auf ein Glas, wegen der Geschichten, die der Albaner zum besten geben würde. Es war an der Zeit, daß er sich mal wieder unverhohlen amüsierte. Bei seiner Ankunft waren die Vorbereitungen für das Gelage abgeschlossen: Mitten im Zimmer standen vier Wachskerzen vor einem einsamen Bett. Daneben eine Suppe, eine Terrine mit kaltem Rauchfleisch, einige Salate und eine Schüssel mit Joghurt. Die Gerichte waren um zwei Flaschen herum aufgereiht, die eine dünn und lang, die andere flach und klein wie ein Flakon. Beide Flaschen waren zur Kühlung in nasse Fetzen gewickelt. Sei gegrüßt, Bruder. Du staunst über die Tafel? Hast du gedacht, ein Albaner weiß nicht, wie man trinkt? Nimm Platz, neben mir. Er zog seinen Dolch heraus und warf ihn in die Ecke, und der Sheikh tat es ihm nach, bevor er sich hinsetzte. Ali Agha nahm einen kleinen Becher in die Hand, inspizierte ihn peinlichst genau, wischte die Innenseite mit seinem Zeigefinger ab, füllte ihn bis an den Rand mit Schnaps aus der langen dünnen Flasche und bot ihn seinem Gast mit einer angedeuteten Verbeugung an. Sheikh Abdullah lobpreiste den Geber, während er den Becher entgegennahm. Dann leerte er ihn in einem Zug. Er setzte den Becher auf dem Boden ab, umgedreht, um zu demonstrieren, daß es mit rechten Dingen zuging. Die Zeremonie setzte sich Becher um Becher fort. Wasserschlucke linderten das Brennen im Rachen, löffelweise nahmen sie die Speisen ein. Der albanische Offizier hatte das Gelage alleine begonnen, er war vor einiger Zeit ausgelaufen und segelte mittlerweile auf hoher See, doch er schluckte einen Becher nach dem anderen, ohne die Selbstkontrolle zu verlieren oder seine Lust auf Epopöen. Bei uns in den Bergen, wenn zwei Männer Streit haben, ziehen beide ihre Waffe, setzen die Pistole dem anderen an die Brust. Ali Agha machte eine dramatische Pause. So streiten sie weiter, bis sie sich einig sind, wenn einer den Abzug drückt, wird er erschossen von dritten und vierten. Worauf der Bashibazuk das Gesicht seines Trinkkumpanen inspizierte, um unangemessene Spuren von Entsetzen oder Verachtung zu entdecken. Angesichts des belustigten Ausdrucks, den Sheikh Abdullah aufsetzte, griff er befriedigt nach dem Flakon, füllte seine Handflächen mit Parfüm und schlug sich den Duft auf die Wangen. Sheikh Abdullah folgte seinem Vorbild. Warte, keine weitere Geschichte! Er war der Roheiten überdrüssig, ihm war nach Verzauberung, ihm war danach, den Diktaten des Scharfrichters und dem kraftvollen Wohlgeruch zu entkommen mit einem Vers, einem passenden Vers, den er deklamierte, die ersten Worte wie Kanonenschüsse, damit der Albaner von allem anderen abließ:

Nacht ist angebrochen, Freund.

Schüre unser Feuer mit Wein.

Damit wir, beim Schlaf der Welt,

Im Dunkeln die Sonne küssen.

Die letzten zwei Zeilen sprach er wie eine Liebeserklärung. Was für ein Gedicht! Ali Aghas Gesicht leuchtete auf. Solche Gedichte gibt es! Er küßte den Sheikh auf die Wangen, einige Male, bis dieser das Gesicht des Albaners in seine Hände nahm und freundlich von sich schob. Sie leerten einen weiteren Becher und lehnten sich zurück; mit dem Mundstück in der Hand, bliesen sie genüßlich dicke Schwaden durch die Luft. Ali Agha begutachtete das Geleistete, er erklärte sich mehr als zufrieden mit dem Verlauf ihrer anständigen Sünde. Aber die Zufriedenheit sackte bald in sich zusammen, der Bashibazuk wurde unruhig, er benötigte weitere Höhepunkte. Er richtete sich auf, er preßte seine Handflächen zusammen und rief aus: Das ist es, Bruder. Wir müssen etwas Großes tun. Etwas wahrhaft Großes! Was gibt es schon Größeres als dies? fragte der Sheikh desinteressiert. Wir müssen unseren Freund Hadji Wali bekehren. Er weiß nicht, wie man das Leben genießt. Was für eine drollige Idee, bemerkte der Sheikh. Kennst du etwa ein lohnenderes Opfer? Nein! Der Bashibazuk war resolut. Es muß Hadji Wali sein, kein anderer. Wir werden ihm das Saufen lehren wie das Einmaleins. Er wird es uns danken, wenn es ihm so gut wie uns geht. Wieso denn nicht, torkelte es Sheikh Abdullah durch den Kopf, bei seiner Figur, wer weiß, vielleicht ist er bereit, ein Konvertit inkognito, vielleicht wartet er nur auf eine Einladung. Auf unsere Einladung. Er stand auf und erklärte mit übervoller Würde, er werde Hadji Wali holen.

Der Händler hatte sich bereits zur Nachtruhe begeben. Er wunderte sich über den strengen Geruch, der seinem jüngeren Freund anhaftete, und auch über die Überraschung, die der indische Arzt ihm versprach, mit kindlicher Begeisterung in der Stimme. Widerwillig folgte er ihm, zum Zimmer von Ali Agha, das er noch nie betreten hatte. Der Bashibazuk sprang auf, packte ihn an den Schultern, drückte ihn auf eines der Sitzkissen nieder. Schon hielt er einen Becher in der Hand, schon war der Becher voll, und zu seinem Entsetzen begriff Hadji Wali, daß der Offizier ihm Alkohol reichte. Er stieß das Angebot angewidert weg. Der Bashibazuk zog beleidigte Grimassen und beharrte auf seiner Einladung. Hadji Wali weigerte sich standhaft. Ali Agha setzte eine Fratze der Verachtung auf und führte den Becher an seine Lippen. Er verschlang den Inhalt, leckte sich nachdrücklich die Lippen, zwang seinem Gast eine Wasserpfeife auf und sammelte sich zum nächsten Angriff. Der Hadji protestierte vergeblich, er habe ein Leben lang diese Sünde vermieden, er versprach, am nächsten Tag mit ihnen zu trinken, er drohte mit der Polizei, er zitierte den Koran. Kaum war er ans Ende der beschworenen Sure angelangt, holte Ali Agha tief Luft. Sünde ist Sünde, und morgen ist morgen, aber was im Koran steht, das weiß ich auch, und dazu noch besser. Er schleuderte seine Arme nach vorne, so als streue er Gaben unter die Anwesenden. Der Koran, dozierte er selbstbewußt wie ein Alim von der Al-Azhar-Universität, sitzt einige Male über Alkohol zu Gericht. Dreimal. Der Albaner suchte drei Finger zusammen und hielt dann seine Hand hoch. Und alle drei Male wird etwas anderes gesagt. Wieso? Das erste Mal: Gott warnt vor zuviel Saufen. Wir fragen uns: wann war das? Das war, bevor er zu Abend gegessen hat. Das zweite Mal: Gott hat zu Abend gegessen, Gott hat … nun, er hat etwas gebechert, es geht ihm nicht ganz so gut, also empfiehlt er uns streng … überhaupt nicht … zu saufen. Das nimmt sich jeder vor, der nicht vertragen kann, was er intus hat. Dann, das dritte Mal: Gott verbietet das Saufen, völlig … ratzeputz, und wann war das, meine Brüder? Das war am nächsten Morgen, als Gott mit einem schrecklichen Kater aufgewacht ist. Ha! Wieso beachtest du also die Regeln eines Verkaterten, noch bevor du selber einen einzigen Schluck probiert hast?

Ehe Ali Agha, der von seiner eigenen Geschichte völlig eingenommen war, die Pointe gesetzt hatte, war Hadji Wali aufgesprungen, er lief aus dem Zimmer, ohne Rücksicht auf Verluste — er ließ sein Käppi, seine Pantoffeln und seine Pfeife zurück. Der Bashibazuk traute sich eine Verfolgung nicht zu. Statt dessen begann er, Parfüm auf Käppi, Pantoffel und Pfeife zu träufeln und den Händler einen Maulesel zu schimpfen, in mehr Sprachen, als ihm geläufig waren. Er lud seinen ehrenwerteren Gast ein, das restliche Abendessen nicht zu vergeuden, und sie bedienten sich einträglich an der Suppe und an dem Rauchfleisch und halfen der Verdauung mit einer weiteren Wasserpfeife nach. Ein sanfter Friede setzte ein, der neuerlich vom Bashibazuk sabotiert wurde. Aus unsicherem Stegreif verkündete er dramatisch, er sehne sich nach schönen Tänzerinnen, nach etwas Schauspiel, um seine Augen zu beglücken. Das ist in den Wakalahs verboten, sagte Sheikh Abdullah. Wer, schrie Ali Agha empört, wer hat es verboten? Der Pascha selbst, antwortete der Sheikh, der Pascha in seiner ganzen Weisheit. Wenn es ist, wie du sagst, erklärte Ali Agha feierlich, während seine Finger seinen flattrigen Schnurrbart zu zwei aufgerichteten Nadeln zwirbelten, dann wird der Pascha selbst für uns tanzen müssen. Und er stürzte hinaus.

Sheikh Abdullah stöhnte und richtete sich auf. Der Abend geriet außer Kontrolle. Dies ist deine letzte Chance, drängt ihn eine benebelte innere Stimme. Kehre in dein Zimmer zurück, schließe die Tür ab und lege dich schlafen. Aber der Teufel schlägt in die Kerben, und der Sheikh redete sich ein, dem Bashibazuk in seiner Verwirrung zur Seite stehen zu müssen, und so folgte er ihm durch die Galerie, zog ihn von der Balustrade weg, beschwor ihn, mit Worten und einem festen Griff an seinem knüseligen roten Fustan, er möge in sein Zimmer zurückkehren. Aber Ali Agha hörte auf ihn so wenig, wie er auf eine Ehefrau hören würde. Er nahm Anstoß an den freudlosen Ratschlägen, seine Wut wuchs. Er schlug um sich, wie ein blinder Faustkämpfer, er traf nur Luft, immer wieder traf er die Luft, dann hielt er inne, senkte den Kopf, so als lausche er, als warte er auf Eingebung. Sheikh Abdullah ließ von ihm ab. Vielleicht war der Sturm verflogen, und er könnte sich gleich verabschieden. Nein, der Bashibazuk stürzte sich auf die nächste Tür, brach sie mit der Schulter auf und torkelte in einen Raum, in dem, wie ein halber Mond ausreichend erhellte, zwei ältere Frauen neben ihren Männern auf dem Boden schliefen. Sie wachten auf, und wer weiß, was sie zu erblicken glaubten, aber was immer es auch war, sie zeigten sich keineswegs eingeschüchtert, sie wehrten sich — während sie sich aufrichteten — mit einem Hagel wildester Beschimpfungen, die selbst einen albanischen Offizier von den irregulären Truppen beeindruckten. Er trat einen geordneten Rückzug vor den Zungen dieser grummelnden Frauen an, er taumelte die enge Treppe hinunter und fiel über den eingemummelten Nachtwächter, dessen Schnarchen in ein Kreischen überging. Unter den Dienern, die im Hof schliefen, und die sich nun alle regten, war auch der Gehilfe von Ali Agha, ein jüngerer, stämmiger Albaner, der den Sheikh um Hilfe bat, seinen Herrn in dessen Zimmer zurückzubringen. Doch der Bashibazuk war nicht zu beruhigen, er trat und spuckte und schlug um sich und schrie … Ihr Hunde, ich habe euch entehrt! … bis weitere Diener seine Glieder fest packten. Sie trugen ihn die Treppen hinauf, schleppten ihn in sein Zimmer, beobachtet von allen Bewohnern der Karawanserei, die aus ihren Zimmern geschlüpft waren, beunruhigt, neugierig, und nun den Flüchen des besoffenen Albaners ausgesetzt: Ihr Ägypter! Ihr seid ein Geschlecht von Hunden! Ich habe euch entehrt, ich habe Alexandria, Kairo und Suez entehrt! Das waren seine letzten Worte, bevor er, kaum lag er auf seinem Bett, in einen tiefen Schlaf fiel. In dem Gerangel hatte einer der Helfer die Flasche Raki umgestoßen, und die erleichterten Diener mußten, barfüßig, wie sie waren, durch den nassen Gestank aus dem Zimmer tapsen. Sheikh Abdullah hob das Flakon auf, spritzte eine starke Dosis auf Bett und Boden und überreichte es draußen vor der Tür dem Diener von Ali Agha. Um die Spuren zu verschleiern, sagte er. Als er sich in sein Zimmer zurückzog, sah er, auf der anderen Seite der Galerie, Hadji Wali mit einer Lampe in der Hand, der ihn lange anblickte. Nicht vorwurfsvoll, wie er erwartet hätte. Enttäuscht nur, und mit dem traurigsten Blick Kairos.


Im Monat von Safar des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

HADJI WALI Ich konnte meinem irregeleiteten Freund nur noch einen Ratschlag geben: Brich sofort zur Hadj auf. Ich wußte zu gut, was folgen würde. Die ganze Karawanserei würde nur noch über diese Nacht reden, über den albanischen Bashibazuk, der an Bösartigkeit seinesgleichen suchte, und über den indischen Arzt, der sich als maßloser Heuchler entlarvt hatte. Niemand würde sich daran erinnern, daß dieser fremde Arzt so viele geheilt hatte, ohne etwas dafür in Rechnung zu stellen. Sein Ruf war zerstört. Wäre er in Kairo geblieben, er hätte in ein anderes Viertel ziehen müssen. Wer kann das verstehen? Ein so guter Mensch. Und trotzdem, als ihn der Teufel belog, hat er Ehre und Leumund weggeworfen für einige Becher Alkohol mit einem verrückten Albaner. Was für eine Verschwendung!

KADI: Das sagt uns wohl genug. Widerlich. Aber wenn der geschätzte Gouverneur der Ansicht ist, solch abscheuliche Lektüre diene der Wahrheitsfindung. Weitere Beweise benötigen wir wohl nicht — sein Glaube war reine Maskerade.

GOUVERNEUR: Wenn jeder, der gelegentlich trinkt, von dem wahren Glauben ausgeschlossen wird, dann dürfte die Gemeinschaft der Gläubigen sehr klein werden.

KADI: Lautet so heutzutage die offizielle Position des Kalifats? Sultan Abdulmecid, so ist zu hören, liebt das rote Gift aus Frankreich.

GOUVERNEUR: Ich spreche von den Tatsachen. Selbst hier in der Gesegneten Stadt, habe ich mir sagen lassen, wird Raki zum Verkauf angeboten.

SHARIF: Wie sollen wir das verhindern? Die Strafen …

KADI: … werden nicht konsequent durchgesetzt.

HADJI WALI Ja, es stimmt, ich habe ihm davon abgeraten, sich als Perser auszugeben, überall würde ihm Verachtung entgegenschlagen, und im Hijaz würden sie ihn vielleicht verprügeln oder gar töten. Er hat meinen Rat sehr bereitwillig befolgt, gewiß, aber folgt daraus, daß er nicht jener war, der er vorgab zu sein? Obwohl, es wurde mir eigentlich nie klar, was zu sein er vorgab. Er hüllte sich in Unklarheit. Er sprach in so vielen Zungen. Aber mir konnte er nichts vormachen. Ich wußte natürlich, daß er ein Abgefallener war. Nein, nicht wie Sie sagen, das kann ich nicht glauben. Er hat etwas ganz anderes verheimlicht. Die ganze Zeit tat er so, als würde er der Shafi-Schule angehören. Aber das stimmte nicht. Sehen Sie, ich habe begriffen, daß er Taqiyya praktiziert, so wie seine Tradition es ihn gelehrt hat. Sie wissen, die Shia halten es für ihr gutes Recht, ihren wahren Glauben wenn nötig, wenn überlebensnotwendig, zu verbergen. Das ist der Boden der Wahrheit. Er war ein Shia. Mit Sicherheit war er auch ein Sufi. Bei allem anderen bin ich mir nicht so sicher.

SHARIF: Ein Sufi, da haben wir es. Wir wissen doch, daß die Sufis den Wein besingen.

GOUVERNEUR: Als Bildnis nur, als Bildnis. Das bedeutet doch nicht, daß sie den Sünden zusprechen.

KADI: Wieso wählen sie ein falsches Bildnis aus? Lassen wir das — was spielt es schon für eine Rolle, daß er getrunken hat, wenn er Shia war. Verdammnis kann nicht verdoppelt werden.

SHARIF: Wenn er Shia war, und diese Tatsache nicht nur seinen Mitreisenden, sondern auch seinen Lesern verheimlicht, dann hat er die Hadj immerhin als Moslem begangen und nicht, wie wir befürchtet haben, als Frevler.

GOUVERNEUR: Das soll er selber mit Gott ausmachen. Die wichtigere Frage bleibt: Hat er spioniert? Angesichts dieser Tatsachen, wer weiß, vielleicht stimmt Ihre Vermutung, vielleicht hat er auch seinen Vorgesetzten falsche Angaben geliefert?

KADI: Halten wir nun den Shia zugute, daß sie eingefleischte Lügner sind?

GOUVERNEUR: Das könnte uns zum Vorteil gereicht haben.

SHARIF: Auch sie lieben die heiligen Stätten, zweifellos.

KADI: Sie lieben die heiligen Stätten so sehr, sie wollen sie unter ihre Kontrolle bringen.

GOUVERNEUR: Wir müssen tiefer graben. Dieser Richard Burton ist ein Meister der Geheimhaltung, und das beunruhigt mich. Solche Menschen verbergen ihre Anliegen vor ihren Allernächsten. Vor sich selbst sogar. War er doch ein Derwisch? Einer von jenen, die einem verwirrten Weg folgen. War er diesem Weg gar treu? An einer Stelle seines Berichts schreibt er, ich habe es mir ungefähr gemerkt: Und nun muß ich schweigen, denn der Pfad des Derwisch darf nicht von profanen Augen betreten werden. Sagt er die Wahrheit, an dieser Stelle? Oder hat er diesen Satz nur hingeschrieben, um sich interessant zu machen? Die Menschen gieren nach dem Wissen, das ihnen verborgen bleibt. Überlegen Sie: Immerhin verweigert er offen seinen Landsleuten Auskunft, und wie wir wissen, sind die Briten so süchtig nach Aufklärung wie die Jemeniten nach Khat. Er führt seine eigenen Landsleute an der Nase herum. Also betreibt er doch Taqiyya!

KADI: Er scheint uns alle an der Nase herumzuführen.

SHARIF: Gott weiß es besser.


Am nächsten Tag kann er seiner eigenen Erinnerung nicht glauben. Wie hat er so etwas tun können? Welcher Teufel hat ihn geritten? Er ist ein komplexes Pack: Mensch und Dämon, er trägt einen kolossalen Saboteur in sich, einen Hohen Gesandten des Teufels, der ihm immer wieder etwas zwischen die Beine wirft, kaum hat er drei erfolgreiche Schritte vollbracht. Keiner wird Mitte Dreißig, ohne schon des öfteren von sich selbst enttäuscht worden zu sein. Wieso das Mißtrauen der anderen abwarten, wenn er sich selber entlarven kann. Wie erbärmlich, und doch, fast ist er stolz darauf. Er hat sich zu sicher gefühlt, ohne Angst, und die Angst hätte ihm den Ratschlag erteilt, einen weiten Bogen um den Teufel zu machen. Der in ihm steckt. Das ist schwierig. Nun, am nächsten Morgen, in einem Zimmer, das aus allen Richtungen von einer tobenden Stadt belagert schien, spürt er die Angst nahen wie den Schmerz einer dauerhaften Verletzung. Angst vor seinem eigenen unkontrollierten, unabsehbaren Verhalten. In Kairo mag manches durchgehen, aber in Mekka würde er mit einem Schlag alles verlieren. Mache es dir bequem, Angst, du bist mir ein willkommener Begleiter. Hadji Wali hatte recht: Vernünftiger ist es, die Stadt so bald wie möglich zu verlassen. Der gefallene Arzt wird dem ganzen Viertel reichlich Unterhaltung bieten.


Es dauerte einen langen Tag in der Wüste, bis er der Stadt entkommen war und der beschämenden Erinnerung. Den Horizont, dem er viele Stunden entgegenritt, wähnte er voller Verheißung, seine Sinne von Luft und Bewegung angeregt, geschärft wie ein Messer. Die Wüste war versehrtes Terrain, eine rauhe Ruine, die Erhebungen zerfurcht wie Walnußschalen, doch sie beflügelte Sheikh Abdullah, der sich am nächtlichen Lager lebendiger fühlte als in der Früh, im Innenhof der Karawanserei noch, neben einigen anderen Pilgern, die ihre Dromedare in die Gasse des Aufbruchs trieben. Hadji Wali und Sheikh Mohammed hatten ihn zum Stadttor begleitet, mit einer verbindlichen Geste des Abschieds, die ihn für eine Weile bedauern ließ, sie verlassen zu müssen. Sie baten ihn nur um ein Gebet am Grabe des Propheten, sie überschütteten den Freund, den Schüler, mit Segenswünschen. Er konnte sich an der kargen Landschaft nicht satt sehen, an dem blauschwarzen Gestein, das seine Farbe änderte, wenn sie näher kamen. In den Schluchten schien es ihm, als blicke er in die Eingeweide der Felsen, die Strähnen, die Lagen, die Knoten; ein Wachsen, das kein Mensch beobachten kann. Die Erde war nackt in der Wüste, der Himmel durchsichtig. Er genoß es, seinen eigenen Körper zu spüren, in der Steifheit der Muskeln, in den Schmerzen, die der Gewöhnung vorausgingen. Sie überquerten einige Wadis, hellsandige Flußläufe, breit wie die Sturmfluten, die sie mit einem Schlag ertränkten, öde bis auf die vertrockneten Erinnerungen. Nur drei Tage war Suez entfernt, aber diese drei Tage würden, das spürte Sheikh Abdullah am Abend, seinen Lebensgeist wiedererwecken. Schon jetzt fühlte er sich befreit. Die Anstrengungen waren willkommen, ebenso die Gefahren, die auf dieser Strecke kaum drohten, die ihn aber gewiß in der Wüste des Hijaz erwarteten. Kairo hatte ihm zugesetzt. Endlich konnte er sich dieses heuchlerischen Arztgehabes enthäuten, er konnte wieder der Typ von Mann sein, den er bewunderte: aufrichtig, großzügig, zielstrebig. Er blickte sich um, beobachtete die selbstverständliche Gastfreundschaft an jedem Lagerfeuer. Die Zivilisation war zurückgeblieben, sie traute sich nicht durch die Stadttore; nach einigen Tagen würde die starre Höflichkeit, das bornierte Verhalten abfallen. Wenn es nicht so unvorstellbar gewesen wäre, er würde auf den Hügel steigen, an dessen Fuß sie kampierten, und seine Euphorie in die Welt rufen, in Erwartung eines Echos, einer Bestätigung. Statt dessen trank er einen starken Kaffee. Weitere Stimulanz war unnötig. Allein der Gedanke an Alkohol war widerlich. Ob es dem albanischen Bashibazuk ähnlich erging, wenn er an seinen Posten im Hijaz zurückkehrte? Sein Appetit war gewachsen, er verschlang ein Essen, das ihm gestern noch ungenießbar erschienen wäre. Dann legte er sich in den Sand, das beste aller Betten, von einer Luft umgeben, die ihn gesunden lassen würde. Er hielt die Augen offen, bis das letzte künstliche Licht des Lagers mit einem Schauder verschwand und die Nacht die Erde in ihren Mund nahm.

