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In der Erinnerung verschwimmt die Schrift

SIDI MUBARAK BOMBAY

Sansibar, die Insel, war dem eigenen Hafen zum Opfer gefallen. Das Riff öffnete sich wie ein Tor in einem Wall aus Korallen. Fremde hatten nur die Segel einzuziehen, ihre Flaggen zu hissen. Die Segel wurden geflickt und verschnürt, bis zum nächsten Auslaufen. Die Flaggen flatterten vorläufig, bis sie von anderen Flaggen vertrieben wurden. Die Standarte des Sultans wurde eingeholt, und Sidi Mubarak Bombay, der an seinem angestammten Platz am Kai saß, kicherte in sich hinein, als könne er es nicht fassen, wie vielen Dummheiten er in seinem Leben schon begegnet war. Alles geht unter, sagte eine Stimme zu seiner Linken. Nichts wird sich ändern, widersprach eine ältere Stimme zu seiner Rechten. Ein neues Banner wurde hochgezogen; flott, wie eine Absichtserklärung: Rot dankte ab, an seine Stelle traten pfeilspitze Sonnenstrahlen, die über einen blauen Himmel in alle Richtungen jagten, und daneben, wohl zu Ehren der großen, schweren Schiffe, die vor dem Hafen ankerten, ein schwarzes Kreuz, die Standarte jenes Herrschers, den die Weißhäutigen Kaiser nannten. Wahrlich, murmelte der alte Mann, kein Tag setzt sich dort hin, wo ein anderer schon gesessen hat. Er verabschiedete sich von den Männern, mit denen er sein Staunen geteilt hatte, und zog sich in die Altstadt zurück, deren enge Gassen die Einladung des Riffs zurücknahmen.

Wer in Sansibar landete, war noch lange nicht angekommen. Dafür bedurfte es Zeit, und an Zeit mangelte es den Weißhäutigen. Ihre Neugier verflog, bevor ihnen der Appetit verging. Dem Wind und den Wellen waren sie eher gewachsen als dem Labyrinth der Fassaden. Der alte Mann krauchte entlang verkrusteter Korallensteinbauten, bedrängt von Gestalten, die den späten Nachmittag durcheilten. Er machte einen Bogen um den geschäftigen Salzmarkt, nahm eine Abkürzung durch den Fleischmarkt, der von allem verlassen war außer dem Gestank. Die Gassen waren nun weniger voll, die Gestalten, die ihm entgegenkamen, grüßten im Vorbeigehen. Er erreichte die Moschee seines Viertels. Die vielstimmige Rezitation einer Sure drang aus der benachbarten Medresa. Der alte Mann blieb stehen und stützte sich mit seinen Händen an die Hauswand. Der Stein war runzelig, kühl; beruhigend wie ein vertrautes Gesicht. Er schloß die Augen. Die Rezitation der Ikhlas-Sure, ein schönes Plätschern, ein leeres Versprechen: Es gab nichts Ewiges, selbst wenn es mit Kinderstimmen beschworen wurde. Die Wahrheit, über Nacht verflogen, mußte jeden Morgen neu gesucht werden. Jemand trat neben ihn. Es wäre an der Zeit, daß du die Moschee von innen erblickst. Die Stimme des Imams war belegt. Der alte Mann öffnete seine Augen nicht. Das würde den Imam, der auf die Wirkung seiner hell leuchtenden Augen vertraute, verunsichern. Hast du nie Angst, Baba Sidi? Der Tod wird dich bald abholen. Der alte Mann rieb seine Handflächen über die rauhe Wand. Ich bin verwirrt, sagte er nach einer Weile, langsam, als würde jedes seiner Worte zaghaft auftreten. Ich weiß nicht, ob ich mich in eine Leiche verwandeln werde oder in einen Geist. Deine Gedanken sind blind, Baba Sidi, sie führen dich in den Abgrund. Der alte Mann öffnete die Augen. Ich kenne die Moschee von innen. Wie das? Ich habe in ihr gebetet, da warst du noch in Oman. Aber ich mußte auf eine Reise gehen, drei Jahre lang war ich unterwegs, zu Fuß habe ich die halbe Welt durchquert … Ich weiß, jeder weiß von deinen Geschichten, Baba Sidi. Nein, du kennst die Geschichte nicht, nicht wirklich, und ich werde sie dir nicht erzählen. Wovor hast du Angst, Baba Sidi? Vor der Sprache der Einfaltspinsel, in die du und deinesgleichen jede Erfahrung übersetzen. Was ich alles gesehen habe, das findet keinen Platz in den kleinen, kahlen Räumen, die du einrichtest.

Der alte Mann drehte sich um und ging die Gasse hinab, die zu seinem Haus führte. Die Ungläubigen haben dir den Kopf verdreht, rief ihm der Imam hinterher, das wissen alle! Du hast zu lange mit ihnen verkehrt, zu eng, du warst ihnen ausgeliefert, das ist dir schlecht bekommen. Deine linke Schulter wiegt schwerer als deine rechte. Der alte Mann schritt außer Hörweite. Zu allen anderen Unklarheiten gesellte sich nun diese: Wieso lauerte ihm der Imam immerzu auf, als sei er die einzige offene Rechnung in seiner Gemeinde. Er grübelte und geizte derweil mit Grüßen, bis er vor einer gewölbten Tür stehenblieb, deren linker Flügel offenstand. Auf dem Holz schwammen Fische zwischen Wellen, geschnitzt von einer beherrschten Hand, ruhig wie die Flaute. Dattelpalmen zierten den Rahmen, und in Augenhöhe seines jüngsten Enkels blühte eine Lotosblume. Mit jeder Frage des Kleinen erkundete er die Tür von neuem. Von dem Bogen hingen einige Papierfetzen herab, die seine Frau jeden Morgen mit Gebeten eng beschrieb, als würde sie der unveränderten Kalligraphie auf dem Holz nicht zutrauen, die Dschinns fernzuhalten. Der alte Mann rief seinen Wunsch durch den Innenhof, in dem sich alles sammelte, was für den ersten Stock nicht rein genug war, und setzte sich auf die steinerne Bank an der Außenwand. Es war noch früh, die Freunde würden sich später einfinden, aber er verspürte kein Bedürfnis, sich wie gewohnt hinzulegen und ein wenig zu dösen vor den Anstrengungen des Abends. Bald würde ihm Salim etwas Kokosmilch bringen. Er würde seinen jüngsten Enkel zu sich ziehen, sich eine Weile an seiner Frechheit erfreuen. Dann würde er sich auf der Bank ausstrecken und seinen Kopf auf die steinerne Lehne legen.

Der Tag verlangte nach einem weiteren Gebet. Der alte Mann auf der Baraza vor seinem Haus richtete ein Auge auf das Rinnsal der Ereignisse, das an ihm vorbeisickerte. Gedanken trieben durch seine Schläfrigkeit, die Wachablösung der Flaggen, das Einziehen der blutroten Fahne des Sultans, der er einst ins Ungewisse gefolgt war, angesteckt von dem eitlen Selbstbewußtsein jener beiden Fremden — hellhaarig und rothäutig der eine, dunkel wie ein Araber und vernarbt wie ein Krieger der andere —, die blind darauf vertrauten, daß ihre Herrlichkeit und die Flagge des Sultans bei den Herrschern im Inneren des Landes die erhoffte Wirkung zeitigen würden. Und zu seiner nachträglichen Verwunderung hatte sich dieses Vertrauen bewährt. Er hatte überlebt, diese und drei weitere Reisen. Er hatte überlebt.

Und dann, viel später, kurz nachdem er zum ersten Mal Großvater geworden war, tauchte wieder ein Mzungu auf, hellhäutiger als die anderen — der Ruhm des alten Mannes mußte ihm den Weg gewiesen haben. Ein gehetzter Mann, linkisch wie Bwana Speke, ehrgeizig wie Bwana Stanley. Er forderte Sidi Mubarak Bombay auf, ihn ins Landesinnere zu führen. Sie hatten im Innenhof gesessen — die Wazungu empfanden es als unhöflich, wenn man sie auf der Straße empfing, bat man sie aber in den Innenhof, spiegelte sich auf ihrem Gesicht die Abscheu vor den umherschweifenden Hunden und Hühnern und dem in einer Ecke dösenden Sklaven, dem Speichel aus dem aufgefallenen Mund rann — und seine Gedanken hatten mit der Idee einer weiteren, einer fünften Reise gespielt, als er die Stimme hörte, die vom ersten Stock herabfiel wie ein Knüppel. Wenn du mich noch einmal verläßt … der Mzungu verstand die Sprache nicht, gewiß aber den Tonfall … werde ich den letzten Rest Freude aus deinem Leben kratzen! Eine Angst, klebrig wie eine überreife Mango, hatte sich auf einmal seiner bemächtigt. Nicht wegen dieser Drohung seiner Frau. Zum ersten Mal verspürte er die Angst, nicht heimzukehren. Der Mzungu verlangte nach Auskünften, die nach Blut rochen, nach Verhängnis schmeckten — alles an ihm war maßlos. Er schien zu glauben, die Welt wäre so, wie er sie sich in seinem Kopf ausmalte. Und wenn die Welt ihn enttäuschen sollte, würde er die Welt verändern? Sei unbesorgt, hatte er seiner Frau zugerufen. Du wirst mich nicht los! Einen Augenblick lang hatte er überlegt, ob er diesen Besessenen mit falschen Angaben in die Irre führen sollte, doch er gab den Gedanken gleich wieder auf, es hätte nichts gefruchtet. Seinerzeit hatte er seine Spielchen mit den Wazungu getrieben, und trotzdem waren sie stets an ihr Ziel gelangt. Halb blind manchmal, oder halb verrückt, gelähmt und gepeinigt, aber stets im vollen Bewußtsein ihres Erfolges. Und an diesem Tag hatten sie sogar ihre Fahne über Sansibar gehißt. Es hatte den alten Mann nicht überrascht, nahe dem zentralen Mast, inmitten all der hochrangigen Wazungu, den maßlosen Bwana Peters zu entdecken, der ihn damals zu Hause aufgesucht hatte, steif und vor Stolz erglüht in seiner prächtigen Uniform. Die Welt sah jetzt tatsächlich so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte.

— Was schüttelst du den Kopf?

— Ich schüttele den Kopf über einen gewissen Herrn, der mich immerzu mit dummen Fragen belästigen muß.

— Andere Fragen würdest du nicht verstehen.

— Woher weißt du das? Du hast es nie ausprobiert.

— Assalaamu Alaikum.

— Waleikum is-salaam.

— Ist die Welt in Ordnung?

— Sie ist es und ist es doch nicht.

— Der Familie geht es gut?

— Das Haus ist voller Gesundheit.

— Wie voll Gold?

— Wie voll Gold, voll Korallen, voll Perlen.

— Und voll Glück?

— Hem!

— Marhaba.

— Marhaba.

— Es gelüstet mich nach einem starken Kaffee.

— Sei willkommen.

— Sollte er mir schmecken, werde ich dir anvertrauen, was ich über den Schatzmeister des Sultans erfahren habe.

— Mit der Fahne des Sultans wird man bald Staub wischen.

— Deswegen hat der Schatzmeister seine Dienste den Wazungu angeboten.

— Bei denen kann man mit Herkunft allein keinen Eindruck schinden. Bei denen zählt nur, was du zu leisten vermagst.

— Die brauchen auch ihre Blutsauger, und wer wäre besser dazu geeignet als der altbewährte Schatzmeister. Wer den Gestrigen gut gedient hat, der wird den Künftigen noch besser dienen.

— Recht hast du, ich gebe es sofort zu. Jetzt nimm endlich Platz, sonst denken die Leute, wir hätten uns verkracht, und als nächstes fangen sie an, deinem Geschwätz Glauben zu schenken.

— Deine Güte zeichnet dich aus.

— Eine alte Gewohnheit, von der ich mich schlecht befreien kann. Ich habe gerade nachgedacht, sag jetzt nichts, unterbrich mich nicht gleich, ich habe über das Selbstvertrauen der Wazungu nachgedacht, wie schlecht habe ich sie am Anfang gekannt, wie wenig habe ich sie verstanden, und heute, heute haben sie uns ihre Fahne gezeigt, an dem höchsten Mast der Insel. Überhaupt, bei der ersten Reise war alles wie eine Offenbarung … ach, Salim, komm zu mir, komm, mein Kleiner, setz dich zu uns … eine Offenbarung, die nicht völlig unerwartet kam, denn das war es, was mich mitgehen ließ, diese Zuversicht, die mir der eine, der dunklere Mzungu von Anfang an gab, diese Zuversicht, an seiner Seite überall hingelangen zu können. Erst später stellte ich fest, sie brauchten uns, um dort hinzugelangen. Aber sie waren voller Zuversicht. Verstehst du das?

— Kanntest du Großmutter schon?

— Nein, Salim, ich kannte deine Großmutter noch nicht, aber eines kannst du mir glauben: Ich bin nicht losgezogen, um sie kennenzulernen. Es war vielmehr so, als hätten mich die Ahnen gerufen, zurück in das Land, aus dem ich stamme und in das ich nie zurückgekehrt war. Etwa so alt, wie du jetzt bist, mein Morgenschein, so alt war ich, als sie mich jagten, als sie mich einfingen, als sie mich verschleppten, Araber mit schweren Gewändern und lauten Gewehren, von denen wir schon gehört hatten, oh ja, vor denen wir gewarnt worden waren, aber glaubst du an den Dschinn, dem du noch nie begegnet bist? Hast du schon einmal einen Dschinn gesehen? Was wirst du tun, wenn er dich überfällt, mein Sonnenlicht? Du weißt es nicht! Sie fielen über uns her, schneller als der Tod, sie waren überall, sie schossen mit ihren lauten Gewehren, und sie brüllten Befehle, die sich einbrannten in meine Ohren, wunde Befehle, vermischt mit den Schreien unserer Mütter und Großmütter und Schwestern, die sich einbrannten in meine Ohren, und heute noch, wenn ich einen Schrei höre, ähnlich den Schreien damals, einen Kesselflicker, der seinen Diener beschimpft, einen Perlensucher, der müde und schlechtgelaunt nach Hause kommt, dann höre ich alles wieder, jeden der Schreie, und sehe alles wieder, ich sehe unsere Sohlen zum See fliegen, oh ja, ich sehe die Sohlen meiner Angst. Wer weiß, warum wir am See Rettung suchten, anstatt uns im Wald zu verstecken, wie es andere taten, so vermute ich, denn nachher, als wir aneinandergereiht waren, die Hände an einen Balken gekettet, fehlten einige meiner Brüder, sie waren nicht unter uns, und das war die einzige Freude, die ich noch empfand. Ich war so jung wie du, alt genug, um bald vom Messer gegessen zu werden, ein Vogel noch, der sich hier niederlassen konnte und dort, ein Vogel, der zu keiner Medresa mußte, der in keinem Innenhof ausharren mußte, der durch Wald und Grasland hüpfen konnte, der in den See sprang, wenn jemand auf die Krokodile achtgab und auf das Wasser klatschte, wenn sie sich näherten. Dann kam der Tag, der die Maske eines Unbekannten trug, der Tag, an dem mir Flügel und Beine gebrochen wurden, bis ich nicht mehr wußte, ob ich mehr war als nur ein Stück Fleisch, das über die aufgeheizte Erde geschleppt wurde. Die unbekannten Masken sprachen mit der Zunge der Peitschen. Mein Liebling, du kennst nicht die Zunge der Peitschen, nicht einmal den Knüppel kennst du, dein Vater vergißt in deiner Gegenwart jeglichen Zorn, du weißt nicht, wie sie dich beleidigt, bevor sie dir weh tut, wie sie dich bestraft, bevor sie dir droht, wie sie dir durch die Sinne schneidet, dich in die Knie zwingt, dich weitertaumeln läßt, sie ist eine Zunge, die man herausschneiden will, aber unsere Hände waren gefesselt, und wenn wir einmal nachts rasteten, denn wir mußten durch manche Nacht hindurch laufen, wurden auch unsere Füße gefesselt, und wenn du dir heute, drei Menschenleben weiter, das Handgelenk deines Großvaters anschaust, hier, siehst du die Narben aus jenen Tagen, an denen mein erstes Leben starb, mein Kinderleben, das Leben mit meinen Ahnen und meinen Nächsten. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der mein Dorf kannte, der seine Gebete an dieselben Ahnen richtete wie ich, und es dauerte viele Regenzeiten, bevor ich wieder jemanden traf, der meine Sprache kannte.

Von diesem Tag an war ich allein. Nachts war es am schlimmsten, nachts schlichen die Hyänen um uns herum, und wir hörten sie, auch die Araber hörten sie, sie warfen Steine in die Dunkelheit, die mal holperten und mal japsten, dann legten die Araber sich schlafen, um das sichere Feuer herum, und wir schrien, unsere Schreie waren unsere einzige Waffe gegen die Hyänen, die herumschnüffelten, eine stumpfe Waffe, die nur unsere Angst wachsen ließ, während die Hyänen näher schlichen, du glaubst nicht, mein Freund, wie der Mensch schreien kann, bevor seine Stimme abgebissen wird und du etwas hörst, das du nie zuvor gehört hast, das du nie hören solltest. Wir konnten dem nächsten Morgen nicht ins zerfetzte Gesicht sehen, unsere Brüder waren keine Menschen mehr, Fetzen Fleisch von ihrem Körper abgerissen, Aas, und ihre Geister gingen auf dem Kopf oder fuhren wie Blitze in Bäume hinein, verkrüppelten sie und jeden, der an ihnen vorbeikam. Als wir die Küste erreichten, waren wir alle tot, geistertot, totlebendig, Tote auf lebenden Beinen, Tote mit Augen wie zermatschte Früchte. Ich roch nicht das Meer, ich roch nicht die faulenden Algen, ich hörte nicht das Tosen der Wellen, ich schmeckte nicht die salzige Luft … Hier in dieser Stadt, auf dem Platz, auf dem die Wazungu heute ihr Gebetshaus bauen, wurde ich ausgestellt, und es dauerte drei gnadenlose Sonnen, bis mich jemand kaufte, ein Banyan für ein paar Münzen. Er nahm mich in sein Haus, wo andere wie ich, mit denen ich kein Wort wechseln konnte, mir etwas zu essen gaben und mir zeigten, wo ich mich waschen konnte.

