Wir lagerten einige weitere Tage am Rande dieses Dorfes, denn Bwana Burton und Bwana Speke erlitten beide wieder schwere Fieberanfälle, und wir mußten uns alle ein wenig ausruhen, so konnte ich jeden Morgen zum Fluß gehen und die junge Frau betrachten, das es mir angetan hatte, und je mehr ich von ihr sah, desto mehr wollte ich sie haben, bis ich beschloß, ich verlasse dieses Dorf nicht ohne sie. Und so erkundigte ich mich bei dem Phazi des Dorfes, und er brachte mich zum Haus ihrer Eltern, und ich hockte vor dem Haus und unterhielt mich mit ihrem Vater, und mit seiner ersten Antwort machte er mir Mut, denn er erklärte sich bereit, mir seine Tochter zu geben, mit seiner zweiten Antwort raubte er mir die Hoffnung, denn er verlangte einen Brautpreis, den ich nicht aufbringen konnte, selbst wenn ich mir den Rest meines Soldes hätte auszahlen lassen. Ich konnte mich von meiner Sehnsucht nach diesem Mädchen nicht befreien, und ich wußte, ich würde mich für immer von ihr verabschieden müssen. In der Nacht hatte ich endlich wieder eine Aufgabe, ich mußte das Lager bewachen, ich lief herum und horchte nach ungewöhnlichen Geräuschen, ich saß auf einem Baumstamm, und dieser Baumstamm, es war bestimmt gewollt von demjenigen, der unser Schicksal lenkt, befand sich in der Nähe unseres Vorrats an Messingrollen. Dort saß ich, und mein Blick fiel immer wieder auf den Draht, und nach jedem meiner Rundgänge setzte ich mich an dieselbe Stelle und starrte den Messingdraht an, und ich dachte, wieso liegt dieses Messing gerade hier, wo ich sitze, und ich dachte, das ist doch erstaunlich viel Messing, wen stört es denn, wenn ein wenig Draht fehlt, wie kann es auffallen, wenn von dem vielen Messing ein kleines bißchen fehlt, und ich horchte, mal in die dunkle Nacht, mal in meine düsteren Gedanken hinein, und ich hörte einen Vorschlag, der so gut klang, und ich sah eine Lösung, die so einfach war. Natürlich hat mich Bwana Burton später des Diebstahls beschuldigt, aber er konnte ihn mir nicht nachweisen, und als er mich fragte, wie ich denn an das Mädchen gekommen sei, das am nächsten Tag mit uns aufbrach, habe ich behauptet, ich hätte an einem kleinen Geschäft mit dem Phazi genug verdient, um die Aussteuer zu zahlen, und obwohl er mir nicht glaubte, konnte er nichts tun, denn ich war ruhig und selbstsicher in meinen Antworten, nicht weil ich stolz war auf mein Verhalten, sondern weil ich wußte, ich hatte richtig gehandelt. Außerdem verließen sich die Wazungu inzwischen völlig auf mich, wenn sie mich verloren hätten, sie hätten die Verbindung zwischen sich und dem Land verloren. So konnte ich dieses Mädchen mitnehmen, das ihr alle kennt, manche unter euch als junge Frau, manche unter euch als Matrone, und das Mädchen, das es mir beim ersten Anblick angetan hatte, es erwies sich als guter Fang, nicht nur auf der langen Reise, die uns bevorstand, sondern auch in dem Haus in Sansibar, das wir nach unserer Rückkehr errichteten und mit Leben füllten, und so sage ich euch heute, als ich dieses Mädchen mit mir nahm, habe ich die größte Eroberung meines Lebens gemacht.
— Glaubt ihr ihm etwa? Glaubt ihr dieser verlausten Geschichte?
— Oh, oh, mein Flüstern hatte einen zu langen Hals.
— Eure Ohren sind eine Schande. Allesfresser sind sie. Abfalltrichter. Könnt ihr nicht unterscheiden zwischen den Geschichten, die sein Stolz ausschwitzt, sein Stolz, der größer ist als die Karawane, die er angeblich durch das ganze Land geführt hat, und den Geschichten, die seine Demut ihm gelegentlich aufzwingt? Habt ihr euch ein einziges Mal gefragt, wie ich diese Eroberung erlebt habe? Wieso habt ihr kein einziges Mal über die schöne junge Frau gestaunt — denn wenn er mich begehrte, dann begehrten mich auch andere —, die bereit war, mit ihm zu gehen, mit diesem Herumtreiber, der zwei verrückte Wazungu zu einem großen See begleitete. Oder zu zwei großen Seen, oder meinetwegen ans Ende der Welt. Mit einem Mann, der damals — das könnt ihr mir unbesehen glauben — kein bißchen besser aussah als heute. Im Gegenteil: Das weiße Haar, das sein Gesicht umgarnt — ja, dieser Süßkartoffelacker, den wir aus Höflichkeit Gesicht nennen —, das weiße Haar hat ihm etwas Anmut verliehen. Damals war er so ansehnlich wie ein Krokodil, und wenn ich sein Wesen näher gekannt hätte, dann hätte er mich auch an eine Hyäne erinnert. Ihr solltet mir mal zuhören. Dann würdet ihr erfahren, wie erbärmlich es ist, nur die Hälfte der Geschichte zu kennen. Meine Eltern, sie hatten zu viele Kinder, alle meine Geschwister waren sehr kräftig, sehr gesund, wir aßen viel, und mein Vater, der gebrechlich war, für ihn war es schwierig, uns alle zu ernähren. Der Bruder meines Vaters half uns ein wenig, aber es war kaum genug. Wir wären nicht verhungert, unser Dorf war nicht wie diese Stadt, in der wir jetzt leben, keiner in unserem Dorf wäre glücklich gewesen, als einziger einen vollen Bauch zu haben. Aber wir waren oft hungrig. Deswegen, nur deswegen, erschien das Angebot dieses Herumtreibers wie ein Geschenk der Vorfahren. Wenn er das für mich bezahlte, was mein Vater von ihm forderte, würde die ganze Familie bis zur nächsten Ernte auskommen, und ich würde, so lange wie ich lebte, gut aufgehoben sein. So sah es mein Vater, und meine Mutter widersprach ihm nicht. Ich aber hatte Angst. Wenn ihr mich jetzt seht, denkt ihr vielleicht, wie kann es sein, diese Frau kennt keine Angst, weil ihr nur mit der Stärke vertraut seid, die ich mir zu eigen gemacht habe. Ihr müßt euch vorstellen, damals war ich schlank und zart, ich hatte Angst vor dem Gewicht, das dieser Mann auf mich laden würde. Ich wollte ihm nicht zur Frau gegeben werden, ich habe es meiner Mutter gesagt. Es hat nichts genutzt. Sie bat mich zu schweigen, der Entscheidung meines Vaters zu vertrauen. Dieses häßliche Stück fremder Mann zahlte meinem Vater am nächsten Morgen den geforderten Preis — natürlich ahnten wir nicht, mit was für Mitteln er mich erwarb —, und ich mußte mich verabschieden, von meinen Schwestern und meinen Brüdern, von den Mädchen meines Alters, von meinen Eltern. Und ich sage euch noch etwas, da dieser Mann glaubt, er müsse über mein Hinterteil in der Gosse reden, er hat mich nicht erobert mit seinen scheuen Gesten und auch nicht mit dem Messingdraht, den er meinen Eltern übergeben hat, nein, ich habe nicht zugelassen, erobert zu werden, ich habe ihm in der ersten Nacht gesagt, du darfst mich erst berühren, wenn ich es dir erlaube, bis dahin schlafen wir getrennt, und wehe, du achtest diesen meinen Wunsch nicht, ich schwöre dir, ich werde dir das abschneiden, von dem du dir einbildest, es mache dich zum Mann.
— Aber, wenn ich fragen darf, Mama Sidi, hat dein Vater so unrecht gehabt? Ist es dir nicht gut ergangen?
— Jetzt sprich aber die Wahrheit, Frau.
— Mein Vater hat gesehen, was kein Mensch sehen konnte. Obwohl dieser Mann sich weiter herumgetrieben hat, ist er jedesmal sicher nach Hause zurückgebracht worden. Wenn ihr aber die Wahrheit zu hören wünscht, sie lautet: Ich habe nie einen anderen Mann gehabt, also kann ich nicht vergleichen, wie es mir mit einem anderen ergangen wäre.
Das Wasser ist ihnen ausgegangen. In der Öde von Ugogo. Ein Land ohne lindernde Eigenschaften. Schleierwolken ranken sich am obersten aller Himmel. Kein Wunsch reicht so weit hinauf. Unter ihnen wird alles von einem unsichtbaren Ofen versengt. Dieses Land ist ein Bettler, Speke und Burton haben seinen ausgemergelten Körper vom Gipfel des Rubeho-Berges aus betrachtet. Ein Bettler mit gelblicher Haut, überwucherten Erdrippen, durchzogen von Wasserläufen, Narben der jahreszeitlichen Fluten, die über diesen ohnmächtigen Körper peitschen. Sie waren lange am Rande des Steilabbruchs stehengeblieben. Nichts außer ihre Selbstüberwindung zog sie in die Öde hinab. Die erfahrensten unter den Trägern haben sie vor diesem Land gewarnt. Einen Monat wird es dauern, bevor sie einen Hügel oder ein Tal sehen. Trotz all dieser unumgänglichen Widrigkeiten, das Wasser hätte nicht ausgehen müssen. Das war unnötig. Einige der Träger haben — absichtlich, bestimmt, Burton war sich sicher, sie haben nicht weiter als ihre Spucke gedacht — die letzten vollen Schläuche zurückgelassen. Die Zukunft wird für sich selbst sorgen, darauf haben sie vertraut, wenn sie überhaupt einen Gedanken darauf verwendet haben. Der Verlust ist erst zwei Tagesmärsche später aufgefallen, als das Wasser in den vorhandenen Schläuchen zur Neige ging. Kein Grund zur Sorge, dachte er zuerst. Sie würden rationieren und mit weniger als sonst auskommen. Er konnte nicht wissen, daß sie in eine Dürre hineingetaumelt sind. In jedem Dorf, in das sie hecheln, ist der letzte Brunnen versiegt, der letzte Tümpel verdunstet. Eigentlich sind es keine Brunnen, sondern vertiefte Mulden, deren Rand notdürftig befestigt ist. Die Hütten sind verwaist, die wenigen Menschen, auf die sie treffen, sind zerfurchte Gestalten, ihre Lippen rissig wie der Boden. Sie starren die vertrauten Akazien an, während sie auf den Tod warten. Er befiehlt, das restliche Wasser nur zum Trinken zu verwenden. Wenn sie sparsam mit ihren Reserven umgehen, würden sie drei weitere Tage überleben, vielleicht vier. Er gibt den Befehl, den vollen Mond zu nutzen, die Nacht hindurch zu marschieren. Er droht, die Protestierenden ohne einen Tropfen Wasser zurückzulassen. Tag und Nacht kratzen sie sich einen Weg durch die Ebene. Sie durchqueren tiefe Flußbetten, sie versinken in dem brüchigen Sand, sie ziehen sich am anderen Ufer mühsam an verqueren Wurzeln hoch — sie lernen die Flüsse hassen, die kein Wasser führen. Nur Baobabs ragen aus der Eintönigkeit heraus. Schon um neun Uhr knurrt die Sonne. Die stacheligen Härchen des Büffelgrases bohren sich in ihre Beine hinein, die Tsetsefliegen stechen in jedem unachtsamen Moment durch den dicksten Stoff. Dornen sind zahlreicher als Blätter. Jegliche Feuchtigkeit ist aus dem Mund verdunstet. Um zehn Uhr bellt die Sonne. Sie zählen die Schritte bis zum nächsten Abwischen des Schweißes. Böse Vorahnungen haben die Lieder ersetzt, die sie zuvor gesummt hatten. Sie können ihre Lippen nicht mehr mit der Zunge benetzen. Um elf Uhr beißt die Sonne zu. Bevor Burton seinen schweren Kopf hebt, kämpft er sich durch zähe Gedanken, ob diese Anstrengung notwendig ist. Mörtel bricht vom Gaumen ab und fällt in Klumpen auf eine anschwellende Zunge. Höchste Zeit zu rasten, aber Bäume, die ohne Wasser zu überleben wissen, bieten nur den Schatten eines Skeletts. Das nächste Dorf scheint allein von einem pfeifenden Wind bewohnt zu sein. Von den geköpften Baobabs — wofür hatten die Weggelaufenen das Astwerk genutzt? — stehen verquere Spitzen hervor. Ein Totendorf, und die Träger wissen im Grunde ihres Tuschelns, daß es den Vorabend des Tages geschlagen hat, an dem die Geister zurückkehren, die nach einem weiteren Jahr ohne Regen die ausgetrockneten Flüsse zu betrauern haben. Plötzlich eine Bewegung hinter einem lehmstarren Haus, ein Huschen, dann ein Kröchen und die Hast eines verängstigten Gockels, rot wie Verhöhnung, weiß wie eine gebärlose Wolke. Der Kamm fliegt über die aufgeplatzte Erde. Keiner bewegt sich, außer Speke, der ruhig sein Gewehr anlegt und abdrückt. Es ist nicht viel Fleisch an dem Gockel; keiner der Träger will davon essen. Jeder nimmt den Schluck Wasser, der ihm zusteht, dann taumeln sie weiter. Burton weiß, wie sinnlos es gewesen wäre, ihre Angst vor diesem verlassenen Dorf in Frage zu stellen. Alle Köpfe sind gesenkt. Mit dem Hahn scheint die letzte Hoffnung auf ihre Wiedergeburt krepiert zu sein.
Burton bleibt stehen, er wartet, bis Speke ihn einholt. Sie sehen sich lange an. Es gibt nichts zu bereden. Die Unsicherheit über das, was ihnen bevorsteht, kann mit keinem Wort beschwichtigt werden. Sie einigen sich darauf, ihren verkaterten Gesichtern ein ermutigendes Grinsen abzuringen. Du quälst dich wohl gerne, sagt Burton zu Speke. Und dieser antwortet: Da haben wir etwas gemeinsam.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Meine Brüder, meine Freunde, mitten im Land der Wagogo hätten meine Vorfahren mich fast zu sich geholt. Sie haben lange überlegt, und während sie überlegten, verkrustete meine Zunge, mein Gaumen, mein Zahnfleisch, ich spürte meine Zunge nicht mehr, das Fleisch in meinem Mund riß auf, es platzte auf, aber kein Blut drang durch die Ritzen, ich versuchte mir in die Lippen zu beißen, um wenigstens den weichen runden Geschmack meines Blutes zu spüren, aber es kam kein Blut heraus, vielleicht biß ich nicht fest genug, vielleicht war mein Blut schon verdunstet. So geht auch mein drittes Leben dahin, dachte ich, aus meinem ersten Leben wurde ich geraubt, am Ende meines zweiten Lebens wurde mir einiges wieder zurückgegeben, und nun sollte mir alles weggenommen werden, mitten im Land der Wagogo. Die Verzweiflung ist ein Mann, sagen wir, die Hoffnung eine Frau, vielleicht aber auch ein Mganga, ein Mganga, wie jener, den wir aufgesucht hatten, der uns andere Aussichten mit auf den Weg gegeben hatte. Wieso sollte er sich geirrt haben, dachte ich, die Zunge wird einschrumpfen, und trotzdem werde ich herauskommen aus dieser Wüste. Und wir wurden gerettet, wir wurden eingeholt von unseren Rettern, von einer anderen Karawane, die genau wußte, wo wir, keinen Tagesmarsch entfernt, Wasser finden konnten. Diese Karawane war nicht irgendeine Karawane, es war die Karawane von Omani Khalfan bin Khamis, und wenn ihr noch nie gehört habt von diesem Mann, so wißt, er war Grauen und Schrecken und nichts sonst, obwohl er uns gerettet hat aus der Wüste der Wagogo, nach zwei Tagen und zwei Nächten ohne einen einzigen Tropfen Wasser. Wenn ihr heute den Namen Omani Khalfan bin Khamis vernehmt, so denkt ihr an Handel und an Reichtum, aber wer damals auf Reisen war, der erzitterte, wenn er diesen Namen hörte. Der Mann war ein Verbündeter des Blitzes, er war der Pharao seiner Karawane, sein Herz, so flüsterten uns seine Sklaven zu, nachdem wir die Schrecken eines Marsches mit ihnen geteilt hatten, sein Herz war nicht in seinem Körper, es war eingepackt in schwere Tücher, es ruhte in der Truhe mit seinem Habgut, und nachts nur, nach dem letzten Gebet, dem er wie jedem Gebet beiwohnte, ohne teilzunehmen, in der Einsamkeit seines Zeltes, holte er es heraus, faltete er die Tücher auseinander und betrachtete sein Herz, denn selbst ein Mann, so vertrauten uns seine Sklaven an, nachdem sie mehrmals über ihre Schulter geblickt hatten, der ohne Herz lebt, muß sich seines Herzens gelegentlich vergewissern.
Einige Tage lang begleiteten wir die Karawane von Omani Khalfan bin Khamis, wir mußten Schritt halten, denn wir waren von ihm abhängig. Er ließ kein Rasten zu, er erlaubte kein Atemholen, es war eine Geschwindigkeit für rasende Büffel, für jagende Löwen, nicht für Menschen mit schmalen Schultern und Beinen wie die Zweige des Dornenbusches. Er trieb seine Träger an mit allen Mitteln, er vertraute nicht allein der Wirkung seiner Worte, die erbarmungslos auf dich einschlugen, er bediente sich aller List, die je ein Kopf ersonnen hat, er teilte Essen für drei Tage aus, und er verkündete, die Träger würden erst wieder Essen erhalten, wenn sie einen Ort erreichten, der einen Wochenmarsch entfernt lag. Der Hunger trieb die Träger an, sie waren in Fellstreifen und Fetzen gekleidet, sie waren am Ende ihrer Kräfte, der Hunger feuerte sie an. Aber der Wille kann nur erreichen, was der Körper zuläßt, und manche von ihnen brachen zusammen, und keiner richtete sie wieder auf, ihnen wurde der Packen abgenommen, das Gewicht auf die anderen verteilt, sie wurden liegengelassen auf dem Weg, egal, ob sich ein Dorf in der Nähe befand oder ob sie in einer Gegend waren, die sie sich mit wilden Tieren teilten. Einige von ihnen versuchten wegzulaufen. Er ließ sie verfolgen von seinen Schergen und blutig bestrafen. Omani Khalfan bin Khamis, merkt euch diesen Namen, wenn ihr ihn nicht schon kennt, denn eines Tages, wenn ihr aufgefordert werdet, die Namen der Ungeheuer zu nennen, die aus dieser Welt eine Hölle machen, die den Menschen wegnehmen, was der Schöpfer ihnen gegeben hat, dann nennt diesen Namen, und nennt ihn zweimal, soviel Schlechtes hat er getan. Aber wir verdankten ihm unser Leben, er hat uns gerettet, indem er uns überholt hat, er hat uns zum Wasser geführt. Als wir gestärkt waren, trennten wir uns von seiner Karawane, denn selbst Bwana Burton, der sich gerne als der jüngere Bruder des Teufels ausgab, sagte zu mir, wir sollten uns hüten vor Männern, von denen wir nicht wissen, ob sie eine Mutter haben. Bwana Burton selbst redete manchmal, als sei er ein Mensch ohne Mutter, aber er redete nur so, sein Handeln widersprach seinen Worten, er war ein nachgiebigerer, ein mitfühlsamerer Mann als jener, für den er sich ausgab.
— In letzter Zeit sind einige Wagogo nach Sansibar gekommen, und ich habe gehört, es gebe mit ihnen immer Ärger.
— So sind sie, die Wagogo. So wurden sie uns schon beschrieben, als wir sie noch nicht kannten. Wir hatten genug Warnungen erhalten, um uns vor ihnen zu hüten. Sie erwiesen sich als elende Lügner und schlimme Diebe, diese Wagogo aus den Wäldern ohne Bäume, die soviel über uns gehört hatten wie wir über sie, die uns mit heißhungrigen Fragen empfingen, und die uns erst etwas Ziegenmilch anboten, als ihnen die Fragen ausgegangen waren. Stimmt es, fragten sie, diese Weißhäutigen besitzen nur ein Auge und vier Arme? Nein, sagte ich. Das stimmt nicht. Stimmt es, fragten sie, diese Weißhäutigen sind voller Wissen? Nein, sagte ich, sie kennen nicht einmal Magie. Stimmt es, fragten sie, wenn sie durch das Land reisen, fällt vor ihnen Regen, und hinter ihnen bleibt Dürre zurück? Nein, sagte ich, auch sie müssen die Dürre durchschreiten. Stimmt es, fragten sie, diese Weißhäutigen erzeugen die fleckige Krankheit, weil sie Wassermelonen kochen und die Kerne wegwerfen? Nein, sagte ich, das sind Märchen von schwangeren Frauen. Stimmt es, sie erzeugen die Viehseuche, weil sie die Milch kochen und dann hart werden lassen? Nein, sagte ich, auch dies stimmt nicht. Stimmt es, fragten sie, diese Weißhäutigen mit den geraden Haaren sind die Herrscher des großen Wassers? Nein, sagte ich, sie fahren auf dem Meer in Booten, in denen euer ganzes Dorf Platz fände, aber bei Sturm ertrinken sie so, wie du und ich ertrinken würden. Stimmt es, fragten sie, sie sind gekommen, unser Land zu rauben? Unfug! Völliger Unfug! Das sagte Bwana Burton, jedesmal, wenn er sich über die Worte eines anderen Menschen ärgerte. Diese Barbaren, sagte er, je weniger sie besitzen, desto mehr befürchten sie, jemand wolle ihnen das wenige wegnehmen. Sie erinnern mich an die hageren Männer in Somalia, die vor unseren eigenen Augen langsam verhungerten, die aber genug Kraft hatten, um uns lautstark zu verdächtigen, wir würden den Reichtum ihres Landes ausspionieren. Welchen Reichtum denn? Ich weiß nicht wieso, bei diesem Thema redete sich Bwana Burton in Rage. Begreift ihr denn nicht, schrie er mich an, als sei ich die Quelle allen Mißtrauens, was für ein gewaltiges Opfer es für uns wäre, wenn wir uns in eurem Land niederlassen würden, und was für ein wundervoller Segen für euch. Es ist nicht mein Land, sagte ich zu ihm, und ich kann die Ängste dieser Menschen nicht übersetzen. Doch nach dem heutigen Tag, meine Brüder, zweifle ich um so mehr an den Worten von Bwana Burton, sie sind überführt worden von den Flaggen, die heute, hier in Sansibar, von den Wazungu gehißt wurden. Denn so, wie ich die Wazungu kennengelernt habe, sind sie gewiß nicht gewillt, sich für uns zu opfern.
— Und doch sind sie gekommen und scheinen hierbleiben zu wollen.