Am nächsten Morgen, er hatte gerade aufgesattelt, lief ein junger Mann herbei, ergriff das Halfter des Dromedars und begrüßte ihn eifrig. Erkennen Sie mich nicht wieder? Dieser aufdringliche Kerl, der sich ihm in Kairo, auf dem Markt, aufgezwungen hatte. Er sucht starke Schultern, die ihn nach Mekka tragen, hatte ihn seinerzeit Hadji Wali gewarnt, der jede Verschlagenheit so sicher aufspürte wie ein Falke seine Beute. Gleich wird er dir erklären, wie nützlich er dir in seiner Heimatstadt sein kann. Ich kenne Mekka wie mein eigenes Haus, hatte der junge Mann im nächsten Augenblick behauptet. Wie damals schwankte sein Gesichtsausdruck zwischen Unverfrorenheit und Schmeichelei, wie eine schlecht justierte Schaukel. Ja, ich bin es, Mohammed al-Basyuni; betrachten Sie unser neuerliches Zusammentreffen als Segen. Die Vorsehung, murmelte Sheikh Abdullah, steht auf deiner Seite. Und lauter sagte er: Was führt dich hierher? Wie können Sie so etwas fragen, Sheikh. Ich bin doch auf der Heimreise von Istanbul. Wohin? Ach, Sheikh, Sie haben ja alles vergessen. Nach Mekka der Wohlgefälligen, Gott möge sie erhöhen. Ich habe viel von Ihnen gehört, Sie haben einen reichen Ruf. Seit gestern abend beobachte ich Sie, mit Wohlgefallen, so ist es gefügt, daß ich Sie auf Ihrer Hadj begleite, ich kann Ihnen nützlich sein, nicht zuletzt in Mekka, der Mutter aller Städte, dort kenne ich jeden Stein. Und die Menschen? Die kenne ich noch besser als die Steine. Bist du nicht etwas jung für solch ein umfassendes Wissen? fragte der Sheikh. Der bartlose junge Mann vor ihm, das knochige Gesicht bei ungünstigem Licht einem Totenschädel gleich, zeigte keine Verunsicherung. Ich bin viel gereist. Und ich bin wachsam, wenn ich reise. Ich kenne den Wert des Menschen. Sheikh Abdullah wunderte sich über die Beharrlichkeit dieses Mannes. Er entstammte offensichtlich einer begüterten Familie. Sein Selbstbewußtsein ließ darauf schließen, daß er behütet aufgewachsen war. Der Mensch denkt, sagte der Sheikh bedächtig, und Gott lenkt. Wahrlich, der Wunder sind viele. Ruhm und Ehre für jene, deren Wissen sie alle umfaßt. Wenn du nun mein Dromedar loslassen würdest, ungern wäre ich der letzte in der Karawane. Wir werden uns heute abend gewiß wiedersehen, Sheikh. Wie die anderen vor ihm, ritt er wenig später einen Saum von Palmen entlang, der sich wie eine triumphale Allee ins Nichts erstreckte. Am nächsten Abend würden sie Suez erreichen, das Meer. Dort, spürte der Sheikh, würde die Hadj wirklich beginnen.


Im Monat von Rabi al-Awwal des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

MOHAMMED: Ich hatte ihn von Anfang im Verdacht. Wer so viel herumgekommen ist wie ich, der riecht einen Hochstapler gegen den Wind. Sie müssen wissen, ich kenne Istanbul, ich war in Basra, ich bin bis nach Indien gereist, und dieser Mann behauptete, aus Indien zu stammen. Etwas an ihm hat mich sofort stutzig gemacht.

GOUVERNEUR: Was denn? Etwas genauer bitte!

MOHAMMED: Nichts Bestimmtes, ein Gefühl, eine Vermutung. Er war irgendwie anders, er beobachtete alles, unauffällig, aber mir ist es aufgefallen, er sprach stets langsam, vorsichtig. Wie ein weiser Mann, so ist es manchen der anderen vorgekommen, aber ich dachte mir, der gibt teuflisch acht, ja nichts Falsches zu sagen.

KADI: Basiert dein Verdacht nur auf solchen Mutmaßungen?

MOHAMMED: Das war doch nicht aus der Luft gegriffen. Sie werden sehen, wie recht ich hatte.

SHARIF: Zur Klärung: Der Name deines Vaters deutet darauf hin, daß deine Familie nicht aus Mekka stammt?

MOHAMMED: Wir stammen aus Ägypten, aber wir sind schon lange hier, einige Generationen, wir sind richtige Mekkaner.

KADI: Etwas mehr Bescheidenheit, junger Mann. Die Familie des Sharifs ist in dieser Stadt seit den Tagen von Qusayr angesiedelt. Einige Generationen, die zählen fast nichts.

GOUVERNEUR: Lassen wir ihn weitererzählen, bitte.

MOHAMMED: Beim ersten gemeinsamen Gebet habe ich mich genau hinter ihn gestellt. Um ihn besser beobachten zu können. Ich weiß, die Bekehrten, die machen noch Jahre später Fehler. Wenn er uns etwas vormachte, ich würde es an seinem Gebet merken.

GOUVERNEUR: Und?

MOHAMMED: Nein, nichts, leider nicht. Er muß gut gelernt haben. Das ist doch möglich, oder?

KADI: Was soll möglich sein?

MOHAMMED: Das Gebet in allen Einzelheiten zu lernen und es blindlings vorzuführen.

KADI: Es gibt viele Arten, sich in Gefahr zu begeben. Das Gebet zu mißbrauchen, ist eine davon.

MOHAMMED: Ich habe keines meiner Gebete ausgelassen, und mir ist ganz sicher auch kein Fehler dabei unterlaufen. Ist es etwa nicht meine Pflicht, Frevler und Heuchler zu entlarven, wenn ich ihnen begegne?

GOUVERNEUR: Du hast gut daran getan. Aber nun mußt du uns etwas mehr berichten. Bislang hast du uns nicht gerade überzeugen können, daß du Sheikh Abdullah als Frevler und Heuchler entlarven konntest.

MOHAMMED: Wieso befragen Sie mich dann? Würden Sie Ihre wertvolle Zeit sonst verschwenden? Nein! Sie wissen, so gut wie ich, daß er falsch ist. Aber er war gerissen, gerissen, wie die Inder nun mal sind. In Suez, wir waren viele in einem Zimmer, schrecklich eng war es, alle waren schlechtgelaunt, weil wir viele Tage auf das Boot warten mußten, er aber, er hat die Zeit gut genutzt. Er hat den anderen großzügig Geld geliehen. Sie waren nämlich Geizhälse, knorziger geht es gar nicht. Kaum hatten sie einige Münzen von ihm erhalten, wurden sie ganz zärtlich und herzlich. Sie lobten ihn über den Klee. Sie schenkten ihm Süßigkeiten. Sie haben ihm schöne Worte gemacht, selbst wenn er nicht im Zimmer war, umschmeichelten sie ihn. Dieser Sheikh Abdullah, was für ein großer Mensch, was für ein wunderbarer Mann. Sie haben sich sogar gestritten, wer von ihnen ihn in Medina beherbergen durfte.

KADI: Und du, hast du kein Geld von ihm geschenkt bekommen?

MOHAMMED: Wenig, einige Piaster nur, wie hätte es ausgesehen, wenn ich mich als einziger seiner Großmut verweigert hätte? Das hätte doch sein Mißtrauen geweckt! Aber ich habe mich davon nicht einlullen lassen. Darlehen hin oder her, ich habe die Augen offengehalten. Eines Abends, da finde ich in seiner Truhe, er hatte vergessen, sie abzuschließen, ein Instrument. Ein Gerät, das kein Derwisch aus Indien mit sich herumträgt, das wußte ich genau. Es war ein seltsames Teil, das ich noch nie gesehen hatte. Irgendein Teufelszeug. Ich habe jemanden gefragt, der es wissen mußte.

GOUVERNEUR: Was war es?

MOHAMMED: Ein Sextant.

KADI: Was mag das sein?

MOHAMMED: Ein sehr kompliziertes Gerät, damit werden die Sterne vermessen. Auf einem Schiff soll es nützlich sein, aber der Sheikh war kein Steuermann, sondern ein heiliger Mann — angeblich. Ich habe gewartet, bis er das Zimmer verließ, dann habe ich den anderen gesagt, daß Sheikh Abdullah ein Ungläubiger ist.

GOUVERNEUR: Davon wissen wir nichts.

MOHAMMED: Die anderen haben mir nicht geglaubt. Ich habe nur einen Fehler begangen, ich hatte nicht einmal im Traum daran gedacht, daß sie sich der offenkundigen Wahrheit verschließen würden, daß er ein Ungläubiger war. Ich hatte erwartet, daß wir gemeinsam beraten würden, wie wir gegen ihn vorgehen. Statt dessen haben sie mich angegriffen. Lauter erbärmliche Opportunisten.


In Suez hält man sich nur aus Notwendigkeit auf. Es scheint Sheikh Abdullah, als schlage die Zivilisation zurück in diesem aus allen Gassen und Katen platzenden Dorf, das Tausende von Pilgern unterzubringen hat. Nichts ist schlimmer als halbfertige Besiedlung. Und wo könnte es unbequemer sein, als in dieser Herberge, die keinen Komfort bietet außer einem Dach über dem Kopf. Da es nicht regnet, ist dieses von geringem Nutzen. Es wäre besser, in der Gosse zu übernachten, als zwischen diesen schmutzgereiften Wänden. Auf einem Boden voller Ritzen, in dem sich Kakerlaken, Spinnen, Ameisen und anderes Gekriech eingenistet haben. Einfache Herbergen ist er aus der Kindheit gewohnt. Wenn sie wieder einmal umziehen mußten, weil sein Vater es nicht aushielt in einem italienischen Städtchen oder einem französischen Kurort. Aber nirgendwo ist ihm eine solche Widerwärtigkeit aufgezwungen worden. Am unerträglichsten sind die Geräusche: die turtelnden Tauben im offenen Schrank, vor lauter Liebesmühe stockheiser und kratzbürstig, die gewaltigen Katzen, die durch den Dachstuhl jagen und vor unerschöpflicher Geilheit jaulen. Selbst herumstreunende Ziegen und Maulesel kommen herein. Erst wenn die Viecher einer der Gestalten auf dem Boden zu nahe treten und einen Schlag versetzt bekommen, ziehen sie sich widerwillig zurück. Zu allem Überfluß summen die Moskitos ein allnächtliches Stabat mater über den ausgestreckten Leibern. Über seinem herben Halbschlaf.


Die Zimmer mußten mit anderen Reisenden geteilt werden. Am ersten Tag stellten sie sich vor und beäugten einander mißtrauisch. Hamid al-Samman, ein sehr breiter Schnurrbart, eine leise Stimme, die es gewohnt war, daß man ihr zuhörte; Omar Effendi, ein rundliches Gesicht und ein ausgemergelter Körper; Saad, nur Saad, der dunkelste Mann, den Sheikh Abdullah je gesehen hat; Salih Shakkar, ungewöhnlich hellhäutig und affektiert. Am zweiten Tag verrauchten sie die Zeit und lernten sich kennen. Die Männer stammten aus Medina, abgesehen von Salih Shakkar, der in Mekka und Istanbul beheimatet war, den zwei Metropolen der Welt, wie es sich für einen Großbürger ziemte. Sheikh Abdullah war als einziger unter ihnen auf Hadj. Omar Effendi war von zu Hause geflohen, als sein Vater ihn verheiraten wollte, obwohl er nie einen Hehl daraus gemacht hatte, wie sehr er die Frauen verachtete. Er hatte sich bis nach Kairo durchgeschlagen und sich dort an der Al-Azhar-Universität als Bettelstudent eingeschrieben. Die anderen waren allesamt Händler, sie kannten die Welt und beurteilten ihr Gegenüber nach dem, was er von ihr zu berichten wußte. Saad war weit gereist, bis nach Rußland, Gibraltar und Bagdad. Salih kannte Stambul wie seinen eigenen Hinterhof. Hamid war die Levante vertraut, er konnte in jedem Hafen eine Karawanserei empfehlen.

Am dritten Tag öffneten sie ihre Kisten und gaben ihre Wertsachen zur Begutachtung frei. Manchmal vernarrte sich der junge Mohammed in eine Kostbarkeit und ließ sie durch seine Finger gleiten, bis er laut zur Rückgabe aufgefordert werden mußte, was keinen mehr ärgerte als Hamid, der bevorzugt auf seiner Kiste saß, vollgepackt mit Geschenken für die Tochter seines Onkels väterlicherseits, mit anderen Worten für seine Ehefrau. Jenseits der großen Kiste war Hamid die reine Armseligkeit — seine Füße kamen ohne Schuhwerk aus, sein einziges Gewand war ein verdreckter Kasack, dessen ursprünglich ockerbraune Farbe nur zu erkennen war, wenn der Kragen umgestülpt wurde. Um keine sauberen Kleidungsstücke auspacken zu müssen, ließ er die Gebete ausfallen. Seine Augenbrauen wellten sich, wenn die Rede auf Alkohol kam, seine Mundwinkel verrieten jedoch eine geheime Vorliebe. Er rauchte bevorzugt den Tabak der anderen; in seinen Taschen klimperten drei Piaster, und er schien sich sogar vorstellen zu können, sie auszugeben. Omar Effendi hingegen war völlig mittellos, obwohl er der Enkel des Mufti von Medina und der Sohn eines Offiziers war, der den Begleitschutz der Karawane nach Mekka befehligt hatte. Er glich seine vorübergehende Armut mit einem festen Guthaben an Vorurteilen und Abneigungen aus, leise und gesetzt vorgetragen, als seien sie wohlbedacht und gerecht bemessen. Saad, der nicht von seiner Seite wich, erwies sich als ehemaliger Sklave, Diener, Befehlsempfänger und jetziger Geschäftspartner seines Vaters. Er war von ihm mit der Aufgabe betraut worden, den flüchtigen Sohn heimzuholen, und er verfügte über ausreichende Mittel, seinen Schutzbefohlenen zu versorgen. Für seine eigenen Bedürfnisse verfuhr er streng nach dem Prinzip: Sei großzügig beim Leihen, knauserig beim Zurückzahlen. Es war sein erklärtes Ziel, kostenlos zu reisen, und er kam seinem Ideal beachtlich nahe. Wegen seiner dunklen Hautfarbe wurde er Al-Dschinni, der Dämon, genannt. Gekleidet in ein einfaches Baumwollhemd, lag er meistens ausgestreckt auf seinen zwei Kisten, die vor allem edle Stoffe enthielten, für sich und seine drei Frauen in Medina. Neben ihm hatte der zierliche Salih sein Lager bereitet. Er nutzte es ausgiebig, denn er mißtraute jeglicher körperlicher Betätigung. Im Liegen war seine Würde gewahrt. Als halber Türke richtete er sich nach der Mode in Istanbul, ob er sich in Suez, Yanbu oder irgendeinem anderen staubigen Loch des Kalifats befand. Wenn er sprach, dann nur von sich selbst, so als sei er ein Vorbild für alle anderen, die ihm in Herkunft, Geschmack, Bildung und nicht zu vergessen Hautfarbe — seiner ungewöhnlich hellen Haut sprach er fast magische Kräfte zu — unterlegen waren. Wie auch in Gier und Geiz. Bevor er seine Hand ausstreckte, sprach er: Der Großzügige ist Gottes Freund, und mag er ansonsten noch so ein Sünder sein. Und wenn ihm keine Gabe zuteil wurde, bemerkte er: Der Geizhals ist Gottes Feind, und mag er ansonsten der reinste Heilige sein.


Im Monat von Rabi al-Akhir des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

OMAR: Dieser verzogene Wechselbalg. Die Überheblichkeit Mekkas wucherte in seinem Herzen. Hat sich aufgeplustert, hat großspurig erklärt, er, Mohammed al-Basyuni, habe überwältigende Beweise, daß Sheikh Abdullah ein Betrüger sei. Schlimmer noch: ein Ungläubiger. Wir waren bestürzt. Was für Beweise? fragten wir ihn. Er zeigte uns ein Gerät, aus Metall, das er aus der Kiste des Sheikhs entwendet hatte. Mit diesem Gerät werden Entfernungen gemessen. Wozu braucht ein Derwisch so ein Gerät? Wir schwiegen, wir dachten nach. Ich hoffe, daß alle so gründlich nachgedacht haben, wie ich es tat. Mir wurde klar, wie haltlos, wie unverschämt die Anschuldigungen dieses Halbwüchsigen waren. Sheikh Abdullah war ein Mann, der Respekt gebot und Respekt erhielt. Obwohl wir ihn erst seit einigen Tagen kannten, hatten wir seine Güte schon kennenlernen dürfen.

GOUVERNEUR: Würdest du sagen, daß er ein großzügiger Mann war?

OMAR: Oh ja, gewiß.

SHARIF: Haben Sie von seiner Großzügigkeit profitiert?

OMAR: Ach, die ganze Welt gewinnt, wenn ein Mensch sich großmütig zeigt.

GOUVERNEUR: Die Welt interessiert uns nicht, in diesem Fall, sondern Omar Effendi und seine Beziehung zu diesem Sheikh Abdullah. Also, was hat er dir gegeben?

OMAR: Gegeben? Nein, nur ein Darlehen, das mein Vater ihm in Medina zurückgezahlt hat. Glauben Sie etwa, unser Respekt habe daher gerührt? Er war ein gelehrter Mann, das hat ihn für uns kostbar gemacht. Ich weiß nicht, ob er ein Alim war, aber er war in vielem kundig. Erst kurz vor diesem Vorfall hatte er mir einen seiner Briefe an seinen Lehrer in Kairo gezeigt, damit ich ihn korrigiere, ein gelehrtes Schreiben, in dem er um Rat hinsichtlich einiger schwieriger Fragen des Glaubens bat, Fragen, die nur demjenigen einfallen, der eine höhere Ebene des Glaubens erreicht hat. Ich habe in Al-Azhar gelernt, und manches davon war selbst mir nicht bekannt.

KADI: Ein Semester in Al-Azhar macht noch keinen Alim.

OMAR: Was ich weiß, was ich damals wußte, das reicht aus, um ohne jeden Zweifel zu behaupten, daß Sheikh Abdullah nicht nur ein wahrhaft Gläubiger war, sondern auch ein sehr gelehrter und ehrenwerter Moslem. Das läßt sich von diesem Mohammed nicht behaupten. Fragen Sie Sheikh Hamid al-Samman, mit dem sollten Sie unbedingt sprechen, ein hochgeachteter Bürger Medinas. Fragen Sie ihn, seine Empörung kannte keine Grenzen.

HAMID: Mohammed? Der junge Mohammed, ja, wie könnte ich ihn vergessen. Ein von Natur aus gehässiger Mensch. Trotz seiner Jugend. Alleweil suchte er das Schlechte im Menschen. Er war wie das Kamel, das den Buckel des Dromedars bekrittelt. Wir alle wußten, wie bewandert Sheikh Abdullah war — ein Mann des gründlichen Wissens. Wieso sollte er nicht ein Gerät besitzen, das uns nicht bekannt war? Der Vorwurf war lachhaft, ich habe keinen Augenblick daran geglaubt. Das Licht des Islam scheint in diesem Menschen, sagte ich. Das ist für jeden deutlich zu spüren, der das Licht wahrnehmen kann. Leider hat dies nicht ausgereicht, den jungen Mohammed zum Schweigen zu bringen — er war bissig wie ein Kojote. Er besaß die Frechheit, mir gegenüber zu verkünden, wer die Gebete nicht einhalte, der sei kaum in der Lage, das Licht des Glaubens zu erkennen. Das war zuviel, ich hätte meine Hand gegen ihn erhoben, wenn die anderen mich nicht zurückgehalten hätten.


Warten, wie in einer Ewigkeit der Qual. Die Abfahrt war für den frühen Vormittag angekündigt worden — zu Mittag stach die Sonne alle offenen Augen aus. Die gehievten, die geschleppten, die gezogenen, die mit Flüchen überladenen Kisten besetzten den Strand, bildeten kleine Wehrketten, hinter denen sich die Reisenden verschanzten, die sich bis zum heiseren Ende jeder Zahlungsaufforderung verweigern würden. Was die Krämer von Suez nur allzu genau wußten, weswegen sie zahlreich angetreten waren und sich zielstrebig Wege durch die Menge bahnten, begleitet von Sklaven und Dienern, die einschüchternd bewaffnet waren. Die Krämer hielten vor den Reisenden, die ihnen noch etwas schuldeten für die Waren, die sie schon eingepackt und verschnürt hatten, während in ihrem Streitschatten Diebe auf die Gelegenheit lauerten, sich unbeaufsichtigtes Gut anzueignen.

Sheikh Abdullah stand hinter einem Haufen von Kisten, Säcken und Wasserschläuchen. Der Diener von Salih Shakkar, dessen Hilfe just zu dieser Stunde benötigt wurde, war zum Basar gegangen, seinen eigenen Angelegenheiten zu frönen, und Salih murmelte nachtragend, wie wenig weise es sei, sich gütig und großzügig zu geben. Sie vertrieben sich die Zeit damit, das Schiff zu betrachten, das sie aufnehmen und nach Yanbu bringen sollte. Etwa fünfzig Tonnen schwer, schätzte Sheikh Abdullah, der Hauptmast erheblich größer als der Besanmast. Ohne daß ein Zeichen zum Aufbruch erfolgt wäre, bewegte sich auf einmal alles. Jeder eilte ans Wasser. Saad hatte eines der Boote fest am Bug gepackt, und der Bootsmann traute sich keine Widerworte, so als hielte ihn dieser gewaltige schwarze Mann am Kragen fest. Sie waren trotzdem nicht die ersten, die das Schiff erreichten. Es besaß nur ein kleines, erhöhtes Achterdeck, neben der einzigen Kabine, die schon von einem Dutzend Frauen und Kinder besetzt war. Sie drängten sich durch das Gewühl im Rumpf und kletterten auf das Achterdeck. Die Diener hievten die Truhen hinauf und blieben im Rumpf zurück. Oben war gerade genug Platz für die Herren. Innerhalb der nächsten Stunden kamen mehr Passagiere an Bord, als der Kapitän angekündigt hatte, mehr, als sein Boot fassen konnte.

Kaum hatte Sheikh Abdullah den Gedanken ausgesprochen, daß gewiß kein weiterer Reisender Platz finden würde, kam eine Gruppe Maghrebiner an Bord, große Männer mit schweren Gliedern, vorwurfsvollen Blicken und brüllenden Stimmen, und alle schwer bewaffnet. Sie trugen weder Kopfschutz noch Schuhwerk. Sie forderten Platz im Schiffsrumpf ein, von den Türken und Syrern, die sich dort schon eingerichtet hatten. Bald schlug jeder um sich und kratzte und biß, trampelte und trat gegen die anderen. Der Rumpf war ein Kessel, in dem die Wut einkochte.

Der Eigentümer des Bootes verkündete, er habe Verständnis für die mißliche Lage der Reisenden, daher biete er jedem von ihnen an, das Schiff gegen volle Erstattung der Anzahlung zu verlassen. Das war ein Angebot, das keiner annehmen wollte. Das nächste Boot wäre genauso voll, das übernächste auch. Als kurz darauf die Segel gehißt wurden, sprangen alle auf, als folgten sie einer stillschweigend abgesprochenen Choreographie. Sie rezitierten die erste Sure, die Fatihah, ihre Hände gen Himmel gerichtet, als wollten sie einen Segen auffangen, der vom Himmel auf das Schiff herabfiel. Nach dem Amen strichen sie den Segen über ihr Gesicht. Und ein alter Mann richtete seine Stimme zu einem weiteren Gebet auf. Mache uns untertan jedes Meer, das Deines ist auf Erden und im Himmel, in der Welt der Sinne und in der unsichtbaren Welt, das Meer dieses Lebens und das Meer des kommenden Lebens. Mache uns all das untertan, Du, in dessen Hand die Macht über alles liegt.