Der Mann, der mein zweites Leben in Besitz nahm, war ein vornehmer Mann, mein Junge, dem seine eigenen alten Gesetze nicht erlaubten, mit Tieren zu handeln, wie sie ihm so manches untersagten. Er lebte inmitten so vieler unsichtbarer Gesetze, die ihn schützen sollten wie das Drahtseil, das wir über unserem Tor gespannt haben, um unser Haus vor Dieben zu bewahren, aber seine Gesetze schützten ihn, indem sie ihn einsperrten, seine Gesetze schwiegen wie ertappte Betrüger, wenn er einen Menschen kaufte, als würde er Fleisch kaufen, Gesetze, die ihm verbaten, mit Kaurimuscheln zu handeln, weil er den Tod einer Molluske verursachen könnte, und daran hielt er sich, aber er handelte mit den Hörnern des Rhinos und mit der Haut des Hippos, und er handelte mit Elfenbein, und damit verstieß er gegen seine Gesetze, doch wenn er Menschen kaufte, war er im Recht, denn darüber schwiegen seine Gesetze. Dieser Banyan verkaufte mich nicht weiter, er ließ mich nicht auf irgendeiner Plantage schuften, er behielt mich in seinem Haushalt. Er gab mir Arbeit, die mich wieder erstarken ließ, und eines Tages nahm er mich mit in die Stadt seiner Herkunft, jenseits des Meeres, viele Tage feuchten Essens und modriger Träume entfernt, und wenn du den Namen dieser Stadt wissen willst, mein Glücksbringer, mußt du nur den Namen deines Großvaters aussprechen. Nein, den anderen … den letzten! Bombay, genau. Den Ahnen sei Dank für diesen Segen, für diesen milden Mann mit seinen seltsamen Gesetzen, denn sonst säße ich heute nicht hier, auf dieser Baraza. Wir segelten auf einer großen Dau, nicht eine von diesen kläglichen Mtepe, wie du sie kennst, keines von diesen Booten, die nach Changanyika segeln, nein, ein großes mächtiges stolzes Schiff, das auf den Wellen ritt …

— So als gehörten ihm alle Pferde dieser Welt.

— Assalaamu-aleikum, Baba Ilias. Wir haben schon auf dich gewartet.

— Soso, Baba Ilias, du hast dir nun Wasserpferde ausgedacht.

— Schiffe reiten nicht auf Pferden, und Pferde galoppieren nicht über das Meer, aber es läßt sich sagen, ich sage es, und andere wissen es zu schätzen, nur nicht Baba Ishmail, dessen Ohren mit Eisen beschlagen sind. Anstatt einer Zunge bräuchte man Nägel, um zu ihm durchzudringen.

— Du weißt zu reden, Baba Ilias, es grenzt an Verschwendung, daß du nicht die Khutbah hältst.

— Gott schütze mich vor solchen Versuchungen.

— Er kann uns manchmal mit seinen Worten verführen, der Baba Ilias, aber die Worte selbst fügen sich seinem Willen nicht.

— Vielleicht fügt sich Mama Mubarak unserem Willen und bringt mir den versprochenen Kaffee?

— Vielleicht, vielleicht.

— Warst du nicht traurig, Großvater, als du deinen Namen verloren hast?

— Traurig? Wieso sollte unser Baba Sidi traurig gewesen sein? Er hat sich einfach selbst einen neuen Namen gegeben.


Burton steht knöcheltief im Wasser und wartet auf den nächsten Aufbruch, wartet seit seiner Ankunft in Sansibar vor mehr als sechs Monaten. Sie müssen endlich aufbrechen, ins Landesinnere, zum ehrgeizigsten Vorhaben seines Lebens. Die höchste Anerkennung lockt. Belohnt mit einem Adelstitel, einer Lebensrente. Das Rätsel der Nilquellen zu lösen, das seit mehr als zweitausend Jahren alle Erstaunten beschäftigt. Und damit einen ganzen Kontinent zu öffnen. Er hat keine Angst vor seinem Ehrgeiz. Es darf kein anderes Ziel geben, als den weißen Flecken auf den Karten einen Sinn einzuschreiben. Dieses verfluchte Warten, es würde bald vorbei sein, bald würde all das müßige Verhandeln ein Ende finden. Mit einem Schlag wären dann die Fußfesseln der Gewohnheit, die Lasten der Routine, die Sklaverei des festen Heims abgeworfen.

Es ist kaum möglich, eine Expedition besser vorzubereiten. Sie haben alles getan — nein, er hat alles getan, was in seiner Macht stand. Sein Kompagnon, John Hanning Speke, hat sich bislang vornehm der Mitarbeit enthalten. Wegen mangelnder Kenntnisse, angeblich. Ein aristokratischer Kopf. Einfach wird es mit ihm nicht werden. Die Erfahrung in Somalia, als sie nachts überfallen wurden und geradeso mit dem Leben davonkamen, war eine erste Warnung gewesen. Speke hatte allen anderen Vorwürfe gemacht, nur sich selber nicht. Er ist ein harter Bursche, ein exzellenter Schütze, und unter dem Strich scheint er Burton — als Reisenden mit größerer Erfahrung, als Anführer der Expedition — zu respektieren. Er wird seine Autorität nicht in Frage stellen. Zudem, er ist gutsituiert, er bürgt für einen bedeutenden Teil der Finanzen aus eigener Tasche. Sie sind knapp bei Kasse — was für eine lächerliche Situation: das Ausschraffieren der weißen Flecken droht am Kleingeld zu scheitern. Das hat man davon, wenn man die Eroberung der Welt den Krämern überläßt. Sie werden stets am falschen Ort sparen.

Er spaziert den Strand entlang. Die Sonne geht im Wasser unter. Der Strand sieht aus wie feingemahlenes Meersalz, golden getränkt. Er taucht seine Hände in eine lange Welle und befeuchtet sein Gesicht. Dann streicht er mit den Fingern über sein Haar, bis zum Hinterkopf. Er steht knöcheltief im Indischen Ozean, und sein Blick reicht hinaus über die Kränze der Gischt, über den verworfenen bläulichen Rücken, der in die Unfaßbarkeit eines Versprechens verschwimmt, über die Krümmung der Erde hinaus, zu den Häfen von Bombay und Karachi, zu den Buchten von Khambhat und Suez, zum Arabischen Meer. Burton hat so viel erfahren, so viel geschrieben, den Zuständigen übergeben, der Öffentlichkeit. Und ist er je belohnt worden? Diejenigen, die Urteil fällen über den Wert eines Untertans, schweigen sich aus über ihn und seine Leistungen.

Der Strand ist von der Sonne verlassen; ein sich ausdehnendes Grau. Er ist nicht mehr alleine, er nähert sich einem Rudel Hunde, deren Pfoten vom Meerwasser umspült werden. Ihre Schnauzen sind blutverschmiert, und bevor er sich über den Grund Gedanken machen kann, sieht er die verwesende Leiche, auf die sie sich gestürzt haben, dankbar für das Geschenk, ihre Augen voller Argwohn, ob ihre Beute, hell wie ein Thunfisch, vor diesem Eindringling sicher sei. Verdorbene Ware werfen Sklavenhändler über Bord, denkt er. Das Sterben und Beerben überlassen sie dem Meer. Wer auf einem Boot ans Land gebracht wird, ist geldgesund. Der einkalkulierte Verlust wird mit Verspätung angeschwemmt. Burton wendet sich ab — es ist höchste Zeit, sich von Sansibar zu verabschieden.

Auf der Terrasse des Hotels Afrika sitzt, wie erwartet, John Hanning Speke, für seine Freunde Jack. Mit einem Sundowner in der Hand betrachtet er genüßlich das Städtchen. Wahrscheinlich amüsiert er die Saufrunde von Landsleuten, Kaufmänner zumeist, Vertreter von Reedereien, mit Jagdgeschichten aus dem Himalaja. Erstaunlich, was er in Tibet alles erlebt hat, wenn man bedenkt, wie gerne er sich auf dieser Terrasse aufhält. Von hier aus wirken die Köter am Strand wie herumtollende Kinder. Wenn er ihm dies vor Augen halten würde, Speke würde ernsthaft erwidern: Sansibar ist zu klein, zu arm an wilden Tieren, was soll ich mich da in der Hitze plagen. Burton hat den ovalen Tisch an der Brüstung fast erreicht, die Kellner stehen starr im Hintergrund — kostümiert wie nach einer flüchtigen Lektüre von Tausendundeiner Nacht —, als Speke seinen Kopf wendet und ihn bemerkt. Sofort unterbricht er seinen Redefluß und ruft einen viel zu lauten Gruß aus, so als wolle er alle am Tisch Versammelten auf den unerwarteten Besucher aufmerksam machen.

— Du bringst uns gute Nachrichten?

— Wir haben gehört, die Expedition steht.

— Da haben wir ja das Problem. Es soll endlich losgehen.

— Na, dann viel Glück.

— Wenn Sie nach Sansibar zurückkehren, werde ich ein Fest veranstalten, Herrschaften, so etwas haben Sie noch nicht erlebt.

— Bei seinem Geiz muß man vermuten, er setzt nicht auf Ihre Rückkehr.

— Ich kann das Mißtrauen der Araber geradezu riechen.

— Wir stehen unter dem persönlichen Schutz des Sultans.

— Das stimmt nur bedingt, Jack. Im Orient ist ein Ehrenwort, feierlich gegeben, eine reine Absichtserklärung, eine Garantie möglichen Verhaltens.

— Wie wahr, wie überaus wahr! Ich würde mich an Ihrer Stelle, Gentlemen, keine Minute auf diese Belutschen verlassen, die der Sultan Ihnen mitgibt. Selbst wenn es gute Männer sein sollten, was ich sehr bezweifele, ich weiß nicht, in welchem Rausch der Sultan auf die Idee kam, ihnen Musketen in die Hände zu drücken, ein jeder von denen arbeitet auf eigene Rechnung.

— Einer meiner Gewährsmänner berichtet übrigens, daß am Hofe eifrig gegen Sie intrigiert wird. Einige seiner engsten Berater haben dem Sultan eingeredet, Ihre Expedition sei für das britische Empire ein Vorwand, in Ostafrika Fuß zu fassen. Langfristig. Am Ende stünde seine Entmachtung.

— Sie fürchten um ihr Handelsmonopol.

— Vor allem fürchten sie um ihren einträglichen Sklavenhandel. Sie verfolgen die Nachrichten aus Europa, sie wissen besser Bescheid, als wir meinen.

— Sollen sich fürchten. Ich bin ein großer Fürsprecher der Furcht.

— Richard, wir haben viel gehört von Ihren erstaunlichen Leistungen. Wir sind voller Bewunderung, das können Sie mir glauben. Aber seien Sie trotzdem auf der Hut. Bislang sind Sie alles in allem durch zivilisierte Gebiete gereist. Da gab es Leute, die schreiben konnten, und Bauten, die älter waren als die letzte Regenzeit. Jetzt steht Ihnen eine Reise in die völlige Wildnis bevor, vielleicht sogar zu Kannibalen.

— Völlige Wildnis, gibt es so etwas überhaupt?

— Sie waren noch nicht in diesem Teil der Welt. Lassen Sie sich von Sansibar nicht täuschen. Hinter der Öde des Festlandes wartet keine geheimnisvolle Stadt auf Sie, kein Mekka, kein Harar oder wie sie sonst noch heißen mögen. Einzig ein wildes Land, das noch nie von Menschenhand gezähmt worden ist.


SIDI MUBARAK BOMBAY

— Heißen alle Menschen, die von diesem Ort dort drüben kommen, Bombay, Großvater?

— Nein, manche von uns nannten sich nach den Orten, aus denen sie stammten, an die sie sich erinnerten, sie nannten sich Kunduchi, sie nannten sich Malindi, sie nannten sich Bagamoyo. Ich aber beschloß, mir den Namen der Stadt anzueignen, in der mein drittes Leben begann: Bombay. Zuvor hatten mich manche Mubarak Miqava genannt, weil ich von den Menschen der Yao abstamme, was ich selber nicht wußte, ich war ein Mensch der Yao, ohne es zu wissen. In meiner Kindheit habe ich nie etwas von Yao gehört. Großvater sagte nie: Wir sind Menschen der Yao, Vater sagte nie: Wir sind Menschen der Yao. Erst als ich Sklave wurde, erfuhr ich, ich sei ein Yao, nur war es mir von keinem Nutzen mehr. Yao, es klang schön, aber ich wollte nicht ein Leben lang an das Land erinnert werden, das für mich untergegangen war, ich wollte nicht mit jedem Ruf daran erinnert werden, schon einmal gestorben zu sein. Der Weg, der mich erwartete, war wichtiger als jener, der hinter mir lag, wenn ihr mich verstehen könnt.

— Natürlich verstehen wir dich, es ist wie mit der Richtung des Gebets.

— Wenn die Sonne aufgeht, denkt keiner an ihren Untergang.

— Baba Ilias, deine Sprüche sitzen so schlecht wie die Gewänder von Baba Ishmail.

— Die anderen Sklaven blieben in Bombay, sie nahmen sich Frauen von dort, sie waren zufrieden mit ihrem Leben als Sidis.

— Als Sidis? Ich wußte nicht, daß du aus deinem Namen ein ganzes Volk gezaubert hast.

— Sidis heißen dort jene, die eine dunkle Haut haben und von jenseits des Meeres stammen. Darunter waren Menschen, die mir so fremd waren wie die Einheimischen in Bombay, aber die dortigen Menschen, sie sahen uns vereint in einer Hautfarbe und einem Gesicht, egal, woher wir stammten.

— Waren alle von ihnen Rechtgläubige?

— Wenn ich nur wüßte, wie der rechte Glauben aussieht, dann könnte ich deine Frage beantworten, Baba Quddus. Sie achteten die Gebete, unregelmäßig, sie lasen im Glorreichen Koran, gelegentlich, wenn es sie drängte, und zu den Festen kamen wir zusammen in einem Haus, und in der Mitte des größten Zimmers in diesem Haus lag das Grab eines Mannes, bedeckt mit einem grünen Stoff, und an der Wand hingen Keulen, Kalebassen, die jenen, die ich aus meinem Dorf kannte, nicht unähnlich waren, Werkzeuge eines heiligen Mannes, der die Sidis seit geraumer Zeit schützt. Das Fest begann, als die Trommeln geschlagen wurden, die nur seine Nachfahren schlagen durften, wir tanzten um das Grab herum, und wir sangen, und wir strömten in die enge Straße, und tanzten und sangen weiter, und es klang wie Kindheit für mich, es hörte sich an wie mein erstes Leben, ich fühlte mich auf einmal heimisch in dieser fremden Stadt.

— Und die Gebete?

— Wir sprachen Gebete, aber es waren Gebete, die sich nicht an Gott richteten, nein, sie richteten sich an einen, zu dem ihr nie gebetet habt, dessen bin ich mir sicher, dessen Name euch nicht einfallen wird, auch wenn ich euch den ganzen Abend Zeit gebe. Obwohl er naheliegend ist, wenn ihr darüber nachdenkt.

— Hältst du unser Gedächtnis für so schlecht?

— Nicht verraten. Mir fällt der Name gleich ein.

— Wie kannst du ihn vergessen. Neulich, da fiel er Baba Sidi selbst nicht ein, und du hast ihm vorgesagt.

— Das war neulich.

— Sag schon!

— Wir beteten zu Bilal, denn Bilal galt uns als der erste und mächtigste Ahne.

— Das ist Shirk!

— Ach, Baba Quddus, was ist schon Shirk und was nicht, was war von Anfang an wahr und was bleibt für alle Zeiten wahr?

— Der Glorreiche Koran, das weißt du selber.

— Bilal ersetzt doch nicht den Glorreichen Koran, er ergänzt ihn, er ist ein Gefährte jener Menschen, die Sklaven sind oder Sklaven waren, Menschen, die einige eigene Strophen der Ermutigung und des Trostes benötigen. Du solltest nicht vergessen, bei den Sidis, bei diesen Menschen, die deiner Ansicht nach Frevel begehen, habe ich das Gebet gelernt, bei ihnen habe ich die Suren gelernt, bei ihnen habe ich Menschen getroffen, die mir Teile des Korans erklärten.

— Großvater, wie bist du zurückgekommen von dort?

— Der Banyan, er wurde krank, an einem Tag hatte ihn die Krankheit kaum berührt, am nächsten Tag packte ihn schon der Tod, und am übernächsten Tag wurde er verbrannt, am Strand von Bombay, und ich habe darauf bestanden, dabeizusein, obwohl mich der Anblick traurig stimmte. Ich dankte ihm, während er von den Flammen verschlungen wurde, trotz allem dankte ich ihm, während er schrumpfte und platzte und schließlich zu Asche verbrannte, langsam, es dauerte von der Mittagszeit fast bis zum Sonnenuntergang, eine lange Zeit, in der ich ihm zum letzten Mal diente, und selbst danach war er nicht vollständig verbrannt, der Beckenknochen, der war noch übrig.