— Fragt sich nur, ob sie den Armen das wenige wegnehmen wollen, das diese haben, oder ob die Armen nicht so arm sind, wie es den Anschein hat?
— Letzteres, Baba Adam, gewiß letzteres. Nicht ohne Grund hat Bwana Burton einige Male zu mir gesagt: Dieses Land könnte reich sein, du glaubst gar nicht, wie reich es sein könnte. Ich habe an den Reichtum von Bombay und an den Reichtum von Sansibar gedacht und zu Boden geblickt, auf eine rissige Ackerkrume, und ich habe ihm nicht geglaubt. Ich habe mich wohl getäuscht.
Nachdem sie sich durch Steppe, Regenwald, Öde und nutzloses Land geschlagen haben, erscheint ihnen Kazeh, das kleine, staubige und trockene Kazeh, wie eine Oase, wie eine Stadt von Welt. Nach 1000 Meilen, 134 Tage nach dem Aufbruch. Sie marschieren in die Stadt hinein, als hätten sie auf ihrem Weg keine einzige Erniedrigung und keine einzige Verletzung erlitten. Die Belutschen haben in der Früh ihren Säckchen die elegante Kleidung entnommen, die für feierliche Anlässe dieser Art gedacht ist, haben sie angelegt, um wie verwandelt eine Karawane anzuführen, die sich stolz vor den Augen der versammelten Dorfschaft präsentiert, mit Fahnen im Auftrieb, mit tönenden Hörnern und Musketen, die ihre Salutationen bis zur einsetzenden Taubheit wiederholen. Die Einheimischen, die bis zum letzten Greis den Pfad säumen, nehmen die Herausforderung an, sie erwidern das Getöse, Ruf um Ruf, Schall um Schall, Pfiff um Pfiff. Das ganze Dorf begrüßt sie, und doch hat Burton noch keinen ausmachen können, der sie zeremoniell empfangen würde. Er erblickt drei Araber, die in weiße wallende Gewänder gekleidet sind. Sie treten vor und heißen Burton auf das wärmste willkommen, in ihrer eigenen Sprache, denn Omani Khalfan bin Khamis muß Kazeh schon vorher erreicht und sie umfassend über diesen Fremden in Kenntnis gesetzt haben, der fließend und vollendet Arabisch spricht. Sie kosten das seltene Vergnügen aus, indem sie sich aller denkbaren Formeln der Begrüßung bedienen. Sie bitten ihn, wenn er so gütig wäre, ihnen zu folgen, und an ihrer Zielstrebigkeit, an der Art, wie die drei sich wortlos einreihen, erkennt Burton, daß sie die Frage, wer ihn bewirten dürfe, vorausblickend geklärt haben. Burton hält inne. Er hat etwas vergessen. Er dreht sich um und sieht Speke, ein Dutzend Schritte hinter ihm, sein Gesicht kalt und glatt. Burton eilt zu ihm zurück, er entschuldigt sich. Ich muß mich mit ihnen gutstellen, erklärt er, sie werden für uns sehr wichtig sein. Geh schon, sagt Speke mit gespieltem Verständnis, wenn es denn so wichtig ist. Ich werde im Lager nach dem Rechten sehen.
Die Araber zeigen ihm den offenen Platz, auf dem Karawanen ihr Lager errichten können, dann kündigen sie an, ihn in dem Haus eines Händlers unterzubringen, der nach Sansibar zurückgezogen sei. Auf dem kurzen Weg entschuldigen sie sich wortreich, daß er so weit zu Fuß gehen müsse, und Burton beteuert, es sei für ihn keine Belastung. Sie treten ein in ein Haus mit Vordach, und er erkennt, daß die Wände frisch verputzt worden sind und der Boden vor kurzem gefegt. Er wird der Dienerschaft vorgestellt, dann überlassen die Araber ihm das Haus und kündigen an, ihn abzuholen, wenn er sich ausgeruht und frisch gemacht hat. Burton verabschiedet sich von ihnen mit Worten der Dankbarkeit. Eine Weile später bitten sie ihn zu Tisch, um seinen Hunger auf eine richtige Mahlzeit und ihre Neugierde auf seine Expedition zu stillen. Es ist eine offene Einladung, doch Burton bemerkt zu Speke, der inzwischen das zweite Zimmer des Hauses bezogen hat, es sei das beste, wenn er alleine mit den Arabern verkehre, denn in ihrer eigenen Sprache, in der Gegenwart von jemandem, der ihre Bräuche kenne und achte, würden sie sich entspannen, sich öffnen. Natürlich, Dick, sagt Speke, ich würde dir nur im Weg stehen. Sein Tonfall hat sich kein bißchen verändert.
Das Essen wird ihm für immer in Erinnerung bleiben, gefüllte Ziege, saftiger Reis und Truthahn in gut gewürzter Sauce, Hühnerklein und Maniok, das in Erdnußcreme gedünstet worden ist, ein Omelett mit Rosinen, auf dem geklärte Butter zerläuft. Vor allem aber, weil er zum ersten Mal erfährt, aus verläßlicher Quelle, daß es nicht bloß einen großen See gibt, sondern zwei, der eine schnurstracks in östlicher Richtung, der andere schnurstracks in nördlicher. Aber seine Gastgeber, die versammelten Araber von Kazeh, wissen nicht, ob der Nil aus einem dieser Seen nach Norden herausfließt. Sie versprechen, weitere Erkundigungen einzuholen, sie versprechen, ihm zu helfen, soweit sie können, aber zuerst müsse er dem König aufwarten — König Saidi Fundikira, der von seinem Sitz im nahe gelegenen Ititemya aus regiere. Nach dem Essen laden sie ihn zum Gebet ein, sie nehmen an, wer so ausgezeichnet Arabisch spricht, der kann nur ein Moslem sein, und sie sind enttäuscht, als Burton ablehnt. Er muß ablehnen, wegen Said bin Salim und den Belutschen, die jeden frühen Morgen das Gebet beachtet haben und die es nicht verstehen würden, wenn er in der herrschaftlichen Umgebung von Kazeh zu einer Achtung zurückfinden würde, an der es ihm auf der ganzen bisherigen Reise gemangelt hat. Schade, denn er verspürt auf einmal ein starkes Bedürfnis, Zikr zu beten, in einem hingebungsvollen Chor.
Am nächsten Morgen brechen sie auf, um dem König den erwarteten Respekt zu erweisen. Als sie sein Gehöft erreichen, liegt er im Schatten des königlichen Baums, ein Körper, aufgedunsen über jedes Maß hinaus, ein Anführer, der keinerlei Bewegung schätzt. Zur Begrüßung des Gastes werden zwei riesige Trommeln geschlagen, die königlichen Trommeln, die nur von dem Eingeweihten geschlagen werden dürfen — die Araber kennen sich aus, stellt Burton zufrieden fest. König Saidi, der in Europa gewiß den Titel Fundikira der Erste tragen würde, blickt ihn nicht an, er schaut keinem Sterblichen in die Augen. Ein Mann flüstert ihm etwas ins Ohr, beschreibt vielleicht, was er sehen könnte, wenn er seine Augen öffnen und seinen Kopf drehen würde. Einer der Araber, der die Sprache der Nyamwezi hervorragend gemeistert hat, übernimmt die Konversation, es klingt geschliffen und angemessen getragen. Der König, dem viele Jahre zu guten Lebens den Rücken schwächen, schweigt, er hebt und senkt bedächtig seinen Kopf, nur kann Burton nicht entschlüsseln, ob dieses Nicken ein inhaltsschweres Zeichen ist oder eine mißliche Gewohnheit.
Die Beine, erklärt der Araber neben Burton, halten seinen verschiedenen Krankheiten nicht mehr stand. Deswegen bleibt er liegen und überläßt die Entscheidungen seinem Mganga. Das ist der junge Mann, der auf ihn einredet. Der König zeigt kein Interesse an den Geschenken, die Burton ihm überreicht hat. Es ist unser Pech, flüstert der Araber Burton zu, daß der Mganga heute wieder die Wahrheit sucht, sie hält sich versteckt, und obwohl dieser Mganga ein besonders mächtiger Mganga ist, wird er den ganzen Tag benötigen, um sie aufzuspüren, und wir werden den ganzen Tag hier festgehalten werden, denn es gehört sich, daß die Gäste der Wahrheitsfindung beiwohnen. Und weil wir anwesend sind, wird der Mganga ein besonders imposantes Gezobere veranstalten. Dieser Mganga hat eine unfehlbare Strategie entwickelt, seine Position zu halten: Er beschuldigt die Verwandten des Königs, die mit ihrem Ehrgeiz oder ihrer Eigensinnigkeit seine Mißbilligung erregen, der Hexerei.
Die Vorhersage des Arabers erweist sich als zutreffend. Nach einer Weile nehmen auch sie, die Gäste, auf dem Boden Platz. Sie werden Zeugen von ausgiebigen Murmelarien, die der Mganga mit unbeteiligter Hast vorträgt. Ohne sichtbaren Anlaß wird dem Mganga ein Huhn gebracht, ein prächtiges Tier, dem er das Genick bricht, mit einer fließenden Bewegung, als pflücke er eine Blume, und das er dann aufschneidet, um das Innere zu begutachten. Schwarze Stellen oder Flecken um die Flügel herum hätten den Verrat der Kinder entlarvt, so flüstert der Araber, der neben ihm sitzt, gleiches am Rückgrat würde die Mutter und Großmutter verurteilen; der Bürzel hingegen deutet auf eine Schuld der Ehefrau hin, die Schenkel denunzieren die Konkubinen und die Füße einige der anderen Sklaven … es wird weiter gemurmelt, das Huhn wird zerlegt, es sind keine Flecken im Fleisch sichtbar, nur der Schatten auf dem Gesicht des Mganga, am Ende eines langen Schweigens. Er springt auf, seine Stimme bricht aus ihm hervor wie Eiter aus einer angestochenen Wunde, wutzerkratzt verkündet er, dunkle Wolken würden ihm die Sicht versperren, dichte dunkle Wolken, er könne erst wieder klar sehen, wenn die Weißhäutigen weitergezogen seien. Was für ein gerissener Hund, denkt Burton, der nutzt unsere Anwesenheit für sein Ränkespiel. So hält er die Verwandten des Königs im ungewissen über den Ausgang seiner Untersuchung, wenn man dieses Wort überhaupt benutzen darf, und setzt die Fremden unter Druck, nicht über Gebühr in Kazeh zu verweilen. Der König nickt kaum merklich mit dem Kopf, als sie sich von ihm verabschieden. Etwas Gutes hat der unerwartete Ausgang: Sie müssen nicht den Tag lang im Schatten des größten aller Bäume des Königreichs verharren. Er ist nicht von schlechten Eltern, dieser Mganga, er weiß seine Macht auszunutzen. Käuflich ist er nicht, sagt einer der Araber, das ist das einzig Gute, was ich von ihm sagen kann. Er lebt in der abgeschiedenen Hütte, die seinesgleichen zusteht. Er weiß sich zu verkaufen, denkt Burton, und bestimmt sind viele von seiner Aura beeindruckt. In Leadenhall Hall würden sie einen wie diesen einen Karrieristen nennen, glatt wie Stahl und wahrscheinlich zynischer als ein Bordellbesitzer. Keiner wird ihm weismachen können, daß der Kerl an den Humbug glaubt, den er mit soviel Trara praktiziert.
SIDI MUBARAK BOMBAY
In Kazeh, in diesem Ort, in dem wir uns von den Stürmen der Reise erholen konnten, geschah etwas Wundervolles, etwas, das mein Herz ausfüllte, bis mein Glück aus meinen Augen, aus meinem Mund und aus meiner Haut glänzte. Ich traf einen Mann, mit dem ich teilen konnte, was ich seit vielen Regenzeiten mit keinem Menschen mehr geteilt hatte, einen Mann, der mich ansprach, einen Mann, der ursprünglich nicht aus Kazeh und nicht von den Menschen der Nyamwezi war, und ihr wißt, Fremde suchen nach anderen Fremden, einen Mann, den es in diese Gegend verschlagen hatte, auf so seltsamen Pfaden, wie es mich dorthin verschlagen hat, einen Mann, der meine Sprache kannte, der die Sprache meines ersten Lebens beherrschte, der sie aber, genauso wie ich, seit den Tagen seiner Kindheit nicht mehr gebraucht hatte. Und so hockten wir, begierig aufeinander wie junge Liebende, unter einer breiten Schirmakazie, und wir begannen uns zu unterhalten, zaghaft, vorsichtig zunächst, mit unserer Zunge erkundeten wir jedes einzelne Wort, bevor wir es aussprachen, tasteten es ab wie ein Geschenk, das uns soeben überreicht worden war, und wir kramten in unserem Kopf nach vergessenen Wörtern, wie in einer Truhe, die seit den Tagen der Kindheit nicht mehr geöffnet worden war. Wir ließen die Sonne über unsere Köpfe hinwegziehen, während wir redeten, während wir beim Reden zu Kindern wurden, bis wir so aufgeregt und so schnell plapperten, als würden wir am Ufer des heimischen Sees hocken und über die Krokodile spotten, die sich auf der Sandbank aalen. Dieser Mann wurde mir zum Freund, es war, als wären wir beide am selben Tag geboren worden, und jedes unserer Gespräche war wie ein Juwel, das ich in einem Schmuckkästchen aufbewahrte, das immer schwerer wurde, bis es überquoll, als wir Kazeh verlassen mußten. Aber das Aufblühen meiner ersten Sprache war nicht der einzige Segen dieser Bruderschaft, oh nein, dieser Mann stand dem mächtigsten Mganga des Landes nahe, und er stellte mich ihm vor, und er sprach von ihm in höchsten Tönen, er lobte ihn so sehr, ich erwartete einen alten Mann, dessen Erfahrungen sich auf seinen Augenbrauen silbern kräuseln, einen Mann, der seinen Enkeln schon das Laufen und das Reden beigebracht hat, doch könnt ihr euch meine Überraschung vorstellen, als statt dessen eine hochgewachsene, kein bißchen gebeugte Gestalt das Fell nach hinten zog und ein junges Gesicht mit quellklaren Augen zum Vorschein kam, der Mganga war in meiner Altersklasse, und ich hegte einen flüchtigen Zweifel, ob mein neuer Bruder nicht zuviel versprochen hatte. Ein Zweifel, der gerade einmal die ersten Sätze überstand, die wir austauschten, bevor ich das Alter des Mganga vergaß, sein Aussehen nicht mehr wahrnahm und nur zuhörte, einer Stimme, die alterslos war, Worten, die so gewichtig waren, als habe er sie schon mehrere Leben lang mit sich herumgetragen. Er spürte die Gier in mir, all das zu lernen, was mir bislang verschwiegen worden war, und später, beim Abschied, sagte er zu mir, die erwachsenen Schüler seien jene, die dem Lehrer das Wissen entreißen, die jungen Schüler hingegen erwarteten, der Lehrer müsse das Wissen in sie hineinschmuggeln, ihr wißt ja, mit Gewalt kann der Mensch nehmen, aber nicht geben. So führte er mich in den langen Tagen, die wir in Kazeh verblieben, durch Wälder des Wissens, die ich nie zuvor betreten hatte, Wälder, in denen Kräuter wuchsen, ich meine wirkliche Kräuter, viele verschiedene Kräuter, die zu vielen verschiedenen Zwecken nützlich waren. Das Wissen über diese Kräuter war gesegnet, denn sie konnten bei der Geburt helfen, und sie konnten Kopfschmerzen verjagen, und sie konnten blutende Wunden stillen, aber sie waren auch gefährlich, denn sie konnten einen Menschen vergiften, und nicht nur einen Menschen.
— Der Mganga war dein Freund.
— Er hat mein Leben berührt. Jeden Tag verbrachte er etwas Zeit mit mir und mit meinem neuen Bruder, trotz seiner vielen Sorgen, und manchmal unterhielten wir uns nur, und manchmal merkten wir gar nicht, wie wir seine Weisheit aufnahmen, sie war wie der Zucker im Kaffee, es war angenehm und schön, aber erst im nachhinein stellte ich fest, wie sich seine Worte in mein Gedächtnis eingegraben hatten und welchen Wert sie besaßen.
— Welche Weisheit denn, Baba Sidi? Auch die Weisheit besteht aus Einzelheiten.
— Er hat diesem rohen Brocken von einem Mann den Wert der Höflichkeit beigebracht.
— Oh, Mama, Mutter von Hamid, wie schön, du hast uns nicht vergessen.
— Er hat ihm beigebracht, die Frauen zu ehren. Denn davor war euer Freund ein Mensch, der nur von dem Mannsein etwas wußte.
— Sie hat recht. Ich hatte keine Erinnerung an meine Mutter, im Haushalt des Banyan gab es keine Frauen, und in Sansibar lebte ich mit einigen Brüdern in einem kleinen Haus. Ich hatte schon ein ganzes und ein halbes Leben ohne Frauen verbracht.
— Ich war diesem Mganga dankbar, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie dankbar ich ihm war.
— Er konnte so schön reden, ich merkte mir alles, was er sagte, ich konnte seine Worte nicht vergessen, es war so, als würde mein Kopf mitschreiben. Nie sagte er genau, was er meinte. Er redete in Ornamenten, die nur aus einem gewissen Abstand betrachtet einen Sinn ergaben. Wenn du in eine Gegend kommst, so sprach er etwa, in der du ein Fremder bist, wirst du Hunger haben. Und wenn du einer Frau begegnest, die dich nicht kennt, wirst du sie um Essen bitten wollen. Du wirst sie begrüßen, und du wirst zu ihr sagen: Die Art, wie Frauen ihre Kinder gebären, ist überall gleich, die Schmerzen sind gleich, das Glück ist gleich. Das ist das Maß der Höflichkeit. So sprach er, und er legte immer eine Pause ein, irgendwo am stillen Mittelpunkt seiner Weisheit.
— Ich hörte auch zu, ich saß einige Schritte hinter den Männern, ich hatte mein Gesicht dem Boden zugewandt, aber ich hörte aufmerksamer zu als alle anderen, und was ich hörte, das wandte ich sofort an, bei diesem fremden Kerl, der jetzt mein Ehemann war, und so löste sich meine Unsicherheit, wie ich ihn behandeln sollte, allmählich auf.
— Das ist viel besser, fuhr der Mganga fort, als wenn du sagen würdest: Ich habe Hunger. Die Frau wird dir etwas zu essen geben, denn du hast sie an ihre eigenen Kinder erinnert, an die Liebe, die sie für ihre eigenen Kinder empfindet. Sie wird an die Stelle deiner Mutter treten, und sie wird dich ›mein Sohn‹ nennen, und sie wird sogleich beginnen zu kochen, was immer sie vorrätig hat.
— Und dieser Kerl, der bei euch sitzt und die Ausdauer der Sprache prüft, er hat sich zu meinem großen, jungen Erstaunen an diesen Ratschlag wie auch an die anderen Ratschläge des Mganga gehalten, er entdeckte mich in den Tagen, die wir in Kazeh verbrachten, er entdeckte mich mit den Augen einer neuen Achtung, und er behandelte mich mit den Gesten einer neuen Höflichkeit. Gedankt sei den Vorfahren.
— Gott sei gedankt.
— Und der Mutter dieses Mganga, denn sie hat mir die Lust und vielleicht das Leben geschenkt, sie hat mir Kräuter gegeben, die ein neues Leben in meinem Bauch verhinderten. Ich hatte diesem Sprücheklopfer, der dort unten bei euch sitzt, immer noch nicht das erlaubt, was er am liebsten getan hätte, ich habe mich nicht nur vor seiner Fremdheit gehütet, ich hatte Angst, auf dem Marsch schwanger zu werden, ich war überzeugt, in dieser Karawane nur ein Totgeborenes zur Welt bringen zu können.
— Gott behüte!
— Alles ist gut geworden. Ich habe die Kräuter gekocht, ich habe ihren Saft getrunken, und ich habe, nach einem weiteren Versprechen seiner neuen Höflichkeit, diesem Mann, an den ich verkauft worden war, erlaubt, das Bett mit mir zu teilen. Und unser erster Sohn Hamid, er wurde erst geboren, als wir ein festes Haus hatten, hier in Sansibar.
— Mutter von Hamid, meine Frau läßt dir Grüße ausrichten. Sie hat wieder Schmerzen in den Gelenken, sie bittet dich, ihr einen Besuch abzustatten.
— Ich werde gleich zu ihr gehen, Baba Ishmail, bevor das Abendessen sich vordrängt.
— Das hast du gut eingefädelt, mein Freund.
— Es ist die Wahrheit.
— Natürlich, aber diese Wahrheit kam gelegen.
— Dieser Mganga, er beeindruckt mich sogar aus so großer Entfernung.
— Er hat mir den Glauben wiedergegeben, meine Brüder, dieser Mann hat mir einen Glauben gezeigt, der tiefer in mich hineinreichte, als alles andere, was ich zuvor erfahren hatte. Durch ihn wurde mir bewußt, was mir fehlte. Ich wandelte unvollständig durch das Leben, ich empfand eine Trauer, als hätte ich etwas verloren, das mir am Herzen lag, und doch konnte ich mir selbst nicht antworten, was es war, das ich täglich zu vermissen meinte. Wir haben eines Abends das Essen geteilt, und er hat mich aufgefordert, die Bananenblätter auf der Matte zu verteilen, für all jene, die dem Mahl beiwohnen würden. Aber wir sind doch nur zu zweit, sagte ich. Ich habe auch meinen Vater eingeladen, sagte er, und auch den Vater meines Vaters. Ich hielt inne, ich wußte, sie waren beide tot. Wir werden den Vorfahren eine Opfergabe darreichen? fragte ich unsicher. Sie werden mit uns essen, sagte der Mganga. Wir nahmen Platz, neben uns zwei Blätter, hinter denen keiner saß. Der Mganga stellte mich seinem Vater und dem Vater seines Vaters vor. Und du, fragte der Mganga, kennst du niemanden, denn du einladen möchtest? Und ich konnte nur schweigen.
— Was ich nicht verstehe, Baba Sidi, vom Glauben sprichst du, aber nicht vom Gebet? Bei diesem anderen Glauben, wie sieht das Gebet aus?
— Es gibt kein vorgeschriebenes Gebet, so wie du es kennst.
— Wie kann das sein!
— Ein Gebet, das gestaltet ist wie ein Gesetz, das braucht es nur, wenn das Gebet eine Ausnahme bleibt, wenn du aus deinem Leben heraustrittst, um zu beten. Wenn aber jeder deiner Atemzüge ein Gebet ist, wenn jede deiner Taten ein Gebet ist, wenn du Gott ehrst, weil du in Gott bist, dann braucht es kein anderes Gebet. Im Gegenteil: Das ist das höchste aller Gebete. In der Moschee ist das Gebet nicht mehr als eine Erklärung unserer Absichten, gut gemeint und für alle sichtbar, es ist wie ein Boot, das du auf dem Land seetüchtig machst, aber die Prüfung findet erst nach dem Auslaufen statt, wenn du in den ersten Sturm gerätst. Wer will dann wissen, wie gut das Boot aussah, als es noch am Strand lag? Glaubt ihr, daß Gott in den Augenblicken unseres Versagens unsere Gebete nachzuzählen beginnt?