Der Kapitän navigierte, wie Sheikh Abdullah bald nach ihrem Aufbruch erkannte, einzig und allein, indem er die Küste nicht aus den Augen ließ. Es war ein langsames Abtasten. Vor Jahrhunderten wären sie um einiges schneller vorangekommen, dachte Sheikh Abdullah, der Kapitän wäre mit den nötigen Instrumenten ausgestattet gewesen, mit Kenntnis der Tiefen, er hätte seinen Steuermann Tag und Nacht anweisen können. Die Küste von Sinai war eine massive Wand, bemerkenswert einförmig, in den Tagen darauf gekrönt von den zinnenartigen Höhen des Jebel Serbal und den gerundeten Silhouetten des Jebel Musa, des Berges Sinai. Sie ankerten, bevor die Sonne hinter Afrika unterging. Zum Abendessen teilten sie sich eine Rolle Stutenhaut, getrocknete Aprikosenpaste, die immerhin leichter zu kauen war als die trockenen Biskuits, so hart, als seien sie von den Felsen am Ufer abgeschlagen.

Sie sprachen sich gerade ab, wer nachts über die Gruppe wachen sollte, als unten im Rumpf, nahe des Achterdecks, Unruhe aufkam. Helft ihm hoch, rief jemand. Wem? Dem alten Mann! Welchem alten Mann? Hier, hier ist er. Was soll er hier oben? Er ist ein Kass, er soll uns etwas erzählen. Saad lehnte sich nach vorne, packte einen gebrechlichen Alten unter den Achseln und hob ihn auf, als sei er aus Pergament. Der alte Mann setzte sich auf eine der Kisten und deutete nach unten. Mein Helfer. Bringt ihn auch hinauf. Saad streckte schon seine Arme aus, um auch den Begleiter des Erzählers heraufzuholen. Wozu brauchen Sie Hilfe? fragte Salih mißtrauisch. Soll ich das Geld etwa selber einsammeln? wies ihn der Alte entrüstet zurecht. Er sammelt Geld? Er soll unten sammeln, rief Salih aus. Bei so vielen Pilgern wird er reichlich Belohnung finden. Und Saad ließ den Helfer wieder fallen. Als der Alte zu erzählen begann, waren alle, die ihn sehen konnten, erstaunt über seine kräftige Stimme. Er sprach ein kurzes Gebet, während dessen sich das Schweigen wie schwarze Tinte von dem Achterdeck aus über das ganze Schiff ausbreitete.

Oh Bewahrer der Seelen in diesem Rumpf, oh Beschützer des Rumpfes in dieser unergründlichen See, behüte dieses Boot, das Silk al-Zahab heißt. Sagt, was wißt ihr über die Zeit? Sagt, was wißt ihr über das Alter? Zu Beginn unserer Zeit gab es schon all die Berge und Buchten, die wir gestern und heute und morgen sehen. Es gab das Steilufer, das Riff, die Sandbänke, die Klippen, es gab das Gold, das Blau und den Purpur, in den sich der erste der Könige gekleidet hat und mit dem das Paradies ausgelegt sein wird. Es gab Menschen, die Recht suchten, und Menschen, die Unrecht taten. Es gab ehrenhafte Führer und sündige Tyrannen. Es gab Musa, und es gab den Pharao. Ihr kennt alle die Geschichte von der Flucht von Musa und seinem Volk, von der Verfolgung durch die Armee des Pharaos, von dem Meer, das sich vor den Wahren teilte und über den Falschen zusammenschlug. Aber wißt ihr, daß sich die Geschichte hier abgespielt hat? Zwischen dem Berg auf dieser Seite und der Wüste auf jener Seite. In diesem Wasser, neben und unter unserem Schiff, hier, wo wir eine lange Nacht verbringen werden. Hier ist die Armee des Pharaos ertrunken in den Höllenfluten. Eine gewaltige Armee, hunderttausend Mann stark, mächtiger als die Armee des Kalifen. Kein einziger Soldat unter ihnen hat das andere Ufer erreicht, kein einziger unter ihnen ist je heimgekehrt. Sie alle wurden vom Meer gefangengenommen, und sie haben sich nie mehr befreien können. Wenn wir tief genug hinabblicken könnten, wir würden auf dem Grund die hunderttausend Krieger sehen. Sie marschieren, immer weiter, bis zum Ende unserer Zeit, Krieger in schwerem Harnisch, die mit jedem Schritt im Sand versinken. Sie müssen von einem Ufer zum anderen marschieren. Sie werden von den Aalen, die in der Strömung schwingen, verspottet. Sie sind verflucht, sie können nicht ankommen und nicht heimkehren. Deswegen sind die Strömungen in diesen Buchten so gefährlich. Deswegen sind die Tiefen in diesem Gewässer so unruhig. Deswegen hört der Wind zwischen diesen zwei Ufern nie auf, seine schwarzen Flügel zu schlagen. Fürchtet euch nicht. Denn Gott, der tun und lassen kann, wie es ihm beliebt, wahrlich, er ist der beste aller Hüter, der beste aller Helfer, er hat uns jemanden geschickt, der auf alle Reisenden und auf alle Seemänner in diesen gefährlichen Gewässern aufpaßt. Es ist der heilige Abu Zulaymah, ihr wißt alle von ihm. Aber wißt ihr auch, daß er in einer der Höhlen des Berges hinter mir sitzt? Dort wird für ihn gesorgt, zur Belohnung für seine guten Taten wird ihm Kaffee serviert, nicht irgendein Kaffee, sondern Kaffee aus den heiligen Stätten, leuchtendgrüne Vögel tragen in ihren Schnäbeln Bohnen aus Mekka zu ihm, Zucker aus Medina, und im Flug zwischen den beiden heiligen Städten und seiner Höhle dort in der felsigen Wand hinter mir schreiben diese Vögel den gesamten Glorreichen Koran in den Himmel, und der Kaffee wird ihm zubereitet von den willigen Händen von Engeln, die sich an nichts mehr erfreuen, als wenn Abu Zulaymah sie um eine weitere Tasse bittet. Deswegen vergeßt nicht, heute nacht auch ein Gebet an Abu Zulaymah zu richten, damit wir weiterhin auf Erden wandeln können und nicht auf dem sandigen Grund dieses düsteren Meeres. Es gibt weder Macht noch Kraft außer bei Gott, dem Erhabenen, dem Allmächtigen.


Der Tag erwacht über einem zusammengekauerten Haufen Menschheit. Er richtet sich auf; sie haben sich abwechselnd ausgestreckt, ihm sind die späten Stunden zugefallen. Zum ersten Mal fragt er sich, ob er nicht einen Fehler begangen habe. Eine unbequeme schlaflose Nacht bringt Zweifel mit sich. Mohammed, neben ihm, hält seine Knie umklammert, sein Kopf liegt auf der Brust, seine Augen befreit von jeglicher Überheblichkeit. Seit gestern ist er ihm ein wenig ans Herz gewachsen. Hamid liegt an der hölzernen Schiffsreling. Sheikh Abdullah begreift nicht, wie er es geschafft hat, im Laufe der Nacht dorthin zu kriechen, trotz der vielen, die im Wege liegen. Er leidet, offensichtlich, an einem verdorbenen Magen; er lehnt sich immer wieder über die Reling. Es sind nur einzelne, die dem Morgengebet treu bleiben. Allen anderen ist es Mühsal genug, den Kopf zu heben und mißtrauisch dem Tag ins Gesicht zu sehen, das voller böser Vorahnung ist.

Zu Mittag ist die Sonne sengend, die Matrosen geben ihre Positionen auf und flüchten sich in die schmalen Schatten der Masten. Der Wind, wenn er aufkommt, wirft ihnen das Glühen der Küstenfelsen entgegen. Alle Farbe schmilzt dahin, vererbt dem Himmel ein Leichentuch, und das Meer spiegelt eine glatte Ermattung wider. Der Horizont scheint der Strich zu sein, unter dem Bilanz gezogen wird. Die Kinder haben keine Kraft mehr zu schreien. Neben Sheikh Abdullah, auf dem Achterdeck, ein türkischer Säugling, der still in den Armen seiner Mutter liegt, sich seit Stunden nicht bewegt hat. Er bespricht sich mit den anderen. Sie können das Kleine nicht vor ihren Augen verenden lassen. Ein syrischer Pilger holt eine Scheibe Brot heraus, die er in seinen Teebecher tunkt. Die Mutter schiebt das durchtränkte Stückchen ihrem Kind in den Mund. Hamid reicht ihr einige getrocknete Früchte, und Omar bietet ihr einen Granatapfel an, den er schält und aufbricht. Die Mutter öffnet den Mund ihres Kleinen, Omar lehnt sich vor und drückt die Frucht aus. Einzelne Tropfen fallen hinab auf die zuckende Zunge, dann ein roter Strahl, es ist zuviel, es rinnt dem Säugling aus dem Mundwinkel und über das Kinn. Wenig später lächelt der Kleine zum ersten Mal, mit einem blutroten Mund, und Sheikh Abdullah findet Trost in der Zärtlichkeit, die sich auf dem Gesicht von Omar widerspiegelt.

Wie viele solcher Tage und Nächte werden sie überleben können? Die Pilger, die sich noch aufrichten können, überzeugen den Kapitän, am Abend nahe der Küste zu ankern, so daß sie am Strand nächtigen können. Als Sheikh Abdullah zum Strand watet, tritt er auf etwas Scharfes, er verspürt einen stechenden Schmerz in seinem Zeh. Er setzt sich hin, das Licht ist eine einzige Liebeserklärung, er untersucht die Wunde und zieht einen Splitter heraus. Vielleicht ist er auf einen Seeigel getreten. Er gräbt sich eine Wanne in den weichen Sand. Das Schiff, das vor seinen Augen ankert, ist überwunden, zumindest für eine Nacht.


Im Monat von Jumada’l-Ula des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

GOUVERNEUR: Wir haben Fortschritte erzielt.

KADI: Beachtliche. Soll ich zusammenfassen: Sheikh Abdullah ist ohne Zweifel der britische Offizier Richard Burton, ein gelehrter Mann, vielleicht ein Moslem, vielleicht ein Shia, vielleicht ein Sufi, vielleicht aber auch nur ein Lügner, der sich als dieses und jenes ausgab, um die Hadj zu unternehmen, mit welcher Absicht auch immer. Gewiß, wir wissen mehr als zu Beginn, aber was ist dieses Wissen wert?

GOUVERNEUR: Sagen Sie mir, die Frage hat mich von Anfang an beschäftigt: Halten Sie es für möglich, daß ein Mensch monatelang vortäuschen kann, ein Gläubiger zu sein?

KADI: Der Rubin und die Koralle haben die gleiche Farbe. Eine Kette, auf der sie gemischt sind, besteht scheinbar gänzlich aus Edelsteinen.

GOUVERNEUR: Es gibt bestimmt eine Möglichkeit, sie zu unterscheiden.

KADI: An der Tönung könnte ich sie auseinanderhalten. Dazu müßte ich sie freilich genau betrachten, aus nächster Nähe.

GOUVERNEUR: Mit einer Lupe?

KADI: Am besten mit einer Lupe.

SHARIF: Der Christ ist die Koralle?

KADI: Nein, der Nichtgläubige.

SHARIF: Das meine ich.

KADI: Ein großer Unterschied. Ich denke, dieser Mann steht außerhalb des Glaubens. Nicht nur unseres Glaubens. Das erlaubt ihm, hinzugehen, wohin sein Wille ihn treibt. Ohne Gewissensbisse. Er kann sich an dem Glauben anderer bedienen, er kann annehmen und verwerfen, auflesen und weglegen, wie es ihm beliebt, als wäre er auf einem Marktplatz. Als wären die Mauern, die uns umgeben, weggefallen, als stünden wir draußen auf einer endlosen Ebene und hätten Sicht in alle Richtungen. Und weil er an alles und an nichts glaubt, kann er sich, zumindest dem Äußeren nach, nicht aber in der Festigkeit, in jeden Edelstein verwandeln.

GOUVERNEUR: Das hört sich fast an, als würden Sie ihn beneiden?


Die Zeit des Schachers. Um jedes Dromedar herum Männer. Flache, ausgestreckte Hände. Die Schatten zusammengedrückt, als müßten sie in den Truhen Platz finden. Gespannte Seile. Sie sind angekommen im Heiligen Land. Gestalten in Weiß und Gestalten in Schwarz. Aufgerichtet, auf Fersen gehockt. Sie schlürfen Tee, zwischen den Abdrücken im Sand von Hufen und Geduld. Der unmarkierte Eingang zur Wüste. Sein geschwollener Zeh, ein hinderlicher Schmerz, den er ignorieren muß. Ein Junge, der ihm Süßigkeiten anbietet. Mohammed, der seine Nützlichkeit beweist. Seit dem Sonnenaufgang verharren sie im achtsamen Nichtstun. Tauschen Nachrichten aus. Reden und reden. Das Geschäft, das sich anbahnt, kommt am Rande zur Sprache. Wie unbeabsichtigt. Erwartungen werden abgesteckt, erste Vorschläge auf den Sand gelegt. Der Junge, der seine braunen, verkrusteten Süßigkeiten erneut anbietet. Sie einigen sich auf drei Dromedare, auf einen deftigen Preis. Die Tiertreiber sind allesamt Diebe und Räuber, flüstert Mohammed ihm zu. Das Dromedar befolgt nur ihren Befehl, und sie erkennen keine anderen Herren an. Wieder der Junge mit den Süßigkeiten. Er kauft ihm drei Stück ab und bezahlt mit großzügiger Münze. Der Junge grinst, als wolle er sagen: Ich habe gewußt, daß du schließlich nachgeben wirst. Der Zeitpunkt des Aufbruchs wird vereinbart und der Abschied in eine respektvolle Länge gezogen. Tags darauf sind sie wieder unterwegs.


Es erregte Aufmerksamkeit, wenn er etwas zu Papier brachte. Wenn er Argwohn vermeiden wollte, durfte er sich nicht mit einem Stift in der Hand überraschen lassen. Er mußte sich zurückziehen zum Schreiben. In Kairo ein leichtes, auf der Reise jedoch gab es selten Möglichkeit zum Rückzug. In Gegenwart anderer zu schreiben, der Beduinen insbesondere, war nur ratsam, wenn er vorgab, ein Horoskop oder eine Zauberformel zu formulieren, Fähigkeiten, die von einem Derwisch erwartet wurden.

Anfänglich hatte er seine Notizen, die unverfänglichen wie auch die geheimen, zwar auf englisch, aber in arabischer Schrift verfaßt. Bevor er seine Eindrücke in das Notizbuch übertrug, vergewisserte er sich zunächst, daß ihn niemand beobachtete. Mit der Zeit, seines Ansehens sicher und im Gefühl, über jeden Verdacht erhaben zu sein, begann er, diese Vorsichtsmaßnahme zu mißachten. Die Schrift nahm lateinische Form an, und manchmal notierte er etwas bei Tageslicht, unauffällig auf dem Rücken des Dromedars, einen Papierstreifen in seiner Handfläche versteckt. Was schreiben Sie auf, Sheikh, mitten in der Wüste? Hamid hatte heimlich sein Dromedar von hinten herangetrieben. Ach, mein Freund, ich halte eine weitere Schuld fest. Damit wir am Tag der Rückzahlung nicht in Verlegenheit geraten. Ein Mann wie Sie, sagte Hamid, bevor er sich wieder entfernte, findet für alles seinen eigenen Nutzen.

Auf Reisen wie dieser war jeder oft allein mit sich selbst und mit seinem Dromedar, diesem mürrischen, widerspenstigen Tier, dessen einzige freundliche Geste aus einem gelegentlichen Furz bestand. Sheikh Abdullah feindete sich umgehend mit seinem Dromedar an, das seinem Ruf als geduldigem Wesen widersprach. Es war bösartig, unbeherrschbar, manchmal sogar gefährlich. Es mißtraute allem Unbekannten, und die Laute, die es von sich gab, ob das schnaubende Stöhnen oder das teils wehleidige, teils verdrießliche Blöken, waren unerträglich. Es beschwerte sich über jedes Kilo, das ihm aufgeladen wurde. Am ersten Abend richtete Sheikh Abdullah einige abfällige Bemerkungen über das Reittier an den Tiertreiber. Sie können doch gut mit Menschen umgehen, Sheikh, antwortete ihm dieser, Dromedare sind nicht anders als Menschen. Wenn sie jung sind, wissen sie nicht, wie sie sich zu benehmen haben. Als Erwachsene sind sie gewalttätig und unkontrollierbar, in der Brunftzeit, da wittert das Männchen ein williges Weibchen aus zehn Kilometer Entfernung, da wird es bockig, seine Zunge bibbert. Und mit dem Alter werden sie zänkisch, rachsüchtig und verdrossen.

Schüsse erklangen — das Tal, das sie durchquerten, war für einen Hinterhalt wie geschaffen. Beduinen, dreckige Köter. Mohammed duckte sich, Sheikh Abdullah erwiderte das Feuer. Nein! Der Tiertreiber schrie ihn an. Wenn wir einen dieser Banditen töten, wird sich der ganze Stamm gegen uns verbünden und die Karawane angreifen, bevor wir Medina erreichen können. Das würde unser aller Ende bedeuten. Die anderen schießen doch auch, sagte der Sheikh. Nur in die Luft, nur in die Luft, damit der Rauch uns etwas Deckung gibt. Verdammtes Land, auf den Kopf gestellte Gerechtigkeit. Und der Sheikh lud nach, schoß weiter, ohne zu zielen. Bald darauf verklangen die Schüsse. Sie erreichten Shuhada, den Ort der Märtyrer. Es fehlten einige Dromedare und einige Lasttiere. Was für eine magere Beute, für die zwölf Menschenleben verschwendet worden waren, zwölf Männer, die schnell beerdigt werden mußten, bevor sie weiterziehen konnten.


Solange die Karawane in Bewegung war, mußte er auf sein Gepäck nicht achten, denn die Tiertreiber übernahmen alle Verantwortung. Doch im Nachtlager mußte jeder selbst auf seine Wertsachen aufpassen, und es dauerte nicht lange, bis die ersten heimtückischen Angriffe auf ihr Eigentum erfolgten. Es waren die Tiertreiber selber, Hüter bei Tage, Diebe bei Nacht. Diese Ochsen von Ochsen — Mohammed bestand darauf, die erste Wache zu übernehmen —, diese Söhne der Flucht, ach, ihre Hände sollen absterben, ihre Finger erlahmen. Mohammed hielt sich mit Flüchen wach. Ihr Helden mit fauligen Schnurrbärten, ihr niedrigsten unter allen Arabern, die jemals einen Zeltpflock eingeschlagen haben. Wahrlich, ihr schürft aus den Minen der Niedertracht! Am frühen Morgen blickten die Tiertreiber ihn bitterböse an und murmelten: Bei Gott! Und bei Gott! Und bei Gott! Junge, wenn du uns alleine in die Hände fällst in der Wüste, wir werden dich auspeitschen wie einen Hund. Solange die Sonne schien, achtete Mohammed darauf, daß sein Dromedar dem Schatten der Tiere von Sheikh Abdullah und Saad, dem Dämon, nicht entglitt.

Am zweiten Abend fiel Sheikh Abdullah die Wache zu. Er löste seinen Verband. Die Schmerzen waren so heftig, er wollte die Infektion ins Feuer halten. Vielleicht würde ein nasser Verband, von Teeblättern durchtränkt, Linderung verschaffen. Er mußte sich ablenken, irgendwie, und sei es auch nur mit dem Benennen der Sterne, die lateinischen Namen zuerst, dann die englischen. Bald würden sie das fabelhafte Medina erreichen. Stadt der Zuflucht, verteidigt von Ammenmärchen, von Ungeheuern, Amazonen mit Ziegenhufen, Zyklopen, die in ihrer Besessenheit so manche geologische Verwerfung verursacht haben. Einmal in Medina angekommen, der Heimat — binsenbekannt — aller sanften und gütigen Menschen, würde er mit eigenen Augen sehen, ob der Sarg des Propheten über der Erde schwebte. In dem karmesinroten Hamail, das Hadji Ali ihm geschenkt hatte, trug er anstelle eines kleinen Korans eine Uhr und einen Kompaß, ein Taschenmesser und einige Bleistifte. Wer so ausgerüstet war, der mußte sich vor den Ungeheuern nicht fürchten, höchstens vor den Menschen. Er vertrat sich ein wenig die Beine. Als er sich wieder hinsetzte, schoß der Schmerz sein Bein hinauf.

Saad war aufgestanden. Auch er schlief schlecht. Wenn ich alle meine Aufgaben erfüllt habe, pflegte er zu sagen, werde ich ausschlafen. Er setzte Tee auf und hockte sich neben Sheikh Abdullah. Es brauchte zwei Sätze, die ereignislose Nacht zu bedenken. Gewiß freue er sich auf die Heimkehr, auf das Wiedersehen mit seinen Nächsten, fragte Sheikh Abdullah. Ich freue mich, ich freue mich sehr, aber diese Freude wird vergehen. Wieso so düster, Saad? Ich bin glücklich, für einige Wochen, dann werde ich unruhig, ich bilde mir ein, daß die Geschäfte rufen, und es drängt mich zum Aufbruch. Ich weiß, sagte Sheikh Abdullah, das Glück des Weges. Ja, der Weg, er ist unersetzbar. Trotz aller Mühsal, er ist es, der mein Herz höher schlagen läßt. Wir sind Reiter zwischen Stationen, es ist unser Schicksal, anzukommen und aufzubrechen. Und unsere langen Hoffnungen, fügte Sheikh Abdullah hinzu, spannen sich über unser kurzes Leben. Morgen werde ich, wenn Gott der Große und Glorreiche es so bestimmt, zu Hause sein, aber du, Sheikh, du hast einen langen Weg vor dir. Ich beneide dich. Es ist noch früh, willst du dich nicht hinlegen, ich werde die Wache übernehmen.

Sheikh Abdullah schlummerte ein in Gedanken an die grüne Kuppel. Beim Aufwachen spürte er, daß bereits Aufbruchstimmung herrschte. Er öffnete seine Augen und ertappte Mohammed, der sein karmesinrotes Hamail in den Händen hielt. Er hatte es noch nicht geöffnet. Mohammed spürte den Blick, der auf ihm ruhte, er drehte langsam seinen Kopf. Sie starrten sich an. Mohammed, ertappt, unternahm einen stotternden Erklärungsversuch. Ich fand mein Exemplar des heiligen Buchs nicht, beim Gebet heute morgen, ich war mir bei einer Strophe nicht sicher. Welche Sure denn, mein junger Freund, vielleicht kann ich dir helfen? Die Sure von dem gegenseitigen Betrug. Die vierundsechzigste Sure, also? Wieso zählst du die Suren? Das ist bei uns in Indien so üblich — wir lieben die Zahlen, schließlich haben wir sie erfunden. Tatsächlich. An welche Strophe kannst du dich nicht mehr entsinnen? Der Tag, an dem Er euch versammeln wird zum Tag der Versammlung, das ist der Tag des gegenseitigen Betrugs, heißt es am Anfang. Du willst wissen, wie es weitergeht? Nein, das weiß ich wohl, aber die nächste Strophe, die weiß ich nicht mehr ganz genau, ich wollte sie nachschlagen, Verzeihung, daß ich nicht um Ihre Erlaubnis gefragt habe, Sie schliefen noch. Nicht nötig, Mohammed, es ehrt dich, daß du deine Unwissenheit sofort beseitigen willst. Ich werde sie dir sagen, die Strophe, die dir nicht mehr einfällt. Besser aus dem Munde eines Freundes als vom Blatt, nicht wahr? Diejenigen aber, die nicht glauben und unsere Zeichen der Lüge zeihen, das sind die Bewohner des Feuers für alle Zeiten; wie schlimm wird ihre Reise sein. Richtig, Gott möge es Ihnen danken, wie konnte ich sie nur vergessen? Gräme dich nicht. Du bist gewissenhaft genug. Wenn du mir bitte mein Hamail reichen könntest. Wir müssen unsere Sachen zusammenpacken. Die Karawane wird bald aufbrechen.