— Das ist abscheulich!

— Stellt euch vor, wie er in der Hölle herumirrt, ein Becken nur, von dem bei jeder Bewegung Asche hinabrieselt.

— Wie soll er sich bewegen, wenn er nur aus einem Becken besteht?

— Verrückt.

— Gott gebe diesen Armen mehr Verstand.

— Ich weiß nicht, ob ihr recht habt. Mit den Hyänen zu heulen erscheint nur dann verrückt, wenn man selber keine Hyäne ist.

— Baba Ilias, vielleicht erklärst du uns eines Abends, was Hyänen mit der Verbrennung von Leichen zu tun haben.

— Und ich weiß immer noch nicht, wie du nach Sansibar zurückgekehrt bist.

— Mein Herr hatte verfügt, in seinem Letzten Willen, ich solle nach seinem Tod die Freiheit …

— Kaffee, wie viele Kaffee?

— Es gibt nur eine, die mir so ins Wort fällt.

— Du kommst genug zum Reden. Laß uns unseren Gästen auch etwas geben, das sie unbeschwert genießen können. Madafu, wer möchte Madafu? Unser Sohn hat heute frische Kokosnüsse gebracht.

— Sagt schon, was ihr wollt. Ich werde keine Ruhe finden, bis sie nicht von euch allen Antwort erhalten hat.


Die Boote sind eingelaufen, eng liegen sie beieinander, wie Ziegen im Kral. Wolkensträhnen fallen über den Himmel, Stimmen balgen sich um das beste Geschäft. Frauenhände säubern die kleinen Makrelen, werfen die Gedärme neben die trocknenden Netze und den restlichen Fisch in den Korb. Einige Männer verarzten ihre Boote mit langsamen Bewegungen, als müsse im Tageslicht alles neu abgesichert werden. Mittendrin steht der Fremde. Er steht einfach da, regungslos. Er muß schon lange dagestanden haben, denn die Fischer und Marktfrauen beachten ihn nicht mehr. So als gehöre er dazu. Nur einige Kinder hängen an ihm; sie versuchen das Ende seiner Jacke umzustülpen, um Abkürzungen zu seinen vielen Taschen zu finden. Er ist ein Schwamm, der alles aufsaugt; angespannt, voller gieriger Achtsamkeit. Er hat eine unruhige Nacht verbracht. Es ist sein letzter Tag auf dieser Insel. Er ist früh aus dem Haus gegangen, aus dieser graubraunen Weinkiste, in der das britische Konsulat untergebracht ist und die im Inneren nach dem Konsul riecht, der sich nicht dazu durchringen kann, seinem eigenen Tod davonzusegeln. Als Burton das Gebäude verließ, hatte ihn seine Stimme aufgehalten. Der Konsul lag auf der Veranda, in Decken gehüllt.

— Einen schönen guten Morgen, Dick.

— Schön daran ist höchstens, daß er die Nacht beendet hat.

— Schlechte Träume?

– Überhaupt keine Träume.

— Vielleicht ein gutes Zeichen.

— Zeichen? Ich ziehe es vor, Zeichen zu setzen. Freue mich übrigens über Ihren Entschluß, nach Hause zurückzukehren.

— Nach Hause? Gewiß, eines Tages werde ich heimkehren.

— Eines Tages? Gestern abend waren Sie drauf und dran, den Befehl zum Einpacken zu geben.

— Wir haben uns etwas in Ekstase geredet, mein Lieber. Ich muß doch erst einmal dafür sorgen, daß Sie gut auf den Weg gelangen.

— Sie müssen einzig und allein dafür sorgen, daß Sie gesund werden. Heimkehr ist die beste Heilung.

— Die Gesundheit, ja, der ist in den Tropen so gar nicht wohl. Wissen Sie übrigens, woran die wohlhabenden Sansibari sterben, ich meine, wenn sie nicht erwischt werden von der Cholera, den Pocken oder der Malaria?

— An Vergiftung?

— Nein, mein Guter. Sie neigen zur Dramatik. An Verstopfung. Vor Jahren hatte ich einen französischen Freund, ein Doktor, er erklärte mir, der Grund sei ihre Trägheit. Sie sterben an Trägheit, und diese Trägheit können sie sich nur leisten, weil sie reich sind. Sie werden Opfer ihres Standes. Wenn sich darin nicht Gottes Gerechtigkeit spiegelt.

— Vielleicht gibt es eine andere Erklärung. Prosaischer. Moralisch weniger ergiebig. Die vielen Aphrodisiaka, die sie schlucken, die dürften nicht ganz unschuldig sein.

— Ihre Spezialität, Dick, ihre Spezialität.

— Die Reichen dieser Insel? Süchtig nach Muntermachern. Als liege Sansibar unter einer Glocke der Impotenz. Ihr Lieblingspräparat? Eine Pille aus drei Einheiten Ambra und einer Einheit Opium, wobei die Opiumesser dieses nach dem Maß ihrer Abhängigkeit dosieren müssen. Jeder nimmt es ein, egal, ob er es braucht oder nicht.

— Trägheit und Trieb, da haben Sie es. Zwischen diesen beiden Polen stirbt man dahin.

— Fahren Sie heim, Konsul. Fahren Sie endlich heim.


SIDI MUBARAK BOMBAY

— Sag, Baba Sidi, ich habe nie richtig verstanden, was du getan hast auf der Reise?

— Eine gute Frage.

— Du hast nicht getragen …

— Richtig.

— Du hast nicht gekämpft …

— Richtig.

— Du hast nicht gekocht …

— Richtig.

— Du hast nicht gewaschen …

— Es gab andere für solche Dienste.

— Was hast du dann getan?

— Ich habe sie geführt!

— Sag das bitte noch einmal, Bruder.

— Ich habe die Expedition geführt.

— Du? Du warst doch nie zuvor an diesem großen See, den sie suchten.

— Nein.

— Und du hast sie hingeführt?

— Wenn keiner den Weg kennt, kann jeder führen.

— Ich kannte den Weg zwar nicht, aber er war nicht schwer zu finden. Es gab nur einen Weg durch das Land, den Weg der Karawanen, die mit Menschen handeln. Ihr dürft nicht denken, was ihr selber nicht kennt, kennt kein anderer. Es gab Araber, die so häufig auf diesem Weg gereist waren wie manche unserer Händler nach Pemba. Es gab Träger, die sich und ihre Nächsten ernährten, indem sie Ballen schleppten, von der Küste aus ins Landesinnere, fünfzig oder hundert Tage lang, und wieder zurück. Vergeßt nicht, der tägliche Weg braucht keine Wegweiser. Ich hatte viele Aufgaben, mehr als genug Aufgaben, ich mußte vermitteln und auskundschaften, ich war die rechte Hand von Bwana Speke, ich war das Binokel von Bwana Burton …

— Was ist das?

— Ein Gerät, mit dem all das, was weit weg ist, nahe kommt.

— Wie die Zeit also?

— Kannst du dir die Zeit ans Auge halten?

— Könnt ihr euch vorstellen, wie Bwana Speke mit seiner rechten Hand nach dem Binokel von Bwana Burton greift, und, oh weh, es ist der schwere Sidi?

— Kannst du deinen Spott nicht einmal auf dich selbst richten?

— Nein, du weißt doch, das Rasiermesser kann sich nicht selbst rasieren.

— Oh ja. Es gab eine weitere Aufgabe, die sehr wichtig war, ich mußte übersetzen, denn Bwana Burton und Bwana Speke konnten sich nicht mit den Trägern verständigen, wir hatten nur eine Sprache gemein, die Sprache der Banyan, und unter den Menschen von Sansibar sprach nur ich diese Sprache …

— Wieso konnten die Wazungu die Sprache der Banyan, Großvater?

— Sie hatten beide in der Stadt gelebt, in der ich auch …

— Die Stadt, die so heißt wie du.

— Ja, mein Liebling, gut aufgepaßt, die Stadt, deren Namen ich trage. Bwana Burton, er sprach wie ein Banyan, schnell und richtig, er konnte seine Zunge so krümmen, wie die verrückten Nackten im Land der Banyan ihre Körper krümmen konnten. Bwana Speke hingegen sprach wie ein Tattergreis, er suchte nach den Wörtern wie nach einem Geldstück, das man in einer Truhe verlegt hat, er konnte die Wörter nicht miteinander verbinden. Ihr könnt euch vorstellen, wie langsam, wie beschwerlich die Gespräche zwischen Bwana Speke und mir verliefen, am Anfang zumindest, bevor er ein wenig lernte und ich ein wenig lernte, und der Eintopf unserer gemeinsamen Sprache reichhaltiger wurde, denn er war schwer zu verstehen, sein Hindustani war schlechter noch als mein Hindustani. Ich übersetzte das, was ich begriffen zu haben glaubte, ins Kisuaheli, und im Landesinneren mußten wir jemanden suchen, der des Kisuaheli mächtig war und die Fragen von Bwana Speke in die Sprache der Einheimischen übersetzen konnte, jemand, der viel guten Willen aufbringen mußte und der trotzdem nicht alles verstehen konnte. Also ließ er aus, was er nicht verstand, oder ergänzte es mit seinen eigenen Annahmen, und so waren die Antworten, die wir schließlich erhielten, manchmal mit den Fragen nicht einmal mehr entfernt verwandt. Es dauerte und dauerte, und wem es an Geduld fehlt, der hätte den bedächtigen Schritt dieser Gespräche nicht ausgehalten. Es war eine einsame Reise für Bwana Speke, er konnte sich nur mit einem einzigen Menschen in seiner eigenen Sprache unterhalten, mit Bwana Burton, und als ein Streit die beiden entzweite, redeten sie nicht miteinander, monatelang. Also schwieg er, Bwana Speke, und ließ allein sein Gewehr reden.

— Er hat Menschen erschossen?

— Wie viele denn?

— Er schoß auf Tiere, nur auf Tiere, mein Kleiner. Auf viele, viele Tiere. Wenn es ein Totenreich gibt für Tiere, es ist seitdem so voll wie die Moschee zu Ramadan.

— Er konnte sich mit niemandem unterhalten, vielleicht mußte er deswegen so viel töten.

— Wenn das richtig wäre, Baba Adam, dann wären die Stummen die allerschlimmsten Mörder.

— Er war oft einsam, das ist wahr, und er wurde einsamer, je länger unsere Reise andauerte. Bwana Burton fand mit fast jedem eine gemeinsame Sprache, mit den Sklavenhändlern sprach er Arabisch, mit den Soldaten, den Belutschen, sprach er Sindhi, nur gegenüber seinem Freund, gegenüber Bwana Speke, kam ihm die Sprache abhanden. Er lernte auch Kisuaheli, in langsamen Schritten, denn sie gefiel ihm nicht, unsere Sprache.

— Was hatte er daran auszusetzen? Es ist die beste aller Sprachen.

— Das behauptet jeder, der keine zweite Sprache kennt.

— Arabisch ist die beste aller Sprachen.

— Kisuaheli ist wie eine Welt, die aus lauter schönen Landschaften besteht.

— Was willst du damit sagen, Baba Ilias? Stammen die Flüsse etwa aus Persien und die Berge aus Arabien und die Wälder aus Uluguru …

— So ungefähr. Du beginnst zu verstehen.

— Und der Sand aus Sansibar.

— Und der Himmel?

— Der Himmel ist nicht Teil der Landschaft.

— Sähe sie nicht nackt aus, ohne Himmel?

— Wie eine Kanga, um die Lenden der Erde geschwungen.

— Bei Sonnenuntergang.

— Was habe ich gesagt. Haben eure Ohren gehört, wie schön Kisuaheli klingen kann, selbst aus solchen Plappermäulern.

— Wir reden nicht von eurem Geschmack, sondern von seinem. Er mochte es nicht, den Worten etwas voranzustellen, das sei wie ein Mundkorb, so sagte er, hinter dem die Wörter nicht mehr so sind, wie sie ursprünglich waren. Trotzdem, er hat gelernt, er hat einiges gelernt, und als wir zurückkehrten, sprach er soviel Kisuaheli, wie er benötigte.

— Und der andere?

— Kein Wort. Nicht einmal ›schnell‹ oder ›halt‹.

— Zwei ungleiche Männer.

— Sehr ungleich. Wer sollte verstehen, warum zwei so unterschiedliche Menschen sich gemeinsam auf eine Reise begaben, auf der sie ihr Leben in die Hand des anderen legen mußten. Schon ihr Aussehen war ungleich, der eine war kräftig gebaut und dunkel, der andere schlank, geschmeidig und hell wie der Bauch eines Fisches.

— Nur mancher Fische.

— Sie waren ungleich in ihrem Wesen, der eine laut, offen, stürmisch, der andere ruhig, zurückhaltend, verschlossen. Sie waren ungleich in ihrem Verhalten, der eine ausfallend und nachsichtig, der andere beherrscht und nachtragend. Der eine hatte Lust und Hunger auf alles, und er gab seiner Lust und seinem Hunger immer nach, der andere kannte auch Gelüste, aber er hatte sie angebunden, manchmal versuchten sie, sich loszureißen, dann wurden sie zurückgezerrt.

— Wenn sie in der Lage waren, gemeinsam jahrelang durch das Land zu ziehen, dann muß ihnen auch etwas gemein gewesen sein?

— Ehrgeiz und Eigensinn. Sie waren dickköpfiger als die dreißig Esel, mit denen wir Bagamoyo verließen. Und sie waren reich, unermeßlich reich. Mehr als hundert Männer waren nötig, um ihren Reichtum zu schleppen, Männer, die barfuß gingen, Männer, die nichts besaßen.


Sie haben sich alle versammelt in Bagamoyo, wo unzählige Sklaven die Last ihres Herzens abgelegt haben, wie der Name dieses Ortes, Ausgangspunkt aller Karawanen ins Landesinnere, verkündet. Sie warten auf das Zeichen zum Abmarsch. Die Träger, barfuß, sind armselig gekleidet, selbst am Tag des Aufbruchs, geschmückt nur mit einigen Streifen aus Fell oder Federbündeln. Einige von ihnen haben sich Glocken an die Unterschenkel gebunden. Sie klimpern zur Belustigung der vielen Kinder, die ihr Versteckspiel hinter bauchigen Baumstämmen unterbrochen haben. Sie haben die Stoffe, mit denen sie handeln werden, zu Nackenrollen gewickelt, fünf Fuß lang, und mit Zweigen gestärkt, eine Last, die siebzig Pfund wiegt. Mehr kann ihnen nicht aufgebürdet werden, zumal sie noch einige eigene Habseligkeiten schleppen müssen. Kisten werden über zwei Stangen gehängt (die leichten am Ende, die schweren in der Mitte) und von zwei Männern getragen.

Burton bespricht sich mit dem Kirangozi, Said bin Salim, der vorneweg marschieren wird, der Zeremonienmeister der Expedition. Ein redseliger Mann, dieser Vertreter des Sultans, dem es nicht im Traum einfallen würde, seine eigene Bedeutung zu unterschätzen. Befehle gehen durch ihn hindurch, aber er teilt sie aus, als stammten sie von ihm. Seine Treue ist einfach gestrickt, er achtet die Hand, die ihn satt macht. Er gibt einen Befehl, die Kesseltrommel wird zum ersten Mal geschlagen. Der Zug der Träger entwindet sich dem Schatten des Platzes und schleicht wie ein behäbiger Python auf die Allee zu, die ins Landesinnere führt. Die Mangobäume sind eng gepflanzt, ihre Äste schlingen sich ineinander. Unter diesem Baldachin ist es niemals gänzlich Tag. Burton gesellt sich zu Speke, der unter einem nahen Vordach dem bettlägerigen Konsul Gesellschaft leistet. Anstatt nach Hause zu segeln, hat er sie nach Bagamoyo begleitet. Um nach dem Rechten zu sehen, hat er behauptet. Um sich für immer zu verabschieden, vermutet Burton. Als wollte er zum Ausdruck bringen: Ihr reist ins Unbekannte und ich in den Tod.

Seht euch diesen Hampelmann an, sagt Speke. Muß er so ein purpurnes Gewand tragen? Und all den Firlefanz auf dem Kopf? Wie das Nest eines Greifs, bemerkt Burton, und sie lachen zusammen, ein kurzes, unangemessenes Lachen. Kein Sinn für Camouflage, wir werden Meilen gegen den Wind auffallen. Das ist durchaus beabsichtigt, sagt der Konsul. Deswegen hält er auch die rote Standarte des Sultans hoch, damit jedermann von weitem gewarnt ist, daß diese Karawane aus Sansibar stammt und unter dem direkten Schutz des Sultans steht. Um ihn mache ich mir keine Sorgen, sagt Burton, eher um unsere Schutztruppe. Die dreizehn Belutschen schreiten an ihnen vorbei, bewaffnet mit Musketen, Säbeln und Dolchen sowie einem Pulverbeutel, den ein jeder von ihnen auf eigene Art und Weise am Körper befestigt hat. Sie folgen ihrem Anführer, dem einäugigen, pockenvernarbten, langarmigen Jemadar Mallok. Ich habe ihnen eine Belohnung in Aussicht gestellt, sagt der Konsul, wenn sie euch beide heil zu uns zurückbringen. Die Belutschen drücken ihre Musketen gegen die Schulter und fallen in einen ungenauen Gleichschritt, als wollten sie eine Parade verhöhnen. Sie erinnern Burton an die Kompanie von Sepoy, die er in Baroda mühsam auf Vordermann brachte, an die Bashibazuk, die er im Krimkrieg mit Ach und Krach kommandierte. Doch die Sepoy waren im Vergleich zu diesem Haufen, der an ihm vorbeihampelt, geradezu diszipliniert, und die Bashibazuk waren um einiges wilder, kampfgieriger als diese Nachfahren von Fakiren, Matrosen, Kulis, Bettlern und Dieben, die aus einem öden Land stammen, das viele seiner Söhne vertrieben hat, und von diesen trotzdem in wehmütigen Liedern besungen wird, weil das karge Tal, dem ihre Vorväter den Rücken gekehrt hatten, in der Erinnerung erblüht.