— Baba Sidi hat recht. Richtig zu leben ist das beste Gebet.
Burton kann es sich nicht erklären, wieso Snay bin Amir ihm bereitwillig hilft. Auf Geheiß des Sultans? Oder weil er, seit er sich in Kazeh niedergelassen hat, arabische Gewänder angelegt hat und sich allem Anschein nach wie ein Araber benimmt, so daß Bombay, bei einer flüchtigen Begegnung zwischen Häusern, an ihm vorbeischritt wie an einem Unbekannten. Er war tief beeindruckt, der kleine Mann, als er seinen Namen hörte und die Stimme des Bwana Burton erkannte, der ihm scherzhaft zuwarf: Ich habe einen neuen Namen, wir sind jetzt miteinander verwandt, ich heiße Abdullah Rahman Bombay. Würde sein selbstverständlicher Umgang mit den Arabern erklären, wieso Snay bin Amir ihm bei den Auseinandersetzungen mit Said bin Salim und den Belutschen zur Seite stand? Mit seiner Hilfe erstickt er die unverschämten Forderungen nach mehr Lohn und mehr Proviant im Keim. Wieso verbringt Snay bin Amir geradezu unbegrenzt viel Zeit mit ihm, kurzweilige Stunden, in denen er ihm die Grundzüge der Nyamwezi-Sprache erklärt oder des nördlichen großen Sees, den die Einheimischen Nyanza nennen, skizziert? Als Burton diese Frage nicht mehr zurückdrängen kann, lacht Snay bin Amir, verweist auf Gastfreundschaft und auf gegenseitige Sympathie, und dann sagt er: Wieso denkst du, daß wir Händler etwas zu befürchten haben von der Ankunft der Briten? Im Gegenteil. Unser Geschäft wird leichter werden. Und was ist mit der Sklaverei? fragt Burton. Wir hängen nicht am Menschenhandel. Wir werden mit Gold handeln oder mit Holz oder mit Zucker. Wer sollte uns vertreiben? Sieh dich um, glaubst du, daß deine Landsleute in Scharen in staubige Außenposten wie diesen strömen werden, um ein Leben zu führen, das uns beglückt, sie aber unglücklich machen wird? Nein, sie werden sich damit begnügen, mit uns zusammenzuarbeiten, es wird für sie angenehmer sein und profitabel genug. Oder aber, denkt Burton, ihr werdet euch zurückziehen und das Land denjenigen überlassen, die nichts anderes kennen.
Er fühlt sich wohl in Kazeh. Er sitzt an einem kleinen Schreibtisch, den die Araber ihm ins Zimmer gestellt haben. Eine besänftigende Pause. An diesem unerwartet entzückenden Zwischenziel. Nein, nicht wirklich entzückend. Aber genügend, hinreichend, was vielleicht mehr wert ist. Die buddhistischen Studenten, einst in Indien — er erinnert sich an ein bemerkenswertes Paradox —, sie durften engere Zellen bewohnen, wenn sie im Studium Fortschritte erzielten, sie erfuhren das Privileg, ihr Einzelzimmer aufzugeben und sich mit anderen Kommilitonen in eine halb so große Unterkunft zu zwängen. Er hat ein ganzes Semester im Busch verbracht; er ist nun weise genug, einen Ort wie Kazeh wertschätzen zu können. In diese ungewohnte Genügsamkeit hinein melden sich Zweifel an dem Sinn ihrer Unternehmung. Er wäre fast verreckt, er hätte fast den Verstand verloren, sein Körper ist ausgebeutet, bis an die Grenze möglicher Rekonvaleszenz, und was wiegt das auf, welcher Erfolg entschädigt für diese Opfer? Er hat Kazeh erreicht, ein Dorf. Den Buddhisten wäre sein Zweifel Ausdruck von anhaltender Eitelkeit. Ist es wenig, daß er, der ausgezogen ist, die Welt zu erobern, sich mit einem staubigen, kleinen Nebenplatz zufriedengibt? Wenn auch nur vorübergehend. An Oasen erfreut man sich nur, wenn man zuvor die Öde durchschritten hat. Er weiß jetzt mit Sicherheit, es gibt zwei Seen, und vielleicht fließt der Nil aus einem der beiden. Vielleicht sind es vier Seen? Die Gleichgültigkeit, die er in sich verspürt, sie kann nicht andauern.
Später sitzt er an dem kleinen Tisch, viele Stunden lang, und beantwortet die Briefe, die ihn in Kazeh erwartet hatten, willkommene Briefe, bürgen sie doch für eine Welt, die in einer fahlen Erinnerung verschwindet. Ein bedrückender Brief von seiner Familie gibt ihm grauenhafte Nachricht von seinem Bruder, ein Schreiben aus Sansibar teilt ihm den Tod des britischen Konsuls mit. Obwohl Burton diesen Tod erwartet hatte, geht ihm die Kunde nahe. Der gute Mann war nicht nach Irland zurückgesegelt. Er muß dem Nachfolger einen umfangreichen Bericht schicken. Hoffentlich nimmt sich dieser der Versprechen seines Vorgängers an. Und noch ein weiterer Tod wurde ihm zugetragen, jener von General Napier. An seinem Totenbett hatte sein Schwiegersohn McMurdo gestanden und, als der General seinen letzten Atemzug aushauchte, das Banner des 22. Regiments über den Sterbenden geschwenkt.
Was treibst du denn da? So wie es aus dem Mund von Speke klingt, scheint es Burton, als wolle er sagen: Was hast du denn schon wieder zu schreiben? Ich notiere einige Gedanken, Jack, nur einige Gedanken, bevor sie entschwinden. Möchtest du mir etwas vorlesen? Nicht jetzt. Du weißt doch, ich habe eine Schwäche für Gedanken. Ich habe einen Brief erhalten, von meiner Schwester. Mein Bruder ist am Kopf verwundet worden, in Sri Lanka, er ist so schwer am Kopf verletzt, er erkennt niemanden. Er könnte noch ein halbes Jahrhundert leben, sagen die Ärzte, ohne sich selbst zu erkennen oder einen von uns.
Tut mir leid, Dick. Dein Bruder, Edward, oder? Er war … ein feiner Kerl, ja … vor so einem Schicksal habe ich Angst. Es würde mir nichts ausmachen, in Afrika getötet zu werden, wenn es denn so sein soll, aber von diesem Fieber verschleppt und gefangengehalten zu werden, gefoltert, aber nicht getötet, die Vorstellung macht mich närrisch.
Komm, wir müssen raus, laß uns einen Spaziergang machen. Wir werden uns vorstellen, wir wären in Devon.
SIDI MUBARAK BOMBAY
— Deine Reise, Baba Sidi, sie ist mir nach all unseren gemeinsamen Abenden so vertraut wie meine eigenen Reisen. Aber dieser Mzungu, dieser Bwana Burton, er war mir ein Rätsel von Anfang an, er ist mir ein Rätsel geblieben.
— Weil ich das Rätsel selber nicht lösen kann, Baba Ishmail, ich kann ihn nicht zur Gänze beschreiben, weil er sich mir nie ganz gezeigt hat. Ich hatte immer den Eindruck, er stünde auf der anderen Uferseite und es gebe keine Fähre, mit der sich der Fluß zwischen uns überwinden ließe. Ich glaube, er war kein schrecklicher Mensch, es war der Mensch, der er vorgab zu sein, der mich erschreckte. Ich bin mir sicher, er hat nie einen anderen Menschen umgebracht, doch es gefiel ihm, uns alle glauben zu machen, er sei dazu in der Lage. Bwana Burton, er wurde getrieben von Dschinns, die allen anderen fremd waren, Dschinns, die er keinem verständlich machen konnte, nicht mir, nicht den Trägern, nicht den Belutschen oder den Banyan und nicht einmal Bwana Speke. Es läßt sich einfacher leben, wenn deine Dschinns den anderen Menschen bekannt sind. Das war auch der Grund, vermute ich, wieso er die Verzweiflung der anderen selten spürte, er war wie ein alter Elefant, der sich von der Herde zurückgezogen hat und stets allein am Wasserloch trinkt. Bwana Speke war anders, auch er hielt sein Wesen verborgen, aber wenn etwas sichtbar wurde, dann sah ich, wer er war, was er fühlte. Er konnte schrecklich sein, aber er war mir näher. Er hat mich manchmal wie einen Hund behandelt und manchmal wie einen Freund.
— Hast du nicht gesagt, mit den Wazungu könne es keine Freundschaft geben?
— Das stimmt, das habe ich gesagt. Bwana Speke war eine Ausnahme. Wir haben so viele Monate zusammen verbracht, er hat mir vertraut, zum Schluß hat er nichts vor mir verheimlicht, nicht einmal, was er dachte. Es ist eine seltsame Sache, er fand nichts Anstößiges daran, mir zu erklären, Menschen wie ich wären weniger wert als die Wazungu.
— Menschen wie du? Welche Menschen sind das?
— Die Afrikaner, sagte er. Ich fragte ihn, ob er denn die Menschen von Sansibar oder die Wagogo oder die Nyamwezi meinte. Er antwortete: Ihr alle. Und als ich ihn fragte, wie es sein könne, so viele verschiedene Menschen, die alle weniger wert seien als er und seinesgleichen, da verwies er auf die Bibel, auf das heilige Buch der Menschen mit dem Kreuz auf der Brust, und er erzählte mir die Geschichte von Noah, die wir auch kennen, aber unsere Geschichte ist eine andere, wie ihr gleich erfahren werdet, er interessierte sich weniger für den Propheten Noah und seine Ermahnungen und Warnungen, als für seine Söhne, seine drei Söhne mit den Namen Sem, Ham und Jafet. Hört zu und wundert euch, denn von diesen drei Söhnen sollen alle Menschen auf Erden abstammen. Eines Tages soll Noah betrunken in seinem Zelt gelegen haben …
— Der Prophet betrunken!
— Von seinem eigenen Wein, und er habe sich beim Schlafen ungewollt entblößt, und Ham habe es bemerkt, er habe die Scham seines Vaters gesehen und es seinen zwei Brüdern zugetragen, die ihre Augen abwandten, während sie Noah mit einem Kleid zudeckten, und deswegen soll der Prophet die Kinder und Kindeskinder von Ham verflucht haben, auf ewig Sklaven der anderen Brüder zu sein. Eine merkwürdige Geschichte, die uns nichts anginge, wenn nicht Bwana Speke behauptet hätte, Ham sei unser Vorfahre, unser allererster Ahne gewesen, und daher müßten wir uns unterwerfen, denn er und die anderen Wazungu stammen von einem der anderen Brüder ab, ich habe vergessen, von welchem. Ist es nicht seltsam, die Wazungu, die keine Beziehung zu ihren nächsten Vorfahren pflegen, behaupten, genau über unsere Urahnen Bescheid zu wissen.
— Du hast ihm hoffentlich gesagt, von alldem stehe nichts im Glorreichen Koran?
— Ich habe geschwiegen, ich war erfahren genug, nicht gegen heilige Bücher anzukämpfen.
— Bitte erkläre mir, Baba Sidi, wieso sind die Wazungu gegen den Sklavenhandel, wenn sie überzeugt sind, wir seien als Menschen weniger wert?
— Die Wazungu sind gegen den Sklavenhandel?
— Gewiß, besonders Bwana Burton, er hat die Sklaverei mit kräftigen Worten abgelehnt, oh ja, er hat sie verachtet, und doch hat er es hingenommen, wenn Sklaven zu unserer Karawane hinzustießen, und als ich ihn fragte, wie er gegen die Sklaverei sein könne, obwohl er sich gleichzeitig der Sklaven bediene, erklärte er mir, es gebe nicht genug freie Männer, die zu arbeiten gewillt seien, er habe keine andere Wahl, also zahle er den Sklaven Lohn und behandele sie wie freie Männer.
— Er dachte wohl, wenn er Sklaven wie Freie behandelt, werden sie frei.
— Das ist wie mit den Almosen. Wenn dich einer reich beschenkt, wirst du dann zu einem reichen Mann?
— Er hat behauptet, er könne Said bin Salim und die Belutschen und die zwei Banyan nicht daran hindern, Sklaven zu kaufen. Er habe Einspruch erhoben. Einspruch erhoben! Habt ihr das gehört, meine Freunde. Der König der Karawane, er klopft vorsichtig den Männern auf die Schulter, die von ihm abhängig sind, die ihm untergeben sind, und er bittet sie höflich, es mit der Sklaverei nicht zu übertreiben, und die Abhängigen, sie antworten, unser Gesetz erlaubt es uns aber, antworten sie voll selbstgerechter Entrüstung, und der König der Karawane zieht sich zurück, er fragt nicht einmal nach, ob das stimmt, er sagt sich, ich habe getan, was ich tun konnte, er beruhigt sein Gewissen, ich habe diesen Wilden klargemacht, wie entschieden wir die Sklaverei ablehnen.
— Die Heuchelei gedeiht.
— Und sie geht noch besseren Zeiten entgegen.
— Ich sagte zu ihm: Du verstehst nicht. Es ist ein Zustand, der völlig aus der Welt geschafft werden muß. Es geht nicht nur um das Leid einiger Menschen, hier und heute. Es geht um das Leid der Hinterbliebenen und ihrer Nachfahren. Wenn der Schmerz und der Schrecken einmal in den Boden gesickert sind, wie sollen sie je wieder vertrieben werden, wer wird das Land reinigen? Wer wird es vor den Keimen der Gewalt bewahren, die in den Nachfahren aufgehen werden, in den Enkeln und in den Urenkeln, die eine andere Sonne sehen müssen als jene, die ihre Vorfahren gesehen haben.
— Und Bwana Burton, was sagte er?
— Du redest wirr, sagte er, der Mganga hat dir den Kopf verdreht! Es kann sein, vielleicht hat er mir den Kopf verdreht, antwortete ich, aber ich weiß, ich schaue nun in die richtige Richtung.
Er steht im Wasser, hüfttief, im trüben Wasser, und jedesmal, wenn er seinen Arm hineintaucht, berührt er etwas Glitschiges. Eigentlich ist es nicht unangenehm, eher unvertraut. Schlamm, wohin sie treten. Sie müssen — mit mulmigen Gefühlen — durch ein Dunkel waten, das ihre Beine schluckt. Er steht im Wasser und fragt sich, ob sie einen Fehler gemacht haben. Als sie an dem breiten, ruhig dahingleitenden Fluß standen und sich überlegten, wo sie ihn überqueren sollten. Vielleicht dort, wo das Wasser zwar tiefer war, sie aber den Fluß überblicken konnten. Bestimmt nicht hier, wo sie sich verlieren könnten, so dicht bewachsen ist dieses Binnendelta. Die Landschaft ist völlig unberührt. Als treibe der Fluß, dem sie folgen, in die Zeit vor der ersten Sünde, als kehrten sie zurück in die frühesten Anfänge der Welt, als die Pflanzen nach Belieben wucherten und Baumriesen über alles herrschten. Der Fluß, der Malagarasi heißt, so haben sie es verstanden, führt zum See.
Snay bin Amir hat ihnen einen Führer mitgegeben, einen jungen Mann, halb Araber, halb Nyamwezi, und es hatte am Anfang den Anschein, als führe der selbstbewußte Mann sie gut, bis sie herausfanden, daß er ihnen einen Umweg von mindestens drei Tagesmärschen aufgebürdet hat, damit er seine Frau besuchen konnte. Und dann wollte er sich nicht mehr von ihr trennen, so daß er ihnen seinen Neffen als Führer andiente, der sie ebenfalls voller Selbstvertrauen in die Irre leitete, dieses Mal allerdings ohne Absicht. Burton beschloß, den Nichtsnutz zurückzuschicken und einfach dem Fluß zu folgen, der zu jenem Zeitpunkt mehr Vertrauen erweckte: breit, von Palmen gesäumt, die im Wind knisterten, die Borassus, von Sklavenhändlern gepflanzt, so hat Snay bin Amir behauptet, hohe, fruchttragende Palmen mit gebündelten Wedeln über einem dünnen, schnurgeraden Stamm. Es war ein idyllisches Bild, belebt von unbekümmerten Vögeln, über und auf dem Wasser, auf Ästen und Zweigen. Der wunderbare Flug der Milane, die zirkelgenau durch die Luft kreisten; die geselligen Pelikane, wie zu einer Gartenparty versammelt, jeder Schnabel nach unten gesenkt und jeder Kopf nach links gedreht; die Eisvögel, die sich senkrecht ins Wasser stürzten und genauso senkrecht wieder hochschossen, im Schnabel ein Fisch; die Goliathreiher, die von den Felsgesteinen in der Flußmitte aus auf ihre Beute lauerten, regungslos.
Schreie von Stummelaffen. Nicht weit entfernt. Es klingt nicht freundlich. Speke schaut in die Höhe, als könnte das wenige durchsickernde Licht sein Leiden mildern. Er scheint sich ein Trachom eingefangen zu haben. Die Bindehaut ist entzündet, die Augenlider stark geschwollen, vor allem das linke. Er kann das Auge nicht richtig schließen. Seitdem er kaum noch etwas sehen kann, sucht er Burtons Nähe, akzeptiert wortlos seine Führung. Im Sumpf hat er einige Male nach ihm gefaßt, hat sich an einem ausgebeulten Ende seines Hemdes festgekrallt, ist ausgerutscht, als Burton ausrutschte, ist hingefallen, als dieser hinfiel. Vor einigen Tagen, als Burton sich über seinen schnöseligen Kompagnon geärgert hatte, wünschte er sich, Speke möge an dieser Wildnis zerbrechen, er möge seine Selbstkontrolle verlieren und mit ihr seine hochherrschaftliche Fasson, seine vornehmen Manieren. In dem Dorf, in dem der Führer bei seiner Frau zurückblieb, war ihnen ein alter Mann über den Weg gelaufen, der blind war, beide Augenlider nach innen gewachsen, die Hornhaut vernarbt, die Iris verloren in einem durchröteten Wattebausch. Burton hat in die verdorbenen Augen hineingestarrt, er konnte sich nicht von ihnen losreißen. Er hat sich geschämt, weil er gelegentlich des Sehens überdrüssig wurde, und er widerrief seine Vermaledeiung: Spekes Augen mögen gesunden.
Die Müdigkeit, die er spürt; wenn er sich für einen Augenblick entspannen würde, er würde auf der Stelle einschlafen. Er duckt sich unter einer Weide, er klettert über einen morschen Baum, der vor einiger Zeit eingesackt sein muß. Er blickt nach vorne. So groß ist dieser Fluß nicht. Dieses Binnendelta muß doch irgendwann enden. Keine fünf Meter entfernt, wie durch ein gewölbtes Fenster im dichten Bewuchs, springt ein gewaltiger, dunkler Pavian über den Wasserlauf, ohne einen Laut, wie verlangsamt aufgrund der Stille. Burton hält und bedeutet den anderen, sich nicht zu bewegen. Eine Pavianmutter folgt, an die sich ein Kleines krallt, einige andere Kleine, und dahinter ein Pavian nach dem anderen, eine vielzählige Schar, die, ohne das leiseste Knacken zu verursachen, ohne sich umzublicken, so als existierten die Menschen in ihrer Nähe nicht, durch die umrankte Öffnung huscht, in großer Eile. Burton ist in Bann geschlagen von diesem Interludium, eine reine Bewegung, vielleicht ein Zeichen, gewiß ein Zeichen. Den Affen folgen. Sie sollten den Affen folgen. Er gibt die Order aus. Keine halbe Stunde später stehen sie an einer Böschung, unter ihnen ein breiter, ruhig dahingleitender Fluß.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Die lange Rast in Kazeh, meine Freunde, sie hatte den Wazungu Linderung verschafft, sie hatte ihnen neue Kraft gegeben, aber sie hatte sie nicht wirklich geheilt. Sie gewannen genug Kraft, um die Reise zu überstehen, doch sie reichte nicht aus, um gesund zu werden. Im Sumpf kehrte das Fieber zurück, und Bwana Burton, er wurde von den Fängen dieses Fiebers so übel zugerichtet, er schwankte zwischen Schweißausbrüchen und Schüttelfrost, er übergab sich, immer wieder, und gelegentlich fiel er in einen Wahn, in dem ihm die Dschinns mehr bösen Sinn einflüsterten als einem Säufer im Rausch, er konnte seine Beine, seine von Geschwüren befallenen Beine, nicht mehr fühlen, er war gelähmt. Ich habe keine Muskeln mehr, sagte er leise, fast ohne seine Lippen zu bewegen, seine von Pusteln übersäten Lippen. Seine Augen waren blutunterlaufen, als sei die Abendsonne zerschlagen worden wie ein Ei, sie brannten, und er klagte und klagte, er halte den schrillen Ton in seinen Ohren nicht aus, der sich dem Heilmittel der Wazungu verdankte, ein Heilmittel namens Chinin, das ihn quälte, aber ohne dieses Chinin, sagte er, wäre er schon längst tot. Er war voller Schmerz, und doch hat ihm nichts so weh getan wie seine Schwäche, seine Abhängigkeit. Ihr hättet den Widerwillen auf seinem Gesicht sehen sollen, als er getragen werden mußte von acht der stärksten Träger, weil er sich nicht auf dem Esel festhalten konnte. Und Bwana Speke, er konnte fast nichts sehen, er versuchte dieses Leiden zu verbergen, aber wie hätte er uns täuschen sollen, wenn er auf nichts mehr schoß, sein Gewehr nicht einmal auspackte. In der Früh, da brauchte er mich, wenn seine Augen klebrig verquollen waren, als seien sie mit Harz eingeschmiert, ich mußte sie mit Wasser ausspülen, ich mußte ihm seine Stiefel anziehen, und er war gereizt dabei, er war unwirsch. Die beiden Wazungu, sie waren uns ausgeliefert in diesen Tagen, und nicht nur einmal dachte ich, was für ein Glück sie hatten, in unsere Hände geraten zu sein.
— Baba Sidi, verzeih mir, es wird spät, und ich habe meinen Enkeln versprochen, ihnen heute abend eine Geschichte zu erzählen, vielleicht werde ich eine deiner Geschichten erzählen, ich muß gleich weg, aber ich möchte euch nicht verlassen, ohne gehört zu haben, es ist mir eine so schöne Erinnerung, wie du den See erreichst …
— Ja, den ersten großen See.