Im Monat von Jumada al-Akhirah des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

GOUVERNEUR: Vielleicht hat er für eine andere Macht spioniert?

SHARIF: Sie geben zuviel auf Vermutungen.

GOUVERNEUR: Wieso ist er in seinem eigenen Land so wenig geehrt worden? Wieso hatte er es nicht eilig, nach Hause zurückzukehren, nach der Hadj, sondern blieb, wie Sie wissen, noch monatelang in Kairo?

SHARIF: Wem soll er gedient haben?

GOUVERNEUR: Den Franzosen.

SHARIF: Sie meinen, die Briten haben aus Rache das Gerücht in die Welt gesetzt, er sei ein Christ.

KADI: Was trotzdem die Wahrheit sein kann.

SHARIF: Oder eine Lüge, um einen Doppelagenten bloßzustellen.

GOUVERNEUR: Er hat sich lange genug in dieser Gegend aufgehalten, um Pläne ausarbeiten zu können, wie unsere Position im Hijaz geschwächt werden könnte.

KADI: Was für ein Interesse könnten die Franzosen daran haben?

GOUVERNEUR: Muß ich es Ihnen erklären? Die Sharife von Mekka sind Meister der wechselnden Allianzen. Sie spielen Kairo und Istanbul gegeneinander aus, sie suchen Verbündete überall, selbst im Jemen. Was hindert die Franzosen daran, mit dem Sharif zu intrigieren, um Saud gegen den Sultan und den Sultan gegen die Briten auszuspielen. Dann würde der Sharif am Ende wieder alleine über Mekka, Gott möge sie erhöhen, regieren, geduldet und unterstützt von seinen neuen Freunden, den Franzosen.

SHARIF: Unterstellen Sie mir Verrat? Das kann ich keineswegs billigen. Ich versichere Ihnen, meine Treue steht außer Zweifel.

KADI: Sie sollten sich ein Beispiel an Ihrem Vater nehmen. Es wird gesagt, er sei ein stolzer Mann gewesen. Nicht bereit, sich anzubiedern. Wie es sich gehört für einen, der das Heiligste zu beaufsichtigen hat.

SHARIF: Er war ein Held, ein Verteidiger des Glaubens. Ich bin mir meiner Pflicht sehr wohl bewußt.

GOUVERNEUR: Von welcher der vielen Pflichten, die Ihr Geschlecht sich zumutet, sprechen Sie? Von der Pflicht der politischen Zweckmäßigkeit? Glauben Sie, wir hätten nicht gemerkt, wie eng Sie mit dem französischen Konsul in Djidda befreundet sind? Hat er Sie umschmeichelt, hat er Ihnen eingeredet, Sie könnten in Zukunft eine bedeutendere politische Rolle spielen?

SHARIF: Unsere Höflichkeit, die Höflichkeit der Qitadas, war schon immer berühmt, wahrlich, sie hat noch nie einen Menschen ausgenommen, auch nicht einen Fremden oder einen Ungläubigen. Wir behandeln jeden so respektvoll wie einen Bruder. Das führt offensichtlich zu bedauerlichen Mißverständnissen.

GOUVERNEUR: Äußerst bedauerlich.

SHARIF: Dieser Burton, wieso machen wir so ein Geheimnis aus ihm? Vielleicht war er nur neugierig, verstehen Sie nicht, wenn einer jahrelang in unseren Landen lebt und reist und immer wieder Hadjis trifft und von der Hadj hört, wie soll er da nicht eine Sehnsucht danach entwickeln, dieses wundersame Ereignis und diese heiligen Orte mit eigenen Augen zu sehen.

KADI: Gott der Allmächtige hat alle Menschen erschaffen, also kann es jeden Menschen nach Mekka, Gott möge sie erhöhen, ziehen.

GOUVERNEUR: Ich gebe auf. Ihr Söhne von Mekka, ihr seid große Anhänger der guten Nachrichten, die ihr selber in die Welt setzt.

SHARIF: Und ihr Türken, ihr vermutet unter jedem Stein einen Skorpion.


Unruhe ergreift seine Gefährten. Saßen sie zuvor noch regungslos auf ihren Tieren, verschmolzen mit ihnen in Ausdauer, recken sie nun ihre Hälse nach Osten und treiben ihre Dromedare der Sonne entgegen, die in der Ferne über einer vertrauten Hügelkette aufgeht. Saad spricht ihn an, von sich aus, zum ersten Mal. Sein kleiner Garten, die köstlichsten Datteln — die Finger umschließen eine Frucht —, er selbst werde sie ihm servieren, köstlicher als alles, was er in seinem Leben bisher probiert habe. Die Vorstellung einer Palme wirkt in diesem Lavameer wie eine plumpe Lüge. Nichts deutet auf die Blüte des Islam hin, die sich bald seinen Augen darbieten wird. Außer der Unruhe seiner Gefährten. Ein Ruck ist durch die Karawane gegangen, die Geschwindigkeit erhöht, die Stimmen lauter. Einzelne Reiter preschen sorglos vor, so nahe am Ziel sind keine Überfälle zu befürchten. Ein leichter Anstieg durch ein trockenes Wadi, dann schwarze Stufen, die aus dem Basalt gehauen sind, hinauf zu einem Durchbruch. Das ist Shuab el Hadj — Omar reitet an ihm vorbei, an steiler Stelle —, gleich werden Sie sehen, Sheikh, wonach Sie sich so lange gesehnt haben. Gleich werden Sie die Wüste lieben, und mit der Wüste die ganze Welt.

Die Reisenden bleiben auf dem Paß stehen, sie springen von ihren Dromedaren. Er sieht Silhouetten, die niederknien, er hört hohe Schreie, über dem Kamm eine Fahne der Euphorie, in Purpur und Gold. Er schließt auf. Vor ihm ein langgestreckter steinerner Tisch, reichgedeckt mit Gärten und Häusern, mit frischem Grün und Dattelpalmen. Zur Linken erhebt sich ein grauer Felshaufen, wie von einer gewaltigen Lawine aufgetürmt. Um ihn herum Jubelrufe, der Prophet wird gepriesen, wie kein anderer Mensch je gepriesen worden ist. Ewig möge er leben, solange der Westwind sanft über die Hügel von Nidj weht und der Blitz hell durch das Firmament des Hijaz schlägt. Sogar die Sonnenstrahlen, entschärft durch den Tau, huldigen ihm. Und obwohl er genauer hinschaut und dem Ausblick wenig Außergewöhnliches entnehmen kann — die Häuser sind einfache Häuser, die Palmen einfache Palmen —, will er an der Ekstase teilhaben. Nicht das Offensichtliche ist bewegend, sondern die Zeichen, die ein jeder von ihnen mit seinem inneren Auge erkennt, kein unscheinbares Städtchen, eine kleine Oase inmitten der Öde, sie sehen nicht al-Madinah — die Stadt —, sie erfassen die ganze Größe des Glaubens, die Quelle, den Ursprung. Und auch er blickt zur Ruhmreichen hinab, und auch seine Schreie erklingen zwischen den Felsen, und obwohl er nicht weint, wie manch ein anderer Pilger, umarmt er Saad heftig, versinkt in den Armen dieses riesigen Mannes und murmelt ehrliche Worte der Dankbarkeit. Das größte Glück auf Erden, sagt Saad, das größte Glück auf Erden. Lange Minuten bleibt er auf dem Kamm stehen, einer im Einen, aufgehoben in der festlichen Brüderschaft, begründet durch den Anblick von Medina, und wenn ihn jetzt jemand nach seiner Zugehörigkeit fragen würde, er würde inbrünstig das erste Glaubensbekenntnis deklamieren. Ohne eine Einschränkung, wie sie ihm Minuten später durch den Kopf schießt: Warte, du bist nicht einer von ihnen. Wieso jubelst du? Natürlich bin ich einer von ihnen. Du mußt beobachten. Ich will Anteil nehmen. Die Reisenden ziehen weiter, die Serpentinen hinab, und seine Augen beginnen durch den Zauber zu stoßen, sie überfliegen das Städtchen, sie sezieren es, und er prägt sich alles ein, die Topographie, die Mauer, die Hauptgebäude, das rechteckige Tor, das Bab Ambari, durch das sie Medina betreten werden, und als er Pause macht von der strengen Betrachtung, stellt er fest, daß seine Hochstimmung verflogen ist.


Viele der Einwohner Medinas waren herausgekommen, um die Karawane zu begrüßen. Die meisten Reisenden gingen zu Fuß, so konnten sie Verwandte und Freunde begrüßen, umarmen, küssen. Niemand verheimlichte seine Freude. Es war nicht die Stunde der Selbstbeherrschung. Die Daheimgebliebenen bombardierten die Heimkehrer mit Fragen. Antworten wurden jetzt noch nicht erwartet. Sie ritten zusammen, als Gruppe, und wurden immer wieder auseinandergerissen. Hamid al-Samman war nicht unter ihnen. Er war vorausgeritten, um das Wiedersehen mit seiner Frau und seinen Kindern alleine auszukosten, um das Haus für seinen Besucher vorzubereiten. Er hatte sich durchgesetzt, nach langen Abenden des Beratschlagens, in denen gelegentlich Streit aufflackerte. Sheikh Abdullah würde sein Gast sein. Omar hatte auf die Dankbarkeit hingewiesen, die sein Vater dem großzügigen Helfer seines Sohnes gewiß würde erweisen wollen. Saad hatte ihm beigepflichtet und hinzugefügt, wenn es eines zweiten Hauses bedürfe, wenn der Sheikh sich völlig zurückziehen wolle, sein bescheidenes Domizil stehe auch zur Verfügung. Hamid aber ließ nichts davon gelten, er beanspruchte das Recht, den Sheikh zu beherbergen, für sich und ließ sich dieses Recht nicht nehmen. Sie passierten das Bab Ambari und schritten eine breite, staubige Straße hinunter. Omar und Saad nahmen Sheikh Abdullah in ihre Mitte. Sie gingen davon aus, er wünsche den Namen jedes Winkels von Medina zu erfahren. Das Harat Al-Ambariyah in dem Viertel Manakhah. Die Brücke über den Bach Al-Sayh. Der offene Platz Barr al-Manakhah. Geradeaus das Bab al-Misri, das ägyptische Tor, zur Rechten jedoch, nur wenige Schritte entfernt, das Haus von Hamid al-Samman. Die Dromedare knieten nieder, die Reisenden staubten sich ab, ein Mann trat aus dem Haus, ein eleganter Herr, den sie kaum wiedererkannten. Hamid hatte sich rasiert, frisiert, die zwei Enden seines Schnurrbarts zu Kommas gezwirbelt und sein Ziegenbärtchen zugespitzt zu einem Ausrufezeichen. Er hatte einen Musselinturban aufgesetzt, er war gekleidet in mehrere Schichten Seide und Baumwolle. Seine Füße waren mit leichten Lederslippern überzogen und diese in festeren Pantoffeln untergebracht, die in Farbe und Schnitt der neuesten Mode aus Stambul folgten. Er war wie verwandelt. Und der Tabaksbeutel, der an seinem Gürtel hing, war nicht nur goldverziert, sondern auch prall gefüllt. Offensichtlich war Hamid al-Samman, ein abgerissener Bettler auf Reisen, ein stolzer Gebieter im eigenen Heim. Auch seine Manieren waren wie verwandelt. An die Stelle des Vulgären und Lauten war dosierte Courtoisie getreten. Er nahm seinen Gast an der Hand und führte ihn in den Empfangsraum. Die Pfeifen waren gefüllt, die Diwans ausgelegt, der Kaffee köchelte in einer Kohlenpfanne. Kaum hatte Sheikh Abdullah Platz genommen und einen Kaffee und eine Pfeife angeboten bekommen, machte schon der erste Freund der Familie seine Aufwartung. Hamid schien ein beliebter Mann zu sein. Ein Strom von Besuchern floß durch sein Haus, und ein jeder von ihnen genoß es, mit dem Sheikh aus Hindustan zu plaudern. Die Gespräche hätten den ganzen Tag eingewickelt, hätte Sheikh Abdullah nicht zu einer Taktlosigkeit gegriffen und nachdrücklich seinen Hunger und seine Müdigkeit erklärt, worauf sein Gastgeber gezwungen war, die Besucher zu verabschieden, ein Bett zu bereiten und den Raum zu verdunkeln. Endlich, dachte Sheikh Abdullah, ein weiches Bett, endlich allein. Bald darauf hörte er in der Ferne weibliche Ausrufe der Begeisterung. Vielleicht war sein rüdes Verhalten seinem Gastgeber nicht unwillkommen gewesen, der nun endlich Muße hatte, seine Kisten aufzuschließen und seine Mitbringsel zu verteilen.


Er ist ausgeruht, er hat sich erfrischt, und er hat gegessen. Es gibt keinen Grund mehr, den Besuch der Moschee des Propheten hinauszuzögern. Es ist Nacht, und nachts ist sie — laut Hamid — am schönsten. Sie bilden, kaum daß sie aus dem Haus getreten sind, eine kleine Gruppe; sie erreichen die Moschee des Propheten in einer dichten Menge. Es wird zum Nachtgebet gerufen. Das Hasten erstarrt, das Gewühl findet zu der einen, der einzigen Öffnung, durch die es in ein anderes Reich rinnen kann. Jeder Pilger nimmt Position ein, jeder sucht die rechte Haltung zu den Brüdern, die ihn umgeben. Eigentlich ist es gar nicht seine Art, freiwillig Teil einer größeren Ordnung zu sein. Nur beim Gebet, da verhält es sich anders. Schon deswegen fühlt er sich nicht als Schwindler. Kaum haben sich alle Pilger aufgereiht, die Füße in gerader Linie, weicht die gedämpfte Vielstimmigkeit einer Stille, in der die Erde innezuhalten scheint, bevor sie von der einsamen Stimme des Imams auf eine andere Umlaufbahn gestoßen wird. Aus der Ruhe schwingt sich sein Singsang hinauf und eröffnet über ihren Köpfen das Gebet. Bevor Sheikh Abdullah seine Stirn zum Boden senkt, fällt sein Blick auf die Sohlen eines Unbekannten, keine Handbreit vor ihm. Jeder verbeugt sich vor Gott, doch unmittelbar hinter den rauhen, aufgeplatzten Sohlen seiner Mitmenschen.


Im Monat von Rajab des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

HAMID: Jeder von Ihnen hätte diesen Mann als seinen Gast empfangen. Jeder von Ihnen hätte ihm sein Haus geöffnet. Er wurde von allen geschätzt. Selbst meine Mutter, deren Urteil selten wohlwollend ausfällt, pries sein Feingefühl.

KADI: Was ist leichter, als eine Frau zu betrügen.

HAMID: Nicht in meinem Haus. Meine Mutter riecht die Lüge. Sie behauptet, sie stinke wie alte Milch. Wenn Sie mein Wort anzweifeln, ich werde Ihnen ein weiteres Beispiel geben, das wird Sie überzeugen. In Medina erfuhren wir, daß Sheikh Abdullah den rechten Glauben mit seinem Schwert verteidigt hat. In seinem eigenen Land. Bei den Gefechten hat er sogar einige Ajami getötet. Deswegen mied er den Umgang mit ihnen. Er wollte sich nicht der Gefahr der Rache aussetzen.

GOUVERNEUR: Wie haben Sie denn das erfahren?

HAMID: Alle wußten es, alle, die ihn kannten.

GOUVERNEUR: Diese Kunde konnte nur von ihm selbst stammen, oder etwa nicht?

HAMID: Sie haben recht. Keiner kannte ihn aus dem Hindustan. Aber ich selbst habe es nicht von ihm erfahren. Außerdem, er war ein bescheidener Mann, er hätte sich mit so etwas nicht gebrüstet.

SHARIF: Was also ließ Sie dieser Geschichte Glauben schenken?

HAMID: Er war ein Krieger, wenn es die Situation erforderte. Außerdem, als wir von seinen Heldentaten erfuhren, haben wir alle angeboten, an seiner Seite zu stehen, sollte er angegriffen werden, und er hat unser Angebot dankbar angenommen. Hätte er so viel Freude und Erleichterung gezeigt, wenn er nichts zu befürchten gehabt hätte? Nein! Sie haben ihn nicht gekannt. Er war ein Fels von einem Mann, und er wußte zu kämpfen. Gott sei gedankt, daß er unser Freund war.

KADI: Sie danken Gott für Ihre eigene Leichtgläubigkeit.

SHARIF: Wir sollten nicht zu rasch urteilen, wahrlich, wir sind diesem Mann nicht begegnet, und wir können nicht wissen, wie er auf seine Begleiter gewirkt hat. Vielleicht war es seine Ausstrahlung?

HAMID: Das Licht des Glaubens, ich sagte es Ihnen schon, nichts anderes.

GOUVERNEUR: Sie können davon nichts wissen, weil Sie sein Buch nicht gelesen haben, aber dieser britische Offizier, er urteilt viel und gerne, er urteilt manchmal überlegt und manchmal mit unbeherrschter Abneigung. Ich weiß nicht, ob Sie in diesen Urteilen Ihren Freund wiedererkennen würden. Er schreibt an einer Stelle, der Tag werde kommen, an dem die politische Notwendigkeit die Briten zwingen werde, die Quelle des Islam mit Gewalt zu besetzen. Uns interessiert insbesondere eine seiner Ansichten, die er in dem Kapitel über Medina vorbringt. Eine erstaunliche Ansicht, ich werde sie Ihnen vorlesen: ›Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um den Tag vorherzusehen, an dem die Wahhabi in einem Massenaufstand das Land von seinen schwachen Eroberern befreien werden.‹ So schreibt Ihr Sheikh Abdullah. Teilen Sie mein Entsetzen darüber? Können Sie uns erklären, wie er zu dieser Schlußfolgerung gelangt ist, in den Tagen, in denen er Ihre Gastfreundschaft genossen hat?

HAMID: Ich weiß es nicht. Ich habe diese Meinung nie geäußert, und bestimmt auch keiner aus meiner Familie.

SHARIF: Was hat er denn in Medina getan?

HAMID: Was jeder Pilger zu tun hat. Alle Gebete verrichtet in der Moschee des Propheten, möge Gott ihm Frieden und Segen schenken. Die heiligen Orte aufgesucht, die Moschee von Kuba, den Friedhof von Al-Bakia, das Grab des Märtyrers Hamzah.

GOUVERNEUR: Mit wem haben Sie ihn in Verbindung gebracht?

HAMID: Mit niemand Bestimmtem. Ich bin ein angesehener Mann, es kennen mich viele in Medina, viele suchen mich auf, wenn ich von einer langen Reise zurückkehre.

GOUVERNEUR: Hatte er Gelegenheit, mit allen zu reden?

HAMID: Er war mein Gast, er saß im Empfangszimmer, er war ein einnehmender, ein schöner Mann.

GOUVERNEUR: Worüber wurde gesprochen?

HAMID: Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, es ist lange her, war der Krieg gerade ausgebrochen. Wir waren uns alle einig, daß unsere Armee die Moskowiter rasch besiegen würde. Es gab sogar Stimmen, die vorschlugen, danach gleich gegen alle Götzenanbeter vorzugehen, gegen die Engländer, die Franzosen und die Griechen.

GOUVERNEUR: Und Burton?

HAMID: Sie meinen Sheikh Abdullah?

GOUVERNEUR: Ein und derselbe.

HAMID: Ich kenne keinen Burton.

GOUVERNEUR: Dann Sheikh Abdullah, wenn Sie es so wollen!

HAMID: Er sprach vernünftig wie kein zweiter. Er sagte, daß es niemand mit unserem Glauben aufnehmen könne, aber leider hätten die Farandjah starke Waffen entwickelt, als Entschädigung für ihren schwachen Glauben, und wenn wir das Schlachtfeld siegreich verlassen wollten, müßten wir soviel wie nur möglich über diese Waffen lernen, in ihren Besitz gelangen und sie eines Tages selber herstellen. Dann — im Glauben stark und bestens ausgerüstet — wären wir unschlagbar.

KADI: Glauben Sie, Gott steht auf der Seite der besseren Waffe?

HAMID: Sie wissen besser als ich, auf wessen Seite Gott steht.

SHARIF: Auf der Seite aller Rechtschaffenen, natürlich, und wir bemühen uns, nicht wahr, wir bemühen uns. Aber sagen Sie mir, an den Tagen, die er in Ihrem Haus verbracht hat, war er öfter alleine. Ist er ausgegangen, ohne daß Sie wußten, wohin?

HAMID: Nie. Mit Sicherheit nicht. Mohammed, der Junge aus Mekka, er war immer an seiner Seite, ich habe auch ihn untergebracht, obwohl ich das Gefühl hatte, Sheikh Abdullah wäre ihn gerne losgeworden.

GOUVERNEUR: Wieso?

HAMID: Er nahm Anstoß an den schlechten Sitten dieses Kerls.

KADI: Schlechte Sitten?

HAMID: Sie wären erstaunt, was er sich alles leistete. Er war vorlaut und unbekümmert. Er vernachlässigte die Zeremonien, er erlaubte sich, ohne seine Jubbah die Moschee des Propheten zu betreten, und bei einem der Gebete hat er mich von der Seite angestoßen. Ich habe ihn natürlich ignoriert.

SHARIF: Etwas übermütig, wie er immer noch ist, es entspricht seinem Alter.

HAMID: Er bildete sich viel darauf ein, aus Mekka zu stammen.

SHARIF: Das wollen wir ihm nicht verdenken. Aber sagen Sie, was ist mit den Darlehen geschehen, die dieser Sheikh Ihnen allen so bereitwillig gewährt hat.

HAMID: Seine Großzügigkeit, davon spreche ich, seine einzigartige Großzügigkeit. Beim Abschied, der uns Messer in die Brust trieb, erklärte er, daß er uns allen die Schulden erlasse, um unsere Freundschaft noch einmal zu ehren und damit wir im Guten an ihn denken.

GOUVERNEUR: Eine Frage haben Sie mir immer noch nicht beantwortet. Wie kam Sheikh Abdullah auf die Idee, daß die Wahhabi unserer Herrschaft über den Hijaz bald ein Ende setzen werden? Das muß doch auf irgendwelche Beobachtungen oder Gespräche gründen.

HAMID: Sooft Sie Ihre Frage auch wiederholen, ich werde Ihnen keine Antwort geben können. Ich weiß es nicht!

GOUVERNEUR: Wird so im Basar von Medina geredet?

HAMID: Nicht, daß ich wüßte.

GOUVERNEUR: Haben Sie Freunde oder Bekannte …?

HAMID: Es ist nicht ausgeschlossen, daß einer der Besucher in meinem Haus eine solche Meinung geäußert hat. In meiner Abwesenheit. Es gibt so viele verschiedene Meinungen in Medina, keiner kann sie alle im Ohr behalten.

SHARIF: Aber sagen Sie uns, wir sind einander freundschaftlich gesinnt, denke ich, wird eine solche oder eine ähnliche Einschätzung von vielen vertreten?

KADI: Sie können ehrlich sein, Sie haben sich nichts vorzuwerfen.

GOUVERNEUR: Sie stehen nicht unter Anklage.

HAMID: Nun, wenn ich offen sprechen soll — in unserer Stadt waren die Türken nie beliebt. Früher aber wurden sie immerhin respektiert.