Der Konsul übergibt das Empfehlungsschreiben des Sultans an Burton. Es ist wichtig, sagt er, zumindest auf der ersten Teilstrecke. Dann werdet ihr in Gebiete vorstoßen, in denen keiner weiß, daß es einen Sultan gibt, höchstens hat der eine oder andere von ihm gehört, vage, wie aus einer fremden Legende. Burton faltet das Schreiben sorgfältig zusammen und steckt es in seinen ledernen Beutel, zu seinen zwei Pässen, dem segnenden Brief des Kardinals Wiseman und dem Diplom des Sheikhs von Mekka, das seine Hadj bestätigt. Er ist gut vorbereitet, in jeder Hinsicht. Er verabschiedet sich vom Konsul mit einem schnellen Händedruck, für den er sich unmittelbar danach schämt, weil er sich eingestehen muß, daß es ihn vor der fleckigen Haut geekelt hat.

Auf den ersten Meilen kann er an nichts anderes denken als an mögliche Versäumnisse. Haben sie genug Tauschmittel mitgenommen? Sollten ihnen Perlen und Stoff ausgehen, wie würden sie sich dann Nahrung verschaffen? Sein Blick verharrt auf den Rollen, die auf den Köpfen der Träger balancieren, Rollen von Merikani — ungebleichter Baumwollstoff aus Amerika —, Rollen von Kaniki — indigogefärbter Stoff aus Indien. Sie müssen ausreichen, sonst würden sie verhungern. Dort, wo die kurze Allee in die Unförmigkeit des Busches biegt, ist das Meer schon Vergangenheit. Sie werden verschluckt von Gräsern, die ihnen bis zur Schulter reichen. Sie folgen einem Fluß, den sie selten sehen können. Der Boden ist fest, der Busch reicht endlos in die Ferne. Die Einheimischen meiden offenkundig die Karawanen. Sie kommen an einer verfallenen Hütte vorbei, an einem ersten Dorf, in dem kleine Fische vor den Hütten getrocknet werden und frisch geerntete Früchte aufgehäuft sind. Außerhalb des Dorfes verschlingt sie der ursprüngliche Raum wieder, diese unförmige Einschüchterung, die einem leicht Angst einjagen könnte. Sie werden sich täglich darin behaupten müssen, denkt Burton, eine Herausforderung, vor der keiner sie gewarnt hat.

Nicht einmal Tulsi, Warnschreier par excellence, einer jener servilen Inder, die vorgaben, ihnen von Hilfe zu sein, während sie die Kasse der Expedition über Gebühr belasteten und im Gegenzug Hiobsbotschaften verteilten, so als wären diese eine wirksame Prophylaxe gegen die Schrecken des Landesinneren. Am Vorabend, in seinem Haus in Bagamoyo, hatte Tulsi zu den süßen Gulab Jamun klebrige Ammenmärchen serviert, von Wilden, die auf Bäumen sitzen und giftige Pfeile in den Himmel schießen, mit solchem Geschick, daß die Pfeile beim Hinabfallen das Hirn der Reisenden durchbohren, bis zum Hals. Die Ahnungslosen sterben mit geschlossenem Mund. Und wie sollten sie sich dagegen schützen, fragte Burton. Meidet die Bäume! Im Wald? Sollen wir auch den Himmel meiden? Tulsi erhielt redegewandte Unterstützung von Ladha Damha, einem weiteren Inder, der im Auftrag des Sultans Zölle erhebt. Einige der Häuptlinge hätten geschworen, keine Weißen in ihrem Reich zu dulden. Tötet die erste Heuschrecke, habe ihnen ein Seher geraten, wenn ihr die Plage vermeiden wollt. Und damit fing die Aufzählung der Gefahren erst an: Ein Nashorn, das in Rage gerät, kann hundert Männer töten. Eine Armee von Elefanten kann das nächtliche Lager überfallen. Nach dem Biß mancher Skorpione bleibt einem kaum noch Zeit, Gott anzurufen. Sie würden wochenlang ohne Nahrungsmittel auskommen müssen.

Die Inder waren sich sicher, daß die beiden Briten nicht einmal die halbe Strecke schaffen würden. Sie hatten sich offen darüber in seiner Gegenwart unterhalten, sie wähnten sich unverstanden in ihrem Dialekt des Gujarati. Ladha Damha fragte: Werden sie den See von Ujiji jemals erreichen? Und sein Buchhalter antwortete, nachdem er seinen Rotz hochgezogen hatte: Natürlich nicht! Wer sind die denn, daß sie glauben, das Land der Ugogo lebend durchqueren zu können! Ihr Gujus, sagte Burton zum Abschied in dem gepflegten Gujarati, das Upanitsche ihm beigebracht hatte, haltet euch für sehr gerissen. Ich werde das Land der Ugogo durchqueren, ich werde den großen See erreichen, und ich werde zurückkommen, und dann werde ich hier noch einmal halten.

Er läßt sich zurückfallen. Er kann es sich erlauben, nun, da jeder zu wissen scheint, welche Position er beim Marsch einzunehmen hat. Er verlangsamt seinen Schritt, bis er den letzten Träger noch hören, aber nicht mehr sehen kann. Hundertundzwanzig Mann, unter seinem Befehl. Diese Expedition muß einfach gelingen. Um so weit zu gelangen, daß er nur noch die Hand ausstrecken muß nach dem Ruhm, der ihm gebührt, hat er Befehle mißachtet, Befehle seiner Vorgesetzten in der Ostindischen Gesellschaft, er hat sich schwer verschuldet, und er hat das Risiko eines unsicheren Kantonisten als Reisegefährten auf sich genommen. Der Konsul hatte nicht so unrecht, die Zeichen hätten im Vorfeld der Reise besser stehen können. Ein Freund, ein hervorragender Arzt, der ihn begleiten sollte, war unpäßlich geworden; Sultan Sayyid Said, ein verläßlicher Verbündeter, war kurz vor ihrer Ankunft in Sansibar gestorben; und der Konsul, der sich als so hilfsbereit wie kein zweiter erweist, liegt in der Todesschaukel. Im Falle eines Scheiterns — er darf nicht daran denken, wenn man ansonsten keine Angst kennt, muß man auch die Angst vor dem Scheitern unterdrücken — wartet das Regiment in Indien auf ihn. Dorthin zurück? Nein, niemals.

Sie überqueren zügig ein sattes Buschland, aber dieses Tempo werden sie nicht halten können. Die Beine werden erlahmen, die Landschaft wird sich ihnen in den Weg stellen. Sie werden stolpern, ausrutschen, einsinken, durch Schlamm waten. Ihre Füße werden sich in Schlingen verfangen. Noch eine Stunde vielleicht, dann wird das Signal zum Halt ertönen. Er beschleunigt seinen Schritt.

Said bin Salim hat das Lager für die erste Nacht gut ausgesucht. Eingekerbte Baumstämme, verkohlte Äste, eine erweiterte Lichtung — es haben vor ihnen schon andere hier übernachtet. Als sie alles ausgepackt und das Inventar der Expedition noch einmal überprüft haben, stellen sie fest, daß sie einen der Kompasse in Bagamoyo zurückgelassen haben. Nur Burton weiß, wo er den Kompaß finden kann. Er muß den ganzen Weg zurückgehen. Zu seiner Überraschung bietet Sidi Mubarak Bombay von sich aus an, ihn zu begleiten. Obwohl es sich um einen Marsch von etwa sechs Meilen handelt. Bombay — so nennt er ihn in seinen Gedanken, so spricht er ihn an — ist kein Unbekannter, sie haben sich schon einige Male unterhalten, aber jetzt, auf diesem Gewaltmarsch, der ihr Tagespensum verdreifachen wird, sind sie zum ersten Mal für längere Zeit unter sich. Ein Gespräch unter vier Augen, denkt Burton, was für eine Rarität im Orient. Die erste halbe Stunde laufen sie schweigend nebeneinander, Burton mit langen Schritten, Bombay in einer höheren Frequenz. Er bedaure, eröffnet Burton das Gespräch, daß er Kisuaheli nicht ausreichend beherrsche, um sich in der Sprache von Sidi Mubarak Bombay unterhalten zu können. Es ist nicht meine Sprache, sagt Bombay, meine Sprache ist verlorengegangen. Bombay schmunzelt freundlich. Wenn seine Gesichtszüge sich in Bewegung setzen, egal in welche Richtung, verlassen sie den Hafen der Häßlichkeit. Es ist, als würde Bombay mit jedem Lächeln sein Gesicht reparieren. Abgesehen von seinem Gebiß — die Zähne sind zur ewigen Fäulnis verdammt. Er ist ein untersetzter Mann, ein ungewöhnlicher Kerl, unter diesen Leuten. Einer, dem die müßiggängerische Natur irgendwo auf einer seiner Reisen durch die Fremde abhanden gekommen ist. Natürlich, Sklaverei ist eine unschöne Sache, eigentlich untragbar, aber ohne sie wäre Sidi Mubarak Bombay einer dieser dumpfen Gestalten geblieben, die am Wegrand hocken und sich gerade einmal einen müden Gruß abringen.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Es gibt Fragen, die drängen sich vor, Fragen, die ihre Neugier mit sich schleppen wie Feuerholz. Woher kommt ihr? Das war leicht zu beantworten. Aus Sansibar, von der Küste, aus Bagamoyo. Aber auf Fragen folgen immer wieder weitere Fragen, das ist ein Pfad, der kein Ende findet, und schon auf die zweite Frage wußten Bwana Burton und Bwana Speke keine rechte Antwort: Wohin geht ihr? Im Schatten jedes Mbuyu und jedes Mtumbwi und jedes Myombo begegnete uns diese Frage, sie flatterte auf wie ein Vogelschwarm, der erschreckt worden ist, sie folgte dem Gruß so selbstverständlich wie die nächste Welle, so sicher wie der Kazi auf den Kazkazi. Es gibt Fragen, die sind wie kläffende Hunde, und es gibt Fragen, die sind wie eine Dornenspitze, die sich in die Haut bohrt und sich nicht herausziehen läßt, Fragen, die einem keine Ruhe lassen.

— Fragen der Frauen an ihre Männer.

— Wenn du die Geschichte fortführen möchtest, Baba Burhan, so führe du sie fort.

— Nein, nein, ich ergänze sie nur, so wie die Ohren die Zunge ergänzen.

— Wenn ihr euch beide zu Ende ergänzt habt, dürfen wir hören, wie es weitergeht?

— Weißt du das nicht, Baba Ali? Bist du erst vor kurzem in dieses Viertel gezogen?

— Die Geschichte hat jedesmal eine etwas andere Gestalt.

— Woher kommt ihr? Wohin geht ihr? Das waren die Fragen, die im Schatten jedes Mtumbwi und jedes Myombo auf uns warteten. Was für einfache Fragen, werdet ihr sagen, selbst Kinder wissen, wohin sie gehen. Zumindest wissen sie, wohin sie gehen wollen.

— Kinder können so eine Frage beantworten, gewiß, aber Erwachsene?

— Zum großen See! So antworteten die Wazungu, wenn sie überhaupt eine Antwort gaben, aber die Fragenden kannten keinen großen See, und jene, die von einem großen See gehört hatten, die konnten nicht glauben, wie jemand mit hundert Trägern und zwanzig Soldaten durch das Land ziehen kann, sich allen Gefahren des Waldes aussetzen kann, nur um den großen See zu erreichen. Was wollt ihr von diesem See? fragten sie als nächstes. Wir wollen nichts von dem großen See, antwortete Bwana Burton, wir wollen ihn nur mit eigenen Augen sehen, weil wir wissen wollen, wo er liegt und wie groß er ist. Die Menschen im Schatten des Mbuyu, des Mtumbwi, des Myombo, sie schüttelten den Kopf, sie wußten das Gesicht einer Lüge zu erkennen, und ihr Mißtrauen schwoll an. Diese Fremden, murmelten sie, hegen keine guten Absichten, diese Fremden sind gekommen, zischten sie, unser Land zu rauben. Sie hatten Angst, oh ja, sie fürchteten sich vor uns, noch mehr aber fürchteten sie sich vor den Folgen unserer Ankunft. Diese Fremden werden Unglück bringen! In einem der Dörfer starb ein Mann, kurz nachdem wir unser Lager aufgebaut hatten, ein junger Mann, der am Tag zuvor noch auf seinem Feld gearbeitet hatte. Seht ihr, klagten die Menschen, gesteht, dies ist das erste Unglück, das eure Ankunft auf das Land geladen hat. So klagten sie, und in ihrer Klage verschwand allmählich ihre Angst, und Bwana Burton war gut beraten, als er uns am nächsten Morgen zum Aufbruch drängte. Außerhalb der Dörfer begleiteten uns nur die Kinder, sie liefen neben uns her, sie riefen ›Mzungu‹ ›Mzungu‹, sie riefen ›Wazungu‹ ›Wazungu‹, sie lachten und schwenkten ihre Arme. Was bedeutet ›Mzungu‹? fragte mich Bwana Burton. Derjenige, der herumirrt, antwortete ich ihm, derjenige, der sich im Kreis dreht. Das denken sie von uns? Er war erstaunt. Wir steuern doch geradewegs unser Ziel an, sagte er. Für diese Menschen sieht es so aus, sagte ich, als hätten wir uns verirrt.

— Und du? Du warst erstaunt über sein Erstaunen?

— Die Karawane der Erstaunten!

— Wieso hundert Träger? Hattet ihr nicht genug Lasttiere dabei?

— Baba Ishmail hätte dir bestimmt seine drei langbeinigen Mäuler verkauft, die mehr Khat kauen als er selber.

— Wir hatten Tiere, natürlich hatten wir Lasttiere, wir hatten fünf Maulesel und dreißig Esel, dreißig halblahme, störrische und völlig unzuverlässige Esel. Nach drei Monaten war uns ein einziges Tier geblieben, alle anderen waren verendet. Aber ich sage euch, die Menschen waren noch weniger für diese Reise geeignet. Angefangen mit dem Kirangozi, der vorneweg marschierte, der nur sich selbst und dem Sultan diente. Dahinter die Belutschen, die uns eigentlich schützen sollten, doch wie sie uns mit ihrer Feigheit verteidigen sollten, das war am Anfang unklar und blieb es bis zum Ende. Wir erkannten bald, den Belutschen war nicht zu trauen, sie würden ihre eigene Mutter an den Meistbietenden verkaufen. Hinter ihnen liefen die Träger, die ehrlichen Träger, auf die sich Bwana Burton und Bwana Speke auch nicht verlassen konnten, sie trugen zwar viel und ertrugen alles, aber nur bis zu der Nacht, in der sich ihr Blut weigerte und sie wegliefen oder wegzulaufen versuchten. Sie waren von den Menschen der Nyamwezi, wie ihr wißt, sie haben früher Elefanten gejagt, bevor sie den Entschluß faßten, sich ein Leben zu verdienen, indem sie mit einer Last auf dem Kopf durch das Land laufen, und sie wußten, nur die Hälfte von ihnen würde nach Hause zurückkehren, mit einem Sold in der Tasche, der sie nötigte, bald wieder aufzubrechen, mit einem Ballen oder einem Packen auf dem Kopf und mit der Aussicht auf den Tod. Sie hielten sie nicht immer aus, diese Aussicht, sie flohen, manche von ihnen mit dem Ballen, den sie auf dem Kopf zu tragen hatten, sie liefen weg, sie desertierten, so nannten es Bwana Burton und Bwana Speke, und das verwirrte mich, denn in ihrer Sprache bedeutet dieses Wort auch Wüste, und obwohl ich mich angestrengt habe, ich konnte keine Verbindung erkennen zwischen der Wüste und dem Weglaufen. Wenn sie wieder eingefangen wurden, wurden sie ausgepeitscht, im Namen der Gerechtigkeit auf der Karawane der ersten und auf der Karawane der zweiten Reise. Auf der dritten Reise jedoch, unter dem Befehl eines Mannes, der alles zum Tode verurteilte, was sich ihm in den Weg stellte, wurden sie manchmal gehängt.

— Nur weil sie wegliefen?

— Wer in der Wildnis wegläuft, der gefährdet die ganze Karawane, schärfte der Mann uns ein, der alles zum Tode verurteilte, was sich ihm in den Weg stellte. Weglaufen ist ein Versuch, die anderen zu ermorden, sagte Bwana Stanley. Bei der Karawane zu bleiben ist Selbstmord, flüsterten wir hinter seinem Rücken. Ich blieb, ich mußte bleiben, nachdem ich die erste und die zweite Reise überlebt hatte, wußte ich, ich konnte jede Reise überleben. Aber die Träger von den Menschen der Nyamwezi, die stolz waren auf ihre Arbeit und stolz waren auf ihren Ruf, sie hatten weniger Zuversicht, sie liefen in die Nacht davon, und manchmal verfolgten wir sie, manchmal ließen wir es sein, und manchmal wurden sie von einer anderen Karawane aufgegriffen und zu uns zurückgebracht, und dann wurden sie ausgepeitscht, mit einer Karbatsche, geflochten aus rauhem Nilpferdleder, eine schreckliche Waffe, vor allem wenn sie neu ist, zurechtgestutzt und scharf wie eine Messerklinge, sie wurden ausgepeitscht, bis ihnen der ganze Rücken blutete, oder sie wurden gehängt. Ich sage euch, wer das Strafen erfunden hat, der konnte zwischen Klugheit und Dummheit nicht unterscheiden. Kein Peitschenhieb dieser Welt wird dich daran hindern, den Weg zu nehmen, zu dem dein Herz dich drängt. Wenn die Angst oder die Verzweiflung oder der Zorn oder die Sehnsucht stärker werden als die Gedanken, die zählen und abwägen können, dann tust du, was dein Herz dir sagt, selbst wenn alle Höllenqualen dieser und der nächsten Welt auf dich warten. Wer das Strafen erfunden hat, der wußte wenig vom Wert des Menschen.