— Gut, Baba Yusuf, ich werde den Sumpf des Malagarasi überspringen, ich werde bei dem letzten Anstieg halten, bei dem Bwana Spekes Maulesel starb, er legte sich hin, als seien seine Kräfte mit einem letzten Schnaufen endgültig verbraucht. Bwana Speke war verwirrt, er lag auf dem Boden, seitwärts, seine Hände krallten sich in die Erde, er sagte nichts, ich dachte, er wollte nicht auf sich aufmerksam machen, auf seine unwürdige Lage, ich hob ihn hoch, ich mußte ihn stützen, gemeinsam erklommen wir den steilen Hügel, den letzten, wie ich heute weiß, aber damals schien er nur eine weitere Prüfung unter vielen zu sein. Er hielt sich mit einem schmerzhaften Griff an meinem Ellenbogen fest, und er flehte mich an, ihm alles zu beschreiben, was ich sehen konnte, die einzelnen dornigen Büsche, die aufgeschäumten Wolken, Steine wie Kürbisse, es gab nicht viel, was ich hätte beschreiben können, aber er war gierig und ungeduldig, kaum schöpfte ich etwas Schweigen, drängte er mich schon, weiter zu beschreiben, und ich mußte ihm schwören, ihm keine einzige Veränderung der Landschaft vorzuenthalten. Wir erreichten den Gipfel, wir holten Atem, ich sah etwas Ungewöhnliches, etwas, das mich erregte, eine metallische Fläche schimmerte in der Sonne. Bwana Speke erahnte auch etwas, er sah wenig, aber Licht und Dunkel drangen irgendwie durch seine verquollenen Augen, und er fragte mich erregt: Dieser Lichtstreifen, Sidi, siehst du auch diesen Lichtstreifen? Was ist das? Und ich nahm mir Zeit mit meiner Antwort, ich kostete die Freude aus. Ich denke, Bwana, sagte ich bedächtig, ich denke, das ist das Wasser. Und als ich das sagte, merkte ich, wie um mich herum gejubelt wurde, ich sah, wie Said bin Salim ekstatisch auf Bwana Burton einredete, der auf den Schultern des kräftigsten Trägers saß und seinen Kopf in die Ferne streckte, und der Jemadar Mallik grinste wie ein Spieler, der gerade seinen gesamten Einsatz verdoppelt hat, und die Belutschen beglückwünschten sich und die anderen mit tiefen, feierlichen Verbeugungen. Und Bwana Speke, er spürte die Euphorie, und er ließ sich von ihr anstecken, aber er mußte doch auch ein wenig klagen, klagen über den Nebel vor seinen Augen. Bald konnten wir den See viel klarer erkennen, er lag unter uns wie ein riesiger blauer Fisch, er aalte sich in der Sonne. Wir waren verzaubert, wir vergaßen alle Mühen, alle Gefahren, die Ungewißheit der Rückkehr, oh ja, wir vergaßen alles, was schrecklich gewesen war, und zum ersten und letzten Mal, meine Brüder, nahmen wir alle an ein und demselben Glück teil.
Es ist der 13. Februar, ein historischer Tag für die Entdeckung der Welt, zum ersten Mal erblicken zivilisierte Augen einen See, der schöner nicht sein könnte, obwohl der Schein zuerst sprichwörtlich getrogen hatte, der See war ihnen als ein glitzernder Strich erschienen, ein leuchtender Hohn, ein armseliger Preis für ihre Mühen, eine erschlagende Enttäuschung, aber nur wenige Schritte später, als die Wasseroberfläche nicht mehr die Sonne reflektiert und ein weiterer Ausblick sich öffnet, erhalten sie einen ersten Eindruck von der wahren Größe des Sees, dessen Schimmern weit in die Ferne reicht. Dieses gesegnete Wasser — Euphorie bricht in ihm aus wie ein lange hinausgezögerter Orgasmus —, so von Bergen umgeben, als liege es im Schoß der Götter, der hellgelbe Sand und das smaragdgrüne Wasser. Die Sonne streichelt sein Gesicht, die leichte Brise, die er plötzlich spürt, kräuselt Flocken auf den sanften Wellen, einige Kanus ziehen über das Wasser, deren Bewegungen ein verheißungsvolles Murmeln verursachen, das lauter wird, je weiter sie den steilen Pfad hinabsteigen. Die Trage ist unbequem, und einige Male rutschen die Träger aus, so daß er sich an die seitlichen Streben klammern muß, doch bei diesem Anblick kann ihn nichts beunruhigen. Unter ihnen liegen der Malagarasi-Fluß, der sich rötlich in den See ergießt, und ein Dorf, das sich so glückselig an eine sanft gerundete Bucht schmiegt, wenn Parks und Obstgärten hinzukämen, Moscheen und Paläste, es wäre schöner als der zauberhafteste Küstenort Italiens. Melancholie? Monotonie? Weggeblasen, hier und jetzt werden alle Öden entlohnt, in diesem Augenblick spürt er eine Befriedigung, so umfassend, er hätte doppelt so viele Schmerzen, Sorgen und Nöte auf sich genommen für diesen Preis, und er hätte es nicht bedauert.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Meine Brüder, es ist wahr, ich habe mit Stolz von meinen Reisen erzählt, und meine Frau hat recht, manchmal habe ich dem Stolz nach dem Mund geredet, deswegen muß ich euch jetzt gestehen, jetzt, da wir den Höhepunkt der ersten Reise erreicht haben, wieso ich mich für jede meiner Reisen auch geschämt habe, ich muß euch gestehen, wieso ich jede meiner Reisen auch bereut habe. Weil ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, was kein Mensch sehen sollte, weil ich den Anfang von Sklaverei gesehen habe, weil ich gezwungen war, meinen ersten Tod immer wieder zu durchleben, und jedesmal dachte ich, schlimmer kann es nicht werden, schlimmer als hier in Ujiji, dem Ziel unserer Reise, so dachte ich damals. Aber ihr wißt ja, wenn der Mensch ihm Zeit läßt, führt das Leben etwas noch Schlimmeres heran, und so geriet ich auf der zweiten Reise an einen Ort, der noch grausiger war als Ujiji. Jedesmal, wenn ich eine Karawane von Sklaven sah, ob in Zungomero, in Kifukuru, in Kazeh, in Ujiji oder in Gondokoro, starb ich erneut meinen ersten Tod. Und ihr könnt mir glauben, der wiederholte Tod ist kein angenehmerer Tod. Die Wazungu, die ich begleitet habe, sie nannten sich Entdeckungsreisende, aber die wahren Entdecker des Festlandes waren die Sklavenhändler. Überall, wo wir hinkamen, waren sie schon gewesen. Wenn die Dörfer nicht niedergebrannt waren, waren sie verwaist, und wenn die Sklavenhändler ihre Beute nicht über das Land trieben, füllten sie Boote mit ihren Opfern, so voll, eine Hälfte mußte geopfert werden, das war der Hongo, den sie dem Tod entrichteten. Die Sklavenhändler am ersten großen See, sie waren die gemeinsten der Gemeinen, sie waren Menschenfresser, und zu meiner Scham traf ich sie wieder an beiden großen Flüssen, an dem Fluß, den sie Nil nennen, und an dem Fluß, den sie Kongo nennen. Von Ujiji aus wurden die Sklaven durch das ganze Land getrieben, bis nach Bagamoyo, und am Nil wurden sie den Fluß entlang nach Norden verschifft, an einen Ort namens Khartum, den ich mit eigenen Augen sehen sollte, auf meiner zweiten Reise, und von dort aus weiter an einen Ort namens Kairo, den ich auch sehen sollte, und von dort aus in alle Teile der Welt. Diese Menschenfresser, diese Händler der Todes, sie kamen an, wenn der Wind günstig wehte, wenn er ihre vielen Boote von Norden nach Süden trieb, dieser verfluchte Wind, der ihnen zur Seite stand, der sie vereinte mit Jägern, die sie in Banden zurückgelassen hatten, die in Lagern am Ufer des Nils lebten, und in den Monaten, in denen der Wind ihnen nicht zur Seite stand, zogen diese Banden aus und jagten, sie sammelten ihre Beute in ihren eingepfählten Lagern am Ufer des großen Flusses, sie hielten ihre Beute dort gefangen und warteten darauf, sie nach Norden zu verschiffen. Wenn sie keine Menschen finden konnten, wenn die Bewohner der Dörfer sich versteckten, wenn die Vorsteher nicht bereit waren, ihnen Gefangene oder in Ungnade Gefallene zu verkaufen, trieben sie alles Vieh zusammen, und sie erpreßten die Ältesten der Dörfer, ihnen Sklaven zu geben für dieses Vieh oder zu verhungern. Die Ältesten waren gezwungen, zum Angriff auf benachbarte Dörfer aufzurufen. So plünderten diese Banden, und wenn der Wind seine verfluchte Hilfe gewährte, waren die eingepfählten Lager an dem Ort namens Gondokoro voller Menschen, die ihren ersten Tod schon erlitten hatten. Wenn es einen Ort gab auf dieser Erde, der mir Angst einjagte, Angst, die mich tagsüber quälte und nachts plagte, so war es dieser Ort, dieser Ort namens Gondokoro, ein Ort, der weder Barmherzigkeit noch Erbarmen kannte. Die einzigen Frauen in Gondokoro waren kranke Frauen, die ihren Körper verkauften, abgenutzte Schwämme, die die Lust der Männer aufsaugten. Es gab keine Kinder in Gondokoro, die nicht zusammengepfercht und eingesperrt waren. Gondokoro war für alle ein Ort des Todes. Für die Bewohner des Landes und für die Fremden, für die Moslems und für die Christen. Selbst die Zitronenbäume in Gondokoro waren gestorben. Sie standen in zwei Reihen, sie waren angelegt worden von Männern mit dem Kreuz auf der Brust aus dem Land der Deutschen, sie hatten ein Haus für ihren Gott gebaut, sie hatten Gärten für ihr Wohlergehen gepflanzt, und sie hatten einen Friedhof angelegt …
— Einen Friedhof! Die Wahnsinnigen.
— Eine Handvoll von ihnen lag eng beieinander in den Gräben hinter dem Zitronengarten. Sie hatten keinen einzigen Menschen von ihrem Glauben überzeugen können. Alles, was sie erbaut hatten, war wieder zerfallen, und es gab in ganz Gondokoro keinen einzigen, der sich zum Kreuz bekannte, es gab aber unendlich viele, die dem Alkohol verfallen waren.
— Kein einziger Christ? Da seht ihr es, was das für ein schwacher Glaube ist.
— Vielleicht, vielleicht ist der Glaube der Männer mit dem Kreuz auf der Brust schwach, vielleicht aber waren die Menschen zufrieden mit dem Glauben ihrer Vorväter.
— Es müßte sie nur der wahre Glaube erreichen.
— Er hat sie erreicht, der wahre Glaube saß in den Herzen der Sklavenhändler, der Menschenfresser, er bediente sich desselben Windes wie sie, und er schwieg, während sie Leben raubten. Wie ein Vater, der die Missetaten seines Sohnes hinnimmt, weil es sein Sohn ist. Was ist eine Gerechtigkeit wert, die nicht auch, nein, die nicht zuerst in der eigenen Familie gilt? Unsere Brüder im Islam, sie waren schlimmer als der Teufel. Sie wüteten und wüteten, und wenn ein Dorf sich gegen ihren Angriff wehrte, wenn es gegen sie kämpfte und den Kampf verlor, denn sie hatten Flinten, die den Tod schneller verkündeten als jeder Speer, wenn das Land unruhig wurde und ihre Geschäfte in Gefahr gerieten, dann nahmen sie Gefangene, viele Gefangene, sie banden ihre Hände und ihre Füße fest, nicht, um sie zu verkaufen, sondern um sie über eine Klippe zu treiben, eine Klippe am Wasserfall, wo die Gefangenen in den Fluß stürzten, und es wäre schlimm genug gewesen, wenn diese Menschen erschlagen worden wären von den Felsen, wenn sie ertrunken wären, aber dieser Fluß war voller Krokodile, sie wurden zerfleischt, so wie sie im Wasser trieben, gebrochene Menschen, leichte Beute für die Krokodile, und die Kunde von ihrem Ende verbreitete sich so schnell über das ganze Land wie eine Heuschreckenplage. Und wenn die Sklavenhändler bei den Kämpfen jemanden töteten, dann schnitten sie ihm die Hände ab, um seine Armreifen aus Kupfer zu stehlen. Die Leichname warfen sie auf einen Haufen in sicherer Entfernung ihres Lagerplatzes, und am nächsten Morgen waren nur noch die Knochen der Toten übriggeblieben.
— Geier!
— Die Geier, das habe ich gehört, sie fangen mit den Augen an …
— Wollen wir das wissen?
— Dann picken sie an den inneren Seiten der Oberschenkel, dann an dem Fleisch unter den Armen und schließlich am Rest des Kadavers.
— Diejenigen, die so etwas tun, sind es Menschen?
— Ihr wißt, nur ein anderer kann dich Mensch nennen, und ich habe keinen getroffen, der sie Mensch genannt hätte. Aber wer sie nicht kannte, nicht aus eigener Erfahrung kannte, wer nichts über sie wußte und wer nicht nachdachte, der hätte sie Brüder im Islam genannt.
— Einer dieser Brüder hat einmal alle Männer eines Dorfes gefangengenommen, um an das Elfenbein zu gelangen, das die Männer vor ihm versteckt hatten. Die Ältesten und die Frauen gaben nach, sie kauften die Freiheit ihrer Männer zurück mit all den Stoßzähnen, die sie besaßen, doch einer der Männer war arm, seine Familie besaß kaum etwas, und so wurde für seine Freiheit nichts geboten. Der Sklavenhändler schnitt ihm die Nase ab, die Hände, die Zunge und die Teile seines Mannseins, er schnürte sie zu einer Kette zusammen, die er dem Mann um den Hals legte, und so schickte er ihn zurück in sein Dorf.
— Hast du das mit eigenen Augen gesehen, Baba Ishmail?
— Nein.
— Dann ist diese Geschichte vielleicht nicht wahr?
— Glaubst du, ich könnte so eine Geschichte erfinden? Ich habe den Mann mit eigenen Augen gesehen, und ich schwöre euch, seine Nase, seine Hände und seine Zunge waren nicht nachgewachsen.
— Ich werde euch sagen, was ich selbst erlebt habe, obwohl es schmerzt, darüber zu reden, und es schmerzt, davon zu hören, aber wenn ich es schon nicht vergessen kann, kann ich wenigstens davon erzählen. Wir lagerten neben den Sklavenhändlern, die Wazungu hatten keine Bedenken, die Nachbarschaft des Teufels aufzusuchen, und in der Nacht hörten wir einen Schuß, und am nächsten Morgen erfuhren wir, daß jemand ins Lager geschlichen war, der Vater eines der verschleppten Mädchen, er war gekommen, um sein Kind noch einmal zu sehen, und als die Wache ihn bemerkte, hatte die Tochter bereits ihre Arme um seinen Hals geschlungen, und beide weinten. Die Wache zerrte den Mann zum nächsten Baum, band ihn am Stamm fest und erschoß ihn. Am nächsten Morgen mußte ich Bwana Speke in das Lager der Sklavenhändler begleiten, er brauchte mich zum Übersetzen, er wollte einige Auskünfte einholen. Bevor wir die Menschen sahen, sahen wir den Besitz, der ihnen geraubt worden war, Töpfe, Trommeln, Körbe, Werkzeuge, Messer, Pfeifen, alles lag herum, als wüßten die Sklavenhändler nicht, was sie damit anstellen sollten. Der erste Mensch, den ich erblickte, war ein Mann, ein junger Mann, der seinen Arm hob, obwohl die Handfesseln sich in sein Fleisch gefressen hatten, immerzu seinen Arm hob, um den Druck des eisernen Halsbandes zu lockern, und er erinnerte mich an einen Vogel, der vergeblich versucht, seinen gebrochenen Flügel zu heben, immer wieder.
Er war einer von vielen, aber als ich ihn mir genauer angesehen habe, sah ich nicht einen unbekannten jungen Mann auf der Erde kauern, ich sah mich, am Ende meines ersten Lebens, ich sah in dem Gesicht dieses Mannes den Jungen, der in mir gestorben war, und die Narben an meinem Handgelenk und an meinem Hals begannen zu brennen. Ich wollte keinen weiteren Gefangenen ansehen, ich hielt meine Augen gesenkt, aber was für ein Narr war ich zu glauben, ich könnte entkommen, wenn ich mich blind stellte. Was ich auf dem Boden nicht sehen konnte, das drängte mir der elende Gestank auf, der durch meine Nase riß, die Ausdünstungen von Menschen, die nicht zum Wasser gehen konnten, die sich nicht hinter Termitenhügeln erleichtern durften. Die kein Essen erhielten, sondern selber in den Wäldern nach Essen wühlen mußten, die Aufgabe der gefangenen Frauen, die gerade in das eingepfählte Lager zurückgetrieben wurden, als wir dastanden und versuchten, nichts zu sehen und nichts zu riechen. Sie hatten Wurzeln ausgegraben und wilde Bananen gefunden, und was sie mitbrachten, wurde den anderen Menschen, die in dem ranzigen Dunst ihres Überlebens zusammengebunden waren, zugeworfen, ungeschält und ungekocht, roh, so wie die Frauen es aus der Erde gegraben und von den Büschen gepflückt hatten, und die Gefangenen stürzten sich auf das Essen, sie krochen über die Erde und kämpften um die rohen Wurzeln und die grünen Bananen, und sie schrien schrill, weil die Halsbänder und die Fußfesseln und Ketten am Handgelenk sich noch tiefer in ihr Fleisch gruben. Der Sklavenhändler, den wir aufsuchen wollten, er stand auf einmal neben uns, und nach den Begrüßungen, für die Bwana Speke meiner Hilfe nicht bedurfte, begann ein Gespräch, dem ich nicht gut folgen konnte, ich verstand Bwana Spekes Worte nicht, und ich sah dem Gesicht des Sklavenhändlers an, wie wenig er meine Worte verstand, sein Gesicht durchwanderte ein langes Tal der Verwunderung. Bwana Speke sprach lauter, seine Worte beschworen eine Überzeugung, von der mich ein großer Graben trennte, seine Beschwörungen waren Brunnen, die das Feld von anderen bewässerten. Siehst du diese Menschen, hörte ich mich zu dem Sklavenhändler sagen, sie müssen trinken, genauso wie du. Sie haben Durst, genauso wie du. Was verlierst du, wenn du ihnen einen Bottich hinstellst mit Wasser. Sein Gesicht verfinsterte sich. Du Gnom, schrie er, glaubst du, jemand hört auf dich, wenn du nicht für den Mzungu übersetzt? Du bist ein Nichts, und wenn du nicht das Maul hältst, werde ich dir ein besonders enges Band um den Hals legen und dich zu den anderen werfen. Sein Gesicht verformte sich wie Speckstein und erstarrte dann in Verachtung. Er blickte zu Bwana Speke, und er lächelte ein Lächeln, das abscheulich war, für das es nur eine Entgegnung gab, ich mußte die Zähne aus diesem Lächeln kratzen. Ich dachte nicht nach, der Dolch war in meiner Hand, und mein Arm erhob sich, ich hörte nichts, und ich nahm nichts wahr, Bwana Speke erzählte mir später, ich hätte geröhrt wie ein angeschossener Büffel, und die Verachtung auf dem Gesicht des Sklavenhändlers riß auf, als sei der Speckstein auf einen härteren Felsen gefallen. Er war wehrlos, so wehrlos wie jeder gegenüber dem Unerwarteten ist. Ich weiß nicht, ob ich ihn verletzt oder getötet hätte, und ich werde es nie erfahren, denn Bwana Speke packte meine Schultern von hinten, seine langen Arme schlangen sich um mich, und er säuselte mir ins Ohr, Shanti, Shanti, das Wort, mit dem die Banyan sich Frieden wünschen, und ich konnte es nicht ertragen und hätte meinen Dolch auch gegen ihn gerichtet, aber er war stark, erstaunlich stark, und meine Wut klatschte gegen seine Stärke, bis sie langsam verebbte. Und während er mich noch festhielt, geriet der Sklavenhändler in Bewegung, mit vielen Gesten bedeutete er Bwana Speke, er wolle mich zur Strafe auspeitschen, doch Bwana Speke schüttelte den Kopf und sagte das einzige Wort, das er in den Sprachen der Versklavung kannte, auf Arabisch und auf Kisuaheli, er sagte laut und langsam: Hapana, und dann rief er ein La! das durch die Luft schwirrte und all das, was geschehen war, von dem restlichen Tag abtrennte. Er zog mich mit sich, und ich sah beim Umdrehen noch einmal die gefesselten Menschen hinter den Pfählen, und mir fiel auf, sie kämpften nicht mehr um die Wurzeln, sie blickten mich alle still an, und ich konnte nicht erkennen, was ihre Blicke ausdrückten, ob sie meine Tat guthießen oder ob sie mich verachteten, ich wußte nur, es waren Blicke, die ich nie vergessen würde. Ich wünschte, keine Augen gehabt zu haben.