Erschöpft ist Sheikh Abdullah zu Bett gegangen. Nicht ausgelaugt, eher übersättigt. Er hat seinen Gastgeber gebeten, ihn am nächsten Morgen nicht zu wecken.

Der Lärm, der ihn weckt, kann nicht von dem Städtchen stammen, das er am Tag zuvor kennengelernt hat. Er öffnet die Augen widerwillig und zaghaft die Holzjalousie. Über Nacht sind Bagdad, Istanbul oder Kairo hinzugezogen. Der angrenzende Platz, die ehemals staubige, gähnende Leere, ist dicht besetzt mit Zelten, Lasten, Menschen und Tieren — wie von einem buntscheckigen Kelim bedeckt. Die Zelte sind aufgereiht, so ordentlich wie Pilger beim Gebet, in langen Reihen, wo der Verkehr durchfließen muß, und zusammengeballt an den Ecken, wo kein Durchgang nötig ist. Aus runden Zelten treten entspannte Männer, Kinder sausen zwischen rechteckigen Zelten, Lasten werden verschoben auf unsichtbaren Rücken. Wandelnde Verkäufer bieten Sorbets an und Tabak, Wasserträger und Obsthändler streiten um die Kunden. Schafe und Ziegen werden durch die Reihen schnaubender, den Staub aufwühlender Pferde getrieben, an Dromedaren vorbei, die auf der Stelle treten. Eine Gruppe alter Sheikhs besetzt die letzte verbliebene Freifläche mit einem Kriegstanz. Einige von ihnen entladen ihre Gewehre in die Luft oder schießen in den Boden, gefährlich nahe den flinken Füßen der anderen, die ihre Schwerter schwingen, die ihre langen, mit Straußenfedern verzierten Speere in die Höhe schleudern, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wo sie landen. Das Rankenwerk verschiebt sich immer wieder, während er am Fenster steht und den Anblick zu skizzieren versucht. Diener suchen ihre Herren, Herren suchen ihre Zelte. Den Erhabenen wird ein Weg durch die dichte Menge gebahnt, von Trupps, die ihren Warnrufen Schläge folgen lassen. Frauen toben, weil ihre Sänften angerempelt werden. Schwerter blitzen auf im Sonnenlicht, die Messingglocken der Zelte erklingen. Von der Zitadelle kracht ein Kanonenschuß. Über Nacht ist die große Karawane aus Damaskus angekommen.


Einer nach dem anderen schlossen sie sich dem Ausritt zu den Märtyrern an. Zuerst sollte Hamid mit einigen Verwandten Sheikh Abdullah begleiten, doch Mohammed ließ sich nicht abschütteln, Salih langweilte sich in der Provinz, und Omar wünschte die Gesellschaft von Sheikh Abdullah ein weiteres Mal zu genießen, also hatte auch Saad einen guten Grund mitzukommen. Es würde der letzte gemeinsame Ritt sein. Am nächsten Tag, so wußten sie, würde die Karawane nach Mekka aufbrechen, und mit ihr der fremde Sheikh. Auf Schleichwegen verließen sie die Stadt, um den Tentakeln der Karawane zu entgehen. Zum Jabal Ohud. Zum Fuße des Berges. Wo die große Schlacht verlorenging. Hamid ritt mit seinen Verwandten voraus, sie hatten noch einiges nachzuholen. Wann ist deine Hochzeit, Omar? fragte Sheikh Abdullah. Ich habe meinem Vater die Idee ausgeredet. Er hat erkannt, fügte Saad hinzu, was für einen vorteilhaften Einfluß Al-Azhar auf seinen unsteten Sohn ausgeübt hat, er hat beschlossen, ihn nach Kairo zurückzuschicken. Diesmal aber nicht als Bettelstudent. Wenn du lernen willst, dann komm doch nach Mekka, sagte Mohammed. Das ist nicht weit genug entfernt von den Stimmungswechseln seines Vaters. Lachend näherten sie sich dem Schlachtfeld. Hinter ihnen die Stadt, vom Staub benebelt, sie wirkte aus dieser Entfernung wie eine Festung. Nur Hochmütige würden sie verlassen, um den Kampf auf offenem Feld zu suchen. Zumal in Unterzahl. Eines der Dromedare blökte, scharrte mit den Hufen. Hamid und die Seinigen waren stehengeblieben.

Hier, genau hier, und er deutete aufgeregt auf einige unscheinbare Steine, geschah der Verrat. Woher weißt du das? Mein Großvater hat mir diese Stelle gezeigt. Und woher wußte er es? Das habe ich ihn auch gefragt. Er gab mir eine erstaunliche Antwort. Einer unserer Ahnen, sagte er, war unter jenen dreihundert, die den Propheten im Stich ließen. Daran kannst du dich erinnern, fragte ich ihn? Nein, daran hat sich nicht einmal der Großvater seines Großvaters erinnern können. Er habe es geträumt. Und wie ging der Traum aus? fragte ich ihn. Wir flüchteten von dem Schlachtfeld, in Richtung Stadt, ich fühlte mich krank, ich mußte mich umdrehen, ich stolperte, mehrmals, aber ich konnte meinen Blick nicht vom Propheten loslösen, er stand ruhig da, und mit einer Stimme, die wie ein Blitz einschlug, rief er mir hinterher: Furcht rettet keinen vor dem Tod. Ich bin aufgewacht, im Dunkeln bin ich hinausgeritten, solange mein abgebrochener Traum noch blutete. Und ich habe diesen Platz wiedererkannt. Das war hier? Genau hier.

Sie ritten schweigend weiter zu den steilen Flanken des Berges, die sich wie gezackte, versengte Stahlplatten aufrichteten. Sie erreichten Mustarah, den Rastplatz, wo der Prophet einige Minuten in sich versunken war, bevor er in die Schlacht ritt. Eine rechteckige Einfriedung aus weißen Mauern, innerhalb deren die Pilger beten konnten. Wir werden zwei Raka darbieten, schlug Sheikh Abdullah vor. Das Schlachtfeld war nur noch einen leichten Aufstieg entfernt. Ein abfallendes Stück Erinnerung an die verlorene Schlacht, an das vergossene Blut der Unvernünftigen und Rachsüchtigen. Auf dieser Öde griff eine Armee von Ungläubigen an. Die Krieger aus Mekka stürmten aus einem Flußbett hervor, das sich in die Ferne krümmte.

— Sie haben offenkundig nichts von Strategie verstanden.

Alle blickten erstaunt auf Sheikh Abdullah.

— Wieso? Was meinen Sie?

— Die Schlacht hätte anders geführt werden können. In einer Landschaft, die so viel natürlichen Schutz bietet, ist dies ein denkbar ungünstiger Platz.

— Ihr Inder, ihr seid wohl durchtriebenere Kämpfer?

— Die Bogenschützen hätten sich hinter den Felsenbrocken postieren können, auf breiter Front.

— Hört ihr das? Unser Bruder gewinnt im nachhinein die verlorene Schlacht von Ohud. Was für ein Unglück, daß Medina über keine indischen Berater verfügte.

— Ob die Strategie gut oder schlecht war, am Anfang sah es gut aus für uns. Obwohl die Weiber von Mekka ihre Männer antrieben. Ihre Stimmen drangen bis zu unseren Kriegern. Wenn ihr kämpft, schrien sie wie Pfauen, umarmen wir euch, breiten sanfte Decken unter euch aus, doch wenn ihr weicht, geben wir uns nie wieder hin. Wir sind siebenhundert, die Ungläubigen sind dreitausend, und trotzdem treiben wir sie vor uns her. Vielleicht weicht der Gegner absichtlich zurück? Nein, sie wehren sich mit aller Kraft. Hätten nur unsere Bogenschützen den Befehlen des Propheten gehorcht. Aber kaum erreichen sie das Lager des Feindes, halten sie die Schlacht für gewonnen, sie geben ihre Formation auf und beginnen zu plündern. Der Feind kann uns in den Rücken fallen.

— Strategie, meine Rede.

— Der größte Feldherr kann nichts ausrichten gegen den Ungehorsam seiner Gefährten.

— Wir werden zurückgetrieben, wir kämpfen, wie Moslems, einig und unnachgiebig. Wir laufen nicht auseinander, wir sammeln uns vor dem Zelt des Propheten, möge Gott ihn mit Frieden segnen, und kämpfen verzweifelt weiter. Der Prophet ist verwundet worden. Fünf der Ungläubigen haben geschworen, ihn zu töten. Einer von ihnen, Ibn Kumayyah, alle Verwünschungen Gottes über ihn, hat einen Stein nach dem anderen geworfen, zwei Ringe im Helm des Propheten, möge Gott ihn mit Frieden segnen, sind abgebrochen, sie graben sich in sein Gesicht hinein, Blut fließt von seinen Wangen herab, über seinen Schnurrbart, er wischt es auf mit einer Ecke seines Gewandes, damit kein Tropfen zur Erde fällt. Ein anderer Ungläubiger, Utbah bin Abi Wakkas, alle Verwünschungen Gottes über ihn, wirft einen großen, spitzen Stein, der den Propheten am Mund trifft. Seine Unterlippe ist gespalten, er verliert einen Vorderzahn. Mehrere Vorderzähne. Das ist nicht überliefert. Zweifelst du das Wort eines Muftis an? Nein, nicht wenn der Mufti zudem noch Großvater der Behauptung ist. Einigen wir uns auf zwei Zähne. Unserem Fahnenträger wird die rechte Hand abgehauen, er packt die Fahne mit der linken Hand, die linke Hand wird ihm abgehauen, er hält die Fahne mit den Stümpfen gegen seinen Körper gepreßt, er wird von einer Lanze durchbohrt, er reicht die Fahne weiter, bevor er fällt. Die Schlacht ist verloren.

— Und diese Kuppel? Wir sollten zwei Raka beten, dies ist der Ort, wo Hamzah vom Speer des Sklaven Wahshi getötet wurde.

Nach dem Gebet standen sie nebeneinander und blickten auf die Schrecken, die zwischen diesen Felsen und der heiligen Stadt im Dunst geschehen waren. Das Ende erfolgte in ihren Gedanken. Keiner würde diesen Teil der Geschichte aussprechen. Es war schlimm genug, daß das Grauen durch ihren Verstand geisterte. Der aufgeschlitzte Magen, die herausgezerrte Leber, ein Biß, um den Schwur zu ehren, und dann die Nase, die Ohren, die Genitalien. Was für ein Ungeheuer, Hind, die Ehefrau von Abu Sufiyun, eine Mischung aus Amazone und Sphinx. Sie verkörperte alle Ängste der Männer.

Bekümmert brachen sie auf zur Rückkehr. Die Schlacht von Ohud war ein weiteres Mal verloren, und um sie herum schändeten die Frauen des Feindes die Leichen ihrer gefallenen Vorfahren.


Der Himmel war ein leeres Blau. Die flache Unendlichkeit der Wüste war zu klein, um diese Karawane aufzunehmen. Eine Karawane von unvorstellbarer Größe — als das letzte Dromedar loszog, war das erste schon am Lagerplatz des Abends angekommen. Eine ganze Gesellschaft zog durch die vernarbte Wüste. Von den Reichsten unter den Pilgern, die sich in Sänften wiegten, zwischen zwei Dromedaren an hölzernen Stöcken befestigt, umgeben von Dienerscharen und Tierherden. Bis zu den Takruri, den Ärmsten der Reisenden, die nichts besaßen außer einer hölzernen Schüssel, um milde Gaben entgegenzunehmen. Kein Tier trug sie, und wenn sie lahm wurden, humpelten sie weiter, auf schwere Knüttel gestützt. Es gab die wandernden Kaffeebrüher und Tabakverkäufer. Beschützt wurde die Karawane von zweitausend albanischen, kurdischen und türkischen Bashibazuks, die Sheikh Abdullah noch weniger Vertrauen einflößten als der Offizier aus der Karawanserei in Kairo. Jeder dieser Soldaten war eigenwillig bewaffnet, als wollten sie in der Verdrecktheit und Nachlässigkeit, die ihnen allen gemein war, etwas Individualität behaupten. Die syrischen Dromedare waren gewaltige Tiere, neben denen jene des Hijaz zwergwüchsig wirkten. Sheikh Abdullah ritt öfter auf eine kleine Erhebung, um die Karawane an sich vorbeiziehen zu lassen, wie einen dichten Bilderreigen. Verblüffendes — ein Diener, der vor einem Dromedar lief, mit einer Wasserpfeife in den Händen, die sein Herr über einen langen Schlauch gemütlich in seinem Korbsitz paffte —; Elendes — ein erstes Tier war in der Hitze verendet, und die Takruri kämpften mit den Geiern um das Aas.

So reich die Karawane war, so häufig die Überfälle. Diese Karawane, sagte Saad, ist wie ein Braten, der über den Boden geschleift wird. Von den Ameisen bis hin zu den Kojoten, alle werden versuchen, ein Stück von ihr zu ergattern. Wir werden von den Beduinen überfallen werden, heimtückisch natürlich, ohne Chance auf einen gerechten Kampf. Nachts werden sich einzelne Räuber in das Lager schleichen, sie werden von hinten auf die Dromedare der schlafenden Hadjis springen, sie werden das Maul des Tieres mit ihrem Abba stopfen und ihren Kameraden hinabwerfen, was sie auf dem Dromedar von Wert finden. Sollten sie entdeckt werden, werden sie ihre Dolche ziehen und sich einen Weg freikämpfen. In der zweiten Nacht wurde ein junger Beduine erwischt. Er klagte nicht, er kauerte regungslos da und erwartete die Bestrafung, die ihm wohlbekannt war. Vor dem Aufbruch der Karawane wurde der Räuber gepfählt und zurückgelassen, um an seinen Wunden zu verenden oder von wilden Tieren aufgefressen zu werden. Sheikh Abdullah überraschte alle, als er sein Entsetzen äußerte. Trotzdem, sagte Saad, es schreckt die Beduinen nicht ab. Sie sind stolz auf ihren Mut, auf ihre Geschicklichkeit als Räuber. Sie versuchen es immer wieder.


Staub, Lärm, Gestank — die Stadt schleppt sich in die Wüste, und die Wüste begleitet sie. Obwohl die Reisebegleiter ihn vor den marodierenden Beduinen warnen, klettert Sheikh Abdullah mit schmerzhaften Schritten — der verdammte Zeh ist nach wie vor entzündet — zum Sonnenuntergang auf einen nahen Hügel. Einmal rutscht er aus, greift nach einem Stein, der sich von dem Geröll löst, er fällt und findet Halt an einem Dornbusch. Es dauert einige Minuten, bis er die Dornen aus seinen Händen herausgezogen hat. Er kostet die wenige Zeit aus, die ihm auf dem Hügel bleibt. Ansonsten ist er nie allein. Seine Begleiter haben ihn gnadenlos adoptiert. Mohammed ist wie ein umtriebiger junger Cousin, der stets um ihn herumscharwenzelt. Auch Saad sucht unterwegs seine Gesellschaft, er hat seine Wortkargheit zugunsten einer unermüdlichen Geschwätzigkeit abgelegt. Je näher sie Mekka kommen, desto intensivere Ratschläge teilt Salih aus. Wenn Sheikh Abdullah sich irgendwohin aufmacht, fragen sie ihn streng, wohin er denn gehe, so als sei es seine Pflicht, Rechenschaft abzulegen.

Inzwischen sind die letzten Spuren der Sonne vom Teer der Nacht bedeckt. Einzelne Lagerfeuer flackern auf, über dem Talgrund verstreut wie Sterne. Später wird er durch das Lager spazieren und sich an ein Feuer setzen. Vieles, was er hört, ist eitel und dümmlich, aber gelegentlich horcht er auf, bemüht, sich jedes Wort zu merken. Zum Beispiel die Erzählungen eines gesichtslosen Mannes aus Ägypten, früher im Dienste von Mohammed Ali Pascha, der für diesen die Routen der Sklavenkarawanen nach Süden hin ausgekundschaftet habe, dabei viel gereist sei, tiefer und tiefer in die Länder der schwarzen Menschen hinein, weit über das Ende der Wüste hinaus, dorthin, wo Trockenheit unbekannt sei, bis zu den großen Seen, deren Ende er nicht gesehen habe, aber die schwarzen Menschen wüßten von anderen Ufern dieser Seen, die sie Nyassa, Chama und Ujiji nannten. Am gewaltigsten aber sei der See im Norden namens Ukerewe, ein rundes Meer inmitten des Landes. Sheikh Abdullah wickelt seinen Umhang enger. An diesem Abend wird er, ungeachtet des unvollständigen Schlafes von Mohammed, alles aufschreiben müssen, auf Papierfetzen, die er gleich in seiner Medizinschatulle verstecken wird, vergraben unter Granulat. Wer weiß, vielleicht würden sich diese Informationen noch als nützlich erweisen.


Die Pilger mußten viele kleine Überfälle über sich ergehen lassen, aber erst nachdem sie ihre Gewänder abgelegt und sich in die zwei weißen Tücher der Pilgerschaft gehüllt hatten — das eine Tuch um die Hüften geschwungen, das andere um die Schultern gewickelt —, erfolgte der Angriff, den sie seit dem Verlassen von Medina befürchtet hatten. In Al-Zaribah waren sie auch frisiert und rasiert worden, sie hatten sich die Nägel geschnitten und sich so gut es ging gewaschen. Sie waren mit dem Gefühl aufgebrochen, daß die Anreise beendet war. Zum ersten Mal erklangen die Rufe, die sie von nun an bis zum Bezeugten Tag am Berg Arafah begleiten würden — Labbayk Allahhuma Labbayk, erklang es von allen Seiten. Die Gruppe von Sheikh Abdullah war im Laufe der Tage in Begleitung vieler verschiedener Pilger geritten. Nun kreuzten sie den Weg einer Ansammlung von Wahhabis, angeführt von einer Kesseltrommel und einer grünen Flagge, auf der das Glaubensbekenntnis in weißen Lettern prangte. Sie ritten in zwei Reihen; sie sahen so aus, wie Menschen an der Küste sich wilde Bergleute vorstellen: dunkelhäutig, grimmig dreinblickend, ihr Haar zu dicken Zöpfen geflochten, ein jeder bewaffnet mit einem langen Speer, einer Luntenmuskete oder einem Dolch. Sie saßen auf groben hölzernen Sätteln, ohne Kissen oder Steigbügel. Die Frauen taten es den Männern gleich, sie ritten ihre eigenen Dromedare, oder sie saßen auf kleinen Sattelkissen hinter ihren Männern. Sie schätzten den Schleier nicht, und sie gebärdeten sich in keiner Weise wie das schwächere Geschlecht.

Mit dieser einschüchternden Schar im Rücken erreichten sie einen weiteren Einschnitt, zu ihrer Rechten ein hoher Felsen, an seinem Fuß ein Gerinne, und zu ihrer Linken eine jähe Steilwand. Der Weg vor ihnen schien versperrt zu sein von einer Hügelsilhouette, die sich in der blauen Ferne verlor. Die oberen Sphären waren noch von der Sonne beleuchtet, aber unten, wo sie zu reiten hatten, zwischen dem Felsen und der Steilwand, machten sich finstere Schatten breit. Die Stimmen der Frauen und Kinder wurden leiser, die Labbayk-Rufe erloschen allmählich. Eine kleine Rauchlocke war auf dem Gipfel des Felsens zur Rechten zu erkennen, und im nächsten Augenblick krachte eine Gewehrsalve. Ein Dromedar, das nicht weit vor Sheikh Abdullah trottete, knickte seitwärts zu Boden. Die Beine zuckten einige Male, dann erstarrte das Tier, das Gefüge der Karawane explodierte, noch bevor weitere Salven einschlugen, kaum hörbar im Geschrei und Gebrüll. Jeder trieb sein Tier voran, rasch aus dieser Todesenge heraus. Zügel verwickelten sich. Die Köpfe der Tiere stießen aneinander. Keiner kam mehr voran, die Schüsse entrissen dem wütenden Gewühl einzelne Tiere und einzelne Menschen, die tot umfielen oder zu Tode getrampelt wurden. Die Soldaten hasteten hin und her, sie gaben sich gegenseitig Order. Nur die Wahhabi reagierten überlegt und mutig. Sie galoppierten heran, ihre Zöpfe flogen im Wind. Manche hielten an und zielten auf die erhöhte Position der Angreifer; einige hundert von ihnen begannen den Felsen hinaufzuklettern. Bald wurden die Schüsse seltener und verstummten schließlich völlig. Sheikh Abdullah hatte alles nur beobachten können. Salih stand neben ihm. Je näher du dem Ziel deines Lebens kommst, sagte er, desto gefährlicher wird es. Stell dir vor, nur einen Tag von der Kaaba entfernt sterben zu müssen! Sie sprachen ein kurzes Gebet und saßen wieder auf. Eine blindwütige Finsternis drohte die Karawane zu verschlingen. Ohne daß jemand einen Befehl erteilt hätte, wurden die Trockenbüsche entlang des Weges angezündet. Die zerklüfteten Felsen zu beiden Seiten überragten sie wie mißgestimmte Riesen. Vor ihnen öffnete sich ein Abstieg tiefer in die Schlucht hinein. Der Rauch der Fackeln und der brennenden Büsche hing über ihnen wie ein Baldachin, der Feuerschein teilte die Welt in zwei düstere Hälften, auseinandergehalten von einem stygischen Rot. Die Dromedare stolperten, blind in der Nacht und geblendet von dem grellen Licht. Manche rutschten den Hang hinab in das Bachbett. Wenn sie sich verletzten, gab es keine irdische Kraft, sie herauszuholen — das Gepäck wurde umgeladen, wenn Freunde zugegen waren, und die Reise wurde auf dem Rücken eines anderen Tieres fortgesetzt oder zu Fuß. Als sie früh am nächsten Morgen der Schlucht entkamen, waren sie ausgelaugt bis in die Knochen; zu müde, um Erleichterung zu spüren.

Am nächsten Tag ritten sie in Mekka ein.


Im Monat von Shaaban des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

KADI: Wir kommen nicht weiter. Wir sollten uns kostbareren Aufgaben widmen und diesen Fall auf sich beruhen lassen.

GOUVERNEUR: Im Gegenteil. Was wir bisher erfahren haben, zwingt uns geradezu, weiter nachzufragen. Ein dunklerer Fall ist mir noch nie untergekommen.

KADI: Wen können wir denn noch befragen?

GOUVERNEUR: Nicht wen, sondern wie.

SHARIF: Durchaus möglich, daß uns der eine oder andere nicht die Wahrheit gesagt hat. Wer höflich fragt, erhält meist eine höfliche Antwort.

GOUVERNEUR: Wir könnten nachdrücklicher fragen.

SHARIF: Wir sollten vorsichtig sein, wen wir zu so einer Befragung zu uns rufen.

KADI: Omar Effendi kommt nicht in Frage, er ist Enkel des Muftis …

GOUVERNEUR: Wissen wir, natürlich.

SHARIF: Salih Shakkar vielleicht?

GOUVERNEUR: Wenn einer die Wahrheit sagt, dann er.

SHARIF: Wieso?

GOUVERNEUR: Er ist Türke, er achtet den Sultan und liebt Stambul.

KADI: Eine Garantie gegen Heuchelei.

GOUVERNEUR: Hamid al-Samman ist gut geeignet. Er hat sein Dach mit dem Fremden geteilt.

SHARIF: Auf mich hat er einen sehr aufrichtigen Eindruck gemacht.

GOUVERNEUR: Er war verschlossen und seine Auskünfte unergiebig wie geräuchertes Fleisch.

SHARIF: Nein, nicht Hamid.

GOUVERNEUR: Wieso nicht?

SHARIF: Nun, wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ich habe erfahren, daß er mit einer meiner Frauen verwandt ist, und die Beziehungen zu ihrer Familie, die sind mir außerordentlich wichtig.

KADI: Und Saad?

SHARIF: Ein ehemaliger Sklave.