— Baba Sidi, du kennst den Wert des Menschen, gewiß, keiner von uns hat das je bezweifelt, aber auch du erkennst nicht alles, was du erkennen könntest. Ohne die Drohung der Höllenstrafen wäre der Mensch ohne Ehre und ohne Maß.

— Ich habe mit eigenen Augen erlebt, Baba Yusuf, wie die Bestraften bei der nächsten Gelegenheit wieder das taten, weswegen sie gezüchtigt wurden. Die Peitsche hinterläßt keine dauerhaften Spuren auf einer Haut, die abgeworfen wird. Glaubt mir, meine Freunde, der Mensch häutet sich wie eine Schlange. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihn mit völliger Sicherheit von einer Tat abzuhalten: Du mußt ihn töten.

— Das hatte Bwana Stanley offensichtlich begriffen.

— Aber was nutzte es ihm? Er hatte danach einen Träger weniger.


Von Kingani nach Bomani, von Bomani nach Mkwaju la Mvuani, jeden Abend notiert er die Namen mit Sorgfalt, die Namen der Orte grundieren seinen Bericht; von Kiranga-Ranga nach Tumba Ihere, von Tumba Ihere nach Segesera, noch befinden sie sich in der Region der etablierten Namen, bestätigt von seinen Unterlagen, von Gewährsleuten entlang des Weges — in Küstennähe herrscht Eintracht über die Nomenklatur; von Dege la Mhora nach Madege Madogo, von Madege Madogo nach Kiruri in Khutu, jeder Ort geometrisch und hypsometrisch erfaßt — die ordentliche Liste läßt keine Unklarheit aufkommen, sie bannt das Unheil. Sie stehen noch am Anfang, er stellt sich jedem Problem, voller Zuversicht, es mit einigen Handgriffen, mit einer kleinen Anpassung, lösen zu können. Alles kann noch ins Lot gebracht werden. Die Natur bietet einige Entdeckungen. Die Bäume, die sich an lange Trockenzeiten so hervorragend adaptiert haben, sie heißen Miombo, und er kann drei Arten unterscheiden, die Julbenardia, die Brachystegia und die Isoberlinia, letztere dient den Elefanten als Futter. Die hohen Bäume mit den geraden Stämmen und der gelben Rinde (Taxus elongatus oder damit verwandt); die zwergwüchsigen Fächerpalmen (Chamaerops humilis, mit Sicherheit); der chinesische Dattelbaum (Zizyphus jujuba, umgangssprachlich der Jujube-Baum); die einheimischen Sorten der Hyphaena und der Nux vomica, die verschiedenen Laubbäume: die Sterculia mit der hellgelben Rinde und der dichten, runden Krone; die Kapok, mit den großen Schoten, außen dunkelbraun, innen weiß und flauschig. Bei seinen Beobachtungen erlaubt er sich keine Nachlässigkeit: Die gelben Früchte werden nicht gepflückt, sehr wohl aber vom Boden aufgelesen, das Fleisch ist in Farbe und Geschmack mit der Mango verwandt, die großen Samen giftig oder bitter — warnte die Natur nicht mit Bitternis vor Gift? — , sie werden von allen ausgespuckt. Grün ist in diesen ersten Wochen eine Farbe der Kultivierung, die Parzellen zu beiden Seiten des Flusses dichtbepflanzt mit Reis, Mais, Maniok, Süßkartoffeln und Tabak. Es ist ein fruchtbares Land — Burton kann seine glückselige Entwicklung mit offenen Augen vorhersehen, es bedarf dazu nur einer ordnenden Hand.

Je mehr seine Vertrautheit wächst, je mehr er die Fremde enträtselt, desto leichter fällt es ihm, ihre Bedrohlichkeit zu entschärfen. Er gewöhnt sich an das schonungslos beharrliche Trommeln in der Ferne, dem der Jemadar jedes erdenkliche Grauen unterstellt, um seinen dreizehn Soldaten abstruse Scheinmanöver aufzuerlegen. Er gewöhnt sich an die Bedächtigkeit alter Männer, Dorfvorsteher mit Namen, die wie Versprecher klingen. In Kiranga Ranga regnet es zum ersten Mal, in Tumba Ihere sehen sie zum letzten Mal einen Mangobaum. In Segesera streiten sich zum ersten Mal die Belutschen; sie müssen auseinandergerissen werden, bevor ihre Dolche Tribut fordern; in den Wäldern nahe Dege la Mhora erblicken sie Meerkatzen, die sich so flink durch die Wipfel katapultieren, daß die Schüsse von Speke gegen Äste hallen, und mit jedem Echo verliert er an Respekt, weil er sein Gewehr gegen Meerkatzen richtet und weil er das Ziel verfehlt hat. In Madege Madogo stirbt der erste Esel, weitere Tiere verenden in den Tagen danach, ein erster Träger verschwindet, die Stimmung der Expedition sinkt wie das Barometer. Unerwartet früh müssen sie die Reittiere beladen, und bald müssen sogar die Anführer der Expedition zu Fuß gehen.

Obwohl Burton zu Fuß kaum langsamer ist als die Esel, verändert sich seine Wahrnehmung, sobald er absteigt. Seine Aufmerksamkeit wird von den eigenen Schritten gefangengenommen, der Aneinanderreihung von Hunderten und Tausenden von Schritten. Nach der frühmorgendlichen Frische, in der er seinen Blick auf alles richtet und sein Geist alles aufzunehmen scheint, konzentriert er sich allmählich, erhitzt und unwillig, auf seine Schritte, bis er alles ignoriert außer jene Kieselsteine, Dornen, Blätter, die unter seinen Stiefeln knirschen und rascheln, winzige Markierungen des Weges, die der Öde ein sich wandelndes Gesicht geben, marginale Veränderungen, auf die er achtet, um auf irgend etwas zu achten, auf die fauligen Früchte, die von den Ästen gefallen sind, die nicht ganz rund und nicht ganz gelb sind, zermatscht, verrottet, braunfleckige Früchte, von denen ein penetranter Geruch der Fermentierung ausgeht.

In den ersten Wochen mistet er im Leerlauf zwischen Kontrollen und Beobachtungen seinen Kopf aus, kehrt all jene Erinnerungen aus, die Spitzen hinterlassen haben, die gekrümmt in ihn hineingewachsen sind. Er weiß nicht, ob es Speke — der die Vorhut übernimmt, wenn er die Nachzügler begleitet — ähnlich ergeht; Themen wie diese sind von einer Intimität, die er nicht mit ihm teilt. Verwundungen von einst fühlen sich an wie jüngst erlitten: Er ist erneut so zornig wie damals, als er von dem Verrat seiner Vorgesetzten im Sindh erfuhr — die neuentfachte Wut treibt ihn über die nächste Hügelkette. Er trauert um Kundalini, so verbissen wie einst, er trauert bis zum nächsten Horizont, auf dem ein Baobab wächst, ein dickhäutiges Mahnmal. Erneut befürchtet er, als Frevler entlarvt zu werden, wie in der Wüste zwischen Medina und Mekka. Seine Schritte schleppen sich durch Zorn, durch Leid, durch Angst, und darin vergehen Stunden und Tage und Wochen. Alles, was in seinem Leben jemals untergegangen ist, treibt wieder an die Oberfläche, jede Erniedrigung, Enttäuschung, Verletzung. Er fühlt sich wie auf hoher See in einem steuerlosen Boot, er muß sich über Bord lehnen, um das Seewurfgut einzusammeln, jedes einzelne Stück, auch wenn es von Algen umschlungen oder vom Salz zerfressen ist, er hält es eine Duldigkeit lang in seinen Händen und untersucht es von allen Seiten, um festzustellen, daß die eine oder andere Seite nicht mehr wiederzuerkennen ist, und er legt es erst dann aus den Händen, wenn er es nicht mehr fühlen kann, weil es sich aufgelöst hat, in Gleichmut, nicht in Vergessenheit.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Am Anfang wußte keiner von uns, was ihn erwartete, keiner von uns konnte ahnen, was wir erleben würden, und hätten wir es gewußt, keiner von uns hätte diesen Pfad der Narben und Entbehrungen auf sich genommen. Wir waren voller unbeschmutzter Erwartungen, am Anfang, als unsere Narben noch Wunden waren, als der Feind noch ein Bruder war und unsere Hoffnung reicher als unsere Erfahrung. Keiner von uns war auf das vorbereitet, was über uns hereinbrach, nicht einmal die Träger, die von den Menschen der Nyamwezi stammten, die schon einmal, mindestens einmal, durch dieses Land marschiert waren. Sie hatten das Gewicht von Karawanen getragen, die nach Gewinn strebten, aber diese Karawanen waren nicht von dem Ehrgeiz angetrieben, zu erreichen, was kein Mensch zuvor erreicht hatte. Die Träger hatten Befehle erduldet von Männern, die brutal, gierig und verschlagen, aber nicht verrückt waren. Keiner von uns hatte das Gewicht einer Karawane gebuckelt, die von Wazungu angeführt wurde, und die Wazungu, meine Brüder, sind seltsame Menschen, ich kann sie erkennen, ich kann sie auseinanderhalten, aber ich werde sie niemals verstehen können. Sie glauben, die höchste Bestimmung des Menschen sei es, dort hinzugelangen, wo seine Vorfahren nicht hingelangt sind. Wie sollen wir, die wir uns davor fürchten, dort zu gehen, wo keiner zuvor gegangen ist, so etwas verstehen? Wie sollen wir ihr Glück begreifen, wenn es ihnen gelingt, die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt haben, zu erfüllen? Ihr hättet den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen sollen, sie waren so glücklich wie ein Vater, der sein neugeborenes Kind in den Armen hält, so glücklich wie ein frisch Verliebter, der seine Holde nahen sieht …

— Wie Baba Ishmails Gesicht, wenn er sein Boot voller Fische an Land zieht.

— Oder wie die Gesichter der Kinder, wenn der erste Regen fällt.

— Wie wäre es hiermit: Wie der Ausdruck auf dem Gesicht von Baba Sidi, wenn er seinen Freunden von seinen Triumphen erzählen kann.

— Ihr kennt also dieses Glück, das ist gut, ich brauche es euch nicht weiter zu beschreiben, so ein Ausdruck von Glück war auf ihren Gesichtern, wenn sie ein Ziel erreichten, das kein anderer Wazungu vor ihnen erreicht hatte. Doch jede Sache wirft ihren Schatten, und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sich ihre Gesichter verdüsterten, wenn sie erfuhren, sie seien nicht die ersten, ihnen sei jemand zuvorgekommen, die dunkelsten Wolken zogen sich über ihren Gesichtern zusammen, bei der geringsten Gefahr, ihnen könnte jemand zuvorkommen. Nie werde ich die Verblüffung von Bwana Speke und Bwana Grant vergessen, als sie am Rande des größten aller Seen einen anderen Mzungu trafen, der schon seit Jahren dort handelte, einen Kaufmann mit dem Namen Amabile de Bono, der zwar nicht aus ihrem Land stammte, aber von einer Insel, die von ihrer Königin erobert worden war. Ihr könnt euch nicht die Sorge auf dem Gesicht von Bwana Stanley vorstellen, in den langen Monaten, in denen er vermuten mußte, Bwana Cameron eile ihm mit einer anderen Karawane voraus, Bwana Cameron könnte der erste sein, der das Land von dem Ort des Sonnenaufgangs zum Ort des Sonnenuntergangs durchquert. Es war eine Anspannung in ihm, die ihn jeden Abend fluchen und nur das Schlechteste über einen Menschen sagen ließ, dessen Bekanntschaft er nie gemacht hatte. Ich versuchte Bwana Stanley zu beruhigen. Pflückt Bwana Cameron alles, sagte ich zu ihm, was entlang des Weges wächst? Wird er denn nichts für Sie übriglassen? Worauf er mir grob antwortete: Das verstehst du nicht. Ich habe mich geärgert über seine Antwort, damals, aber heute gebe ich es gerne zu: Ich verstehe die Wazungu nicht.

— Ich weiß genau, was du meinst, Baba Sidi, es gibt immer jemanden, der noch früher aufgestanden ist als du selber. Als ich ein junger Mann war, arbeitete mein Vater für einen Araber, der mit zwei anderen Arabern und vierzig Trägern zu dem großen See marschiert ist, von dem du sprichst, immerzu gen Westen, und als sie den See erreichten, haben sie ein Boot gebaut, und mit diesem Boot haben sie über den See gesetzt, und dann besuchten sie ein Land, das Muata Cazembe hieß, ich habe mir diesen Namen gemerkt, Muata Cazembe, denn er klang für mich wie ein Anfeuerungsruf, und dann erreichten diese Araber, nach sechs weiteren Monaten, das andere Ende des Landes, die andere Küste, und die Sonne ging vor ihnen unter, und sie trafen dort auf Wazungu, die einen Handelsposten aufgebaut hatten, andere Wazungu als jene, die sie aus Sansibar kannten, Menschen von den Portugiesen, und der Ort, den diese Menschen gegründet hatten, hieß Benguela.

— Oh, das hieße, sie haben das ganze Land durchquert, wenn Bwana Stanley oder Bwana Cameron das wüßten, diese Nachricht würde mehrere Töpfe ihres Stolzes vergiften. Sie könnten sich nicht mehr damit brüsten, als erste das Land von Osten nach Westen durchquert zu haben, sie müßten lernen, Fußstapfen in anderen Fußstapfen zu sein, sie müßten die Vorstellung ertragen, Nachzügler zu sein. Für sie war jedes Dorf, jeder Fluß, jeder See, jeder Wald wie eine Jungfrau, und sie hatten Begierden von Riesen, die nur zufriedenzustellen waren, wenn sie sich all dieser Jungfrauen bemächtigen konnten. Um diese Gelüste zu befriedigen, nahmen sie alles auf sich, sie erlitten die Kälte, sie erlitten das Fieber, sie erlitten die Bisse und Stiche von Zecken und Mücken und Fliegen, Stiche, die Schwellungen verursachten, die über Nacht wuchsen, bis sie so juckten, daß wir glaubten, wahnsinnig zu werden. Und alles, was die Wazungu erlitten, mußten auch wir erleiden. Das war die schreckliche Erkenntnis, die sich mir aufdrängte, meine Freunde, bald nachdem wir aufgebrochen waren. Wir waren Gefangene einer Karawane, die dem Wahn zweier Wazungu ausgeliefert war, dem Wahn, durch die Hölle zu marschieren, um an ein Ziel zu gelangen, von dem keiner genau wußte, wo es war, wie es war, was es war. Und für uns gab es keine Aussicht auf Erlösung, nur einen Sold, einen kleinen Sold, der zur Hälfte schon bezahlt war und den jene, die in Sansibar Familie hatten, bei ihren Kindern und Frauen zurückgelassen hatten. Mit jedem Stich der stacheligen Kugeln des Akazienbaums wurde mir klarer, auf was ich mich eingelassen hatte. Und für mich gab es keinen Weg zurück. Die Träger, sie konnten versuchen wegzulaufen, weil sie den Weg nach Hause kannten, weil wir ihrem Zuhause entgegengingen, weil keiner in ihrem Dorf sie später zur Rechenschaft ziehen würde, aber ich, selbst wenn ich es alleine durch die Wälder und die Steppen bis zur Küste zurück schaffen sollte, wenn ich auf dieser einsamen Reise nicht verenden, nicht von einem wilden Tier gerissen und nicht in die Fänge der Sklavenhändler geraten würde, ich könnte mein Gesicht nicht mehr hier in Sansibar zeigen, ich war von dem Sultan selbst dazu auserkoren worden, diese Wazungu zu begleiten und ihnen zur Seite zu stehen, bis zu ihrer Rückkehr oder bis zum Ende. Ich mußte weitergehen, ich mußte die Stiche weiter ertragen, für mich gab es nur einen Ausweg, den Weg durch die Hölle.

— Spuckst du wieder große Töne, du alter Schwadroneur. Trägst du wieder mal dick auf?

— Was hast du schon gehört, Frau?

— Wenn du irgendwann in deinem Leben auf etwas anderes achten würdest, als auf deine eigenen Geschichten, dann würde dir auffallen, wie du und deine Freunde die Gasse verstopfen.

— Die Fensterläden knacken unter deinen Tiraden. Wovon sprichst du?

— Es kleben so viele Zuhörer an deinen Lügengeschichten, kein anderer kann mehr durch die Gasse kommen. Da ist eine Wagenfuhre, wenn du dich mal aufrichtest, siehst du sie, der arme Mann wartet schon ewig auf das Ende deines Geschwafels.