Er muß sich eingestehen, er kann nicht in ein leckendes Kanu steigen, er traut sich nicht einmal zu, sich so festzuhalten, daß er nicht über Bord fällt. Er liegt in einer Hütte, auf dem Feldbett. Er hat seine Geheimmedizin eingenommen, Äther vermischt mit Schnaps, eine Einheit zu zwei. Die Himmelsluft dämpft seine Nervosität, seine aufkeimende Hysterie, das krampfartige Erbrechen. Speke trägt ihm zu, was draußen geschieht, von seinem Bad im See einkehrend, nach einem Besuch auf dem Marktplatz. Meine Sonnenbrille, sagt er, meine graue französische Sonnenbrille, hat den Handel zum Stillstand gebracht. Ich mußte sie abnehmen, um mich zu befreien. Er ist gut gelaunt, er hat sich erholt. Er soll nach einem Boot suchen, mit dem sie den See erkunden können. Nach einem Fluß irgendwo am Nordzipfel des Sees. Der Fluß Ruzisi. Sie müssen herausfinden, ob Ruzisi aus dem See oder in den See fließt. Speke muß mit Bombay den See überqueren. Am anderen Ufer, auf einer Insel vor dem Festland, soll ein Araber, diese Kenntnis stammt von Snay bin Amir, über eine seetüchtige Dau verfügen. Das erledige ich, Dick. Und Speke geht aus der Hütte. Anstatt nach einigen Tagen zurückzukehren, bleibt er einen Monat lang fort, vier lange Wochen, in denen er nichts erledigt hat, nichts, diese Ausgeburt des Versagens. Wenn Burton sich nur bewegen könnte. Nächtliche Kälte. Glühende Hitze. Feuchte Kälte, Ausschläge an Beinen, an Armen. Wenn er seinen Körper betrachtet, haßt er sich. Er muß auf dem Feldbett liegenbleiben, als Pfand. Einer von ihnen beiden muß geopfert werden. Einer wird freigelassen werden. Zu trinken ist schwieriger als zu denken. Unmöglich zu essen. Geschwüre wuchern in seinem Mund. Traumsaft, ein wenig Traumsaft. Man reiche ihm das Fläschchen. Wo seid ihr? Wollt ihr mir mein Soma verweigern, das alle Schmerzen stillt? Doppelte Dosis, das habt ihr davon, der Schmerz ist ein Ablaßbrief. Weglaufen. Eingeholt werden. Immer und immer wieder. Wieso nicht umdrehen? Entgegengehen! Er lehnt sich zum Schmerz. Er läßt sich in den Schmerz fallen. Liebe deinen Feind. Sei dankbar, daß du aufgeschlitzt wirst, umarme den Schmerz. Die Flammen, die dich verschlingen, werden zu Flammen, die dich liebkosen. Er löst sich auf, er löst sich in den Armen von drei Schönheiten auf, in ihren Bernsteinaugen ein Lachen, wie Tänzerinnen auf dem Relief indischer Tempel, unerwartet angetroffen in einem Dorf, das nichts hervorgebracht hat außer diesen drei Versprechen, die sich mit trefflicher Absicht bewegen, er kreist um ihre Augen, er kreist um seine Gier, mit jeder ihrer Bewegungen werden die Männer zurückgerufen in die Kasernen ihrer Unzulänglichkeit. Er traut sich nicht zu … Sie lächeln erhaben, sie wissen mehr als er, Bronze schmilzt auf ihrer Haut, drei Frauen, die ihn einladen, in ihren Händen sein Geschenk, seine Gabe Tabak, sie streifen ab, was um ihre Hüften hängt, nackt sind sie noch stärker, sie ziehen ihn mit, sie kennen einen Platz, der geschützt ist, einen weichen Unterschlupf, sie legen ihn hin, ihre Finger gleiten von einem Knopf zum nächsten, die erste Hand, die seine Haut berührt, streicht über seine Brust mit dem Bedacht der Morgenröte, er wird von ihr trinken wie vom frischen Quellwasser, die zweite Hand, die ihn berührt, reibt seine Erregung, und die dritte Hand tastet sich vor bis zu seinem Stöhnen, keine Falle, kein Halten, er wird sich ergeben, er wird sich vom Sonnenuntergang nähren. Er ist ihnen ausgeliefert. Er ist ihnen nicht gewachsen. Sie wollen mehr, und er hat nichts zu geben. Er traut sich nicht zu, zu sterben.
Er sieht sich vor einem Vorhang, er paddelt, elegant, voller Kraft, aber er kommt nicht voran, auf der anderen Seite des Vorhangs, dort sitzen die Beobachter, sie sehen den Schatten des Mannes, sie sehen seinen paddelnden Schatten, es ist ein übergroßer Schatten, der das Publikum begeistert, nur er selber merkt, daß er der Flußmündung nicht näher kommt, der sie entgegenpaddeln, Regen strömt über den Vorhang, er zerteilt den Schatten in Streifen, der Mann paddelt weiter, die Streifen lösen sich ab von dem Vorhang, der Küste entlang, nach Norden, allmählich sieht er die Beobachter und sie sehen ihn, in einem Dorf nur zwei Tagesreisen von der Flußmündung entfernt, die Beobachter erwarten von ihm eine Erklärung, er kann nicht reden, ihm liegen Geschwüre auf der Zunge, die Beobachter stehen auf, sie zerreißen den Vorhang, sie blicken den kleinen Mann an, der in einem Kanu sitzt, und sie öffnen unisono den Mund, und sie sagen, nüchtern, nebensächlich, wie Verkäufer in einem Laden, die den Preis auf Anfrage mitteilen: Er fließt in den See hinein, es war alles ein Mißverständnis, er fließt nicht hinaus, es war eine Irreführung, was macht das schon, die Vorstellung ist vorbei. Der Fluß fällt in den See, Burton liegt auf dem Feldbett, es regnet, alles ist naß geworden, die Gewehre rosten ein, das Mehl und das Getreide sind durchweicht, das Kanu stinkt nach ihrem eigenen Kot, sie nächtigen im Schlamm, Speke wird mit guten Nachrichten zurückkehren. Wird er nicht. Er liegt in einer Lache der Enttäuschung. Er traut sich nicht zu, mit Würde zu sterben.
SIDI MUBARAK BOMBAY
— Was ich immer noch nicht verstanden habe, Baba Sidi, wieso war es für sie so wichtig zu wissen, wie groß der See war und was für Flüsse ihn nähren und was für Flüsse sich aus ihm ergießen?
— Weil es einen Fluß gibt, der Nil genannt wird, und dieser Fluß ist groß, ich habe ihn gesehen, kurz bevor er mit dem Meer verschmilzt, in dem Land, das sie Ägypten nennen, und ich sage euch, der Fluß war so breit wie das Wasser, das unsere Insel vom Festland trennt.
— Die Wazungu wollten wissen, woher dieser Fluß kommt?
— Was ist daran so schwierig? Wieso sind sie nicht einfach diesen Fluß entlanggereist?
— Das haben sie versucht, aber er spaltete sich in zwei Flüsse, und sie sind dem einen Fluß, den sie den Blauen Nil nennen, bis zur Quelle gefolgt, aber den anderen, den sie den Weißen Nil nennen, den konnten sie nicht entlangreisen, weil ein Sumpf und einige Wasserfälle den Weg versperren. Sie mußten einen anderen Weg zu den Quellen suchen. Als die Wazungu den großen See erreichten, waren sie keineswegs am Ziel, denn sie hatten in Kazeh von zwei großen Seen gehört, also war es möglich, der Nil fließe aus dem See von Ujiji oder aus dem anderen großen See oder aus keinem dieser beiden Seen. Deswegen sollte Bwana Speke eine Dau auftreiben, mit der wir den See abfahren konnten, eine Dau, die einem Händler namens Sheikh Hamed am anderen Ufer des Sees gehörte, soviel wußten wir von den Arabern in Kazeh, aber Bwana Speke war nicht der Mann, der einen eingebildeten, selbstgefälligen Araber überreden konnte, seine einzige Dau für einige Monate herzugeben. Bwana Burton hätte das vielleicht geschafft, aber er war, wie ihr wißt, eine Geisel des Todes. Am Anfang, nach einem Empfang, der uns reichlich willkommen hieß, da waren wir guter Dinge, wir warteten voller Zuversicht auf die Rückkehr der Dau, doch es zeigte sich, wie unterschiedlich unsere Geduld gekleidet war, Bwana Speke war umhüllt von rauher Wolle, die ihn in jedem Augenblick reizte, während ich mich in reine Seide schmiegte. Es gab wenig zu tun auf dieser kleinen Insel, die der Araber bewohnte, wenig mehr, als zu schwatzen und zu plaudern, die Dau ließ auf sich warten, und die Gespräche entspannten sich unter dem breiten Sonnendach des arabischen Händlers, und so wenig Bwana Speke sie verstand, so häßlich erschienen sie ihm. Eines Tages konnte er nicht mehr an sich halten, und er vertraute mir an, wie widerlich er alles auf der Insel fände, wie schmutzig die Menschen, die herumliegen würden wie Säue, so leblos wie Ferkel, die sich sonnen. Dieses und ähnliches mehr sprach er, und er merkte nicht, wie er mich damit verletzte, und ich ahnte Böses, denn die rauhe Wolle, sie würde die Haut seiner Geduld wundscheuern. Die Dau kehrte zurück, sie glitt mit weißen Segeln in den Kanal zwischen der Insel und dem Festland, und Bwana Speke schien ermutigt, und ich konnte auf einen guten Ausgang hoffen, für kurze Zeit, denn nachdem die Dau ausgeladen war, was ihm natürlich viel zu lange dauerte, hätten wir sofort aufbrechen sollen, ein abschließendes Gespräch noch mit Sheikh Hamed, die Übergabe der Stoffrollen, ein Abschiedsessen, und wir würden diese breiten, weißen Segel setzen und dieser Insel des Geschwätzes den Rücken kehren. So stellte es sich Bwana Speke vor, ich sah es seinem Gesicht an, ein Monsunhimmel, durch den endlich ein Splitter Sonne dringt. Doch ein Mann sollte lieber auf den Ratschlag von Kindern hören als auf seine eigenen Hoffnungen. Sheikh Hamed erklärte uns, die Dau stehe uns zur Verfügung, aber er könne uns seine Besatzung nicht mitgeben, weil er sie für eine andere Aufgabe benötige, weswegen er eifrig auf der Suche nach einer anderen Besatzung sei, allerdings, wie wir uns vorstellen könnten, sei es sehr schwierig, in dieser Gegend Menschen zu finden, die in der Lage seien, eine Dau zu segeln. Das war der Augenblick, vor dem ich mich gefürchtet hatte, der Augenblick, in dem Bwana Speke das ständige Scheuern seiner Ungeduld nicht mehr aushielt. Er verlor sein Gesicht in einem Wirbelsturm von Schreien und Vorwürfen, er spuckte auf die Würde seines Gastgebers, und obwohl der Araber ruhig jede böse Absicht abstritt, obwohl er mit Nachdruck beteuerte, wir würden uns schon einigen, denn er erwarte nicht mehr als das, was sein Gast freiwillig zu geben bereit sei, wurde mir klar, um wieviel schwieriger unsere Aufgabe geworden war. Am nächsten Tag weigerte er sich, über die Angelegenheit auch nur ein einziges Wort zu verschwenden; er könne uns Dau samt Besatzung in drei Monaten zur Verfügung stellen, wenn er zurückgekehrt sei von seiner nächsten Handelsreise. Wir hätten etwas Dramatisches unternehmen müssen, wir hätten unsere Großzügigkeit mästen müssen, aber Bwana Speke war kein Mensch, der auf den Rat anderer hörte, und so ignorierte er auch meinen Vorschlag, dem Araber einen doppelt so hohen Betrag anzubieten, und er beschloß, die Insel zu verlassen. Wir waren vom Schicksal geschlagen, es hätte des Sturmes nicht bedurft, der uns überfiel, als wir mitten im See waren, ein Sturm, der uns verschlungen hätte, wären wir nicht an eine Insel geschwemmt worden, wo wir ausharrten, Bwana Speke in seinem Zelt, die anderen in Planen gehüllt. Ich durfte den Schutz seines Zeltes genießen, der Sturm wurde gewalttätiger, er riß eine Seite des Zeltes aus der Verankerung, und wir konnten nichts anderes tun als abzuwarten, und als der Sturm sich beruhigte, zündete Bwana Speke eine Kerze an, um nach dem Rechten zu sehen, und plötzlich waren überall um uns herum Käfer, kleine, schwarze Käfer, und Bwana Speke hätte in dieser Nacht auf Schlaf verzichten sollen, oder er hätte, so wie ich, auf den Planken des Kanus nächtigen können, denn es war aussichtslos, alle Käfer aus seinem Zelt zu vertreiben, er konnte seine Kleidung nicht von allen Käfern befreien, und so kroch einer dieser Käfer in sein Ohr, er wurde geweckt von einem Hasen, der sich einen Bau in seinem Ohr grub. Ich habe es nicht ausgehalten, sagte mir Bwana Speke am nächsten Morgen, ich habe es nicht ausgehalten. Fledermäuse flatterten in meinem Gehirn, sagte er, ihre Flügel waren größer als mein Kopf, flapp flapp flapp, wenn ich sie nur hätte fangen können, ich wollte sie mit meinen Händen zerdrücken, ich flehte sie an, mich in Ruhe zu lassen, ich flehte Gott an, ich wußte nicht, wie ich in meinen Kopf hineinkommen sollte, Sidi, es gab keinen Weg in meinen Kopf hinein, ich wollte heißes Öl in mein Ohr gießen, ich konnte kein Feuer machen, alles war feucht, ich habe mir mit den Fäusten gegen den Kopf geschlagen, aber das Flattern hörte nicht auf, ich schlug mit dem Kopf gegen den Boden, das Flattern hörte nicht auf, es war stärker als alle Schmerzen, ich hätte mir die Hand abhacken können, es hätte mich nicht von diesem Flattern abgelenkt. Ich konnte an nichts anderes denken, nichts anderes hören, nichts anderes fühlen. Ich habe ein Messer genommen, ich habe die Spitze des Messers in mein Ohr gedrückt, ich wußte, ich mußte vorsichtig sein, aber meine Hände zitterten, und ich hatte keine Geduld mehr, es knirschte, ein Schmerz, ein jäher Schmerz, wie ein Schrei, das Flattern hörte auf, ich ließ das Messer fallen und legte mich auf den Boden, und ich hatte in diesem Augenblick soviel Angst, wie noch nie zuvor in meinem Leben, ich hatte Angst, ich würde das Flattern wieder hören, es könnte zurückkommen. Es war weg, mein Ohr fühlte sich naß an, ich berührte es, und ich spürte, es war Blut auf meinen Fingern, aber das Flattern war nicht mehr da. Wieso hast du mich nicht um Hilfe gerufen? sagte ich. Was hättest du getan, Sidi, wie hättest du mir helfen können? Ich hätte die Kerze dicht an dein Ohr gehalten, das Licht der Kerze hat diesen Käfer in dein Zelt gelockt, ich hätte das Tier mit demselben Licht herausgelockt, es wäre von alleine herausgekrochen. Das sagte ich ihm. Statt dessen hatte er sein Ohr verletzt, schwer verletzt …
— Warte, was hat dieser dumme Mann gesagt, als du ihm eine bessere Lösung genannt hast?
— Nichts. Er hat mich nur angestarrt mit einem seltsamen Blick, den ich nicht verstanden habe. Es wurde schlimmer. Das Ohr entzündete sich, es wurde ganz eitrig, das Gesicht von Bwana Speke verzog sich, und sein ganzer Hals war von Beulen überzogen. Er konnte nicht mehr kauen, ich mußte ihm Suppe kochen und sie ihm eintröpfeln, wie einem kleinen Kind. Er hörte auf dem Ohr so gut wie nichts, und es entstand ein Loch, und wenn er sich die Nase schneuzte, ploppte es dumpf aus dem Ohr heraus, wir mußten lachen, und er wurde darüber noch gereizter. Monate später kam ein Teil des Käfers heraus, zusammen mit dem Ohrenschmalz. Aus dem anderen Ohr!
— Nein!
— Wir wissen, Baba Sidi, wir haben den Teil des Abends erreicht, an dem du deine Späße mit uns treibst, aber das, das können wir dir nicht abnehmen. Soll der tote Käfer durch den ganzen Kopf gewandert sein, um am anderen Ende herauszukommen?
— Es gibt seltsamere Sachen als diese.
— Gewiß, aber ob wir einer Lüge glauben, hängt nicht allein von ihrer Größe ab.
— Unsere Rückkehr nach Ujiji war sehr unangenehm. Bwana Burton, er war dem Tode entronnen, er hatte etwas Schwieriges vollbracht, also erwartete er von uns, unsere scheinbar leichte Aufgabe erledigt zu haben. Er war entsetzt, Bwana Speke war niedergeschlagen, sie sprachen einige Tage nicht miteinander, dann entschieden sie, den See trotzdem zu erkunden, und so stiegen wir wieder in die Kanus, dreiunddreißig Tage waren wir unterwegs, nur um aus zuverlässiger Quelle zu erfahren, der Ruzisi fließt in den See hinein, und wenn einer von uns geglaubt hatte, dies sei der Endpunkt der Enttäuschung, wurde er bei unserer neuerlichen Rückkehr nach Ujiji eines Besseren belehrt, denn in den dreiunddreißig Tagen unserer Abwesenheit war der treue und gutherzige Said bin Salim …
— Von dem du sagst, er hätte seine eigene Mutter verschachert?
— Genau der, er war zu der Erkenntnis gelangt, die Wazungu seien bestimmt gestorben und keiner könne es ihm verübeln, wenn er einen Großteil des Proviants verkaufte. Wie sollten wir nach Kazeh zurückkehren, ohne Nahrungsmittel, ohne Tauschware? Sollten wir betteln oder rauben? Es gab keine Lösung, je länger wir nachdachten, desto klarer wurde uns unsere Ausweglosigkeit, und doch wurde sie mit einem Schlag verscheucht, oder besser gesagt, von einigen Gewehrsalven zerrissen, Schüsse, die wie gewohnt die Ankunft einer Karawane verkündeten, und tatsächlich, diese Karawane schleppte den Nachschub mit, den Bwana Burton vor langer Zeit angefordert hatte, nicht die richtige Munition zwar, doch immerhin Stoff genug, um Nahrung für unsere Rückreise nach Kazeh zu erwerben.
Auf der Rückreise nehmen sie einen anderen Weg. Dem Sumpf am Malagarasi setzt man sich nur einmal aus. Die Idylle, denkt Burton, ist eine Tasse mit schmutzigem Rand. Tee in der Tasse, kalte Hühnerbrühe in der Untertasse. Flecken auf der Zungenspitze. Bitter ist die Zeit, denkt er, und er nimmt sich vor, dem Denken abzuschwören. Zumindest, bis sie Kazeh wieder erreicht haben. Hast du die Mücke gesehen, ruft Speke, sie war riesig, wirklich riesig, so eine Mücke hast du noch nie gesehen. Was muß das Land arm sein, daß Speke sich mit Mücken abgibt. Am Wegrand ein ausgehöhlter Baum, breit auseinandergerissene Lippen, aus denen ein ovaler Schrei dringt. Was für Eigenarten werden unter den frisch geschnittenen Dächern aufbewahrt? Der erste, dem sie begegnen, geht am Stock, das bedarf keiner Erklärung, sein Gebrechen, das Bein, das er abstützt, die Haut verschrumpelt wie Rinde, das Knie nicht mehr zu sehen, dieser Mann hat links das Bein eines Elefanten und rechts das Bein eines Menschen, und er ist jung, sein Gesicht sieht gesund aus, völlig gesund, kein bißchen verhärmt trotz seines verkrüppelten Beins, das er herumschleppen muß, das ihn verurteilt, ein Aussätziger zu sein in diesem Dorf, wer will so etwas Widerliches sehen. Der nächste Dorfbewohner hat ein ähnliches Gebrechen, am anderen Bein, das noch schlimmer verwachsen ist, nur die Zehen menschlich geformt, die Schwellung beginnt am Spann. Die Haut ist verdickt und entzündet, an manchen Stellen eingerissen, an anderen aufgeplatzt. Der dritte läßt seinen Atem stocken, er steht auf zwei Elefantenbeinen, sein Oberkörper ist ausgemergelt, es kann nicht anders sein, als daß sein Oberkörper abmagert ist, je mehr seine Beine auswabbelten. Alle sind so, wird ihm schlagartig bewußt, alle Bewohner dieses Dorfes, die stumm vor ihren Hütten sitzen oder ohne Gruß an ihnen vorbeihinken, jetzt sieht er es, Ellbogen verschwunden, Oberarm ein aufgeweichter Kürbis, Unterarm ein breiter Schlauch mit Wasser, der von dem Knochen hinabhängt, linke Brust angeschwollen fast bis zum Oberschenkel, Gekröse über Haut gekrochen, über die rechte Brust, über das linke Bein, oder umgekehrt, das Falsche in allen Kombinationen, in diesem Dorf. Das Kranke nach außen gewandt, das Dämonische. Als herrsche in ihren Körpern Hochwasser.
Er erblickt einen Mann mit Kopfschmuck, als einziger sitzt er auf einem Hocker, um ihn herum Männer und Frauen im Sand, bestimmt der Phazi, mit einem entspannten Ausdruck auf dem Gesicht trägt er etwas Unverständliches vor, und er versteckt nichts, seine Hoden sind so groß wie ausgewachsene Papaya, der linke Oberschenkel hängt hinab wie ein übervolles Euter, der rechte Unterschenkel überzogen von Geschwüren, wie die Würmer, die sich im Inneren des Körpers schlängeln, und am Ende seines Beins ein Klumpfuß, ohne Zehen, ohne Ferse. Alles ist klar, denkt Burton, ich habe das Herrschaftsprinzip begriffen, in diesem Dorf wird derjenige Häuptling, der den größten Hodensack hat. Er würde gerne halten, mit diesen Menschen reden, ihnen erklären: Die Götter belieben zu scherzen, sie begehen Fehler, sogar bei ihren eigenen Söhnen, ihr kennt Ganesh nicht, erlaubt, daß ich euch von ihm erzähle, sein Zustand hat mit dem euren durchaus etwas gemein. Burton wird weitergetragen, von seinen Schritten, von der unaufgeregten Bewegung der Karawane, als hätten die anderen es nicht gesehen, nicht bemerkt, daß selbst die Beckenglieder der Maultiere in diesem Dorf verdickt sind, ausgeweitet, als seien Esel mit Elefanten gekreuzt worden, und ihn quält eine Frage, sie quält ihn wie ein Sandkorn unter der Fußsohle, etwas, das ihn an dem Anblick des Phazi verstörte, der Penis, es fällt ihm ein, wo war der Penis, er spricht es laut aus, ich habe den Penis nicht gesehen. Und Speke, der neben ihm hergeht — wie lange schon? — , sagt: Das müssen wir nicht wissen.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Fühlt ihr auch, meine Freunde, wie es kalt wird? Es ist die Jahreszeit, natürlich, und es ist mehr als nur die Jahreszeit. Ich habe das Gefühl, als würde die Kälte von diesem Stein aufsteigen und in meinen Körper dringen. Es gibt Abende, an denen kann ich mich nicht wärmen, egal, wie viele Umhänge die Mutter von Hamid mir um die Schultern legt. Die Kälte, sie setzt sich nicht im Fleisch fest, nein, sie dringt in die Knochen ein, keiner hat mich gewarnt, wie kalt die Knochen werden können, wie kalt das Knie und der Schädel werden können, so kalt, ich habe das Gefühl, ich bin ein gelähmter Fisch, der auf dem Grund des Meeres liegt, und nur noch sein Maul bewegen kann, bis auch seine Zunge zu einem Knochen wird.
— Nun übertreibst du aber, Baba Sidi, deine Zunge ist wahrlich weit davon entfernt zu erstarren.
— Auch das, was uns unfaßbar erscheint, wird eines Tages geschehen.
— Wir werden es erwarten.
— Und solange wir warten, werden wir dir zuhören.