GOUVERNEUR: Der Schwarze.

KADI: Der Dämon. Das ist kein guter Beiname.

GOUVERNEUR: Er reist viel, auch in die Länder der Ungläubigen. Nach Rußland sogar! Das muß Mißtrauen erwecken. Wer weiß, wem seine Loyalität gilt.

SHARIF: Er wird keine starken Fürsprecher haben.

GOUVERNEUR: Seine Geschäfte führen ihn oft nach Mekka.

KADI: Wir werden sehen, wieviel Gottesfurcht in ihm steckt.


Er war auf alles vorbereitet, selbst daß er entlarvt werde und umgebracht, aber es ist ihm nie in den Sinn gekommen, daß seine Gefühle ihn überwältigen könnten. Er kann nicht weitergehen; er muß immer wieder innehalten. Nichts in ihm widersetzt sich der aufgehenden Beglückung. Um ihn herum tobt Verehrung in allen Gesichtern. Vor ihm steht eine Idee, die Kaaba, eine anschaulich klare Idee, in Schwarz gehüllt, der Stoff ein Brautschleier, die goldene Verzierung ein Liebeslied. Oh höchst glückliche Nacht. Er spricht die zauberhaften Sätze nach, er versteht sie. Braut aller Nächte des Lebens, Jungfrau unter allen Jungfrauen der Zeit. Der Strudel der Pilger fließt gegen den Uhrzeigersinn. Sheikh Abdullah ist erregt. Als würden die Lebensträume, die sich in seiner Nähe verwirklichen, auch ihn aufladen. Er überläßt sich dem Strudel, um den starren Kubus siebenmal zu umkreisen. Seiner Pflicht gemäß. Im Laufschritt zuerst, wie der Führer ihn ermahnt, eher weiter außen als innen, wo das Drängeln gerinnt. Eigentlich dürfte er derweil die Kaaba — unfaßbarer Mittelpunkt — nicht anblicken. Aber er kann seinen Blick nicht von ihr abwenden. Später, als er ihr so nahe ist, daß er wie die anderen Pilger mit ausgestrecktem Arm den Schleier berühren kann, löst er sich auf im Gewühl, ein peinigendes Gefühl, bis er aufhört, sich dagegen zu wehren. Die Strömung bestimmt alles, die Richtung, die Geschwindigkeit, die Pausen, in denen angehalten wird, um die Segnung, die von dem schwarzen Stein ausgeht, zu empfangen, und ein Im Namen Gottes, Gott ist groß auszurufen. Nach der letzten Runde drängt er sich zum Stein vor — Mohammed hilft ihm, seinen Weg zu bahnen —, er beugt sich so weit er kann zum glänzenden Stein vor, berührt ihn, überrascht davon, wie klein er ist, der einst weiß wie Kalk gewesen sein soll, bevor die vielen sündigen Lippen und Hände, die ihn küssen und streicheln, schwarz und schwärzer werden ließen. Die Legende bietet eine Erklärung, die seiner Gemütsverfassung entspricht; am Abend wird er sie aufschreiben und seine Vermutung notieren, daß es sich bei dem Stein um einen Meteoriten handelt.

Als einer von vielen, deren Gedanken und Gebete sich um die Kaaba drehen, ist er Teil eines Kreises, der sich zu weiteren Kreisen ausdehnt, die sich über Mekka ziehen, über die Wüste und ihre Stationen, die bis nach Medina reichen, nach Kairo, und darüber hinaus, nach Karachi und Bombay und weiter noch. Ein Stein ist in den Ozean der Menschheit gefallen, und die Wellen schlagen bis in die fernste Einöde. Er hat seine sieben Umrundungen vollbracht. Das Gebet beim Fußabdruck Abrahams. Er trinkt Wasser vom Zamzam-Brunnen. Pilger, Pilger aus Indien, beglückwünschen sich. Sie schließen ihn ein in ihre Umarmungen. Er gibt sich wortkarg. Mohammed beobachtet ihn. Gewiß ist es schön, sich alle Menschen als Brüder und Schwestern vorzustellen. Aber ein Verdacht beginnt um die Kaaba zu kreisen, er verdichtet sich mit jeder Rotation. Wenn jeder Mensch einem nahestünde, um wen würde man sich kümmern, mit wem leiden? Das Herz des Menschen ist ein Gefäß von begrenztem Fassungsvermögen, das Göttliche hingegen ein Prinzip ohne Maß. Das geht nicht gut zusammen. Die Ordnung, die von der Kaaba verheißen, erscheint ihm auf einmal suspekt. Er dreht allen Nächsten den Rücken zu und trinkt ein zweites Glas Zamzam. Wieso muß es ein Zentrum geben? Wegen der Sonne? Wegen des Königs? Wegen des Herzens? Zeige mir die Richtung, in der Gott nicht weilt, hatte der Guru gesagt, als ihm vorgeworfen wurde, seine Füße würden respektlos gegen Mekka zeigen. Ganz im Sinne des Erfinders, oder noch genauer ausgedrückt: ganz im Sinne des Unerfundenen, des Ungeschaffenen. Die oberflächliche Form ist nötig für jene, denen es an Phantasie mangelt. Die sich das Allgegenwärtige nur in Stein gefaßt, in Stoff gestickt, auf Leinwand geworfen vorstellen können. Das Wasser schmeckt brackig, schwefelig. Aber es versiegt nicht. Das Wasser hat diesem Ort das Leben geschenkt und ist dafür folgerichtig in dessen Mythologie aufgenommen worden. Erneut wird er es nicht trinken, wenn er es vermeiden kann, nicht wie der Mann auf dem Pflaster vor der Moschee, auf den Mohammed ihn hinweist, ein Kranker, der sich geschworen hat, soviel Zamzam-Wasser zu trinken, wie es bedarf, um wieder zu Kräften zu kommen. Und wenn er nicht wieder gesundet? fragt er Mohammed. Dann liegt es gewiß daran, daß er nicht imstande war, genug Wasser zu trinken, lautet die Antwort, und wie so oft ist er sich nicht sicher, ob dieser junge Kerl die Dummheit seiner Altvorderen nachplappert oder sich über sie mokiert. Es gibt viele Hadjis, fügt Mohammed hinzu, die sich das Zamzam-Wasser in Eimern in ihr Quartier tragen lassen und dort über ihren Körper gießen, weil es ihr Herz ebenso wie ihren Körper reinigt. Von außen nach innen. Wir in Mekka machen es umgekehrt.

Die Skepsis von Sheikh Abdullah wächst mit jedem Schritt, mit dem er sich von der Kaaba entfernt.


Im Monat von Ramadan des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

GOUVERNEUR: Das ist inakzeptabel. Sie überschätzen sich. Wir werden Sie zwingen, diese Fatwa zurückzunehmen.

SHARIF: Wir können, ich bin zuversichtlich, einen Kompromiß ausarbeiten, der beiden Seiten …

GOUVERNEUR: Alle Verwünschungen Gottes über Ihre faulen Kompromisse.

KADI: Wir werden unser gerechtes Urteil nicht dem Willen eines Pharaos unterwerfen.

GOUVERNEUR: Sie reden im Wahn. Sie zweifeln das Recht des Kalifen an.

KADI: Auch er untersteht den Gesetzen Gottes.

SHARIF: Sie müssen versuchen zu verstehen, Abdullah Pascha, bei mir haben sich, wie auch beim Kadi, alle führenden Händler der Stadt beschwert. Keiner von ihnen billigt Ihre Maßnahmen.

GOUVERNEUR: Aus selbstsüchtigen Gründen.

SHARIF: Sie befürchten die völlige Abschaffung der Sklaverei.

GOUVERNEUR: Sie wissen genau, daß nur der Sklavenhandel verboten worden ist.

SHARIF: Ohne Sklavenhandel kann es langfristig keine Sklavenhaltung geben.

GOUVERNEUR: Selbst wenn wir unterschiedlicher Ansicht sind, der Kadi kann doch nicht öffentlich verkünden, mit diesem Erlaß seien die Türken zu Ungläubigen geworden.

KADI: Was wollen Sie noch einführen? Glauben Sie, wir kriegen nicht mit, was anderswo geschieht? Wenn wir uns nicht wehren, was werden Sie noch alles verbieten, welche unsäglichen Neuerungen erlauben? Wird demnächst statt des Azaans eine Gewehrsalve abgefeuert? Werden sich die Frauen unverhüllt in der Öffentlichkeit zeigen dürfen, werden sie das Recht erhalten, die Scheidung auszusprechen?

GOUVERNEUR: Sie übertreiben maßlos. Nur der Sklavenhandel ist verboten worden.

KADI: Wieso?

SHARIF: Ich habe so meine Vermutungen, daß der Kalif unter Druck steht, weil die Farandjah ihren Teil der Abmachung einfordern, nachdem sie ihm geholfen haben, den Krieg gegen Moskau zu gewinnen.

KADI: Was in Istanbul geschachert wird, kann nicht Maßstab sein für das Wohl der heiligen Stätten.

GOUVERNEUR: Sie können sich dem Lauf der Geschichte nicht verschließen.

KADI: Lauf der Geschichte? Selbst wenn es so etwas gäbe, müßten wir uns dem widersetzen. Wenn es so weitergeht, werden sich eines Tages Ungläubige im Hijaz niederlassen, sie werden Moslems heiraten und schließlich den gesamten Islam unterwandern.

GOUVERNEUR: Das erledigen die Araber schon selbst. Sie leben ohne Ehre. Sie respektieren nicht den Kalifen. Wir versuchen es im Guten, und was geschieht? Wir zahlen den Stammesführern Abgaben in Korn und Stoff, und sie bewaffnen ihre Leute und führen Überfälle auf die Karawanen aus.

SHARIF: Etwas unbedacht Ihrerseits, den eigenen Feind zu füttern.

KADI: Seit sie unser Land erobert haben, gibt es keine Gerechtigkeit mehr. Sie ernten nun, was sie eingeführt haben. Wenn ein Räuber gefaßt wird, trauen sie sich nicht, ihn köpfen zu lassen. Das sendet Signale. Sie haben Willkür zum obersten Richter ernannt.

GOUVERNEUR: Die Hadj ist sicherer geworden, und wenn wir geeint wären in unseren Bemühungen, könnten wir die Herrschaft des Friedens auch den Beduinen im Landesinneren aufzwingen.

SHARIF: Wir unterstützen Sie doch, so gut wir können, aber uns sind die Hände gebunden, Sie dürfen nicht übersehen, daß wir nicht mehr soviel Einfluß haben wie früher.

GOUVERNEUR: Was soll sich denn geändert haben?

SHARIF: Das Schiff ist ein Feind, mit dem wir nicht gerechnet haben. Was waren das für glorreiche Zeiten, über die meine Vorfahren gewacht haben, mit sechs Karawanen, und Völkerscharen, die ihren Herrschern auf Pilgerschaft folgten. Wissen Sie, daß der letzte der Abbasiden mit hundertdreißigtausend Tieren am Berg Arafah kampierte? Und heute, wo stehen wir heute, es ist jämmerlich. Nur noch drei Karawanen erreichen unsere Stadt, möge Gott sie heiligen, mit nur einigen zehntausend Pilgern, und die Karawanen aus Istanbul und Damaskus, das sind bald Karawanen der Zeremonie. Wenn es so weitergeht, werden wir bald nicht mehr über das Geld verfügen, unseren Pflichten nachzukommen.

KADI: Ihre Armut wäre vielleicht ein Segen. Dann würden die Wahhabi nicht mehr von all den Schätzen angelockt werden.

SHARIF: Die Wahhabi würden versuchen, uns zu unterwerfen, selbst wenn wir alle in Fetzen gekleidet wären.

GOUVERNEUR: Übertreiben Sie nicht Ihre Not? Sie erhalten doch ein Viertel der Abgaben. Und wenn ich mich nicht irre, bringen jene, die mit dem Schiff anreisen, Geschenke mit für die Große Moschee, möge Gott sie ehrenvoller und erhabener machen. Und was ist mit den Lizenzen, die Sie den Führern erteilen, ist das etwa kein einträgliches Geschäft mehr? Der Sultan ist gar nicht so glücklich über die weitreichenden Rechte, über die Sie noch immer verfügen.

SHARIF: Wenn Ihre Soldaten wenigstens die Wege sicherhalten könnten. Die Karawanen werden so oft ausgeraubt, es ist, als würden wir Eiswürfel durch die Wüste transportieren. Für uns bleiben nur noch einige Tropfen übrig.

KADI: Wir müssen den Glauben erneuern. Wenn die Renegaten die Welt regieren, müssen wir zu dem Weg des reinen Gehorsams zurückfinden.

GOUVERNEUR: Genug palavert. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die unser Sultan sehr schätzt. Ein Löwe, ein Wolf und ein Fuchs gehen gemeinsam auf die Jagd. Sie erlegen einen Wildesel, eine Gazelle und einen Hasen. Der Löwe bittet den Wolf, die Beute zu verteilen. Der Wolf zögert nicht: Der Wildesel geht an dich, die Gazelle an mich und der Hase an unseren Freund, den Fuchs. Der Löwe holt aus und schlägt mit einem Hieb seiner Tatze dem Wolf den Kopf vom Leib. Dann wendet er sich an den Fuchs und sagt: Du wirst jetzt die Beute aufteilen. Der Fuchs verbeugt sich tief vor dem Löwen und sagt mit sanfter Stimme: Eure Majestät, die Aufteilung ist denkbar einfach. Der Wildesel wird euer Mittagessen sein, die Gazelle euer Abendessen. Und was den Hasen betrifft, so wird er euch als Leckerbissen zwischen den Mahlzeiten sicher willkommen sein. Der Löwe nickt zufrieden: Was für einen Takt und Wohlverstand du an den Tag legst. Sag, wer hat dir das beigebracht? Und der Fuchs antwortet: Der Kopf des Wolfes.


Am Tage sind die Farben in der Wüste wie weggewischt, und die Wüste ist in Mekka, trotz der hohen Bauten und der engen Gassen. Kurz ist der Übergang zur Nacht, bei dem die Wiederkehr der Farbnuancen mit der Kargheit des Tages versöhnt. Es scheint Sheikh Abdullah, der sich einen guten Platz unter den Kolonnaden ausgesucht hat, als wäre ein Farbfächer aus der Hand einer ganz in Weiß gekleideten Gestalt gefallen. Und er staunt über die verschiedenen Weißtöne, die er auf einmal in den Ihrams entdeckt. Wenig später werden Fackeln angezündet, die Große Moschee erstrahlt, und der Himmel schwärzt sich ein. Die Gebete, die ihn umgeben, wirken ansteckend. Er möchte sich auch versenken, nur weiß er nicht, worin. Bei der Rezitation des Korans stolpert er immer wieder über seine Gedanken nach dem Sinn der Sure. Er versucht zu beten, aber bricht bald ab, weil ihm klar wird, daß er das Gebet nur als gemeinschaftlichen Akt akzeptieren kann. Es kann sich nicht zum einsamen Gebet zwingen. Er richtet sich auf und sucht eine erhöhte Stelle, von der aus er über die Köpfe der Kreisenden auf die Kaaba blicken kann. Wenn schon die Zunge sich den Gebeten verweigert, wird er mit den Augen beten. Die Menschheit rotiert um den vermeintlichen Kern, in einem gleichmäßigen Tempo, als stünde sie auf der Töpferscheibe Gottes. Er könnte dieses Drehen stundenlang betrachten. Mal scheint es ihm ein Perpetuum mobile der Hingabe, mal ein blinder Tanz.

Er fühlt sich von diesem Ort aufgenommen. Zur Ruhe gebettet. Wie ausgehebelt von allen Fallen und Stricken des Lebens. Er ist in al-Islam hineingewachsen, schneller als erwartet, er hat Buße und Entbehrung übersprungen und gleich Eingang in diesen Himmel gefunden. Keine andere Tradition hat eine so schöne Sprache für das Unsagbare geschaffen. Von dem Gesang des Korans bis hin zu den Dichtungen aus Konya, Bagdad, Shiraz und Lahore, mit denen er begraben werden möchte. Gott ist im Islam aller Eigenschaften enthoben, und das erscheint ihm richtig so. Der Mensch ist befreit, keiner Erbsünde untertan und dem Verstand anvertraut. Natürlich ist diese Tradition wie alle anderen kaum in der Lage, den Menschen zu bessern, den Gebrochenen aufzurichten. Aber in ihr läßt es sich stolzer leben als in den schuldbeladenen, freudlosen Niederungen des Christentums. Wenn er glauben könnte, an die Details der Tradition — an das Allgemeine zu glauben ist nicht nötig, das ist die höchste Erkenntnis —, und wenn er sich frei entscheiden könnte und wenn er sich frei bedienen dürfte, so würde er sich für den Islam entscheiden. Aber es ist nicht möglich, zuviel steht im Wege — das Gesetz seines Landes, das Gesetz von al-Islam und seine eigenen Bedenken —, und in Augenblicken wie diesem bedauert er es. Er genießt das Paradies, das ihn umgibt, aber ein Leben nach dem Tod ist bei bestem Willen nicht annehmbar, ebensowenig die Bilanzen, die Gott angeblich zieht, um sein Reich zu bevölkern. Gott ist alles und nichts, aber er ist kein Buchhalter.


An diesem Abend ging der neue Mond über Mekka auf. Sie saßen nahe dem Fußabdruck des Urahns Abraham. Was fühlst du jetzt? fragte Mohammed. Und er antwortete, den Erwartungen gemäß: Dies ist der glücklichste Neumond meines Lebens. Er sprach es aus, dann wog er es ab und stellte fest, daß es so falsch nicht war. Und er fügte hinzu, dem jungen Gewährsmann zu Ohren, der nicht aufgeben würde, auf Fehler seinerseits zu lauern: Möge Gott in all Seiner Kraft und Macht uns anregen, Dank zu sprechen für Seine Gunst, und uns bewußt machen, wie viele Privilegien Er uns zum Anteil gegeben hat, bis hin zu der Aufnahme im Paradies und der Belohnung durch die gewohnte Großzügigkeit Seiner wohltätigen Handlungen und der Hilfe und der Unterstützung, die Er uns gnädig gewährt. Amen, murmelte Mohammed kleinlaut. Und Sheikh Abdullah schlug das Buch der Fragen zu mit einem inbrünstigen Amen, das sich in die Lüfte erhob, als sei es eine der Tauben Mekkas.

Später, als Mohammed sich entfernte, um etwas Zamzam-Wasser zu trinken, skizzierte er die Moschee, zerschnitt das Papier in viele kleine Streifen, die er durchnumerierte und in seinen Hamail legte.


Im Monat von Shawwal des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

GOUVERNEUR: Sind Sie bereit, uns bei der Suche nach der Wahrheit behilflich zu sein?

SAAD: Ich kam in Frieden in Ihre Stadt. Um Handel zu treiben. Sie haben mich eingesperrt. Sie haben mich entehrt.

SHARIF: Sie sind einige ehrliche Antworten von Ihrer Entlassung entfernt.

SAAD: Womit habe ich diese Qual verdient?

GOUVERNEUR: Sie haben sich geweigert, uns zu helfen.

SAAD: Ich weigere mich nicht.

GOUVERNEUR: Wir wollen Ihnen glauben, aber Sie müssen uns entgegenkommen.

SAAD: Es gibt etwas, ich habe es zuvor nicht erwähnt.

GOUVERNEUR: Sie haben es uns verheimlicht.

SAAD: Ich wußte nicht, daß es wichtig ist. Er hat auf seinem Ihram gekritzelt.

KADI: Auf dem Stoff selbst?

SAAD: Ja.

GOUVERNEUR: Was hat er aufgeschrieben?

SAAD: Es war nicht zu lesen.

GOUVERNEUR: Du konntest es nicht richtig sehen oder nicht entziffern?

SAAD: Ich habe es nicht versucht.

GOUVERNEUR: Und du hieltest diese Information nicht für bedeutsam genug, um sie uns mitzuteilen?

SAAD: Er war manchmal seltsam. Wie jeder Derwisch. Ich dachte, ein Gebet vielleicht, ein Segensspruch, der ihm vor der Kaaba eingegeben worden ist.

GOUVERNEUR: Hast du ihn nur in der Großen Moschee etwas notieren gesehen?

SAAD: Ein anderes Mal auch.

GOUVERNEUR: Wo?

SAAD: Auf der Straße.

GOUVERNEUR: Wo? Genauer?

SAAD: Nahe der Kaserne.

GOUVERNEUR: Was habt ihr dort getan?

SAAD: Wir gingen spazieren.

GOUVERNEUR: Wieso gerade dort?

SAAD: Nicht nur dort.

GOUVERNEUR: Was noch? Was hast du uns noch verheimlicht? Sprich.

SAAD: Er hat einen Menschen umgebracht.

KADI: Was?

SAAD: Auf der Karawane von Medina nach Mekka. Ich sah, wie er seinen Dolch säuberte. Am nächsten Morgen wurde ein toter Pilger entdeckt, erstochen.

KADI: Ein Mörder!

GOUVERNEUR: Warst du ihm behilflich?

SAAD: Nein!

GOUVERNEUR: Aber du hast es niemandem erzählt?

SAAD: Ich habe nur einen blutigen Dolch gesehen. Vielleicht wurde er angegriffen, vielleicht war es ein gerechter Kampf.

SHARIF: Hast du ihn danach gefragt?

SAAD: Das stand mir nicht zu.

GOUVERNEUR: Wieviel hat er dir gezahlt?

SAAD: Nichts. Wieso sollte er mir etwas zahlen?

GOUVERNEUR: Für deine Dienste.

SAAD: Ich habe ihn aus freien Stücken begleitet, einige Male.

GOUVERNEUR: Um so schlimmer, ein Verräter aus Überzeugung.

SAAD: Wen habe ich verraten?

GOUVERNEUR: Den Kalifen und deinen Glauben.

SAAD: Ich habe niemanden verraten.

GOUVERNEUR: Du lügst.

SAAD: Ich habe niemanden verraten.

GOUVERNEUR: Wir werden dir die Lüge austreiben. Führt ihn ab.


GOUVERNEUR: Sie sagen, du bist reumütig und willst uns alles gestehen.

KADI: Bringen wir es hinter uns.

SAAD: Ich habe ihm geholfen.

GOUVERNEUR: Womit?

SAAD: Er hat Fragen gestellt, ich habe sie beantwortet. Wenn ich die Antwort nicht wußte, habe ich versucht, sie herauszufinden.

GOUVERNEUR: Fragen worüber?

SAAD: Über alles. Er war sehr neugierig.

GOUVERNEUR: Beispiele, gib uns Beispiele, bevor wir dir die Schmerzen zurückgeben.

SAAD: Unsere Sitten, unsere Gewohnheiten, die Geheimnisse der Karawanen und des Handels.

GOUVERNEUR: Waffen?

SAAD: Ja, an Waffen war er sehr interessiert.

GOUVERNEUR: Was für Waffen?

SAAD: Goldverzierte Dolche.

GOUVERNEUR: Du machst dich lustig über uns.

SAAD: Nein, glauben Sie mir. Alte Dolche, meisterlich gearbeitet, die erregten seine Aufmerksamkeit.

GOUVERNEUR: Wann hat er dich angesprochen?

SAAD: Kurz bevor wir Medina erreichten. Er hatte Wache, ich war früh auf. Er begann ein Gespräch.

GOUVERNEUR: Wieso hast du es getan?

SAAD: Ich hatte keinen Grund.

GOUVERNEUR: Wolltest du dich rächen?

SAAD: An wem?

GOUVERNEUR: An uns allen.

SAAD: Was für eine Rache wäre das?

GOUVERNEUR: Du mußt einen Grund gehabt haben, verfluchter Neger.

SAAD: Für Geld?

GOUVERNEUR: Ja, bestimmt war es Geld …

SAAD: Meine Geschäfte, sie gingen schlecht.