Abwechslung, immer wenn sie sich einem Dorf nähern. Die Musketen werden in die Luft gefeuert, selbst der erschöpfteste Träger reißt sich zusammen und reiht sich ein in den Stolz der Karawane, die beäugt wird von den Kindern und den Frauen — mit Sicherheit sind im Hintergrund auch die Augen der Männer auf sie gerichtet. Bei diesen Einmärschen hat Burton das Gefühl, alle Beteiligten führen eine szenische Inszenierung auf, ein dramatisches Gehabe, das ihnen vergeht, sobald sie dem Dorf den Rücken kehren: die Schultern sinken, die Füße schlurfen, die Stimmung schleift über den Boden.

Entschädigung gibt es abends am Lagerfeuer. Manchmal kann er sein eigenes Wort im Gespräch mit Speke nicht verstehen unter dem Lärm der Lieder und des Gelächters. Trommeln werden geschlagen, Glocken erklingen und altes Eisen klappert. Einer der Belutschen, Ubaid, holt eine Sarangi hervor und versammelt alle Halunken des Lagers um sein kräftiges Gekratze herum, so als würde er die Schuppen eines riesigen Fisches abschaben. Hulluk, der Narr der Karawane, übernimmt die Rolle eines Nautsch-Mädchens und tanzt mit vortrefflicher Liederlichkeit. Nach einer großzügigen Gabe an Verrenkungen und Grimassen scheint er entschlossen, mehr zu wagen, seiner Figur mehr Tiefe zu verleihen. Er stellt sich auf den Kopf und beginnt mit seinen Hüften zu wackeln, zu zucken, die Fersen wölben sich von den dürren Knochen wie Fladenbrote, denen zuviel Hefe beigemischt worden ist. Dann verschränkt er, immer noch kopfüber, die Beine im Schneidersitz, und in dieser Position imitiert er den Ruf eines Hundes, der hungrig, einer Katze, die traurig, eines Affen, der dreist, eines Kamels, das bockig ist, und die Rufe eines Sklavenmädchens, das alle Männer des Lagers in dieser Nacht mit lustvollen Versprechen zu sich lockt. Schließlich rollt sich Hulluk in einer unvermittelten und erstaunlich flüssigen Bewegung über den Boden, bis er gekrümmt wie die Verlegenheit vor Burton zu sitzen kommt und auch diesen nachahmt, mit bellender Befehlsgewalt, so unnachgiebig ausdauernd, bis er einen Dollar erhält für seine unverschämte Mühe, den Burton gerne gibt, weil das Lager im gemeinsamen Lachen den Tagesmarsch vergessen hat. Als der Narr allerdings eine weitere Münze fordert, erhält er einen Tritt — er rauscht davon, mit einer Stimme, die so übertrieben von den Enttäuschungen der Liebe piepst, daß alle Lacher ihr hinterhereilen wie herrenlose Köter.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Es waren anstrengende Tage, meine Brüder, hinterhältige Tage, als wir die Wunden unserer heutigen Narben erhielten, Tage, die uns in noch qualvollere Nächte zogen. Die Luft stand, die Moskitos schwirrten, die Kälte befingerte uns mit rauhen Händen, ein Räuber, der sein Opfer immer wieder filzt. Es war, als wollte die Nacht uns all dessen berauben, was in uns war. Einmal trieben uns Heerscharen von schwarzen Ameisen aus den Zelten, sie bissen zwischen unsere Finger und zwischen unsere Zehen, sie bissen in jede weiche Stelle unserer Körper. Die Maulesel, die noch dünnhäutiger sind als Baba Ali, sie schrien und schrien, bis sie wahnsinnig wurden, und jeder von uns glaubte, der nächste Biß werde auch ihn in den Wahnsinn treiben. Der Jemadar, der ansonsten herumstolzierte, als sei er der kleine Bruder der Wazungu, schlich durch das Lager wie ein Vorfahre, der in Vergessenheit geraten war. Nicht nur er, alle waren kopflos, die Belutschen und die Träger. Es wurde geflüstert am Feuer, es wurde beraten, und die Lösung, die aus diesem Flüstern herauskroch, sie lautete: Flucht. Ich schwieg und wandte meine Ohren ab, denn ich wollte mich daran nicht beteiligen, und ich wollte Bwana Burton nicht anlügen. Als wir endlich Schlaf fanden, ein Schlaf, der so schmeckte wie kalter Tschai ohne Zucker, wußten wir, was uns erwartete: Der nächste Morgen würde aufgehen in neuer Verzweiflung, in neuer Einsamkeit.

— Einsam wie eine Witwe.

— Wie eine Witwe, deren zweiter Mann soeben gestorben ist, und die beschlossen hat, nie wieder zu heiraten.

— Baba Ilias, welche Erleuchtung ist in dich gefahren? Ein Bild von dir, das ich mir tatsächlich vorstellen kann.

— Es ist nicht von mir, es ist von einem Somali-Freund.

— Dann rufe bitte künftig die Weisheiten deiner Freunde herbei, anstatt dich auf deine eigenen zu verlassen.

— Wie ist das möglich, Baba Sidi? Habt ihr die ganze Zeit gelitten? Kenne ich dich so schlecht? Ich kann mir nicht vorstellen, du hättest nicht auch dein Vergnügen gehabt?

— Natürlich, du hast recht. Die Leiden des Tages und der Nacht, wir hätten sie nicht überstanden ohne die Freuden des Abends. Ich spreche nicht von dem Essen, oh nein, das Essen war am Anfang ausreichend, nicht mehr als ausreichend, und wer so viel läuft und so viel schleppt wie wir, der ißt viel und rümpft nicht die Nase über das, was in seinem Blechteller liegt, nein, ich denke an die Zeit nach dem Essen, als wir all das Glück nachholten, das uns unter der Sonne versagt geblieben war. Wir tanzten und wir sangen, und als wir merkten, wie gering Bwana Burton und Bwana Speke unsere Tänze und Gesänge schätzten, begannen wir, über sie zu spotten. Einer der Träger war ein Mann mit krummen Beinen, die er beim Tanzen in alle Richtungen schüttelte, wir lachten über seine ungelenke Gelenkigkeit und über seinen schiefen Gesang, der etwa so ging:

Ich bin der Frij, ich bin der Frij,

mein Bruder Spek, mein Bruder Spek,

ist hin und weg, ist hin und weg,

wir spenden ihm ’ne fette Kuh,

damit er findet seine Ruh’.

Und am Ende des Liedes riefen wir alle inbrünstig aus: Amiiiiiin! Als hätten wir ein Gebet vernommen, das alle Dschinns besiegt. Als er unseren Gesang hörte, und natürlich nicht verstand, dachte Bwana Speke wohl, es handele sich um ein Loblied zu seinen Ehren, denn er richtete sich vor seinem Zelt auf, kam zu uns ans Feuer und sang uns eines seiner Lieder, ein Lied, das sich auf den Schultern eines Trauernden aufrichtete, ein Lied, das gut zu einer Beerdigung gepaßt hätte. Aber er sang aus vollem Hals und aus vollem Herzen, und am Ende seines Liedes zeigten wir laut unsere Begeisterung, worauf er einige Tanzschritte vorführte, die er leider bald unterbrach, wahrscheinlich weil er unser Lachen hörte. Ja, meine Brüder, das hat uns Stärke gegeben, als wir erfahren durften, wie lächerlich die Wazungu sein können.


Sie dringen ein in den Regenwald. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Der Horizont, geschluckt. Der Pfad ist vergittert von Lianen, jede einzelne dick wie ein Tau. Die ausladenden Kronen haben sich zu einem dunkelgrünen Dach verflochten, gestützt von grauen Pfeilern, wie in einem heiligen Hain, zu dem nur die schattige Seite der Geräusche durchdringt. Die schwarze glitschige Erde unter dem dichten Gestrüpp schluckt jeden ihrer Schritte. An sumpfigen Stellen können sie sich nur auf Baumwurzeln verlassen. Die Grasbüschel sind so scharf wie frisch geschliffene Klingen, die Bäume von Epiphyten befallen, reptilienhaften Schmarotzern, die an den Wipfeln zu falschen Vogelnestern ausästen. Der Pfad wird von Kriechern und Kletterern erdrosselt. Wer den Weg tötet, murmeln die Träger, tötet auch den Wanderer. Und es stinkt, als läge hinter jedem Baum die Leiche eines Unglücklichen. Die Packen fallen von den Eseln, die Belutschen verfluchen das Unglück und überlassen das Aufladen den anderen. Wenn sie vom Himmel mehr sehen als Fetzen eines verschmutzten Leichentuches, ist er dicht und grau und niedrig, wie Rauch, der nicht abziehen kann. Die Luft überzieht ihre Haut mit einem Miasma, ein Schmutzfilm, der sich nicht abwaschen läßt, auch wenn sie Wasser fänden und sich eifrig abschrubben würden.

Sie wußten von Anfang an, es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die ersten Krankheiten einnisten würden. Aber sie hatten nicht vorhergesehen, daß die Malaria sie beide gleichzeitig überwältigen würde. Sie machen halt knapp hinter der Baumgrenze, wo sich erste Lichtungen zur Steppe ausdehnen. Burton liegt auf dem Boden, unfähig, sich zu bewegen, und er spürt im Inneren ein anderes, ein feindselig gesinntes Wesen, das seine Pläne durchkreuzen will. Irgendwann schreit er: Bevor ich weitermache, will ich wissen, um was es geht. Ihr könnt mich nicht zu diesem endlosen Kampf zwingen, ohne etwas in Aussicht zu stellen. Jene, die ihm antworten, ohne ihm eine richtige Antwort zu geben, die Köpfe, die aus Brüsten wachsen, die mit behaarten Zungen nach ihm lecken, runzlige Weiber, die ihn auspeitschen, und er schreit, sie hätten ihn verwechselt, und sie grinsen hämisch und krächzen ein Lied, das er nicht versteht, zuerst, dann erfaßt er Bruchstücke, die Wörter stürzen herab wie Schmetterlinge ohne Flügel, und er versucht, sie mit einem Netz einzufangen, das aus seinen Händen wächst, und wenn er alle flüchtigen Wörter eingefangen hat, muß er lange in das Netz starren, bis er sie zu einem Sinn zusammenstecken kann: Es gibt kein schöneres Entzücken, es gibt kein größeres Glück als das Krachen der Knochen, die wir brechen, von morgens früh bis spät am Tag. Er blickt auf, die Hexen nicken verzückt, du hast uns verstanden und jetzt gib uns deine Glieder. Wir werden Löcher in sie bohren, wir spucken in sie hinein, du bist so schön behaart, jedes Härchen werden wir dir ausreißen. Gib uns deine Glieder, wir versprechen dir vollendeten Schmerz.

Er wacht auf. Er hat das Gefühl, alles ausgeschwitzt zu haben, was er je getrunken hat. Seine Zunge ist wie eine Raupe, eingesponnen in Bitterkeit. Seine Beine gehorchen ihm nur widerwillig. Er streckt sie wieder aus. Er ruft nach Bombay, der ihm Wasser bringt. Er erkundigt sich nach Speke. Der sei schon aufgestanden.

Burton schleppt sich zum Zelteingang und blickt hinaus. Der Himmel ist verhangen. Er hat das Gefühl, als sei ihm eine gewaltige Schuld erlassen worden. Speke ist in der Nähe. Es ist tröstlich, ihn zu sehen. Er grüßt ihn. Die Wörter rinnen ihm zäh aus dem Mund. Spekes Gesicht ist so straff, als sei seine Haut zum Trocknen auf eine Trommel gespannt worden. Er kommt ans Zelt, beugt sich zu Burton hinab. Wir haben die erste Attacke zurückgeschlagen, sagt er. Dann streckt er seine Hand aus und berührt sanft Burtons Wange. Es wirkt ungelenk, aber es ist ein Zeichen der Verbundenheit. Burton schöpft Hoffnung. Ich werde mich ein wenig ausruhen, sagt er. Dann können wir weiter. Wir sehen uns. Und er kriecht in sein Zelt zurück.

Speke, mein verwirrendes Rätsel Speke, denkt er in der zerbrechlichen Stille, die dem Fieber folgt. Er darf ihn nicht ungerecht beurteilen, weil er so schwer einzuschätzen ist. Er hat sich bislang bewährt. Er erledigt seine Aufgaben zuverlässig; er beschwert sich nie über die Härten des Reisens — wenn es einen spartanischen und einen athenischen Grundtypus von Menschen gibt, dann ist Speke eindeutig der spartanischen Seite zuzurechnen. In sich gekehrt, ruhig und ausgeglichen. Er ist zwar selten gutgelaunt, aber auch nie mißmutig, nie verdrießlich. Gewiß, es gibt manches an ihm, was ihn ärgert. Von Anfang an hat ihn das grenzenlose Desinteresse gestört, das Speke seiner Umwelt gegenüber an den Tag legt. Alle Landschaften, die sie bislang durchschritten haben, fand er fad, die Menschen uninteressant — das einzige, was Leidenschaft in ihm weckt, sind die wilden Tiere, die er erlegen kann. Als könne er sich dem Leben nur nähern, indem er sich seiner bemächtigt.

Burton war vorgewarnt: Kurz nachdem sie sich kennenlernten, als Speke von einem Ausflug ins Landesinnere an die Küste Somalias zurückkehrte, trugen seine Träger so schwer, als sollten sie eine weitere Arche Noah beladen. Eine Reprise unter umgekehrten Vorzeichen, denn von jedem Tier gab es ein einziges prächtiges Exemplar, und dieses war nicht nur tot, sondern auch schon aufgebrochen und ausgeweidet. Ich bin ein Jäger, hatte Speke erklärt, als er an Bord kam, und ein Sammler. Deswegen gefällt es mir in diesen Breiten so gut.

Leider hat sich dieses Gefallen rasch abgenutzt. Es ist kein gutes Zeichen, daß ihm schon nach wenigen Wochen langweilig ist. Wie wird es erst in einigen Monaten sein? Speke hat ihn angelächelt, er hat ihn tatsächlich angelächelt, das ist gut, er hat sich doch bewährt, alles ist gut, wieso nagt es in seinem Inneren, wieso sieht er nur Enttäuschungen voraus, die seine Menschenkenntnis bloßstellen werden, zum wiederholten Male.

Das Fieber wallt wieder auf. Er trinkt einige Schlucke und macht sich auf den Anfall gefaßt.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Es gab Tage, an denen wir frühmorgens aufwachten, lange vor Sonnenaufgang, und das erste, was wir fühlten, war der Schmerz, den der Tag uns bereiten würde. An einem solchen Morgen aufzustehen, das erfordert Mut, in der Kälte verhöhnen dich deine eigenen Hoffnungen, du spürst das Gewicht der Ballen, die auf die Schultern deiner Mitleidenden gehievt werden, du kämpfst im Getümmel um den leichtesten, du spürst, wie verwachsen deine Füße sind, du möchtest dich zusammenkauern wie ein Wehrloser, der die Schläge der Tage nicht mehr erträgt, und du sehnst dich nach einem Abgrund, der alles verschluckt. An solchen Morgen sahen wir klar, wir hatten den Anfang weit hinter uns gelassen und wir waren noch weiter vom Ende entfernt, und wir sahen, wie verkümmert wir waren, und wir erkannten, wie sehr wir Hilfe brauchten. Die Erde lächelte uns nicht mehr an, es war an der Zeit, einen Mganga aufzusuchen.

— Gott behüte uns!

— Nein, Sidi, nicht schon wieder diese Geschichte, diese Schande!