— Und ich werde weiterreden, seid unbesorgt, macht euch keine falschen Hoffnungen, obwohl, manchmal überkommt mich der Verdacht, meine Worte hätten meine Schritte überholt, meine Berichte von den Ereignissen hätten die Ereignisse in den Schatten gestellt. Das erinnert mich an einen Jungen, als ich klein war, in meinem ersten Leben, er hat meinen Schatten festhalten wollen, er hat mich gebeten, still stehenzubleiben, und er hat mit seinen kleinen Händen die Erde aufgekratzt, genau da, wo mein Schatten hinfiel, er grub, bis seine Hände ganz verschrammt waren, und als er glaubte, fertig zu sein, stellte er fest, mein Schatten hatte sich verändert. Also grub er weiter, jeder Veränderung des Schattens folgte er, bis ihm die Kraft ausging und mir die Geduld, und wir traten zurück, um den Schatten zu betrachten, den er festgehalten hatte, und es war eine Grube ohne Form, auf die wir blickten, sie sah nicht aus wie irgendeiner meiner Schatten, der Junge war traurig, und ich habe vorgeschlagen, Früchte pflücken zu gehen. Dieser Junge, ich kann ihn nicht vergessen, er war nicht unter jenen, die gefangen wurden von den Arabern an jenem Tag, an dem mein erstes Leben starb, und ich habe mich oft gefragt, welche Schatten er in seinem Leben geworfen hat, und wenn ich träume, träume ich auch davon, diesen Jungen noch einmal zu treffen, wir beide als alte Männer, und ich würde ihn bitten, mir alles von sich zu erzählen, und dann würde ich das Leben, das mir geraubt wurde, in Fleisch und Blut vor mir sehen, von dem Menschen gelebt, der es nicht geschafft hat, meinen Schatten festzuhalten, der es nie schaffen wird, denn in meinem wirklichen Leben habe ich keinen Schatten mehr geworfen. Durch ihn würde ich sehen, was für Schatten ich geworfen hätte. Es ist ein schöner Traum und ein häßlicher Traum, so sind meine Träume, sie sind wie Gerichte, die von einer zugleich verliebten und einer verlassenen Frau gekocht worden sind, Gerichte, süß wie Zucker und scharf wie die Schote eines Baobabs, der auf dem Friedhof wächst. Wie einer der anderen Träume, von denen ich mich nicht lösen kann, der Traum von dem See und dem Reiher, der eigentlich kein Traum ist, sondern der unverrückbare Schatten einer Erinnerung. An den zweiten See, um genau zu sein, an einen schönen Vogel. Es gab nämlich diesen zweiten großen See, es gab ihn wirklich, so wie es uns die Araber in Kazeh versichert hatten, und Bwana Speke und ich und einige der Träger, wir erreichten diesen See nach einem halben Monat Marsch, Bwana Burton war in Kazeh geblieben, vielleicht wegen seiner Krankheit, vielleicht weil er die Gesellschaft der Araber der von Bwana Speke vorzog. Wir standen auf einem kleinen Hügel, und er lag vor uns, der zweite große See, und wir waren weniger erschöpft und weniger verzweifelt und weniger aufgeregt als an dem Tag, an dem wir den ersten großen See gesehen hatten. Wir alle, außer Bwana Speke, der auf einmal wie verwandelt war. Schon der erste Blick zeigte uns, dieser See war größer als jeder andere See, den wir kannten, den Bwana Speke kannte, er war größer als der erste See. Wir standen am Ufer und staunten über das Wasser, das kein Ende nahm, es raschelte in unserer Nähe, ein Reiher flatterte vor uns aus dem Schilf auf, seine ersten Flügelschläge schwappten schwerfällig, als seien seine Flügel eingeschlafen, ein schlanker Vogel, der das Gesetz nicht kannte, das Gesetz, das lautet, kein Tier darf ungestraft vor den Augen von Bwana Speke fliegen oder laufen. Der Reiher erhob sich in die Lüfte, vor unseren Augen, er gewann an Geschwindigkeit, mit Zuversicht glitt er über uns hinweg, ein grauer weißer brauner Vogel mit einem Schnabel, wie die Nadel eines Kompasses. Bwana Speke war überaus zufrieden, das konnten wir ihm ansehen, sein Herz durfte sich selten auf seinem Gesicht zeigen, er versteckte es wie manche Männer ihre Ehefrauen, aber an diesem Ufer legte es alle Schleier ab. Dies ist, was wir gesucht haben, sagte er feierlich, und er streckte seine Hand aus, als wollte er sie auf den See legen, er war wirklich glücklich, und wir, wir blickten weiterhin zu dem Reiher hoch, der aus Gründen, die für immer ins Ungewisse eingekerbt sind, über uns kreiste, genau über uns, ein Schuß krachte, natürlich nur ein Schuß, und der Reiher fiel wie ein Stein, und Bwana Speke jubelte laut, er schüttelte sein Gewehr wie eine Gurde und führte einen kleinen Tanz auf, so wie die Wazungu das Tanzen mißverstehen, und wie er jubelte: Ich habe unser Ziel erreicht, ich habe unser Ziel erreicht. Keiner von uns blickte dem Reiher nach, es hätte Unheil bedeutet. Wir starrten auf Bwana Speke und verstanden nicht, wieso er wie verwandelt war, wieso der zweite See besser war als der erste See und wieso ein Reiher sterben mußte, um die Freude von Bwana Speke zu teilen.
— Assalaamu Alaikum Wa Rahmatullahi Wa Barakatuhu.
— Waleikum is-salaam.
— Wie geht es euch, Brüder?
— Gott sei gedankt, Gott sei gedankt.
— Setzen Sie sich doch zu uns, Muhtaram Imam, wir hören den Geschichten von Baba Sidi zu, ich versichere Ihnen, heute abend lohnt es sich zuzuhören.
— Seien Sie unbesorgt, die Geschichten beißen nicht.
— Ich sorge mich nicht um mich.
— Sie werden es nicht bereuen.
— Auf ein Weilchen, die Nacht ist ja noch jung.
— So denken wir immer, die Nacht ist jung, bis sie auf einmal vorbei ist.
— Sie müssen sich ein wenig erholen, Muhtaram Imam, nehmen Sie Platz auf dieser Baraza, es wird Ihnen guttun.
— Wir werden sehen, wie gut es mir tut. Einverstanden, ich werde euch etwas Gesellschaft leisten.
— Wir haben gerade gehört, wie Baba Sidi einen See erreicht hat, der fast so groß ist wie das Meer.
— Der Wunder Gottes sind viele.
— Und ein Reiher wurde erschossen, das hast du vergessen zu berichten, Baba Quddus, er gehört genauso zur Geschichte wie der See, dieser Reiher, der herabfiel wie ein Komet. Bwana Speke war zufrieden, und seine gute Laune schwoll an, nachdem er Wasser gekocht und dabei auf seinen Zeitmesser gestarrt und alle möglichen Zahlen aufgeschrieben hatte, denn seitdem wir ohne Bwana Burton unterwegs waren, hatte er sich mit dem Notizbuch angefreundet. Weißt du, auf was wir blicken, Sidi? fragte er mich. Nein, Saheb, sagte ich. Wir blicken auf die Quellen des Flusses, der Nil heißt. Irgendwo im Norden muß sich der gewaltige Nil aus diesem See ergießen. Erstaunlich, wie Bwana Speke das wußte.
— Er hat geraten.
— Ja, natürlich hat er geraten, schließlich hatte er die Quellen noch nicht gesehen, aber er hat mit Verstand geraten, denn auf unserer zweiten Reise, da erwies sich seine Vermutung als wahr, wir beide standen am anderen Ende dieses großen Sees, und wir beide sahen, wie der Fluß herausströmte.
— Der Nil?
— Das wußten wir damals nicht, nicht mit Sicherheit. Aber ein anderer Mzungu, der ist diesem Fluß gefolgt, und als ich meine dritte Reise antrat, da hörte ich, das Rätsel sei gelöst, alle Menschen wüßten nun, der Nil fließe aus dem zweiten großen See.
— Er hatte also recht.
— Bwana Speke hatte recht und auch wieder nicht. Es strömt ein Fluß aus diesem See, und es ist der Fluß, den sie Nil nennen, oh ja, aber es gibt Flüsse, die in den zweiten großen See hineinfließen, und wer ein Freund des Streites ist, der könnte behaupten, ein jeder dieser Flüsse habe eine Quelle, und diese Quellen seien die Quellen des Nils, denn das Wasser, das sie in den zweiten großen See gießen, nährt den Fluß, den sie Nil nennen. Bwana Speke wollte den See sofort erkunden, er wollte den Mann in den Dienst nehmen, der uns vom anderen Ende berichtet hatte, er wollte sein Boot kaufen, den ganzen See umfahren, wir hätten Monate für die Reise benötigt. Ich beschwor ihn, an unsere knappen Vorräte zu denken, an die müden und unwilligen Träger, an Bwana Burton, der in Kazeh wartete. Du verstehst nicht, sagte er und sein Gesicht glühte, wenn ich die Frage nach den Quellen ohne jeglichen Zweifel aufkläre, dann gehört der Preis mir, dann bin ich derjenige, der das größte aller Rätsel alleine gelöst hat. Er wollte sagen: Dann muß ich den Ruhm nicht mit Bwana Burton teilen.
— Oh, die Maßlosigkeit des Menschen.
— Vor allem der Wazungu.
— Unser aller! Es ist schon maßlos, wenn du glaubst, du seiest davon ausgenommen.
— Ich konnte es ihm ausreden, vor allem weil ich ihm garantierte, die Träger würden alle weglaufen, wenn wir nicht bald nach Kazeh zurückkehrten. Aber bevor wir den zweiten großen See wieder verließen, wollte er seinen Erfolg feiern, mit einer angemessenen Zeremonie. Er rief uns zusammen, er forderte uns auf, mit ihm ins Wasser zu gehen, bis wir knietief in den Wellen standen, wundert euch nicht, dieser See, er ist so groß, die Wellen ziehen über ihn, und wenn es stürmt, so sagte uns der Mann, der das andere Ufer kannte, würden die Wellen größer werden als ein Haus, und wer sich noch auf seinem Boot draußen aufhalte, der wäre verloren. Geht noch tiefer ins Wasser, sagte Bwana Speke, tief genug, um untertauchen zu können, und wenn ihr mit dem ganzen Körper unter Wasser wart, kommt heraus und rasiert euch gegenseitig die Haare und badet dann noch einmal in diesem heiligen Wasser.
— Heilig? Was für ein heiliges Wasser?
— So sagte er! Ich habe mich geweigert. Keiner von uns kann schwimmen, sagte ich zu ihm. Habt keine Angst, haltet euch gegenseitig fest, ich werde auf euch aufpassen. Ich übersetzte seine Vorschläge an die Träger. Mein Haar, rief der eine aus, was will der Mzungu mit meinem Haar? Und was zahlt er dafür? fragte ein anderer. Dieser Mann, wir müssen ihn schnell zu einem Mganga bringen, sagte ein Dritter, es steckt mehr als nur ein Käfer in seinem Kopf. Ich erklärte Bwana Speke, die Träger weigerten sich, ihr Haar zu opfern und in das Wasser zu tauchen. Aber es ist so eine schöne Zeremonie, beschwor er mich, du kennst sie bestimmt aus Indien, Sidi, das gesegnete Bad im heiligen Wasser.
— Im Zamzam-Wasser wird nicht gebadet.
— Natürlich nicht, aber die Banyan, die glauben, manche Flüsse seien heilig, anstatt zu beten, nehmen sie ein Bad. Wir sind aber nicht in Indien, sagte ich zu Bwana Speke, und woran erkennen wir, ob dieses Wasser heilig ist? Es ist die Quelle des Nils, sagte er, wie soll das nicht heilig sein? Können wir einfach so entscheiden, welches Wasser heilig ist? fragte ich ihn. Was meinst du, wie solche Zeremonien überhaupt entstanden sind? gab er mir zur Antwort. Irgend jemand hat eines Tages etwas behauptet, etwas getan, andere haben es ihm geglaubt, nachgemacht, und heute erzittern wir in Ehrfurcht vor der Tradition.
— Er hat unseren Propheten, möge Gott ihn mit Frieden beschenken, beleidigt.
— Regen Sie sich nicht auf, Muhtaram Imam.
— Wie? Was sprichst du da. Dieser Frevler beleidigt …
— Es ist doch lange her.
— Vielleicht hat Baba Sidi seine Worte falsch wiedergegeben?
— Er hat den Propheten nicht beleidigt.
— Wie? Du selber hast doch seine Worte wiederholt.
— Soweit ich weiß, kannte er den Propheten gar nicht, ich meine, er hatte bestimmt von ihm gehört, er wußte ein wenig über al-Islam, aber dieses Wissen war ohne Wurzeln. Er wollte in diesem Augenblick einfach nur etwas Weihevolles tun, etwas, das großartig wirkte, etwas, das den starken Gefühlen entsprach, die seine Entdeckung in ihm geweckt hatten. Er wollte feiern, und er wußte nicht, wie wir gemeinsam feiern, wie wir den Augenblick ehren sollten.
— Mir ist unbegreiflich, was euch an diesen Geschichten erfreut, Abend um Abend, so sehr erfreut, ihr vernachlässigt eure Familien. Tote Reiher, abgeschnittene Haare und ein Ungläubiger, aus dem der Teufel spricht.
— Wir lernen von der Welt, Imam, was kann das schon schaden?
— Ich denke, der Imam verfährt nach der Weisheit: Der Mensch, der nichts weiß, bezweifelt nichts.
— Willst du auch unseren Imam beleidigen?
— Wollt ihr an allem Anstoß nehmen, was nicht aus euren eigenen Mündern stammt?
— Widmet euch lieber der Lektüre des Glorreichen Korans, dort findet ihr genügend Geschichten, und es sind ältere Geschichten, von ewigem Sinn. Ich werde nun Abschied nehmen, meine Brüder. Assalaamu Alaikum.
— Waleikum is-salaam, Muhtaram Imam.
— Waleikum is-salaam.
— Er ist nicht lange geblieben.
— Länger als Baba Sidi in der Moschee.
— Ihr beide, ihr werdet nicht zusammenfinden.
— Vielleicht in der nächsten Welt.
— Sagt mir, meine Brüder, ich habe mich immer gefragt, im Himmel, wird dort auch der Glorreiche Koran gelesen? Oder dient er nur als Wegweiser dorthin?
— Du hättest den Imam fragen müssen.
— Ich habe zu spät daran gedacht.
— Das ist auch besser so.
— Wie heißt eigentlich der zweite große See?
— Nyanza. So sagte uns der Mann, der das gegenüberliegende Ufer kannte. Bwana Speke war mit diesem Namen nicht zufrieden, er wollte einen anderen Namen. Er gab allen Orten, die er auf jener Reise erblickte, jener kurzen Reise ohne Bwana Burton, gleich einen Namen, so als verteile er Geschenke an Kinder aus armen Familien. Kaum hatte er sich für einen Namen entschieden, bat er mich, die Träger von dem neuen Namen in Kenntnis zu setzen. Ich reichte die Namen an sie weiter, und sie waren erstaunt über diesen Brauch, den sie sich nicht erklären konnten. Vielleicht kann er sich nur an das erinnern, was er selbst benannt hat, schlug einer von ihnen vor. Bevor Bwana Speke wußte, wie das andere Ufer des Sees, die andere Seite des Hügels, das andere Ende des Tals aussah, hatte er dem See, dem Hügel, dem Tal schon einen Namen gegeben. Während wir noch nach Luft rangen, denn der Aufstieg war steil, gab er dem Hügel, von dem aus wir zum ersten Mal den zweiten großen See erblickten, den Namen Somerset. Die kleine Bucht, die unter uns lag, nannte er Jordan, einer der Felsen, die sich ins Wasser streckten, hieß von nun an Burton Point und ein Busen des Sees Speke Channel. Eine Gruppe von Inseln erhielt den Namen Bengal Archipelago, und dem See selbst, diesem See, der so weit schien wie das Meer, gab er mit feierlicher Stimme, so als würde er das Wort vor der Versammlung der Ältesten ergreifen, den Namen Victoria. Die Wazungu nennen das Wasser immer noch Victoria, zumindest nannten sie es so auf meiner letzten Reise, und nun, da die Wazungu ihre Flagge über unserem Hafen gehißt haben, wer weiß, vielleicht wird dieser See noch lange Zeit nach einer ihrer Frauen benannt sein. Die meisten Wazungu sind stolz auf diesen Namen, weil sie denken, der See heiße zu Ehren ihrer Königin so, aber Bwana Speke hat mir anvertraut, später am Abend dieses Tages, es sei ein glücklicher Zufall, daß seine Mutter und die Königin seines Landes den gleichen Namen trugen, und so konnte er den See, den er entdeckt habe, seiner Mutter widmen, ohne befürchten zu müssen, einer unangemessenen Widmung beschuldigt zu werden. Aber Saheb, der See hat schon einen Namen, der See trägt den Namen Nyanza. Unfug, rief Bwana Speke aus, und ich konnte spüren, wie der Zorn in ihm aufkochte, wie kann er einen Namen haben, ich habe ihn erst heute entdeckt. Verstehst du nicht, Sidi, er existiert auf den Karten bislang noch nicht. Seine Worte verwirrten mich, ich dachte lange nach, und ich kam schließlich zu dem Schluß, es könne nicht schaden, wenn die Seen und die Berge und die Flüsse viele Namen haben, Namen aus verschiedenen Mündern, Namen für verschiedene Ohren, Namen, die von verschiedenen Merkmalen und von verschiedenen Hoffnungen sprechen. Doch ich hatte meine Rechnung ohne den Zolleintreiber gemacht, ich hatte zu nahe am Fluß gesät und die Gefahr des Hochwassers übersehen. Die Wazungu wollen für jedes Ding nur einen Namen gelten lassen, sie sind verstockt wie Esel, sie wollen nicht die vielen verschiedenen Namen akzeptieren, die ein Ort haben kann. Als wir zurückkehrten nach Kazeh, wo Bwana Burton auf uns wartete, und dort mit den Arabern über den See sprachen, bestand Bwana Speke darauf, von dem Victoria-See zu reden. Ich mußte den Arabern erklären, Bwana Speke sage zwar Victoria, meine aber Nyanza, worauf einer der Araber mich mit geschärfter Zunge fragte, wieso der Mzungu nicht das sage, was er meine, und ob er etwas vor ihnen verberge. Wie immer, wenn es schwierig wurde, mischte sich Bwana Burton ein und glättete die Wogen mit einem Arabisch, das aus seinem Mund floß wie zerronnene Butter. Manchmal aber, ich will es euch nicht verschweigen, bat mich Bwana Speke, ihm die einheimischen Namen zu nennen, die er in kleinen Buchstaben hinter den von ihm verliehenen Namen niederschrieb. Ich habe mich nach den geläufigen Namen erkundigt und ich habe sie ihm mitgeteilt, Nyanza für den großen See, Ukerewe für die Inseln in dem großen See, und so hätte er in seinem Buch sowohl die Namen seiner Eingebung als auch die Namen der Überlieferung eingetragen, wenn wir nicht zu einem Fest eingeladen worden wären, bei dem wir Bananenbier getrunken haben, so viel Bananenbier, mir klebte noch viele Tage später der Geschmack auf der Zunge und alles schmeckte nach Bananenbier, die Brühe, das Fleisch, die Süßkartoffeln. Ihr wißt, ich trinke nicht, aber es war das einzige, was uns erquicken konnte, wir wurden von den Männern des Dorfes eingeladen, sie hatten das Bier zu unseren Ehren gebraut, alle Träger tranken, und ich trank mit ihnen. Wir haben an diesem Abend ohne Zurückhaltung unsere Wunden geleckt, wir haben laut über die Reise und die Wazungu geschimpft, und ein anderer Gast des Dorfes erzählte eine Geschichte, von einem Mann, der an einem anderen Ufer dieses Sees lebte und der den See Lolwe nannte, und als wir fragten, was dieser Name bedeute, sagte er uns, es sei der Name eines Riesen, der so groß sei, er hinterlasse einen See, jedesmal, wenn er sich erleichtere, kleinere Seen, mittlere Seen, und eines Nachts ließ er so viel Wasser wie noch nie zuvor, und am nächsten Morgen starrten die Menschen auf einen See ohne Ufer.
— Er hatte zuviel Bananenbier getrunken.
— Zuviel Bananenbier, oh ja, viel zuviel, es war eine schöne Geschichte, und ihr entschlüpfte ein Gedanke, und wir alle fanden diesen Gedanken wundervoll. Wir würden unsere eigenen Namen erfinden und dem Mzungu überreichen, er würde unsere Namen in sein Land zurücktragen, wir würden Namen vergeben, die sich über jeden lustig machen, der sie liest, ohne zu merken, wie er verspottet wird, Namen wie etwa Große-Entleerung-Der-Blase für den See, an dessen Ufer wir so viel Bananenbier getrunken hatten. Es war ein schöner Gedanke, und wir setzten ihn gleich in die Tat um, wir überlegten uns Namen, während wir weiter Bananenbier tranken, und schon am nächsten Tag fanden unsere Namen Eingang in das Buch von Bwana Speke. Wie heißt dieser Fluß bei den Leuten hier? fragte er mich, und ich antwortete ihm: Dieser Fluß wird bei den Menschen von den Wakerewe Affe-Mit-Läusen genannt. Und als er fragte, wie der Name eines Hügels lautete, antwortete ich ihm: Dieser Hügel wird bei den Menschen von den Wakerewe Hintern-Voller-Warzen genannt. Und als er wissen wollte, ob eine Schlucht einen Namen habe, sagte ich zu ihm: Diese Schlucht wird bei den Menschen von den Wakerewe Wo-Ein-Mann-Eindringt-Und-Ein-Säugling-Herauskommt genannt. Schau mich nicht so entsetzt an, Baba Quddus, es war ein roher Spaß, ich gebe es zu, aber nicht so roh wie der Spaß, den Bwana Speke sich gönnte, die ganze Welt mit seinen eigenen Namen zu besetzen. Und wenn ich flüstere, dann nicht deswegen, weil ich mich dieses Spaßes schäme, sondern weil im ersten Stock jemand lauert, dem diese Geschichte auch nicht gefällt. Ach, wartet, etwas fällt mir noch ein, das Schönste, der Name von zwei Hügeln, die einander sehr ähnelten und deren Name, wie ihr bestimmt schon erraten habt, in der Sprache der Menschen von den Wakerewe Die-Titten-Des-Fetten-Königs lautete. Wir waren glücklich über unseren Spaß und wir haben ihn wieder vergessen, bis zur zweiten Reise, inzwischen konnte Hamid, mein Erstgeborener, schon auf eigenen Beinen stehen. Als Bwana Speke mir die Karten zeigte, die er in seinem Land hatte zeichnen lassen, las er mir die Namen der Orte vor, die wir gemeinsam gesehen hatten. Ich hörte den Namen Victoria und ich hörte den Namen Somerset, und dann zeigte er auf kleine Buchstaben, und er erklärte mir, diese bezeichneten die Namen, die ich ihm mitgeteilt hatte, die Namen, die benutzt werden von den Menschen, die dort leben, und ich bat ihn, mir einige der Namen vorzulesen, und tatsächlich, er zerkaute zwar die Worte in seinem Mund, aber sie waren verständlich, er sagte: Hintern-Voller-Warzen und er sagte Die-Titten-Des-Fetten-Königs, und glaubt mir, meine Brüder, nie ist es mir in meinem Leben schwerer gefallen, das Lachen, das aus mir herausplatzen wollte, zu unterdrücken.