KADI: Ich hatte von Beginn an so ein Gefühl, daß du deine Treue und deine Ehre an den Meistbietenden verschacherst.

GOUVERNEUR: Siehst du, was du uns alles verraten kannst, bei gutem Willen.

SAAD: Ich habe guten Willen.

GOUVERNEUR: Hat er erwähnt, wer ihn geschickt hat?

SAAD: Er hat nie etwas gesagt. Er hat Moskau kein einziges Mal erwähnt.

GOUVERNEUR: Moskau? Wieso denn Moskau?

SAAD: Ich meine, von seinen Auftraggebern, er hat nichts erzählt von denen.

GOUVERNEUR: Was! Hat er dir gegenüber angedeutet, er sei ein Russe?

SAAD: Nein, er war doch Inder. Aber wenn er spioniert hat, dann doch …

GOUVERNEUR: Für Moskau?

SAAD: Nicht für Moskau?

GOUVERNEUR: Sag uns die Wahrheit …

SAAD: Ich sage doch, ich bestätige alles, er war ein Spion. Ich weiß nicht genau, was für ein Spion. Wenn nicht für Moskau, ich dachte, für den Vizekönig vielleicht?

SHARIF: Er weiß nichts!

GOUVERNEUR: Wie bitte?

SHARIF: Es ist offensichtlich, daß er nichts weiß. Alles was er erzählt hat, entstammt seiner Phantasie.

GOUVERNEUR: Stimmt das? Ich werde dich häuten lassen, du dreckiger Hund.

SAAD: Die Schmerzen haben danach verlangt. Sie haben mich dazu gezwungen.

GOUVERNEUR: Du hast uns zweimal belogen!

SAAD: Was Sie sagen. Was Sie sagen.

GOUVERNEUR: Ich will endlich die Wahrheit wissen.

KADI: Sie ist nicht schwerhörig, Sheikh, die Wahrheit.

GOUVERNEUR: Das befriedigt Sie, nicht wahr? Sie ergötzen sich an unseren Schwierigkeiten.

KADI: Die Wahrheit zu finden, das ist unser aller Schwierigkeit, Sheikh. Niemand ausgenommen, und an dieser mißlichen Lage kann keiner von uns Gefallen finden.

SHARIF: Sein Geständnis, es ist nutzlos.

KADI: Es war gut erdichtet, wenn schon nicht gut erdacht. Eine wahrhaft Mekkanische Offenbarung.

GOUVERNEUR: Was soll das bedeuten?

KADI: Ach, ich hatte vergessen, daß die Kenntnis der Klassiker nicht mehr erforderlich ist für ein hohes Amt. Es bedeutet, sein Geständnis ist so einseitig, daß nur er selber und Gott es verstehen können.

SHARIF: Es ist Zeit für das Zohar-Gebet.

KADI: Und dieser Mann?

GOUVERNEUR: Was ist mit ihm?

KADI: Ich bestehe darauf, daß er gewaschen wird und anständige Kleidung erhält. Soll er so seine Gebete sprechen? Wir wollen keine Schuld auf uns laden!

GOUVERNEUR: Ich bezweifele, daß er körperlich in der Lage ist, das Gebet auszuführen.

KADI: Das wird er entscheiden müssen. Wir müssen nur sicherstellen, daß er beten könnte, wenn er wollte.


Labbayk Allahumma Labbayk. Die Rufe wurden Tag und Nacht wiederholt, sie waren in aller Munde, sie erklangen zu jedem Anlaß und an jedem Ort. Mit ihnen näherten sich die Pilger der Großen Moschee, mit ihnen traten sie ein beim Barbier, mit ihnen begrüßten sie Bekannte auf der Straße — Labbayk war der Ton einer Fanfare, die zur kleinen und zur großen Pilgerreise ertönte, ein Ton, der selbst die Pausen dazwischen erhellte. Aber am achten Tag des Monats Zuul Hijjah erklangen die Rufe wie der Marschgesang einer Armee. Die vielen brachen auf aus Mekka, auf zum Berg Arafah, zum Gipfel der Pilgerreise, wo sie vor Gott stehen würden, um seine Gegenwart zu schauen, ungeachtet der Hitze und Schwäche.

Sheikh Abdullah erwartete, daß auf den Aufenthalt in der Großen Moschee, daß nach der Sicht auf die Kaaba, auf den Hängen des Berges Arafah und im staubigen Weltdorf Mina weitere Höhepunkte folgen würden, Steigerungen des Erlebten, doch was in der Wüste außerhalb der heiligen Stadt geschah, ließ ihn bedauern, Mekka verlassen zu haben. Obwohl sie in einer komfortablen Sänfte aufbrachen, zu früher Stunde, der Empfehlung des jungen Mohammed folgend. Wer den Berg Arafah zu spät erreiche, der finde keinen Platz in der Nähe, um sein Zelt aufzuschlagen. Die vielen toten Tiere am Wegrand waren nicht zu übersehen. Unzählige Kadaver waren einfach in die Gräben geworfen worden. Die Beduinen in ihrer Gruppe schoben sich Baumwollstücke in die Nasenlöcher, andere hielten sich Handtücher dicht über Mund und Nase. Sie erreichten Arafah, ein Hügel in den Atlanten, ein gewaltiger Berg der Metaphysik. Die Öde, die ihn umschlang, war aufgekratzt von den vielen Pilgern. Sie errichteten ihre Zelte am Fuße des Hügels und überließen sich jenen halbstummen Zwiegesprächen, die sie aus diesem Tag herausführen würden. Manche Pilger murmelten, andere bewegten still ihre Lippen. Gewiß listeten ihre Gedanken jede Schwäche und jeden Fehler auf, gewiß korrigierten sie diesen persönlichen Mängelkatalog, erweiterten ihn um einige Nachzügler im Bekenntnis. Erschraken sie über das Angesammelte? Waren sie um Aufrichtigkeit bemüht? So sehr, daß sie die Liste ihrer Vorsätze kürzten, um nicht etwas zu versprechen, aufrecht vor Gott, dem sie nicht gewachsen waren, an diesem Tag der ungeschönten Bilanz.

Eine Kanone platzte in die massenhafte Einkehr hinein. Sie kündigte das Nachmittagsgebet an. Schon hörten sie Trommeln und gleißende Klänge. Komm mit, rief Mohammed, die Prozession des Sharifs trifft ein. Sie drängten sich vor, bis sie die Prozession erblickten, wie sie einen Pfad erklomm, der den Berg hinaufführte. Angeführt von einer Kapelle aus Janitscharen, denen die Träger des Amtsstabes folgten, die gereizt den Weg freiräumten. Ihnen folgten mehrere Reiter, ein jeder von ihnen hielt einen überlangen, mit Quasten versehenen Speer in der Hand, mit dem sie die Zuchtpferde des Sharifs antrieben, vollblütige Araber mit alten und abgenutzten Schabracken. Hinter den Pferden gingen schwarze Sklaven mit Luntenmusketen, offensichtlich in Begleitung der grünen und roten Flaggen in ihrem Windschatten, zum Schutz der hohen Herren, des Sharifs von Mekka samt Höflingen und Familie. Mohammed konnte jeden in dieser erlauchten Gruppe identifizieren. Der Sharif erwies sich als alter Mann, ein Asket von ziemlich dunkler Hautfarbe, was er seiner Mutter, einer Sklavin aus dem Sudan, verdanke — Mohammed schien über die Familienverhältnisse bestens informiert zu sein. Er sieht nicht nach viel aus, aber keiner kann es mit ihm an Schlauheit aufnehmen, sagte er voller Bewunderung. An der Seite des Sharifs, dessen verharrende Augen auf einmal über die Menge huschten wie ein Skorpion über den Sand, schritt ein Mann, der ihn um einen Kopf überragte und dessen grobschlächtige Figur von seinem Ihram kaum bedeckt wurde. Sein modisches kleines Bärtchen stand im Gegensatz zum vollen Bart des Sharifs. Das ist der türkische Gouverneur, sagte Mohammed. Keiner mag ihn. Und ich glaube, er will es so haben. Im Gegensatz zum Sharif schien der Gouverneur die versammelten Menschen zu ignorieren. Einige Schritte hinter diesen beiden hielt sich ein jüngerer Mann mit rundlichem Gesicht und weichen Gesichtszügen, deren Weiblichkeit von seinem ungleichmäßig wachsenden Bart betont wurde. Als einziger in der Gruppe schien er in sich selbst versunken, Teil der Prozession und ihr doch enthoben. Über ihn wußte Mohammed nichts zu sagen, außer daß es sich um den Kadi handelte, Protegé des wohl mächtigsten Alim in der jüngsten Vergangenheit der Stadt und daher schon in jungen Jahren zu Ehren gelangt, die das Schicksal überflügelten. Die Prozession wurde geschluckt von der dichten Menschenmenge, hinter der das Granitgestein von Arafah als karge Erinnerung an den Anlaß aufragte. Die Pilger kletterten die Flanken des Hügels hinauf. Plötzlich trat eine völlige Stille ein, das Zeichen, daß die Predigt begonnen hatte, doch ihr Gehalt drang nicht bis dort vor, wo sie standen. Sheikh Abdullah sah einen alten Mann auf einem Dromedar, der gelegentlich seine Hände zur Unterstützung seiner Worte benutzte. Die Predigt habe, so erfuhr er später, wie jedes Jahr Adam und Hauwa ins Gedächtnis gerufen, die Tränen, die Adam an diesem Ort in einem monatelang dauerndem Gebet vergossen hatte, bis ein Teich entstanden war, an dessen süßem Wasser die Vögel sich gelabt hatten. Teile der Rede wurden hervorgehoben durch die Rufe der aufrecht stehenden Pilger, durch ihre Amins und Labbayks, die zuerst einzeln, leise und bedächtig erklangen, um sich in Lautstärke und Intensität zu steigern, bis sie selbst jene mitzogen, die von der Rede weit entfernt waren. Schließlich waren alle, die Sheikh Abdullah umgaben, den Tränen nahe — Mohammed versenkte das Gesicht in ein weißes Tuch —, und viele schluchzten, obwohl keiner von ihnen ein einziges Wort verstanden hatte. Der emotionale Gehalt der Predigt war allen vertraut. Was als Strohfeuer begonnen hatte, wuchs sich zu einer Feuersbrunst aus. Je rötlicher der späte Nachmittag wurde, um so mehr verdichtete sich das Flehen der Pilger. Sie beteten um Vergebung, um Gottesfurcht, um einen leichten Tod, um eine positive Bilanz am Tag des Gerichts, um die Erfüllung ihrer Gebete im Leben. Kaum einer der vielen stand in dieser Stunde außerhalb des Gebetes.

Mit dem Sonnenuntergang erklangen die Glückwünsche … Id kum Mubarak … Id kum Mubarak. Die Hadj war mit dem Ende dieses Tages erfüllt. Die Sünden waren vergeben, die Pilger waren neugeborene Kinder, und sie durften sich von nun an Hadjis nennen. Sheikh Abdullah umarmte Saad, Mohammed und seinen Onkel. Er fühlte einen reinen Stolz, an dem er sich ohne Hintergedanken berauschte. Alle wirkten ausgelassen und schienen zu schweben. Schon zogen die ersten Pilger ab. Jeder räumte hastig zusammen, warf die notdürftig zusammengeschnürten Zelte auf die Lasttiere und schlug auf sie ein. Wir nennen es das Rennen von Arafah! Mohammed gefiel sich in der Rolle des abgeklärten Kommentators. Die Pilger rannten den Hügel hinab mit schwungvollen Schreien. Ich stehe vor dir, Gott, ich stehe vor dir. Obwohl alle in ihrer Gruppe mithalfen, waren ihre Dromedare erst nach Einbruch der Dunkelheit abmarschbereit. Alles strömte zur Straße nach Mina. Die Erde war gespickt mit zurückgelassenen Zeltpflöcken. Sheikh Abdullah sah, wie im Gedränge eine Sänfte zerdrückt wurde, wie einige Fußgänger unter die Hufe gerieten, wie ein Dromedar zusammenknickte, wie sich Pilger mit Stockhieben gegen andere Pilger wehrten, er hörte Stimmen, die nach einem Tier suchten oder nach Frau und Kind. Die Pilger drängten sich durch das Tal, das in der einfallenden Nacht enger und tiefer wirkte, sie erreichten den Hohlweg, der al-Mazumain genannt wurde, markiert von unzähligen Fackeln, die so heftig brannten, als würden sie von der Erregung der Masse genährt werden. Die Feuerfunken flogen weit über die Ebene hinweg wie irdische Sternschnuppen. Die Artillerie feuerte eine Salve nach der anderen ab, Soldaten ließen ihre Flinten feiern, und die Kapelle des Paschas spielte auf, irgendwo tief hinter ihrem Rücken. Raketen stiegen auf, von der Prozession des Sharifs abgeschossen, wie Mohammed eifrig berichtete, aber auch von begüterten Pilgern, die dem Himmel mitteilen wollten, daß sie Hadjis waren, und vielleicht war die Botschaft der Explosion zu sehen in den Orten ihrer Herkunft. Der Trab der Tiere war schnell, es gab ebenso viele Gründe für die Eile wie für das ohrenbetäubende Geschrei, mit dem die Menge durch den Paß von Mazumain nach Muzdalifa und Mina einzog. Sie mußten keine zwei Stunden reiten, bis sie ein völlig ungeordnetes Lager erreichten. Jeder ließ sich auf dem nächstbesten Fleck nieder. Es wurden keine Zelte aufgeschlagen, außer jene der Paschas, denen auch die hochragenden Lampen gehörten, die durch eine Nacht brannten, in der die Artillerie weiterfeuerte, ohne Unterbrechung, wie ein Ausgesang, der sich nicht erschöpfte. In der Verwirrung, die der Abzug vom Berg Arafah verursachte, hatten viele Pilger ihre Dromedare verloren, und während Sheikh Abdullah, eingewickelt in seinen Ihram und eine rauhe Decke, vergeblich den Schlaf suchte, hörte er ihre heiseren Stimmen umherirren.


Im Monat von Dhu’l-Qaadah des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

MOHAMMED: Ich habe ihn nie aus den Augen gelassen. Ich war mir sicher, er würde sich eines Tages eine Blöße geben. Ich wollte ihn entlarven. Ich habe einen meiner Onkel gebeten, uns nach Arafah und Mina zu begleiten, damit er mir zur Seite stünde. Das war auch gut so. Auf dem Berg Arafah habe ich die anderen aus den Augen verloren. Ich hatte mich der Predigt genähert, weil sie von unserem Zeltplatz aus nicht zu hören war, aber Sheikh Abdullah hatte wohl Sorge, daß wir zu spät aufbrechen würden, er ließ die beladenen Dromedare abreiten. Als ich zu unserem Platz zurückkam, waren sie nicht zu finden. Ich mußte zu Fuß nach Mina gehen. Ich habe die anderen einige Stunden lang gesucht, dann gab ich auf und legte mich im Sand schlafen. Kalt war es, nur im Ihram. Aber mein Onkel war in der Sänfte zusammen mit Sheikh Abdullah, und er hat ihn beobachtet. Etwas Seltsames geschah, etwas Überraschendes. Sheikh Abdullah begann sich hin und her zu werfen, als leide er unter all den Sünden, die er gerade gestanden hatte. Er babbelte vor sich hin, immer heftiger wurden seine Zuckungen, die Sänfte war in Gefahr, mein Onkel versuchte ihn zu beruhigen, redete auf ihn ein. Aber Sheikh Abdullah war nicht zu bremsen. Er schrie ihn an, er spuckte die Worte geradezu aus. Du bist schuld, bei Gott, du bist schuld. Strecke deinen Bart hinaus, gib mir Frieden, und Gott wird es uns beiden leichter machen. Mein Onkel gab seinem Wunsch nach, er blickte hinaus, nach vorne, und horchte, was hinter seinem Rücken geschah. Sheikh Abdullah war noch ein wenig unruhig, dann ließen die Zuckungen nach. Ich habe ja immer bezweifelt, daß Sheikh Abdullah ein Derwisch ist. Aber diese Erfahrung, sie hat mich verunsichert.

GOUVERNEUR: Dein Onkel verfügt offensichtlich nicht über deinen scharfen Verstand. Der Anfall des Sheikhs war vorgespielt!

MOHAMMED: Woher wissen Sie das?

GOUVERNEUR: Es steht in seinem Buch. Er hat ihn vorgetäuscht, um in Ruhe nach hinten zu schauen und den Berg Arafah zeichnen zu können.

MOHAMMED: Dann war mein Verdacht richtig, von Anfang an. Wieso habe ich ihn nicht erwischt, ich hätte ihn erwischen müssen.

KADI: Immerhin war er gezwungen, vorsichtiger zu sein.

GOUVERNEUR: Vorsichtiger? Er scheint sich völlig frei bewegt zu haben. In seinem Buch gibt er sogar genaue Maße und Entfernungen an. Er scheint die Große Moschee, Gott möge sie heiligen, ausgemessen zu haben. Kannst du uns erklären, wie das möglich war?

MOHAMMED: Ich habe keine Ahnung.

SHARIF: Vielleicht hat er seine Schritte gezählt?

GOUVERNEUR: Zu ungenau und bei dem Gedränge schwer durchzuführen.

SHARIF: Denk nach, du bist ein kluger Junge, denk nach.

MOHAMMED: Oh Gott, er hat alles mit dem Stock ausgemessen, auf den er sich stützte. Er hinkte ein wenig, er hat behauptet, er sei auf der Reise von Medina nach Mekka vom Dromedar gestürzt. Ich habe das nicht gesehen, aber er war ein erbärmlich schlechter Reiter. Diesen Stock, er ließ ihn oft fallen, er setzte sich hin, und schob ihn herum. Er wollte eine ganze Nacht bei der Kaaba verbringen. Wir haben lange gebetet und mit einigen der Händler geredet. Mir fielen die Augen zu. Als ich aufwachte, stolperte jemand über mich, und Sheikh Abdullah war nirgendwo zu sehen. Ich stand auf und sah mich um und entdeckte ihn schließlich nahe der Kaaba, er schlich um sie herum. Er faßte die Kiswah immer wieder an, unten, wo sie schon zerfranst ist, und ich hatte den Eindruck, er wollte ein Stück abreißen. Er blickte sich immerzu um nach den Wachen, aber Sie wissen ja, wie aufmerksam die sind, sie wollen das Geschäft selber machen, einer von ihnen kam näher, er hob drohend seine Lanze. Ich zog Sheikh Abdullah am Arm weg von der Kaaba. Ich weiß, viele reißen kleine Fetzen des Stoffes ab, es gilt als Bagatelle, aber trotzdem, wie kann ein respektierter Mann so etwas tun?

KADI: Erstaunlich ist nur, daß dieser Fremde in seinem Buch schreibt, du habest ihm ein Stück von der Kiswah geschenkt?

MOHAMMED: Das schreibt er?

KADI: Ja. Er schreibt einiges über dich.

MOHAMMED: Es stimmt, aber das war später, zum Abschied.

KADI: Woher hattest du es?

MOHAMMED: Gekauft von einem der Offiziere.

KADI: Du hattest so viel Geld?

MOHAMMED: Meine Mutter hat es mir gegeben, sie wollte, daß wir ihm etwas Bleibendes schenken.

KADI: Und da hat sie all das Geld, das dieser Besucher für die Übernachtung in eurem Haus gezahlt hat, für ein Abschiedsgeschenk ausgegeben? Außergewöhnlich großzügig.

MOHAMMED: Sie war sehr von ihm angetan. Mir fällt noch etwas ein, das muß ich Ihnen erzählen, das ist bestimmt wichtig. Eines Tages, auf der großen Straße in Mina, sahen wir einen Offizier von den irregulären Truppen, der völlig besoffen war, er gab jedem, der ihm im Weg stand, einen Stoß mit dem Ellbogen, und er beschimpfte jene, die sich beschwerten. Als wir an ihm vorbeikamen, hielt er inne, gab einen Schrei von sich und umarmte Sheikh Abdullah, der ihn wegstieß. Was ist, mein Freund? schrie der Besoffene, und Sheikh Abdullah drehte sich sofort um und eilte davon. Er stritt ab, daß er ihn kannte, aber mir kam es seltsam vor.

GOUVERNEUR: Er kannte ihn.

MOHAMMED: Das wissen Sie?

GOUVERNEUR: Aus Kairo.

KADI: Sie haben dort zusammen getrunken.

MOHAMMED: Ich wußte es.

GOUVERNEUR: Es ist nicht so einfach, leider. Dieser Mann hat offensichtlich so viele Stärken, daß seine Schwächen ihn nie gänzlich entlarven. Du darfst jetzt gehen, junger Mann. Du hast Gott und deinem Herrscher gut gedient. Wir werden dich entsprechend belohnen.

GOUVERNEUR: Übrigens, stimmt es, daß Saad, der Neger, wieder verhaftet worden ist?

SHARIF: Wir wissen nicht, was wir mit ihm machen sollen; ich fürchte, sein Verstand ist zu sehr durcheinandergeraten. Die Wachen haben ihn in der Großen Moschee aufgegriffen, weil er die Kaaba ohne Unterlaß umrundete, bei Tag und bei Nacht, was übertrieben ist, aber für sich genommen nicht so schlimm wäre, aber bei jedem Schritt hat er geschrien wie eine Bestie: Ich habe mich an der Wahrheit vergriffen, schrie er, ich bin kein Mann mehr, das schrie er immer wieder. Niemand konnte ihn von diesem Verhalten abbringen, das wirklich unangebracht ist, es hat auch die anderen Pilger gestört. Er schrie mit einem Schmerz, berichtete mir Hoheit Sheikh al-Haram, und ich kann Ihnen sagen, das Oberhaupt der Eunuchen war sehr erregt, der Schwarze schrie mit einem Schmerz, als habe er die Hölle gesehen.


Heute, sagte Mohammed nach dem Morgengebet zufrieden, heute werden wir den Teufel steinigen. Die Steine, die sie in der Nacht zuvor aufgesammelt hatten, lagen in Häufchen zu je sieben vor ihnen, und Sheikh Abdullah mußte ein Schmunzeln verbergen, als ihm auffiel, daß die von Mohammed zusammengetragenen Geschosse von übereifriger Größe waren. Es war ihm von Anfang an schwergefallen, die Lapidation des Beelzebubs ernst zu nehmen. Mit diesem Brauch war die Klarheit der Rituale entschwunden, sie befanden sich auf einmal im Kuddelmuddel einer Kirmes, mit einem Schießstand als Hauptattraktion, wo einem sieben Würfe auf einen steinernen Pferdefuß gewährt wurden. Verliere sie nicht auf dem Weg, und wenn doch, hebe ja nicht Steine auf, die von anderen schon geworfen worden sind, belehrte ihn Mohammed. Das hat so zu sein, weil schon einmal verwendete Steinchen dem Teufel nicht weh tun können, dachte sich Sheikh Abdullah, blickte Mohammed aber mit den unverschleierten Augen eines Strebers an. In den zwölf Monaten zwischen zwei Pilgerzeiten, da laden sie sich wieder auf, die Steinchen, denn es ist nicht vorstellbar, daß jedes Jahr jungfräuliche Steine zum Einsatz kommen. Selbst in der Wüste ist der Vorrat an Steinen endlich. Stelle sicher, fuhr der junge Einpeitscher fort, daß du die Säule mit jedem deiner Würfe triffst. Halte die Steine so zwischen den Fingern … Sheikh Abdullah verspürte — noch bevor er ihm in dem bösartig engen Tal von Mina begegnet war — fast ein wenig Mitleid mit diesem Teufel, dessen Rumpf alljährlich von Hunderttausenden von Steinen traktiert wurde. Aber da der Teufel aus Felsgestein bestand, traf Gleiches auf Gleiches, so daß keine grundsätzliche Veränderung drohte. Das Gleichgewicht der Kräfte blieb erhalten, mit den Steinen konnte der Teufel so wenig getroffen werden wie die Wüste mit einer Handvoll Wasser befruchtet werden konnte. Laß uns endlich gehen, sagte er voller Eifer, und Mohammed belohnte ihn mit einem zufriedenen Blick.