— Ach, ich weiß nicht, wieso du dich so aufregst, Baba Quddus, ich habe das Gefühl, unsere Brüder hier genießen ein wenig Schande, besonders auf Kosten anderer. Außerdem stammte der Vorschlag nicht von mir, damals wußte ich nichts von einem Mganga. Es war der Wunsch von Salim bin Said, es war der Wunsch aller Nyamwezi. Ihr wollt einen Zauberer aufsuchen? Kann das nicht warten, bis wir diese Etappe hinter uns gebracht haben? Die Wazungu haben reagiert, wie manche von euch reagiert hätten, sie haben reagiert, wie ich es von ihnen erwartet hatte. Vor allem Bwana Speke, der kaum etwas wußte und kaum etwas verstand, der aber glaubte, es gebe nichts, was er nicht durchschaute. Auch Bwana Burton äußerte sich abschätzig, zunächst, reine Zeitverschwendung, sagte er, doch dann dachte er nach, er war ein Mensch, der seine Meinungen gelegentlich überprüfte, so wie die Menschen in den Dörfern ihre Häuser nach der Regenzeit überprüfen, und manchmal änderte er dann seine Meinung, manchmal errichtete er sogar ein völlig neues Haus. Leise sagte er: Was kann es schon schaden? Ich sehe nicht, antwortete ich, wie es uns schaden könnte. Im Gegenteil — seine Stimme richtete sich auf —, es kann uns von Nutzen sein. Also trat er vor die gesamte Männerschaft und begrüßte diesen Vorschlag mit Feuer in seinen Worten, und als wir einen Mganga gefunden hatten, zog er mich zur Seite und bat mich, dem Mann ein Geschenk in Aussicht zu stellen, für eine gute Prophezeiung, fügte er hinzu, und in seinen Händen hielt er auf einmal eine jener Korbmützen aus Indien, eine schöne, weiße Mütze, und er rieb seinen Daumen an ihr, als genieße er es, den Stoff zu berühren. Der Mganga, dem wir uns anvertrauten, war ein Mann von hoher Geburt, seine Würde überragte ihn um eine Haupteslänge, er hatte einen bunten Stoff um seine Stirn gebunden, es hingen viele Ketten um seinen Hals, und jede dieser Ketten war mit unterschiedlichen Perlen, mit unterschiedlichen Muscheln, besetzt. Er war ein Mann, den ich mir auf unserer Seite wünschte, denn ich spürte, in ihm war eine Kraft umzäumt, die jederzeit aus ihm herausbrechen konnte. Als sich das Schweigen auf uns alle gelegt hatte, nahm er eine starke Prise Schnupftabak, holte seine Gurde heraus, die Medizin enthielt, und begann sie zu schütteln, worauf es in ihr rasselte, als sei sie voller Kieselsteine. Seine Stimme donnerte von weit unten, als wurzele sie in der Erde. Ich hatte so eine Stimme noch nie gehört. Es war seine Stimme, doch sie gehörte nicht ihm allein. Sie klarte auf, langsam näherte sie sich der Luft. Ich sage euch, meine Brüder, ich hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Ich war erstaunt, und doch wirkte er vertraut auf mich, wie ein Mensch, dem du zum ersten Mal begegnest und dessen Gesicht dir trotzdem bekannt ist. Ich war gebannt. Als seine Stimme hoch und leicht war, die Vögel hätten ihr nicht folgen können, legte der Mganga die Gurde auf den Boden, sie rollte ein wenig zur Seite, die Gurde wackelte, und ich hatte das Bedürfnis, ich weiß nicht wieso, ich war mir in diesem Augenblick fremd, ich wollte den Kürbis beruhigen, ich wollte ihn anfassen, ich streckte meine Hand aus, zum Kürbis hin, aber er lag zu weit entfernt von mir, und es war mir nicht möglich, mehr zu bewegen als meine Hand. Der Mganga holte zwei Ziegenhörner aus seinem Sack, einem Jutesack, den ich an diesem Ort nicht erwartete und über den ich euch später noch etwas sagen muß, sie waren mit Schlangenhaut zusammengebunden, diese Ziegenhörner, und mit kleinen eisernen Glocken verziert. Er packte die Hörner an der Spitze und schwang sie im Kreis, er richtete sie gegen Bwana Burton, er richtete sie auf mich, er richtete sie auf die Träger und auf die Belutschen, und ich konnte nichts anderes sehen als diese Hörner, die vor meinen Augen tanzten, und nichts anderes hören als das Murmeln und das Flüstern und das Spucken des Mganga, der seinen Oberkörper hin und her wiegte, der die Hörner schneller und schneller schüttelte, und die Glocken erklangen immer lauter. Ich zitterte. Später erfuhr ich, die anderen haben auch gezittert, auch sie waren wie gelähmt. Hätte der Mganga seine Hand ausgestreckt, ich wäre ihm gefolgt. Ich spürte, er stand mit den Geistern im Einklang, er war verbunden mit den Geistern der Vorfahren, und in mir war ein Schmerz, als würden vergessene Vorfahren mein Herz aus mir herausschneiden, der Mganga stand in Verbindung, dachte ich, mit dem Geist seines Vaters und mit dem Geist seines Großvaters, und ich wußte nicht einmal, wie mein Vater und mein Großvater aussahen, wie ihre Stimmen klangen. Öffne mich, flehte ich ihn stumm an, zeige mir den Weg zurück. Aber der Mganga war fertig, er riß seine Augen auf, räudigere Augen habt ihr nie gesehen, nur ein Narr hätte keine Angst empfunden vor den Geheimnissen, die hinter diesen Augen glühten. Er drehte sich zur Seite und sprach sein Urteil, und es klang wie das Wort eines heiligen Mannes: Wir hätten Feinde, aber unsere Feinde seien nicht mächtiger als wir, sie seien nicht entschlossener als wir. Unsere Reise werde erfolgreich verlaufen. Wir atmeten auf, langsam, als sei noch nicht sicher, ob wir uns diesen Atemzug erlauben durften. Es werde viel Streit, aber wenig Morden geben. Wir würden eine große Menge an Elfenbein einfahren. Wir würden zurückkehren zu Frau und Familie. Unter jenen, die keine Frau hätten, werde einer seine Frau auf dieser Reise finden, ein anderer werde die Treue einer Wartenden belohnen, und ein Dritter werde die Frau verlassen, die ihm geschenkt werden würde. Bevor wir uns auf einen großen, tiefen See wagten, sollten wir ein farbiges Huhn opfern. Das war eine leichte Aufgabe, die Aussichten waren beruhigend, wir waren erleichtert und beglückt.

— Und der Sack, was war mit dem Sack?

— Es war ein Jutesack, wie sie ihn verwenden für Reis oder Gewürze, ein Jutesack aus Sansibar, auf dem ein Name geschrieben stand, der Name eines der größten Händler dieser Stadt, ihr kennt ihn alle, es war der Name des Banyan, der mich als Junge auf dem Sklavenmarkt für einige Münzen erworben hatte.

— Du bist an diesem Tag von Dschinns überwältigt worden, Baba Sidi. Deine Gebete in der Zeit danach haben deinen Verstand wieder befreit.

— Ich habe danach nie mehr wieder gebetet, nicht so, wie du das Gebet verstehst.

— Wie es vorgeschrieben ist!

— Mir nicht, das habe ich erkannt, als der Mganga die Hörner in meine Richtung schüttelte. Ich unterwerfe mich Gott, ja, aber die fünf Gebete, sie sind nicht mir vorgeschrieben worden. Vielleicht dir, Baba Quddus, vielleicht den Arabern, aber nicht mir. Ich habe Vorfahren, und sie heißen nicht Mohammed und nicht Abu Bakr und nicht einmal Bilal, ich habe andere Vorfahren, nur weiß ich nicht, wie sie heißen. Der rechte Glaube, er kann mir die Namen meiner Vorfahren nicht nennen. Er ist machtlos. Der rechte Glaube, er verspricht mir ein besseres Morgen, aber ich will den Weg ins Gestern finden. Der rechte Glaube, er behauptet, es gebe nur eine Richtung, die Richtung gegen Mekka, weil es nur einen Mittelpunkt gebe, den Allmächtigen, aber in den Augen des Mganga habe ich eine andere Richtung gesehen, viele andere Richtungen, und du hast recht, mein Verstand war vielleicht benommen, mein Herz aber war befreit.

— Wenn das Herz weint, weil es etwas verloren hat, lacht der Geist, weil er es gefunden hat. Ein altes arabisches Sprichwort.

— Deswegen, Bruder, deswegen scheust du selbst am Freitag die Gemeinschaft des Gebetes. Du hast es uns noch nie so deutlich erklärt.

— Heute abend muß ich euch einiges sagen, was ich bislang verschwiegen habe, weil es wichtig ist, wenn auch traurig und ernst.

— Sei mir nicht böse, Baba Sidi, ich werde weiterhin für dich beten. Gott soll entscheiden, was wir nicht klären können.

— Betet im stillen, soviel ihr wollt. Aber in den Senken zwischen den Gebeten herrscht die Neugier, und ich möchte wissen, wie die Geschichte weitergeht. Die Wazungu, waren sie beeindruckt von der Kraft des Mganga?

— Bwana Burton schmunzelte, er war zufrieden, er war mit sich selbst zufrieden. Er schlug mir auf die Schulter, ein schrecklicher Brauch der Wazungu, und er sagte: Ein Präsent zur rechten Zeit bringt den Reisenden sehr weit. Ich versuchte ihm zu erklären, was keiner Erklärung bedurfte. Ein so heiliger Mann lasse sich nicht durch eine Mütze, und sei sie noch so schön in Surat gewoben worden, beeinflussen. Der Mganga, sagte ich geduldig, wie zu einem Kind, war vom Geist besessen, das konnte jeder sehen. Um so besser, sagte Bwana Burton mit einem fetten Grinsen, das ich gerne geschlachtet hätte, dann hat unser Geschenk den Geist bestochen. Die Geister lassen sich nicht bestechen, sagte ich, und er erwiderte: Wenn sie ansprechbar sind, dann kann man sie auch korrumpieren. Er hatte unrecht, Bwana Burton, ich war mir sicher, er hatte unrecht, aber ich konnte es ihm nicht beweisen. Aus Scham, denn ich hatte die Mütze dem Mganga überhaupt nicht angeboten, ich wollte ihn nicht beleidigen. Und außerdem saß sie so gut auf meinem Kopf.

— Dieser Mann fürchtete sich also nicht vor Geistern.

— Nein. Aber er hatte Verwendung für sie. Nach diesem Abend begann er jedem, der sich ihm widersetzte, mit Dawa zu drohen. In seiner Sprache gibt es einen merkwürdigen Namen für Dawa, sie nennen es das schwarze Handwerk. Er wäre, glaube ich, gerne ein Meister dieses schwarzen Handwerks gewesen. Du hast dich lustig gemacht über den Mganga, aber du glaubst ernsthaft an die Macht von Dawa? Und er antwortete mir in einer Sprache, die in seinem Land die Sprache des schwarzen Handwerks ist: Ignoramus et ignorabimus, sagte er, und es klang so gut in meinen Ohren, ich vertrieb mir den nächsten Tag damit, meine Schritte in dieser Zauberformel zu wiegen: Igno-ramus-et’igno-rabimus.

— Was bedeutet das?

— Ich weiß es nicht, ich habe die Bedeutung vergessen.


Hongo. Immer. Überall. Kaum sind sie angekommen, wird es schon eingefordert. Fast ein Bestandteil der Begrüßung. Welch ein Empfang! Zahlt Hongo, sonst lassen wir euch nicht durch. An jedem Halt. Primitive Häuptlinge, die sich das Vorrecht von Fürsten anmaßen. Hongo! Der Bastard aller Zölle dieser Welt. Ihr müßt zahlen. Für nichts und wieder nichts. An diese Zwergtyrannen des Busches. An eine schier endlose Zahl von Gierhälsen. In jedem Dorf gibt es einen Vorsteher, der heißt Phazi. Oder so ähnlich. Die Titel ändern sich, je weiter sie ins Inland dringen. Nicht aber die Unersättlichkeit. Während er ihnen das Gastgeschenk überreicht, stieren sie schon danach, ob er nicht noch mehr im Gepäck hat. Die Vorsteher haben Berater. Mwene Goha, das ist der oberste Kammerherr, was für eine absurde Bezeichnung, Hüttenherr würde besser passen, oder Lehmherr, er ist die rechte Hand des Häuptlings, sein oberster Vielfraß. Unter ihm walten drei Ränge von Ältesten, ein Senat unter Schirmakazie. Ihnen unter die Augen zu treten bedeutet, zu weiteren Geschenken aufgefordert zu werden. Für die sichere Durchreise. Hongo verkleidet sich mal als Bitte, mal als Drohung. Fremde, kann der Gruß lauten, was für ein schönes Ding habt ihr uns von der Küste mitgebracht? Und wenn das schöne Ding durch alle Hände gewandert ist, heißt es: Wir sind uns noch immer fremd, aber der Schmerz über die Fremdheit ist gelindert. Das ist Erpressung, schimpft Burton. Doch niemand übersetzt seine Worte. Seine Geschenke sind prächtig. Mal vierzig Stoffbahnen, mal hundert Halsketten aus Korallenperlen, aber sie reichen nicht aus, denn sie müssen mit dem ersten und dem zweiten und dem dritten Rang geteilt werden, und die Vorsteher — einer von ihnen hat an seinem imperialen Titel Vorsteher Großer Mann Des Vorrangs so schwer zu tragen, daß er sich seinem Volke niemals nüchtern zeigt — haben ein ganzes Dorf mit Frauen und Kindern zu ernähren. So betrachtet erscheinen die Geschenke fast bescheiden, eine kleine Geste des abhängigen Gastes. Wie wollen diese Kreaturen vorankommen, tobt Burton, wenn sie die ersten Besucher, die ihr Land in friedlicher Absicht bereisen, ausnehmen. Es muß doch in ihrem Interesse sein, den Handel zu fördern, und es ist mit Sicherheit nicht der richtige Weg, das ganze Land zu hongoisieren. Burton muß sich Sorgen machen. Sie sind noch weit von Kazeh entfernt, doch die Vorräte neigen sich schon dem Ende zu. Sie müssen es nur bis nach Kazeh schaffen. Von dort aus wird er Nachschub von der Küste ordern können. Er hätte tausend Träger mitnehmen müssen, um die Erwartungen an seine Großzügigkeit zu befriedigen. Es ist widerwärtig, diesen Parasiten so viel in den Rachen schieben zu müssen. Sie knechten ihre eigene Bevölkerung. Wenn es um ihre Finanzen schlecht bestellt ist, organisieren sie Überfälle auf benachbarte Völker, entführen deren Kinder und deren Frauen und verkaufen diese an die nächste Sklavenkarawane — der Preis wird als Mehrwert auf die Hongo-Steuer geschlagen. Ihre eigenen Untertanen dürfen sie nur bei Ehebruch als Sklaven verkaufen oder bei Schwarzer Magie, je nach Schwere des Vergehens. Der Mganga allein entscheidet über Schuld oder Unschuld, meist durch eine Probe mit kochendem Wasser. Wenn die eingetauchte Hand Wunden aufweist, ist das Verbrechen bewiesen. Entlarvte Hexen werden umgehend verbrannt. Mehrmals sind sie an Aschehäuflein vorbeigekommen, geschwärzte Menschenknochen und einige Stücke halbverglühter Holzkohle. Auch das ist Hongo, bezahlt von den Unglücklichen, die in diesen unseligen Breiten leben müssen. Weiter. Sie müssen alles Hongo überstehen, um Kazeh zu erreichen.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Nichts war Bwana Speke wichtiger als seine Gewehre. Jeden Abend säuberte er sie, fettete sie ein, er behandelte sie liebevoller als die Lasttiere. Am Tage gab er das Gewehr nie aus der Hand, er hielt immer nur nach dem einen Ausschau. Während manche von uns auf den Weg achteten, auf den Himmel, auf die Frauen am Wegrand oder auf die Wurzeln über dem Boden, spähte Bwana Speke nur nach Tieren. Plötzlich hörten wir einen Schuß, und wenn wir uns schnell genug umdrehten, sahen wir einen Vogel vom Himmel fallen oder eine Antilope durch den Busch brechen. Es geschah einige Male am Tage und wir gewöhnten uns daran, es war wie selbstverständlich. Bwana Speke bereitete sich nicht vor, er pirschte sich nicht heran, er entfernte sich höchstens wenn nötig einige Schritte vom Pfad und schoß. Und er traf immer. Vereinzelte Beute zuerst, bis wir in das Land der vielen, vielen Tiere kamen, wir durchquerten dieses Land, wir durchliefen es, und wir ließen ein Land der vielen toten Tiere hinter uns.

— Wie das?

— Du willst ein Rätsel mit uns teilen?

— Kein Rätsel, meine Freunde, oder vielleicht doch ein Rätsel, ein Rätsel über das, was der Mensch ist, und das, was der Mensch tut.

— Das Rätsel wird schwieriger.

— Meine Brüder, die meisten von euch wissen nichts über das Jagen. Ihr habt Sansibar nicht verlassen, und in Sansibar streifen die wilden Tiere durch die Luft. Ihr seid Meister des Fischens, aber Fischen ist nicht Jagen. Wenn die Zanzibari etwas jagen, dann die Affen von ihren Feldern. Meine Vorfahren, sie waren Meister der Jagd, sie haben gejagt mit Geduld, denn der Wald gibt nur dem geduldigen Jäger, und mit Waffen, die nicht schärfer waren als die Zähne der wilden Tiere. Sie waren andächtig, bevor sie auf die Jagd gingen, und sie waren andächtig, nachdem sie von der Jagd zurückgekommen waren. Wenn sie eine große Antilope erlegen konnten, war das Fest in unserem Dorf groß. Solche Jäger waren meine Vorfahren, und die Brüder, die ich in meinem ersten Leben hatte, sie sind bis zum heutigen Tag solche Jäger, dessen bin ich mir sicher.

— Bestimmt, Baba Sidi, bestimmt. Was hast du vor? Willst du uns Graubärtige noch zu Jägern erziehen?

— Ich bin ganz froh, nichts über die Jagd wissen zu müssen. Kennt ihr die Geschichte, wie der Hodja zur Löwenjagd geschickt wird, und als er zurückkehrt, strahlt er, also fragen sie ihn, wie viele Löwen hast du getötet, und er antwortet: keinen einzigen. Wie vielen bist du nachgejagt, fragen sie weiter, und er antwortet: keinem einzigen. Wie viele hast du gesehen, setzen sie nach, und er antwortet: keinen einzigen. Wieso bist du dann so fröhlich, fragen sie, und er antwortet: Wenn du auf Löwenjagd gehst, ist kein einziger mehr als genug.

— Oh, Baba Ibrahim, oh oh, das ist gut, ich hatte diese Geschichte vergessen, sie ist wunderbar.

— Hört mir zu, und laßt den Hodja mal Hodja sein. Als wir die Savanne erreichten, wo sich die Herden über die Ebene erstreckten wie ein Teppich, hätte ich fast meine Zunge verschluckt. Bwana Speke forderte mich auf, ihn zu begleiten, und wir trotteten über die Ebene, bis er einen geeigneten Platz ausfindig gemacht hatte, eine Kopje zum Beispiel, oder einen breiten Baobab. Er legte an, er begann zu schießen, bis mir die Ohren wund wurden, und wer es sich ansehen konnte, der sah, wie die Tiere umfielen, ein Tier nach dem anderen, wie Ballen, die weggeworfen werden. Nach dem ersten Schuß versuchten die Tiere zu entkommen, sie schnaubten voll Schrecken, sie waren weit weg, aber ich spürte Angst durch ihre Nüstern tosen, sie wußten nicht immer, wohin sie fliehen sollten, und die Herden waren so groß, Bwana Speke hatte Zeit für viele weitere Schüsse. Die Tiere, die getroffen wurden, die Tiere, die umfielen, ich zählte sie zu Dutzenden, ich konnte die Tiere nicht mehr sehen, der Staub, den ihre Hufe aufwirbelten, schluckte sie, und es gab nur noch eine Masse Leben und eine Masse Tod und einen wilden Wirbel dazwischen.