— Wenn ich also in das Land der Wazungu reise und eine dieser Karten kaufe, dann kann ich all die kindischen Scherze von Baba Sidi nachlesen?
— Oh ja, Baba Ali, aber du mußt dich beeilen, die Wazungu, sie sind gewissenhaft, vielleicht zieht bald ein anderer von ihnen durch diese Gegenden und sammelt neues Wissen. Diese Karten werden von ihnen immer wieder neu gezeichnet, es ist ein beliebtes Spiel bei den Wazungu, nein, es ist mehr als ein Spiel, der Stolz von Menschen hängt davon ab, und die Freundschaft von Bwana Burton und Bwana Speke, sie zerschellte endgültig an diesen Karten.
— Wie ist das möglich?
Ein Laut. Piksend. Ein krummer Klagelaut. Eine ganze Oktave an der Gurgel gepackt. Zwei Schreie, die seinen dünnatmigen Schlaf erdolchen. Zuerst denkt er, diese Laute stechen aus einem Traum hervor, der ins Wachsein ragt, bis er sich des tiefen Himmels seines Zeltes bewußt wird und der engen Einfriedung der Plane zu allen Seiten. Die wunden Klagen kommen von draußen. Er richtet sich auf, ergreift sein Gewehr, kriecht aus dem Zelt, kann die Gefahr nicht ausmachen, sieht sie nicht in der verschlafenen Morgendämmerung, der Laut dringt durch seinen Hinterkopf, er reißt das Gewehr herum, schießbereit, doch er sieht nichts außer einen Vogel, einen häßlichen Vogel, der seinen Schnabel öffnet und den Schrei ausstößt, der seinen Schlaf erdolcht hat. Burton spürt einen unbändigen Zorn auf diesen winzigen Vogel, der sich eine solche Lautstärke anmaßt. Er packt das Gewehr am Lauf und schwingt es, doch der Vogel kann fliegen, er flattert davon, mit entrüsteten kleinen Piepsern, die Burton ohne irgendeine Genugtuung zurücklassen.
Am Tag zuvor sind sie von Kazeh aufgebrochen, zur letzten Etappe des Heimwegs. Für die Rückreise zur Küste mußten sie erneut Träger rekrutieren. Sie standen vor ihm, aus einer weiteren Nyamwezi-Ernte, zusammengetrommelt von Snay bin Amir, junge Männer, herausgeputzt in ihrer Ungeduld, übereifrig, erfrischend unschuldig. Manche von ihnen standen auf einem Bein, wie die Kraniche auf dem Malagarasi-Fluß, die Sohle des vom Boden losgelösten Fußes an das durchgestreckte Knie gedrückt, ihre Arme um den Nacken ihres Nebenmannes gelegt, eine lässige Geste, die kaum die erste Woche überstehen würde, andere hockten auf ihren Fersen, umarmten mit beiden Armen ihre Knie und richteten ihren Blick erwartungsvoll auf den Führer der Expedition.
Er ist widerwillig aufgebrochen. Kazeh war ihm erneut zur Oase geworden, und es fällt schwer, eine Oase zu verlassen. Sich wieder der Öde von Ugogo auszusetzen. Er fürchtete sich nicht davor, er wurde von keinen bösen Vorahnungen geplagt. Es war schlimmer. In Gedanken vorausblickend, empfand er bereits den Schmerz, der ihn erwartete, die Qual. Furcht war dies nicht, sondern ein Unbehagen, das fortdauern würde — das wußte er, und dieses Wissen war der Fluch jeder Rückreise. Zumal er sich auf den Ausgang nicht freuen konnte. Speke war vernarrt in seine ungelenke, unverständige Lösung des großen Rätsels. Seine Skizzen, seine kartographischen Vermutungen konnten zu keiner logischen Erklärung zusammengefügt werden. In seinen Flüssen floß das Wasser bergauf, und Seen entleerten sich in die Richtung, die er ihnen vorgab. Es war lachhaft, und doch — dieser Gedanke verstörte Burton, er vermieste ihm die Rückkehr —, es war nicht ausgeschlossen, daß Speke auf eine verquere Weise recht hatte, es war möglich, daß alle Einzelheiten falsch waren, die große Behauptung sich aber als richtig erwies. Sobald sie britischen Boden betreten werden, wird der Disput zwischen Speke und ihm eskalieren, geschürt in der öffentlichen Arena, seine vielen Feinde werden die Gelegenheit zu gerne aufgreifen, die vielen Spekulationen werden es jedem erlauben, wehrhaft für die Seite einzutreten, der man sich verbunden fühlt. In Kazeh konnte er nicht bleiben, und nach England zurückzukehren, das einzige Land auf der Welt, in dem er sich überhaupt nicht heimisch fühlte, war ihm zuwider. Beste Voraussetzungen, dachte er grimmig, sich erneut in die Öde zu begeben.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Bwana Burton bezweifelte Bwana Spekes Behauptung, der zweite große See sei die Quelle des Flusses, den sie Nil nennen. Oder wenn er es sei, dann müsse dies erst noch bewiesen werden, ein Beweis, der nicht geboren wurde, als Bwana Speke mit eigenen Augen einen See erblickte, von dessen Dasein sie schon wußten. Als Bwana Speke und ich unterwegs waren, hatte Bwana Burton in Kazeh eigene Karten skizziert, nach den Angaben von Snay bin Amir und den anderen Arabern, und als wir zurückkamen, haben die Wazungu die Lage des Sees und seine Umrisse auf ihren jeweiligen Karten verglichen, und es gab kaum Unterschiede zwischen den Skizzen von Bwana Burton und den Skizzen von Bwana Speke, und Bwana Burton sagte: Siehst du, du hast dich unnötig verausgabt, wir haben die Fakten im wesentlichen schon gekannt.
— Wahrlich, kein Dolch ist so scharf wie die Zunge des Menschen.
— Nachdem er aber die Karte von Bwana Speke genauer angesehen und die Behauptungen von Bwana Speke angehört hatte, mußte Bwana Burton seine eigene Karte verändern, ihr wißt ja, die Größe des Tieres, das du erlegt hast, hängt von der Größe des Tieres ab, das dein Rivale erlegt haben will. Seine Karte mußte beweisen: Der erste große See ist die Quelle des Flusses, den sie Nil nennen. Eines Abends bin ich in sein Zimmer gegangen, in dem Haus, das er und Bwana Speke in Kazeh bewohnten, ich wollte ihn etwas fragen, und ich sah, wie er gerade zeichnete, er zeigte sich erfreut über meine Anwesenheit und fragte mich ein wenig über die Einzelheiten unserer kurzen Reise zum zweiten großen See aus. Und dann erklärte er mir ausführlich seine Karte, als bedürfe die Wahrheit meiner Zustimmung. Die Namen auf seiner Karte, die er mir vorlas, es waren Namen wie Changanyika und Nyanza, und er muß mein Erstaunen gesehen habe, als er mir erklärte, es gebe für ihn nichts Verrückteres, als fernen Orten im Inneren dieses Landes englische Namen einzubrennen. Auf der Karte konnte ich nicht nur diese zwei Seen erkennen, sondern auch Berge, und ich verstand nicht alles, was er mir erklärte, aber doch soviel, es seien Berge, die keiner von uns gesehen hatte, von denen er aber annahm, es gebe sie, weil seine Bücher davon sprachen, diese Berge, die er die Berge des Mondes nannte und die er so lange auf seiner Karte hin und her geschoben hat, bis sie der Behauptung von Bwana Speke im Wege standen, der zweite große See sei die Quelle.
— Ein Hintern kann nicht zugleich auf einem Pferd und auf einem Esel sitzen.
— Das ist wohl wahr, aber wenn zwei sich streiten, können beide recht haben.
— Baba Sidi, mein Kopf war schon immer ein Faulpelz, und jetzt bin ich zudem noch alt und dieser Abend auch, und ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst.
— Egal, es ist egal, Baba Burhan, es geht um zwei Wazungu, die große Berge hin und her schieben, so wie es ihnen gerade gelegen kam.
— Berge, die man nie gesehen hat, kann man leicht verschieben.
— Bwana Burton hat den einen oder anderen Fehler in Bwana Spekes Karten gefunden, er hat ihn auf diese Fehler hingewiesen, und daraufhin hat Bwana Speke seine Zeichnung verändert. Ich habe sie in seinem Zimmer gesehen, er hat den einen See verkleinert und den anderen See vergrößert und die Berge weiter nach Norden versetzt. Ich war verwirrt, weil ich nicht verstehen konnte, wieso die Wazungu, die sonst so gewissenhaft waren, so leichtfertig mit diesen Karten umgingen, für die sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Aber als ich mit dem Mganga über dieses seltsame Verhalten der Wazungu sprach, erzählte er mir die Geschichte von den Bergen, von den drei Brüdern, die auf Wunsch ihres Vaters, des Königs der Berge, auf Reisen gingen, und ich habe verstanden, was mir bis dahin verschlossen geblieben war, die Karten der Wazungu waren Märchenerzähler, und Bwana Speke und Bwana Burton wandelten ihre Märchen immer wieder etwas ab, wie es sich für gute Märchenerzähler gehört.
Das aufgeschlagene Notizbuch von Burton verzeichnet drei Monate und zehn Fieberanfälle, seitdem sie erneut von Kazeh aufgebrochen sind. An manchen Abenden ist er gelähmt, an anderen fast blind. Es ist nicht mehr möglich, das Lager trocken zu halten. Der Regen peitscht sie aus, seit Tagen schon. Als es zu regnen aufhört, wachsen der Zeit weiße Flügel, die sich in der Feuchtigkeit ausbreiten, bis die Zahl der Termiten jene der Sekunden übersteigt. Die Nächte werden immer kälter. Selbst seine Albträume leiden unter Schüttelfrost.
Speke liegt neben ihm und redet. Über die Qualen. Es erleichtert ihn, sie in Worte zu fassen und zwischen Husten und Stöhnen auszustoßen. Draußen plätschert Regen. Er war schon oft krank, aber dieser Zusammenbruch ist der bisher schlimmste. Es fing an mit einem Brennen, als würde ein glühendes Eisen auf seine rechte Brust gedrückt werden. Von dort aus breitete sich der Schmerz aus, erreichte das Herz mit scharfen Stichen, und die Milz, wo er verharrte, er griff den oberen Teil der Lunge an, er setzte sich in der Leber fest. Meine Leber! Meine Leber! Speke taucht wieder ab in einen Dämmerzustand.
Am nächsten Morgen erwacht er aus einem Albtraum, in dem er von einem Rudel Tiger und anderen Biestern, eingezäumt in ein Geschirr aus Eisenhacken, über den Boden geschleift wurde. Er richtet sich auf und hält sich die Seite. Ein allmächtiger Schmerz. Darf ich etwas ausprobieren? fragt Bombay, und auf Burtons Einverständnis hin hebt er den rechten Arm von Speke und weist diesen an, seinen linken Arm hinter den Kopf zu ziehen, damit der Druck der Lunge auf die Leber entlastet wird. Tatsächlich, der stechende Schmerz läßt nach. Burton blickt Bombay anerkennend an. Kaum scheint das Schlimmste überstanden zu sein, erleidet Speke einen Rückfall, eine Art epileptische Attacke. Und wieder zerren Ungeheuer Sehnen aus seinem Körper und kauen daran, als wären sie Rauchfleisch. Nach dem Anfall liegt er auf dem Feldbett, seine Glieder gepeinigt von Krämpfen, seine Gesichtsmuskeln angespannt, steif, die Augen gläsern. Er beginnt zu bellen, mit einer merkwürdigen, ungleichmäßigen Bewegung des Mundes und der Zunge. Er kann kaum atmen. Sein Verstand klart auf in der Überzeugung, er sei dem Tod nahe, und er bittet Burton um Papier und Stift, und mit zitternder Hand schreibt er einen wirren Abschiedsbrief an seine Mutter und seine Familie. Aber sein Herz kann nicht aufgeben. Die kleinen stechenden Eisen ziehen sich allmählich zurück. Stunden später murmelt er, Burton nimmt es im Halbschlaf wahr: Die Messer sind zurück in der Scheide.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Unser Leid kannte keine Grenzen, kaum verging der eine Schmerz, brach ein anderer aus, kaum war eine Last abgelegt, kam eine neue hinzu, und ich habe mich oft gefragt, wie halten wir es aus, wie halten es die Wazungu aus, die aus einem Land kamen, in dem alles anders war als bei uns, die Hitze, die Tiere und sogar die Krankheiten. Und erst spät auf der ersten Reise begriff ich, was ich von Anfang an hätte wissen sollen, die Wazungu fühlen sich ohne dieses Leiden nicht lebendig, erst knapp vor unserer Rückkehr wurde mir klar, sie sind von dem Leiden abhängig wie andere von Alkohol oder von Khat oder vom Ganja. So überraschte es mich nicht, die Wazungu wiederzusehen, keine zwei Monsune später, Hamid war noch nicht geboren. Bwana Speke war wieder in Sansibar, diesmal mit einem anderen Begleiter, auch das überraschte mich nicht, einem stillen Mann namens Bwana Grant, der ein langweiliger Ersatz war für Bwana Burton. Auch die anderen, Bwana Stanley und Bwana Cameron, sie kehrten immer wieder zurück, es zog sie zu ihren Leiden, alle, außer jenen, die nicht überlebten. Kaum war die Gesundheit wieder in ihre Körper eingekehrt, begannen sie die nächste Reise zu planen, und es war ihnen mitnichten daran gelegen, zu einer bequemeren oder einfacheren Reise aufzubrechen, oh nein, im Gegenteil, beim nächsten Mal suchten sie noch mehr Schmerzen auf, segelten sie noch näher am Tod, sie waren wie ein Fischer, der sich nicht damit zufriedengibt, das Riff überwunden zu haben, der es immer wieder versuchen muß, an Stellen, die nicht zu durchschiffen sind, Stellen, an denen das Boot am Riff zerschellen muß.
Bwana Burton, er war der Schlimmste, er wollte das Leiden nicht einmal unterbrechen, er wollte nicht abwarten, bis er in sein Land zurückgekehrt war, um erneut aufzubrechen. Wir hatten Zungomero erreicht, wir wußten, von hier aus ist es ein halber Monat bis zur Küste, wir sahen unsere Häuser und unsere Familien vor uns, zumindest jene, die Häuser und Familien hatten, sie waren nur noch einen letzten halben Monat Anstrengung entfernt, da sagte Bwana Burton, wir müßten noch den Weg nach Kilwa ausfindig machen. Welches Kilwa? fragte ich, denn ich traute mich als erster, ihm offen zu widersprechen. Die alte Stadt im Süden, antwortete er. Sprichst du, fragte ich ihn, oder spricht das Fieber aus dir? Wenn du kein Verlangen nach Rückkehr hast, dann bist du jedem anderen Menschen ein Rätsel, dann mußt du den Rest des Weges alleine beschreiten, denn wir alle haben nur noch ein Ziel. Ihr werdet tun, was ich euch befehle, rief er, mit einer Lautstärke, die bestimmen wollte, aber in einem Tonfall, der verzweifelt klang. Ich blickte um mich, blickte die Überlebenden an, und in diesem Augenblick waren wir uns alle einig, wir würden uns weigern, sofort, ohne weiteres Zwiegespräch, und so wandten sich die Träger ab, die Belutschen wandten sich ab, und auch Said bin Salim und Sidi Mubarak Bombay wandten sich ab von Bwana Burton, der alleine zurückblieb, ein Verrückter, der seinen Wahn keinem anderen Menschen mehr aufzwingen konnte.
Es hat aufgehört zu regnen, endlich; die Erde ist noch schwer von dem tagelangen Niederschlag. Er hört ein Trommeln — oder täuscht er sich? — , ein unbekanntes Trommeln, das noch bedrohlicher klingt als das Platzen der Tropfenpatronen. Ein Gezischel zudem, und noch bevor er aus dem Zelt stürzen kann, braust es heran, ein Geräusch, das ihn um so mehr beunruhigt, da er es nicht deuten kann. Draußen, in einer von unverständlichen Lauten erleuchteten Finsternis, wird ihm der Boden unter den Füßen weggezogen, augenblicklich, noch bevor er sich umsehen kann. Die Erde bewegt sich, in seinem Hörschatten fällt der Hang in sich zusammen. Burton stürzt, er liegt auf der Seite, mit wehen Rippen, das rechte Bein hochgestreckt, einverleibt von einem allgegenwärtigen Rutschen, er tritt aus, er sucht nach Halt, sein Bein ist eine nutzlose Pumpe, ein stumpfer Anker, und er rutscht weiter, in den Fängen einer ungeheuren Macht. Ein Gedanke drückt sich auf: Das Lager, das gesamte Lager wird weggeschwemmt. Wir werden im Schlamm begraben. Er schreit: Jack, schreit er, Jack. Etwas Schweres schlägt ihn nieder, der Schmerz sitzt auf Höhe seiner rechten Niere, er rollt, sein Gesicht wird in den Boden gedrückt, sein Schrei füllt sich mit Schlamm, der in seinem Mund brodelt, als würden Maden entschlüpfen. Er versucht sich mit den Armen abzustoßen, aber sie versinken in einem tiefen Teig, er wird nach unten gezogen, weiter, er wird untergehen, er wird lebendig begraben werden, verdammt, das ist ungerecht. Sein Kopf schlägt gegen einen Stein, er wird erneut umgeworfen, gewälzt, gemahlen, auf dem schlammigen Acker seines Gesichts spürt er auf einmal Luft, er atmet ein, durch die Nase dringt ein Hauch, morastschwer, er traut sich zu husten, und dann schreit er wieder: Jack, schreit er, einige Male, und dann schreit er: Bombay. In der Wirbelschleuder von Geräuschen hört er keinen einzigen menschlichen Laut, nicht einmal ein Grunzen. Wo sind die anderen? Das ist sein letzter Gedanke, bevor er ins Wasser fällt, als hätte der Hang ihn weggeschüttet, er fällt in eine andere Kälte, und er weiß nicht, wo oben ist und wo unten, aber umgeben von Wasser beruhigt er sich ein wenig. Auch das Wasser bewegt sich, es bewegt sich mit ähnlicher Entschlossenheit, aber mit weniger Hysterie. Er fühlt sich sicherer im Wasser, er streckt seine Glieder aus, seine schweren Glieder. Er hat keine Angst mehr. Ich kann nicht ertrinken, denkt er, als sei jede weitere Bedrohung nichtig, sobald die Gefahr, vom Schlamm lebendig begraben zu werden, vergangen ist. Gelegentlich sind sich die Fluten einig, ein Chor im Crescendo, er kann seinen Kopf ein wenig heben, und er kann um sich blicken, in eine tintige Vergeblichkeit hinein, doch manchmal zerren verschiedene Stimmen an ihm, saugen um die Beute, er ballt sich zusammen, er wartet darauf, gegen einen Felsen geschleudert zu werden. Oder an Land. Er bekommt etwas zu fassen, etwas Langes, Faseriges, er hält es fest, das Wasser schnellt an ihm vorüber. Die Wurzel — die Liane? — in seinen Händen fühlt sich an wie der ausgerenkte Arm eines Klammeraffen. Er hält sie eine lange Weile fest, nur fest, mit dem Rücken zum davoneilenden Wasser. Dann ruckt er an ihr, ein erstes, vorsichtiges Mal. Der Widerstand bekräftigt seine Versuche. Griff um Griff zieht er sich aus dem Wasser, bis er etwas Festeres unter seinen Füßen spürt, aber er traut sich nicht aufzutreten, die Wurzel loszulassen, aus Sorge zu versinken. Es scheint ihm, als würde es heller werden, um ein Iota nur. Er kann Büsche erkennen, verqueres Geäst, das Ufer, dem er sich entgegenzieht, er ist nur noch einen ausgestreckten Arm von diesem Ufer entfernt, da schnappt etwas und er wird zurückgestoßen, Wasser dringt in seinen Mund, in seine Nase. Mit der Linken klammert er sich an die Wurzel, und er schüttelt seinen Kopf, um sich vom Wasser zu befreien, und er bellt wie ein asthmatischer Hund, bis das Wasser ausgestoßen ist und seine Brust sich anfühlt wie geschmirgelt. Er glaubt wegzutreiben, bis er merkt, daß er zurückgehalten wird. Die Wurzel hat sich nicht losgelöst von dem entrissenen Ufer. Wieder zieht er sich an ihr heraus, und dieses Mal erfährt er keine Überraschung, er erkennt die Umrisse eines Baumstammes, den er gierig umarmt. Als er ihn losläßt, kann er nur noch zu Boden gleiten und mit tiefen Atemzügen die Auszeit verorten. Er liegt bewegungslos da, gedankenlos. Bis der Instinkt sich meldet: Du mußt etwas tun. Aufgerichtet sieht er ein Wunder. Die Wehrreihen der Wolken ziehen sich zurück, und ein Leuchten breitet sich aus über Fluß und Ufer, die vergessene Gegenwart eines fülligen Mondes. Er steht auf, er hält sich am Baumstamm fest und prüft den Boden auf seine Festigkeit. Er tritt so nahe an das Wasser, wie ein sicherer Stand es erlaubt. Er späht über die Fluten, er traut sich, das Ufer abzusuchen. Unweit seines Landeplatzes sieht er eine Sandbank. Und über ihr, zwischen zwei Bäumen verfangen, glänzt der Rücken eines Segeltuches. Er befreit es von den kleinen, gekrümmten Dornen des Geästs und rollt es auf. Der Mond hat inzwischen alle Barrikaden zur Seite gestoßen. Die Landschaft, die sich ihm offenbart, ist nur entfernt mit der Umgebung ihres nächtlichen Lagers verwandt. Der Fluß ist enger, die Vegetation entlang des Ufers dichter. Das Wasser strömt schnell, gleichmäßig. Die Hetze des Erdrutsches ist verflossen. Auf dem Wasser treibt ein Esel, den Hals aus dem Wasser gestreckt, wie ein verfluchter Schwan. Bald darauf wird eine Kiste vorbeigeschwemmt, dicht gefolgt von weiteren Gegenständen, von denen nur eine Ecke oder eine Kante aus dem Wasser ragt, so daß er nicht ausmachen kann, um was es sich handelt. Soll die Expedition so enden: daß er schlammverkrustet ansehen muß, wie die Fragmente einer beharrlich aufrechterhaltenen Ordnung an ihm vorbeigespült werden, einzeln, wie zum wohldosierten Hohn? Was monatelang zusammengestellt worden ist, in einem Rutsch auseinandergerissen und zu Treibgut verdammt? Was sich in irgendeiner Böschung verfangen wird, wenn der Fluß nach dem kurzen Ruhm der Regenzeit verendet und auf dem ausgetrockneten Flußbett die Gegenstände einzeln herumliegen, über Meilen verteilt. Nicht einmal zur Warnung taugten sie, denn wer sollte sie verstehen, derart verstreut? Er wird aufgeschreckt durch den Anblick einer Gestalt, die an einem dahintreibenden Ast hängt. Burton eilt zu dem Baumstamm, neben den er die lange Wurzel gelegt hat, er hebt sie auf und stürzt sich ins Wasser. Mit einigen Armschlägen erreicht er den Ast. Mit der Linken umfaßt er die Gestalt von hinten, legt seinen Arm um ihre Taille, mit der Rechten reißt er an der Wurzel, doch er hat nicht bedacht, daß er beide Hände brauchen wird, um sich ans Ufer zurückzuziehen. Er wickelt die Wurzel um sich und um die Gestalt, er verknotet das Ende zu einer Schlaufe, die sie beide festschnürt. Sie hängen an einem Seil. Langsam, im Rhythmus seiner schwindenden Energie, zieht er das Seil ein, bis sie den Baumstamm erreichen. Er hievt die Gestalt ans Ufer und legt sie auf das Segeltuch. Er streicht die verschmierten Haare zur Seite und blickt in das Gesicht des ohnmächtigen Speke. Am Leben. Fiebrig, halb ertrunken. Ein bleiches Antlitz, wo seine blonden Haare nicht wuchern. Burton kann nichts weiter tun, als das Segeltuch über ihn zu legen, seine Glieder zu massieren. Mit den Füßen von Speke in seinem Schoß fällt er wenig später in einen Halbschlaf, die letzte Forderung seiner völligen Erschöpfung.