Weil Mohammed sich als Pilger pedantisch genau an die Zeitvorgaben hielt, gerieten sie bald nach dem Aufbruch in eine Menschenlawine — später sollte Sheikh Abdullah erfahren, daß jene, die zwischen Gott, dem Teufel und sich selbst Kompromisse aushandelten, früher als vorgeschrieben zur Steinigung aufbrechen oder mitten in der Nacht aufstehen, um bei Mondfrieden ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Solch eine Übertretung wäre mit Mohammed undenkbar; insgeheim, so vermutete Sheikh Abdullah seit längerem, wanderte auch er gelegentlich durchs Gebüsch der Kompromisse. Ein Mann versperrte ihnen den Weg, ein schmalgesichtiger Mann, dem die Ekstase aus den Augen sprang. Er packte Sheikh Abdullah am Arm und schüttelte ihn. Du kannst dir die Mühe sparen, Bruder, ich habe dem Teufel schon die Augen ausgestoßen. Auch der blinde Shaitan, erwiderte Sheikh Abdullah, brütet gefährliche Verführungen aus, genauso wie ein blinder Mensch nicht vor Verfehlungen gefeit ist. Du hast es mit einem großen Derwisch aus Indien zu tun, fügte Mohammed hinzu, er hält sich den Shaitan mit seiner Weisheit vom Leibe. Beide Augen, schrie der Mann, beide Augen! Und er verging in der Masse.

Die Hadjis glichen einer Lawine, die ins Tal kracht, als sie sich der Säule näherten und ihrer ansichtig wurden. Sheikh Abdullah fühlte sich von allen Seiten bedrängt. Die Menge schwankte wie ein Schiff bei hohem Wellengang, sie rollte ungewiß weiter, während sich Schreie über Schreie wälzten, und der letzte Rest von Rücksicht und Geduld erdrückt wurde, vor allem von den Dromedaren und Mauleseln der hohen Herren. Die Säule war eine Enttäuschung, sie wirkte so wenig bedrohlich wie eine Markierung am römischen Wegrand, wie ein Hünenstein, wie ein namenloses Grabmal. Doch sie entzündete die Phantasie der Hadjis um ihn herum, deren Gesichter zu zornigen Fratzen gezogen wurden, während sie ihre Steine warfen, aus viel zu großer Entfernung. Viele der Hadjis trafen nicht den Teufel, sie trafen ihre eigenen Brüder und Schwestern. Sheikh Abdullah verschoß seine Munition schnell. Anstatt vor jedem seiner Würfe ein Gebet zu sprechen, murmelte er: Wir nehmen Zuflucht in Gott vor der Gewalt und den Ausfällen der Menge und dem Gewährenlassen unbeherrschter Begehr. Doch es gab keine Zuflucht. Nicht in einer Menge, in der ein jeder dem anderen Todfeind war, nur darauf bedacht, lebendig dem Ritual zu entkommen. Er war immer weiter nach vorne geschoben worden, er hatte die Gefahr nicht bemerkt, er war Gischt auf einer Sturmwelle, die ihn der Säule entgegenschleuderte. Steine fielen auf seinen Körper, und einer von ihnen verfehlte sein Auge um eine Braue.

Der Steinigung zu entrinnen war schwieriger, als ihr entgegenzueilen. Denn nach Abwurf der sieben Steine suchten die Hadjis Fluchtwege aus der Masse, sie drängten hinaus, sie schlugen sich einen Ausgang, ungeachtet der Widerstände. Sie gaben dem Vordermann, der Vorderfrau, ihr ganzes Gewicht zu spüren, sie ließen niemanden vorbei, der eine etwas andere Richtung einschlug. Mit einem Schlag auf seinen Hinterkopf offenbarte sich für Sheikh Abdullah die tiefere Bedeutung dieses Rituals: Die Steinigung war eine Übung im Allzumenschlichen nach dem Höhenflug der Läuterung. Jeder nährte den Teufel in sich selbst, die Herzen der Pilger versteinerten wieder, und so war es überhaupt kein Fehler, daß die Steine auf die Pilger niedergingen. Im Gegenteil, im Mitmenschen trafen sie den Teufel, und nicht in der Säule, die dieser nur zur Ablenkung dort hingestellt hatte. Auf der Hadj hatte er ein Perpetuum mobile der Hingabe erlebt, nun wurde er durch ein Perpetuum mobile der Gewalt geschleudert, und ihm kamen, im Herzen des Islam, die Worte von Upanitsche in den Sinn, als er ihm die Lehre von Advaita erklärt hatte: Wenn wir in unserem Mitmenschen immer nur den anderen sehen, werden wir nie aufhören, ihn zu verletzen. So gesehen steckte der Teufel in den Unterschieden, die Menschen zwischen sich aufbauten. Seine Einsicht wurde bestätigt von einem Schwall Spucke, der auf seinem Gesicht landete.


Schon nach drei Tagen der Hadj häuft sich am großen Platz, in den Nischen und Ecken zwischen Zelten und Häusern, im Pilgerlagerraum, alles Widerliche. Exkremente bedecken den Boden, Überreste von verrottetem Gemüse und faulenden Früchten. Es ekelt ihn, hindurchzugehen. Zumal an diesem Tag ein Gestank die Luft vergiftet, der sich dem großen Schlachten verdankt. Abertausenden von Tieren, Ziegen und Kamelen ist der Hals durchgeschnitten worden. Das Fleisch wird verschenkt, gebraten, gegessen; die Reste, die Gedärme und die Innereien, die Stücke Fell und Fett, die vertrockneten Rinnsale Blut, zeichnen die Erde. Das Tal von Mina ist der entsetzlichste Ort auf Erden, den Sheikh Abdullah sich vorstellen kann. Wenn einer stirbt, wird er liegengelassen; wenn der Leichnam den Zustand der Verwesung erreicht, wird er in einen der Gräben geworfen, die ausgehoben worden sind, um in ihnen zu entsorgen, was von den geschlachteten Tieren übrigbleibt. Ein pestlicher, fleischiger Kompost. Die Zahl der Toten steigt an, unvermeidlich angesichts der Härten der Hadj, der leichten Kleidung, der schlechten Unterbringung, der ungesunden Kost, der mangelnden Ernährung. Einige Pilger sind der Steinigung zum Opfer gefallen, als sie sich zum zweiten Mal dem Teufel stellen mußten, dem über Nacht drei Säulenfüße gewachsen waren, so daß sie dreimal sieben Steine zu werfen hatten. Es war dreimal so unerträglich und dreimal so gefährlich wie am Tag zuvor.

Den Aufenthalt in Mina empfindet er als Härteprüfung. Den anderen Pilgern ergeht es nicht besser. Die frische Verpflegung ist ausgegangen, ebenso das innere Feuer. Eine Dämmerung durchzieht den gesamten Tag. Wer sich bewegt, schleppt sich durch Stunden, die sich träge ausbreiten über den abgeworfenen Umhang von Pflichten. Das Sterben verstärkt sich — inzwischen endet keines der gemeinschaftlichen Gebete ohne ein Salah Jennazi, das für die jüngst Verstorbenen gesprochen wird. Sheikh Abdullah nimmt sich vor, auf dem Rücken seines Esels die letzte Etappe nach Mekka zurückzulegen, wo das Gebot der Stunde, Krankheit und Sterblichkeit, selbst die Große Moschee mit Leichen gefüllt hat und mit Kranken, die zu den Kolonnaden getragen werden, um vom Anblick der Kaaba geheilt zu werden oder beseelt im heiligen Raum zu sterben. Sheikh Abdullah sieht abgezehrte Hadjis, die ihre kraftlosen Körper in die Schatten unter den Kolonnaden schleppen. Wenn sie ihre Hand nicht mehr ausstrecken können, um eine Gabe zu erbitten, stellt jemand, der sich ihrer erbarmt, nahe der Matte, auf der sie liegen, eine kleine Schüssel hin, in der sich die seltenen Almosen sammeln. Wenn diese Elenden fühlen, daß der letzte Augenblick naht, bedecken sie sich selbst mit ihren zerlumpten Kleidern, und es dauert manchmal lange, so erzählt ihm Mohammed, bevor jemand entdeckt, daß sie gestorben sind. Am nächsten Tag, nach einem weiteren Tawaf, stolpern sie nahe der Kaaba über eine gekrümmte Gestalt, offensichtlich ein Sterbender, der in die Arme des Propheten und der Engel gekrochen ist. Sheikh Abdullah bleibt stehen und beugt sich zu ihm hinab. Mit einem Krächzen und einer schwachen, aber verständlichen Geste bittet der Mann darum, mit etwas Zamzam-Wasser besprengt zu werden. Während sie diesem Wunsch nachkommen, stirbt er; sie schließen ihm die Augen, und Mohammed entfernt sich, um jemanden zu benachrichtigen, denn kurz darauf waschen einige Sklaven sorgfältig die Stelle, wo der Tote gelegen hat, und kaum eine halbe Stunde später werden sie den Unbekannten begraben — so mühsam die Ankunft des Menschen auf Erden vonstatten geht, so rasch entledigt sich die Welt seiner, wenn er nur noch Materie ist. Der Gedanke bekümmert Sheikh Abdullah, aber er spürt, daß dies der Ort ist, an dem er sich mit ihm abfinden könnte. Er sitzt aufrecht, mit Blick auf die Kaaba, und er stellt sich vor, daß er der Mann ist, der sterbend daliegt. Spürt er noch die Tropfen Wasser, die auf sein Gesicht fallen? Von was wird er Abschied nehmen müssen?


Im Monat von Dhu’l-Hijjah des Jahres 1273

Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen

GOUVERNEUR: Verzeihen Sie mir, daß ich Sie in diesen Tagen zu einem letzten Treffen eingeladen habe, aber ich werde sofort nach Id al-Aza nach Istanbul abreisen, und ich habe den abschließenden Bericht mit mir zu führen.

SHARIF: Fast ein Jahr ist vergangen, seitdem wir begonnen haben, uns mit dieser Angelegenheit zu befassen, die bedeutsam ist, gewiß, aber wir haben getan, was möglich war, und doch, wenn ich diesen Vergleich aufnehmen darf, auch wir haben vergeblich nach dem Neumond der Wahrheit geschielt.

GOUVERNEUR: Wir haben noch einen letzten Zeugen zu hören, vielleicht hilft er uns, den Knoten zu zerschlagen. Es ist Salih Shakkar, wir haben ihn endlich gefunden, er ist mit der großen Karawane nach Mekka zurückgekehrt. Ein Dutzend meiner Männer war damit beschäftigt, nach ihm Ausschau zu halten. Ich habe ihn schon befragt, ein wenig, und noch nichts Neues erfahren, aber vielleicht kommt bei einem gemeinsamen Gespräch etwas zum Vorschein.

KADI: Selbst wenn der Himmel völlig eingeschwärzt wäre, wir würden weiter nach dem Neumond suchen.

SHARIF: Ein letztes Mal, wie der Gouverneur sagt, ein letztes Mal. Wissen Sie, ich werde unsere Treffen vermissen, sie waren eine Abwechslung, so lehrreich und unterhaltsam.

KADI: Unterhaltsam?

SHARIF: Auf eine krumme Weise.

GOUVERNEUR: Ich werde den Mann rufen lassen.

GOUVERNEUR: Denken Sie nach. Er muß doch irgendwelche Meinungen geäußert haben. Jeder Mensch urteilt von Zeit zu Zeit.

SALIH: Er hatte einen geschärften Blick für das Unrecht der Welt, er äußerte erstaunlich viel Mitgefühl mit den ärmeren Pilgern. Als sei er mit ihnen verwandt.

GOUVERNEUR: Ja …

SALIH: Er konnte sich aufregen, sich in Rage reden. Einmal schimpfte er sogar auf den Kalifen.

GOUVERNEUR: Ja?

SALIH: Er schimpfte über den Reichtum der Oberen, auf die Freigebigkeit gegenüber den Führern der großen Karawanen. Auf die Korruption, die er allenthalben am Werk sah. Die armen Pilger hingegen, das wiederholte er oft, sie würden gänzlich vernachlässigt werden, sie erhielten keine Unterstützung, es würde nichts für ihre Sicherheit getan werden.

KADI: Was sollte denn getan werden, seiner Meinung nach?

SALIH: Es sei nicht ausreichend, die Brunnen auszubessern. Die armen Pilger müßten kostenlosen Zugang zu ihnen erhalten. Es sei ein Verbrechen, daß Wasser an den Brunnen verkauft werde, und daß jene, die kein Geld haben, von den Wachen weggejagt würden. Kein Mensch dürfe durstig und hungrig bleiben.

KADI: Gesprochen wie ein wahrer Moslem.

SALIH: Die vielen Kranken und Sterbenden am Wegrand, die haben ihn sehr beschäftigt, ich erinnere mich, weil ich ihn fragte, ob es denn in seinem Indien keine Leidenden gebe, und er antwortete mir, daß es durchaus die Ärmsten der Armen gebe und daß sie zahlreicher seien, daß aber die Herrscher — weder die britischen Oberen noch die indischen Könige — jemals daran geglaubt hätten, die Menschen seien gleich. Im Land des rechten Glaubens jedoch, zudem in Nachbarschaft des Hauses Gottes, seien diese Zustände fast schon blasphemisch.

KADI: Starke Worte. Gewagte Worte. Es gibt unter den jungen Ulema einige, die Ähnliches verkünden.

GOUVERNEUR: Vermuten Sie einen Zusammenhang?

KADI: Nein, es ist leicht nachzuvollziehen, wie jemand auf diesen Weg gelangt und auf ihm zum schlüssigen Ende schreitet.

SHARIF: Fahren Sie fort.

SALIH: Er meinte, es müßten Hospitäler errichtet werden, ein halbes Dutzend zwischen Mekka und Medina allein. Ebenso öffentliche Herbergen, in ausreichender Zahl. Das würde nicht viel kosten, so hat er behauptet.

GOUVERNEUR: Billig ist es für jene, die das Geld nicht ausgeben müssen.

KADI: Was noch?

SALIH: Die Verschwendung war ihm ein Dorn im Auge, er führte gerne den Satz im Munde: Gott verachtet die Maßlosen.

GOUVERNEUR: Was noch, was hat er noch auszusetzen gehabt?

SALIH: Die Krankheiten …

GOUVERNEUR: Krankheiten?

SALIH: Ja, er war ein Arzt, das wissen Sie bestimmt.

GOUVERNEUR: Das ist interessant, was hat er über die Krankheiten gesagt?

SALIH: Er behauptete, die Pilger müßten schon bei ihrer Ankunft in Djidda oder in Yambu von offizieller Seite medizinisch untersucht werden, es müsse dafür gesorgt werden, daß überall ausreichend Wasser vorhanden ist, damit reinliche Verhältnisse herrschen. Die Kranken müßten sofort von den anderen Pilgern ferngehalten werden, und die Leichen und Kadaver müßten schnell weggeräumt werden. Und vieles mehr in dieser Richtung, an das ich mich nicht in allen Einzelheiten erinnere. Wie gesagt, es ist schon einige Jahre her.

GOUVERNEUR: Sehr interessant. Ich danke Ihnen, Sheikh Salih Shakkar. Wir werden Sie für Ihre Mühen entschädigen. Sie dürfen jetzt gehen.

SHARIF: Was war daran so interessant?

GOUVERNEUR: Der Wesir hat mir in seinem letzten Brief seine Sorge mitgeteilt, daß die Briten und Franzosen die Gefahr von Krankheiten als Vorwand benutzen werden, um ihre Interessen in dieser Region durchzusetzen. Sie haben schon behauptet, daß Seuchen, die von der Hadj ausgehen, sich in ihren Ländern gefährlich ausbreiten, daß Mekka, Gott möge sie erhöhen, die Quelle vieler Infektionen sei und daß die Hadjis diese Ansteckung in alle Erdteile trügen.

KADI: Womit sie nicht ganz unrecht haben. Die Cholera ist zu einem treuen Begleiter der Hadj geworden.

SHARIF: Und wer hat sie angeschleppt, von woher ist sie gekommen, diese Cholera? Aus Britisch-Indien, wir haben diese Krankheit früher nicht gekannt. Heute kommen manche der Pilger krank an, andere sind stark geschwächt, die Schwachen stecken sich bei den Kranken an, und daran soll Mekka, Gott möge sie erhöhen, schuld sein.

GOUVERNEUR: Die Briten haben schon mehrfach behauptet, sie hätten ein Recht, aufgrund dieser gesundheitlichen Bedrohung in Djidda zu intervenieren.

SHARIF: Könnten ihre Kenntnisse uns nicht von Nutzen sein, wenn wir sie nicht sofort ablehnen, nur weil sie von Ungläubigen stammen? Immerhin geht es um das Wohl unserer kranken Brüder und Schwestern.

GOUVERNEUR: Ich weiß, wie gerne Sie sich mit den Farandjah arrangieren würden. Sie bilden sich ein, Sie könnten dadurch Ihre Unabhängigkeit bewahren. Sie irren sich gewaltig! Die Briten würden Sie und all Ihre Privilegien schlucken. Sollte deren Gesandter Ihnen wohlgesinnt sein, würden Sie eine kleine Entschädigung erhalten, ein bescheidenes Gefolge und eine belanglose Aufgabe. Von Ihrem prächtigen Palast in Maabidah würden Sie sich bald verabschieden müssen.

SHARIF: Wie reden Sie, ich begreife nicht die Absicht Ihrer Worte, ich achte das Kalifat und hege keine von diesen Absichten, die Sie mir unterstellen, nicht mit gutem Willen, wie ich anfügen muß.

GOUVERNEUR: Und die Hohe Pforte achtet den Sharif von Mekka. Wir sollten darauf bedacht sein, diese gegenseitige Achtung zu erhalten. Als Zeichen unseres guten Willens haben wir beschlossen, die Garnison in Djidda zu vergrößern.

SHARIF: Wir sollten dieses Gespräch nach Ihrer Rückkehr fortsetzen. Richten Sie dem Kalifen bitte unsere zutiefst empfundene Achtung und unseren nicht minder aufrichtigen Dank aus, wenn Sie bei ihm vorsprechen. Und natürlich auch unserem alten Freund, dem Wesir.

GOUVERNEUR: Und welche abschließende Meinung zu diesem besonderen Fall soll ich ihm ausrichten?

KADI: Wir sollten gerade in diesen Tagen, in den Tagen der Läuterung, nicht vergessen: Wenn Gott den Menschen segnet in Gegenwart der geheiligten Stätten, dann segnet er auch den Ungläubigen. Er öffnet sein Herz, damit er bewegt werde, und er öffnet seine Augen, damit er sehend werde. Gottes Gnade ist unendlich, gewiß macht sie nicht halt vor Herkunft oder Absicht. Wer sind wir, seinem Erbarmen ein Maßband anzulegen? Wir wissen nicht, wann und wie dieser Sheikh Abdullah, dieser Richard Burton, zu einem Moslem wurde, ob er Moslem geblieben ist, ob er als Moslem die Hadj angetreten hat, wie rein sein Herz war, wie ehrlich seine Absicht. Zweifellos hat er auf seiner Reise einiges erlebt, was ihn berührt, was ihn verändert hat. Gewiß hat er die unendliche Gnade Gottes erfahren.

GOUVERNEUR: Wir waren weniger um sein Seelenheil besorgt, als um seinen geheimen Auftrag. Ich denke, wir haben mit Sicherheit feststellen können, daß er unter den Männern des Hijaz keine Helfer und keine Helfershelfer gefunden hat. Das sollte uns zufriedenstellen. Aber wir haben trotz aller Bemühungen nicht herausfinden können, ob er Informationen gesammelt hat, die uns schaden können.

SHARIF: Und weil wir das nie ergründen werden, sollten wir unseren Verstand ein klärendes Wort sprechen lassen. Dieser Fremde, er war nur ein einzelner. Was immer er erfahren haben mag, was kann ein einzelner Mensch schon ausrichten? Selbst wenn er ein Spion war, ein besonders geschickter und gerissener Spion, was kann ein einfacher Pilger schon beobachtet haben, wie könnte er die Zukunft des Kalifats und der heiligen Stätten, Gott möge sie noch ehrenvoller und erhabener machen, gefährden.

KADI: Ruhm an Gott, der ihre Ehre aufrechterhält bis zum Tage der Wiederauferstehung.

GOUVERNEUR: Hoffen wir, daß Sie recht haben, Sharif. Denn wenn das Kalifat seinen Einfluß im Hijaz verlieren sollte, werden Mächte einspringen, die weitaus weniger Verständnis haben für unsere Traditionen.

KADI: Dagegen werden wir uns wehren.

GOUVERNEUR: Mit Waffen oder mit Gebeten?

KADI: Mit Waffen und mit Gebeten, so wie es unser Prophet, möge Gott ihn mit Frieden beschenken, getan hat. So ein Kampf würde unseren Glauben erneuern.

SHARIF: Besser, es kommt nicht dazu. Wir sollten uns hüten vor überhasteter Erneuerung.

GOUVERNEUR: Wir sollten nie vergessen, wieviel wir alle zu verlieren haben.


Der Vollmond befreit ihn von der Achtsamkeit, die die unbeleuchteten Straßen von Mekka ihm ansonsten abverlangen. Er kann seinen Gedanken ohne Ablenkung folgen. Er verläßt Mekka mit Erleichterung und mit Bedauern. Die aufdringliche Begleitung von Mohammed wird er nicht vermissen. Erst am Abend zuvor hatte er ihn zum Geständnis gedrängt, daß er nicht derjenige sei, für den er sich ausgebe. Habe ich mich jemals für einen guten Menschen ausgegeben? hat er ihm geantwortet. Mohammed hat die Hände nach oben geworfen und ausgerufen: Euch Derwischen ist mit Worten nicht beizukommen. Vermissen wird er die Ruhe in der Großen Moschee, in der er sich hätte länger aufhalten wollen. Nicht ewig, wie manch ein anderer Pilger, aber einige Tage oder Wochen mehr. Ihm steht die Rückkehr bevor, wie bei jeder Rückkehr eine Reise ohne Höhepunkte. Ein schneller Ritt nach Djidda. Keine Gefahren auf dem Weg, Mohammed hat mal wieder Bescheid gewußt, hüte dich vor den Zöllnern, sie haben den Moskitos das Blutsaugen beigebracht. Dann die Überfahrt nach Suez, die hoffentlich bequemer sein wird als die Unbill auf dem Silk al-Zahab. Er gedenkt eine Weile in Kairo zu bleiben. Um sich langsam von der Hadj abzunabeln. In Kairo wird er seine Notizen dechiffrieren, die zerschnittenen Zettel zusammenkleben, die Beobachtungen in gebotener Länge aufzeichnen. Wenn es etwas gibt, auf das er sich freut, so ist es dieses schriftliche Vergegenwärtigen. Er wird nicht alles aufschreiben, nicht alles dem Manuskript anvertrauen. An äußeren Details wird er nicht sparen, der Naturwissenschaft breiten Raum einräumen, um die Fehler zu beseitigen, die seine Vorgänger in die Welt gesetzt haben. Ungenauigkeiten sind ihm ein Dorn im Auge. Aber seine Gefühle wird er nicht verraten. Nicht alle. Zumal, er ist sich seiner Gefühle nicht immer sicher gewesen. Er will nicht weitere Unklarheit in die Welt setzen. Es wäre unangemessen; zudem kann er es sich nicht leisten. Wer in England wird ihm ins Dämmerreich folgen können, wer wird verstehen, daß die Antworten verschleierter sind als die Fragen?

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