Die Sonne platzt herein. Sie wird alles wieder in Ordnung bringen, die Sonne ist nicht nachtragend. Bedächtig breitet sie ihre warmen Tücher über die fiebrigen Spuren der Nacht, so zuversichtlich, als sei sie an ihrem eigenen Verschwinden unbeteiligt gewesen. Burton hockt am Rande des Wassers und blickt auf eine Fratze, die zurückstarrt wie der Geist eines Ertrunkenen. Die Haut hängt von den Knochen, die Augen dringen tollwütig aus ihren Höhlen, die Lippen ziehen sich von den Zähnen zurück, braun wie vergessene Tümpel. Speke murmelt etwas. Die Augen weit offen. Wie geht es dir, Jack? fragt Burton und knetet sanft Spekes rechte Schulter. Überall Tote, murmelt Speke, mach sie weggehen, die Toten. Was für Tote denn, Jack? Somalis, tote Somalis, sind nicht alle tot, einige sterben noch, ihre Arme erhoben, ihre Hände ausgestreckt, sie wollen ein letztes Mal etwas berühren, irgend etwas, ihre Arme fallen, wenn sie sterben, mach sie weggehen, mach sie bitte weggehen. Trink ein wenig, Jack. Keiner schreit, es ist unerträglich, keiner schreit, verfluchte Somalis, wie kann es so still sein beim Sterben. Ich werde dich aufrichten, Jack, ich werde das hier ausziehen, verstehst du, es ist naß, wir müssen es ausziehen. Alles ist zerstört, alle Zelte, zerstört, die Ausrüstung liegt herum, überall herum, kein Kamerad in Sicht, sie haben mich alle verlassen, sie sind davongerannt, aber ich kann nicht rennen, ich habe keine Beine, ich kann nur kriechen. So ist’s gut, das wird dir guttun, Jack, das wird dich wärmen. Ich werde sterben, die Somalis kommen, Somalis mit erhobenen Armen, ich werde sterben, ich sehe, wie das Blut aus mir fließt, ich sehe die Speere, ich sehe, wie sie in mich dringen, ich habe so viel Blut, wer hätte das gedacht, ich habe so viel Blut, ich habe es nicht gewußt, so unendlich viel Blut. Ich werde dich jetzt reiben, Jack, damit du warm wirst, hörst du, wir müssen dich warm kriegen. Umsonst, das Blut. Umsonst. Vorwürfe, vom anderen, nur Vorwürfe, nichts als Vorwürfe. Der andere, immer besser, ein Gott immer. So, das reicht, wir ziehen dir jetzt meine Jacke an, sie ist fast schon trocken. Ein Dieb ist er, der andere, ein Dieb. Gar nicht besser. Mein Tagebuch, mein Tagebuch, in Stücke geschnitten, Schlachtvieh, als Anhang, für sein Buch, für seinen Ruhm, mein Blut, all das Blut, für seinen Ruhm, der andere, meine Sammlung, weggegeben, er darf das, ein Gott ist er, meine Sammlung an ein Museum, ein Kannibale ist er, jawohl, ein Kannibale. Beruhige dich, Jack, beruhige dich, du bist unter Freunden, was phantasierst du da, wer ist dieser andere? Er heißt nicht Mensch. Er hat nur Schimpfnamen. Auf seinem Grab, verflucht, soll stehen: Dick. Nichts sonst, auf dem Grab, nur Dick.
Burton läßt Speke zu Boden sinken. Er ist benommen von dem Haß, den sein Kompagnon erbrochen hat. Mißverständnisse, gewiß, Meinungsverschiedenheiten, schwerwiegende sogar, aber so einen rohen Haß, den hat er nicht verdient, zumal er selber schwer verwundet wurde bei diesem Überfall, der Speer, der seine Wange durchstieß, hinterließ sichtbare Spuren, doch nicht so tiefsitzend wie die Verletzung von Speke, die Verletzung seines Stolzes. Die Sammlung, der Anhang, lächerliche Vorwürfe, er hat ihm einen Gefallen erweisen wollen, keiner hätte die Erbsenzählerei dieses unbekannten Offiziers abgedruckt, so wurde seine pedantische Arbeit wenigstens in Ausschnitten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und die Sammlung, sie war im Museum von Kalkutta viel besser aufgehoben als sonstwo. Kannibale, von wegen, er hatte für die Publikation draufzahlen müssen, er hat nichts daran verdient, in keiner Weise davon profitiert, was für ein bigotter Rechthaber, der da auf dem Boden liegt, und er pflegt ihn, er pflegt diesen Kleingeist auch noch gesund, dabei wäre die Menschheit ohne ihn besser dran.
Speke ist wieder eingeschlafen, und Burton beschließt, erneut das Ufer abzusuchen. Er hat überlebt, aber was ist das wert, wenn er seine Notizbücher nicht wiederfindet. Er hatte sie in einen Ölsack eingewickelt. Er findet viele Kleinigkeiten, nutzlos meist, abgesehen von der Proviantkiste mit den Keksen und den getrockneten Datteln. Und dann, auf der anderen Seite des Flusses, der nach seiner hysterischen Tobsucht verschämt unauffällig dahintreibt, sieht er einige Affen, beachtet sie zunächst nicht weiter, bis aus dem Augenwinkel etwas seinen Kopf zurückreißt: einer der Affen, er hält einen Ölsack in den Krallen, Burton weiß nicht, wie viele Ölsäcke die Expedition mit sich führt, aber er ist sich sicher, der Affe spielt mit seinem Ölsack, der alles enthält, wofür er jahrelang gearbeitet hat. Burton brüllt, er brüllt lauter als die Affen, sie bemerken ihn, und der Affe läßt den Sack fallen, als wolle er Burton verhöhnen, ein anderer Affe reißt ihn an sich, aus dem Geäst des Baumes, Burton brüllt in keiner Sprache, er brüllt Laute der Einschüchterung, die keine Wirkung zeitigen, der andere Affe versucht, in den Sack zu greifen, er hat die Öffnung gefunden, er hält eines der Notizbücher in der Hand, Burton hat sich nicht getäuscht, der Affe widmet sich dem Notizbuch, der Sack entgleitet ihm, Burton eilt ins Wasser, er geht unter und er schlägt um sich, und als er am anderen Ufer angelangt ist, liegt der Sack vor ihm, wie hingestellt zum Abholen, aber die Affen sind verschwunden, nur ihre Rufe hört er noch für eine kurze Weile, dann weichen sie zurück, und er weiß, es gibt nichts Vergeblicheres, als die Verfolgung aufzunehmen. Er öffnet den Sack, er zählt die Notizbücher. Eines fehlt, ein Verlust, der kaum zu ihm durchdringt, denn er hat etwas anderes bemerkt, die Feuchtigkeit, er hat geglaubt, der Ölsack sei wasserdicht, aber er spürt überall das Wasser, eingeweichte Kladden, und mit einem sinkenden Gefühl im Magen schlägt er eines der Notizbücher auf — die Schrift ist verschwommen. Nicht überall, ein lesbarer Kern ist erhalten. Wie die Fäulnis, die eine Frucht von außen befällt, ist die Nässe an den Rändern eingedrungen, sie hat den Sinn der oberen und unteren Zeilen verwischt, sie hat die letzten Buchstaben jeder Zeile zerbissen, etwa ein Drittel, und sein Eindruck bestätigt sich bei jedem Notizbuch, das er aufschlägt, ein Drittel seiner Beobachtungen, Nachforschungen, Beschreibungen und Reflexionen ausgelöscht. Einen Teil würde er aus der Erinnerung rekonstruieren können, aber auch in der Erinnerung, das wußte er, verschwimmt die Schrift.
SIDI MUBARAK BOMBAY
— Bwana Burton ist nach dieser Reise nie mehr nach Sansibar zurückgekehrt, sagst du, nur Bwana Speke. Widerspricht das nicht dem, was du uns über ihn erzählst hast?
— Nein, keineswegs, Baba Burhan, es ehrt mich, daß du mir zu später Stunde so viel Aufmerksamkeit schenkst, deswegen werde ich deine Frage gerne beantworten. Bwana Burton war abhängig, das begriff ich erst auf meiner zweiten Reise, er war wie all die anderen Wazungu abhängig von den hohen Herren seines Landes, er war nicht der reiche Mann, für den ich ihn am Anfang gehalten hatte, er war ein Diener so wie ich, er diente anderen Wazungu, die nicht die Kraft oder den Mut oder den Willen oder die Begierde hatten, die Reise selbst anzutreten, und die deswegen Geld zur Verfügung stellten, damit Männer wie Bwana Burton und Bwana Speke die Reise an ihrer Stelle unternahmen. Und da diese beiden Wazungu sich am Ende der ersten Reise spinnefeind waren, konnte nur Ruhe herrschen, wenn ein großes Wasser zwischen ihnen lag, und so war es klar, die hohen Herren würden einen von ihnen für die zweite Reise auswählen müssen, und obwohl Bwana Burton so viel wußte, begriff er manchmal die einfachsten Sachen nicht, auch der klügste Mensch ist manchmal dumm wie ein kleines Kind. Natürlich haben die hohen Herren im Lande der Wazungu Bwana Speke den Vorzug gegeben, denn er sah aus wie einer von ihnen, während Bwana Burton sich in seinem Aussehen von ihnen entfernte, mit seinem Bart, der schwarz wucherte, mit seiner Hautfarbe, die sich eindunkelte, bis er von einem Araber nicht zu unterscheiden war, mit den Gewändern, die er sich überzog, entfernte er sich von dem Aussehen, das sich die hohen Herren bestimmt wünschten, das saubere, schöne Aussehen von Bwana Speke, der schlanke Körper, die blauen Augen, die helle Mähne seiner Haare, nichts an ihm drohte, fremd zu werden. Ich habe selber erlebt, wie sehr die Seinigen ihn achteten, am Ende der zweiten Reise, als wir Kairo erreichten und in einem Hotel untergebracht waren, das Shepheards Hotel hieß, ja, meine Brüder, ich war in demselben Hotel untergebracht wie Bwana Speke, so sehr schätzte er mich.
— Fragt ihn mal, was für ein Zimmer er abbekam! Dann werdet ihr hören: Euer großer Held, Baba Sidi Mubarak Bombay, schlief in einer kleinen Kammer für Dienstboten, und sein Freund mit der hellen Haut und der blonden Mähne, der schlief in den Palastzimmern im obersten Stock.
— Laß gut sein, Mama, sonst kommen wir nie zum Ende.
— Glaubt ihr, er hätte mir zum Abschied seine Jacke geschenkt, wenn er mich nicht geschätzt hätte?
— Diese alte Jacke? Völlig abgerissen, es war wohl bequemer, sie zu verschenken als sie wegzuwerfen.
— Ich erhielt eine Silbermedaille von der Royal Geographical Society, ihr wißt nicht, wer das ist, das ist die Versammlung jener hohen Herren, die meine erste und meine zweite Reise in Auftrag geben hatten. Ich wurde auch photographiert, ich wurde öffentlich vorgestellt.
— Du traust dich, deine eigene Schande auszuplappern! Er wurde ausgestellt wie ein wildes Tier, das sie gefangen hatten, er mußte mit den anderen nachmachen, wie sie durch die Savanne laufen, und er mußte still stehenbleiben, er mußte stundenlang ausharren, während die Menschen von dort vorbeizogen und sich dieses Bild anschauten, ein totes Bild, von Lebenden geschaffen. Und das Schlimmste war, hört ihr, ihr Freunde dieses schamlosen Alten, das Schlimmste war, die Neugierigen haben Geld gezahlt für das Recht, meinen erstarrten Ehemann zu begaffen.
— Ach, wer hört schon auf dich, spare dir die Mühe. Ich weiß, wie es war, weil ich dort war, ich weiß, wie wir geehrt wurden, bei öffentlichen Konzerten und bei Feierlichkeiten, wir wurden vorgestellt als Helfer und Begleiter des großen Entdeckers, Bwana Speke, und wir wurden sogar zu einem Empfang im Palast des Vizekönigs eingeladen, und das war nicht in Kairo, das war nicht auf dem Land, sondern auf einer Insel, die Rhodos hieß, und so wichtig waren wir, wir wurden mit einem Schiff zu dieser Insel gebracht und einige Tage im Palast bewirtet, wir haben so gut und so viel gegessen wie nie zuvor in unserem Leben, und wir haben auch, ich muß es zugeben, viel zuviel getrunken, denn der Alkohol floß wie Wasser. Erst dann kehrten wir nach Sansibar zurück, mit dem Schiff, auf eine lange Fahrt, auf der wir auch noch andere Orte kennenlernten, Orte wie Suez, wie Aden, Inseln wie Mauritius und die Seychellen, wo wir Geldgeschenke erhielten, so weit war unser Ruhm schon vorausgeflogen …
— Bwana! Merkst du nicht, daß dir keiner mehr zuhört. Baba Ishmails Schnarchen, es ist so laut, es dringt bis zum Hafen. Alle anderen sind nach Hause gegangen, als letzter, gerade eben, hat sich Baba Burhan davongestohlen. Du teilst deine Geschichten nur noch mit den Ratten. Hör auf zu quasseln und komm ins Haus, ich will dir das Essen bereiten. Und vergiß nicht, Baba Ishmail zu wecken, rüttel ihn richtig wach, sonst kommt sein Sohn ihn wieder suchen und schimpft mit uns.
Speke hat es eilig. Er hat sich das Haar schneiden lassen, den Bart gestutzt. Vielleicht hat er es selbst getan. Er hastet auf ihn zu mit langen, kräftigen Schritten. Burton sieht einen Jäger vor sich, der ein Tier verwundet hat und nun der blutigen Spur hinterhereilt, um die Beute noch vor Einbruch der Dunkelheit zu stellen. Vielleicht ist das Bildnis ungerecht.
Er reicht ihm die Hand, und er sagt etwas Unverbindliches zum Abschied, so etwas wie: Ich komme bald nach. Es wird nicht lange dauern. Auf die Jovialität dieses Kerls kann er sich verlassen. Sie ist an der Wildnis nicht zerbrochen. Leider. Auf Wiedersehen, mein alter Knabe. Du kannst ganz beruhigt sein, daß ich die Royal Geographical Society nicht aufsuchen werde, bevor du nicht nachgekommen bist, dann gehen wir gemeinsam hin. Du wirst das nächste Schiff nehmen, und ich werde auf dich warten. Sei unbesorgt. Wenn dir jemand sagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, fange sofort an, dich zu sorgen — eine Weisheit seiner Mutter. Burton nickt und murmelt, er wünsche eine sichere Reise. Dann dreht er sich um und läßt John Hanning Speke am Hafen zurück. Er traut diesem Mann jetzt alles zu, er kann sich auf dessen Versprechen so sehr verlassen wie auf den genau berechneten Zeitpunkt der Apokalypse. Nein, das Zerwürfnis zwischen ihnen lag nicht an seiner mangelnden Menschenkenntnis. Wenn das Schicksal dich mit jemandem zusammenwirft, wenn du keine andere Wahl hast, was hätte selbst die beste Menschenkenntnis ausrichten können? Das Schicksal hatte sich gegen ihn verschworen, das war es, und dagegen war er machtlos gewesen.
SIDI MUBARAK BOMBAY
Die Frau, seine mit Messingdraht erworbene, mit Zuneigung gehaltene Frau, raspelt Kokosnuß in der Küche, sie weicht den Reis ein, sie legt die Fischstücke in den Topf, in dem das Curry chilirot köchelt. Sie hört seine Stimme, aus dem Nebenzimmer, er spricht weiter, es gibt keine Windstille bei Sidi Mubarak Bombay, wenn er einmal zu einer Geschichte ausgelaufen ist. Keine Flaute. Sie hört nicht wirklich zu, während sie das Wasser aus dem Reis preßt, sie achtet auf den zuckenden Schmerz in ihrer linken Seite, ein Schmerz, der sich unauffällig angekündigt hat, wie ein Gast, der anfangs bescheiden in der Ecke sitzt und sich mit Brosamen begnügt, doch mit den Monaten ist dieser Schmerz gieriger geworden, und nun vertilgt der Gast mehr, als sie bereit war zu geben, und keines der Kräuter, die der Arzt ihr gegeben hat, und die sie zerstampft hat, genau nach seinen Vorgaben, hat ihr Linderung verschafft. Auf diesen Schmerz achtet sie, während sie kocht und ihr Mann weitererzählt, sie ist aufgehoben in ihren Verrichtungen, als ein Wort fällt, vielleicht sind es mehrere Worte, die sie aufhorchen lassen, weil sie auf eine Geschichte deuten, die sie noch nicht kennt. Nach all den Jahren, die sie mit ihm teilt, kann dieser eitle, laute, um sich selbst gekrümmte Knorren immer noch mit neuen Geschichten aufwarten, er kann nachwürzen, wenn die Gewohnheit fad zu werden droht. Er kann sie immer noch überraschen, nach all diesen Jahren, er kann sie überraschen mit der Erinnerung an einen Mann, den er bei seiner allerletzten Reise getroffen habe, einer Reise, die er unmittelbar nach der Hochzeit von Hamid antrat, einer Reise, über die er selten spricht, seine vierte Reise, ein Fremder, der seinen Hals und seinen Kopf mit Gegenständen verziert habe, mit den erstaunlichsten Gegenständen.
Dieser seltsam verzierte Mann habe die weggeworfene Zukunft gesammelt, so spricht der Knorren dort draußen vor der Küche, und sie versteht nicht, was er damit meint, mit diesen Worten, die durch ihre Müdigkeit treiben, und trotzdem hält sie inne beim Kochen und tritt näher an den Durchgang, um kein Wort zu verpassen, so wie sie zuvor darauf geachtet hat, kein einziges Reiskorn zu verschwenden. Jedesmal, fährt der Knorren fort, wenn dieser seltsame Mann irgendein abgebrochenes Stück Metall, irgendeine alte Patronenhülse, irgendeine leere Flasche auf dem Wege fand, konnte er nicht an sich halten, er mußte sie auflesen, er mußte sie betrachten und er konnte sich nicht mehr von ihnen trennen, er konnte sie nicht wegwerfen, er mußte ein Loch durch jeden dieser aufgelesenen Gegenstände bohren und sie alle aufschnüren zu einer Halskette, die er stets trug, auf seiner Brust, diese seltsame Kette, an der ein halbes Dutzend Medizinflakons, der Schlüssel einer Sardinendose und einige Metallteile baumelten. Jetzt begreift sie: Der Fremde trug Abfall an seinem Körper, dieser verzierte Mann, den Abfall der Karawanen, die durch das Land gezogen waren, und Sidi Mubarak Bombay, ihr Ehemann, an dessen Merkwürdigkeiten sie sich niemals gewöhnen wird, nicht solange sie noch etwas empfinden kann, war an vier von diesen Karawanen beteiligt gewesen, er hat sie sogar geführt, wenn sie seinen Erzählungen glauben will, und deswegen ist er auf seine verquere Art beglückt über diesen Fremden, der die Häutungen seiner eigenen Reisen am Körper trug. Ein Lächeln fließt über ihr Gesicht, er ist wahrlich wie kein anderer, dieser kindliche Alte, der sie immer wieder aufs neue überrascht.
Als sie ihm mitteilt, das Essen sei bereit, antwortet er versöhnlich: Laß uns heute abend gemeinsam essen. Sie mischen das Curry mit dem Reis, im Schweigen ballen ihre Finger den Reis zu mundgerechten Portionen. Er ißt wenig, aber sie kann sehen, es schmeckt ihm. Als er sich zurücklehnt, richtet sie sich mühsam auf, bringt ihm eine Schale mit Wasser, in der er sich die Finger waschen kann. Dann läßt sie ihn allein, um in der Küche aufzuräumen, und um Wasser zu erhitzen, das sie in einen Eimer gießt und ins Schlafzimmer stellt, bevor sie ihm zuruft: Das Wasser für dein Bad, es steht bereit. Als sie ihn erblickt, ist er nur noch mit einem Kikoi bekleidet. Sie betrachtet seinen knorrigen Körper, sie sitzt auf dem Bett, ihre Füße nackt, und sie erinnert sich daran, wie seltsam es ihr als Mädchen vorgekommen war, mit einem Mann zusammenzusein, der kleiner war als sie. Sie hat damals sogar befürchtet, sein Glied könnte zu klein sein, um ihr Geschlecht auszufüllen. Einmal, nachdem sie ein wenig Zutrauen zu ihm gefaßt hatte, traute sie sich, ihn auf seine Körpergröße anzusprechen. Er lachte. Dafür bin ich stark und nicht so leicht umzuwerfen. Ich bin ruhelos, aber nicht zu entwurzeln. So war es denn auch. Lerne den Baum kennen, an den du dich lehnen willst, hatte ihr Vater ihr einmal geraten. Sie hat den Baum nicht auswählen können, doch das Gewicht, das sie an den Mann gelehnt hat, an den sie verkauft worden war, das hat er stets ausgehalten. Bwana, sagt sie zu ihm, langsam, um jedes Wort auszukosten, ich bin deine Ehefrau. Laß uns Liebe machen, Bwana, ich verspüre Lust. Worauf Sidi Mubarak Bombay seufzt, seinen Blick aufrichtet und bedächtig zu ihr ans Bett schreitet. Es bedarf einiger Anstrengung, dieser Tage, aber danach empfinden sie noch immer Glück.