— Sieh die Stuten, wie sie rasen,

ihre Hufe Funken schlagen,

wie sie früh am Morgen stürmen,

und im Staubessprühen brechen

durch des Gegners Reihen!

— Und es geht weiter, Baba Quddus, wie glorreich es weitergeht, jedes Wort trifft, so genau wie die Schüsse von Bwana Speke:

Wahrlich, voller Undank ist der Mensch,

wahrlich, hierfür ist er selbst sich Zeuge,

wahrlich, was ihn antreibt, ist nur Gier.

— Im Namen Gottes.

— Solange Bwana Speke einen Schuß abfeuern konnte, der die Aussicht auf Tod in sich trug, schoß er. Er war wie ein aufgeregtes Kind, und manchmal trieb ihn die Aufregung hinter den Herden her, er lief mit langen, starken Schritten und schoß in die fliehenden Herden hinein. Er konnte nicht auf ein bestimmtes Tier zielen, das war unmöglich, er zielte nur dorthin, wo seine Kugeln Blut finden konnten. Sein Gesicht glänzte dabei, es war wie das Gesicht von Baba Burhan zu Bakri Id, es war voller Glück, es war voller Rausch.

— Und du?

— Ich mußte ihm die Gewehre reichen, ich mußte sie tragen, ich mußte auf sie aufpassen, es waren häßliche Tage, an denen er jagte.

— Was für Tiere schoß er, Großvater?

— Alles, alles, was sich bewegte. In dieser Hinsicht war er bescheiden. Sogar Krokodile und Nilpferde, das war besonders widerlich, denn wir mußten am Ufer warten, bis die Kadaver an die Wasseroberfläche stiegen.

— Wieso bleiben sie nicht unter Wasser?

— Weil sich in ihrem Magen fängt, was beim Furzen auch aus dir herausbricht, mein Lichtblick. Du mußt dir vorstellen, Tausende von Fürzen, die blähen das Nilpferd auf, bis es so prall und rund ist wie einer meiner besten Freunde.

— Ich weiß, wen du meinst, Großvater, ich weiß es genau.

— Gut, mein Liebling. Aber behalte es für dich.

— Wieso denn? Er weiß es doch auch.

— Ihr hattet jede Menge Fleisch zum Essen.

— Nein! Hört zu, ihr werdet jetzt ein neues Staunen kennenlernen. Bwana Speke zeigte kein Interesse an dem Fleisch. Nicht einmal an den Hörnern. Wir eilten weiter. Wir ließen die toten Tiere zurück, und ich weiß nicht, ob jemand sie gegessen hat, denn nicht immer waren Dörfer in der Nähe. Nur einmal, als er eine schwangere Antilope schoß, da befahl er, wir sollten sie aufschlitzen und die Leibesfrucht für ihn kochen.

— Nein!

— Wir weigerten uns, die Träger, die er zuerst aufforderte, sie weigerten sich, und dann richtete er seinen Befehl an mich, und ich weigerte mich auch, wie könnte ich so etwas tun, ich würde Geister in die Welt setzen, die mich peinigen würden, solange ich lebte. Er wurde wütend, er schlug mir ins Gesicht.

— Er hat dich geschlagen!

— Ich verlor einen meiner Vorderzähne, hier, dieses Loch, das hab ich Bwana Speke zu verdanken.

— Das hast du zugelassen?

— Was sollte ich tun? Er war der Herrscher der Karawane. Er beschimpfte uns auch, wir seien verrückt, weil wir an irgendwelche Dummheiten glauben.

— Und der andere Mzungu?

— Er hielt sich aus diesem Streit heraus. Seine Worte waren oft gewalttätig, aber er selbst? Ich sah ihn nie töten. Ich weiß nicht, was er über das Jagen von Bwana Speke dachte, aber einige Male lehnte er seinen Wunsch ab, wir sollten halten, weil die Gegend so einladend sei für eine Jagd. Bwana Speke war dann verärgert, doch er verbarg es vor Bwana Burton. Nur wenn wir beide alleine waren, dann schimpfte er, und obwohl ich fast nichts verstand, hörte ich die Wut in seiner Stimme. Je länger wir reisten, desto öfter waren sie sich uneinig. Ich glaube, Bwana Speke fiel es schwer, ein Untergebener zu sein. Die Karawane hatte zwei Kommandanten, so sah er es, zwei Anführer, die zugleich Rivalen waren. Ich hatte mich getäuscht, ich hatte geglaubt, die beiden wären Freunde, aber später, viel später, auf der zweiten Reise, als mein Englisch besser war und Bwana Speke offener mit mir redete, da begriff ich, auf dem ersten Teil der Reise stand er an der Schwelle zum Haß, sein Ehrgeiz zerfraß seine Gefühle der Dankbarkeit und der Verbundenheit, und als es zu dem Streit kam, der alles in Frage stellte, da schwappte sein Haß über und ertränkte alles andere. Noch vor dem Ende der Reise, noch bevor wir die rettende Küste wieder erreichten, sollte er mir vorwerfen, daß ich Bwana Burton geholfen hätte, ihn zu vergiften. So stark war sein Haß.

— Und trotzdem hat er dich auf die zweite Reise mitgenommen?

— Ich verstehe nicht, wie du ihn wieder begleiten konntest. Er hat dich doch geschlagen.

— Er ist wieder zu Verstand gekommen. Er brauchte mich, und er wußte meine Dienste zu schätzen. Wir bildeten eine gute Gemeinschaft. Ich gab ihm das Gefühl, der Anführer zu sein, ich habe gelernt, meine Ungeduld zu zügeln, ich konnte abwarten, bis er seine Sätze in der Sprache der Banyan zusammengesucht hatte, und dann konnte ich ihm die Auskunft erteilen, nach der er verlangte, und er mußte sie nicht bei Bwana Burton erbitten. Er traute mir mehr und mehr. Auf der zweiten Reise erfuhr ich alles, was mir auf der ersten Reise verborgen geblieben war. Bwana Speke war ein Mensch mit zarten Gefühlen, und Bwana Burton hatte seine Gefühle niedergetrampelt. Er hatte ihm gezeigt, für wie dumm er ihn hielt. Er wußte, wie man einen Menschen herablassend behandelt. Und Bwana Speke hatte sich insgeheim gerächt, er hatte eine Verachtung in sich herangezüchtet für alles, was Bwana Burton früher getan hat und alles, was er auf dieser Reise tat. So war ihre Beziehung: Bwana Burton verachtete Bwana Speke, weil er nur das Schießen von Tieren im Kopf hatte, und Bwana Speke verachtete Bwana Burton, weil dieser kein Interesse an der Jagd hatte.


Was auch immer der Tag ihm abverlangt, wie auch immer er ihm zugesetzt hat, am Abend setzt sich Burton hin — nachdem Bombay einen Stuhl und ein Pult zu einer provisorischen Arbeitsecke in seinem Zelt auseinandergefaltet hat — und schreibt alles nieder, was er beobachtet, gemessen und erfahren hat. Ob es draußen stürmt, ob sich Wasser unter seinen Stiefeln sammelt und die Befehle von Speke zu ihm dringen, der das Abdecken der Waren mit Planen beaufsichtigt. Er schreibt, selbst wenn seine fiebrigen Finger den Füller kaum halten und seine entzündeten Augen das Tintenfaß kaum erkennen können, in das er die Spitze eintaucht. Selbst wenn er sich nur noch danach sehnt, sich auszustrecken und den Tag möglichst schnell zu vergessen.

Es handelt sich nicht nur um eine Übung in Selbstdisziplin; er betrachtet es als seine Pflicht, dieses Land in der Schrift zum Leben zu erwecken. So einer wie er schreckt nicht vor großen Herausforderungen zurück, aber wenn er sich vor Augen führt, welche Bedeutung seinen Aufzeichnungen zukommt, fühlt er sich doch ein wenig eingeschüchtert. Er bekämpft diese Unsicherheit mit Details, mit all den Details, die er aus den Unterhaltungen herauspressen kann, bis kein Tropfen nützlicher Information mehr herauszuholen ist.

Bombay steht an erster Stelle unter den Informanten. Wenn sie sich beide anstrengen, können sie fast jeden Gedanken austauschen, indem sie sich des Hindustani bedienen, getragen von einigen arabischen Stützen und einigen Kisuaheli-Pfeilern. Vor allem, wenn es sich um die örtlichen Bräuche und den allgegenwärtigen Aberglauben handelt, ist Bombay sein Gewährsmann, denn er betrachtet, was ihnen begegnet, mit einer gewissen Vertrautheit, aber auch mit einem nützlichen Maß an Befremdung. Nach einem weiteren intensiven Gespräch mit Bombay — Burton sitzt, hört aufmerksam zu, notiert, was seinem Gedächtnis entgleiten könnte; Bombay steht hinter ihm, damit er zugleich seine Schulter und seinen Nacken massieren kann — schlägt er sein Notizbuch auf und trägt einen weiteren Vermerk ein:

Folglich behaupten die Wanyika, genauso wie unsere Philosophen, daß Koma eine subjektive und nicht eine objektive Existenz erfaßt; und doch ist Hexerei ihr einziger Glaubenssatz. All ihre Krankheiten erheben sich aus dieser Besessenheit, und kein Mensch stirbt das, was wir als einen natürlichen Tod auffassen würden. Ihre Riten sind darauf gerichtet, entweder Böses von sich selbst abzuwenden oder auf andere zu laden, und das primum mobile ihrer Opfergaben ist das Interesse des Mganga, des Medizinmannes. Wenn der entscheidende Moment gekommen ist, benennt der Geist, der zuvor beschworen wurde, den Körper des Besessenen zu verlassen, irgendein Objekt, technisch ›Kehi‹ genannt, ein Stuhl, in welchem, getragen um den Hals herum oder an den Gliedern, es sich aufhalten wird, ohne den Träger zu behelligen. Diese Idee liegt vielen abergläubischen Praktiken zugrunde: die Vorstellung des Negers von einem ›günstig gesinnten Heilmittel‹ ist ein Objekt, wie die Kralle eines Leoparden oder Ketten von weißen, schwarzen und blauen Perlen, Mdugu ga Mulungu (Geist-Perlen) genannt und über der Schulter getragen, oder die Lumpen, die einem Kranken abgenommen worden sind, und die an den Baum gehängt oder befestigt werden, den die Europäer den ›Teufelsbaum‹ nennen. Der Dämonengeist zieht das ›Kehi‹ der Person des Kranken vor, so daß kraft gegenseitiger Einigung beide Seiten glücklich sind. Manche, vor allem Frauen, besitzen ein Dutzend Quälgeister, ein jeder mit seinem ganz eigenen Talisman versehen, davon einer, der lächerlicherweise ›Barakat‹ heißt, was auf Arabisch ›Segen‹ bedeutet, und dem Namen des äthiopischen Sklaven entspricht, den Mohammed geerbt hat.

Burton lehnt sich zurück, liest den Absatz noch einmal durch und schließt zufrieden sein Notizbuch. Das Thema scheint ihm fürs erste abgehandelt. Die Menschenkunde bietet in diesen Breiten gewiß das interessanteste Betätigungsfeld, die vielen Stämme samt ihrer kulturellen Eigenheiten müssen erfaßt und geordnet werden. Ihre Religion hingegen, wenn der Begriff in diesem Zusammenhang überhaupt Verwendung finden darf — Bombay hat ihm versichert, daß ihre Sprachen weder ein Äquivalent zu Dharma noch zu Diin kennen —, war von geringem Interesse, und er bezweifelt, daß die Forscher, die durch die Schneisen eintreten werden, die er auf dieser Expedition schlägt, diesem Feld besondere Aufmerksamkeit widmen werden.

Zudem, wenn die Missionare einmal einmarschiert sind, wird von dem einheimischen Aberglauben wenig übrigbleiben. Afrika ist nicht Indien, Kehi hat weitaus weniger Gewicht als Karma, und die Servanten Gottes werden sich wie Aasgeier auf jede heidnische Seele stürzen. So weit, so klar, nur eines verstört ihn: Bombay, der nicht auf den Kopf gefallene Bombay, dessen Name Mubarak ein höheres und überlegenes Versprechen birgt, der mit dem Reichtum von Al-Islam vertraut ist, dieser Bombay ist offensichtlich tief berührt von all dem Hokuspokus, beeindruckt von den Quacksalbern. Sitzt denn das Gift der kindlichen Erziehung so tief, daß er sich davon nicht befreien kann, obwohl er so vielen anderen, befriedigenderen Wahrheiten begegnet ist? Oder ist er einem Wahn verfallen, seine persönliche, labile Reaktion auf die Härten der Reise? Er sollte ihn unter Beobachtung halten, denn wenn Bombay ausfiel, würde ihnen ein guter Mann fehlen.


SIDI MUBARAK BOMBAY

Hört zu, meine Brüder, hört aufmerksam zu, denn nun kommt der Teil, der jeden von euch interessiert, nun kommt die Geschichte von den Frauen dieser Reise, von den Frauen unserer Karawane. Als wir aufbrachen, da blieben wir Männer fast nur unter uns, abgesehen von einigen wenigen Ehefrauen der Träger, wir waren mehr als hundert Männer, und kein einziger von uns war alt, kein einziger von uns war schwach. Es war nicht richtig, daß wir einen Pfad entlanggehen mußten, den wir nicht kannten, daß wir alles erdulden mußten, was zwischen dem Leben und dem Tod steht, und dabei auf die Begleitung von Frauen verzichten sollten. Es war nicht richtig, daß unsere Nächte einsamer waren als unsere Tage. Es dauerte nicht lange, und die Karawane schwoll an, gewann an Rundungen, es gab immer mehr Männer, die sich am Abend nicht an unseren Gesängen und nicht an unseren Tänzen beteiligten, je länger die Reise andauerte, desto mehr Frauen begleiteten uns. Bwana Burton und Bwana Speke waren besorgt, was die Frauen für einen Einfluß auf die Karawane haben könnten.

— Wo kamen diese Frauen denn her?

— Die meisten wurden den Sklavenhändlern abgekauft, denen wir begegneten, und manche schlossen sich einem der Männer an, weil er sie oder die Eltern der Frau überzeugt hatte, mit Geld oder mit seiner Zunge. Das waren Paarungen, die länger hielten, denn wer seine Frau kaufte, der wußte nicht, was er kaufte, und keinem erging es so schlecht wie dem armen Mann, dem die Frau mit dem Namen ›Weißichnicht‹ zuteil wurde. Sie war gebaut wie ein Bulle, wie ein prächtiger, glänzender Bulle, den zu besitzen jeder Mann stolz wäre, deswegen hatte sie sechs Stoffe und eine große Rolle Messingdraht gekostet, Said bin Salim hatte sie erworben und sich sogleich die Finger an ihr verbrannt, denn sie war zänkischer als ein alter, einsamer Büffel. Da sie von den Menschen stammte, die sich Knochenscheiben durch die Oberlippe stecken, stand ihre Lippe wie der Schnabel einer Ente ab. Schon ihr Anblick flößte jedem von uns Respekt ein, ihr Verhalten aber versetzte uns in Furcht. Said bin Salim reichte sie zwar an den kräftigsten unter den Trägern weiter, an einen Mann namens Goha, aber auch er war gegen sie machtlos, sie behandelte ihn von Anfang an mit Verachtung, und ich weiß nicht, ob sie ihn nächtens wärmte, aber ich weiß, was jeder von uns wußte, sie bescherte dem armen Goha bald einen und bald darauf ein Dutzend Nebenbuhler. Sie zerbrach jeden Gegenstand, den man ihr gab, damit sie ihn nicht tragen mußte, sie brachte die ganze Karawane durcheinander, wir redeten über kaum etwas anderes, jeder verdächtigte den anderen, sie insgeheim zu begehren, denn so erstaunlich es klingen mag, meine Brüder, je hochfahrender sie sich verhielt, desto lüsterner wurden wir. Ihr hättet ihre festen Arme und ihre festen Schenkel sehen müssen, zwischen ihnen lag das Paradies, so dachten wir, und dieser Gedanke, dieser Anblick, er hatte viele staubige einsame Schritte Zeit, in uns aufzugehen. Nichts, was sie tat, konnte löschen, was in uns brannte, nicht ihre Beleidigungen, nicht ihre Schroffheit. Sie lief fast jeden Abend weg, und jedesmal wurde sie wieder eingefangen, von Männern, die sich zu dieser verhaßten Aufgabe freiwillig gemeldet hatten, und nachdem sie zurückgebracht worden war, zeigte sie weder Reue noch Scham. Sie war so einmalig, so einmalig schwierig, jedes Boot, auf dem sie fuhr, würde untergehen. Und so beschloß Said bin Salim schließlich, sie gegen einige große Säcke Reis an einen Araber in Kazeh einzutauschen, und das war das schlechteste Geschäft, das dieser erfahrene Händler in seinem ganzen Leben gemacht hat, denn am nächsten Morgen erschien er bei uns und klagte bitterlich, sie habe ihm den Schädel eingeschlagen. Wir lachten und lachten und waren froh, sie losgeworden zu sein, doch insgeheim träumten unsere Lenden davon, wie es gewesen wäre, in ihren Armen zu liegen.

— Solche Träume kenne ich, sie vergehen so langsam wie Brandwunden.

— Wie eine Schwellung am Kopf!

— Es müssen neue Träume an die Stelle treten.

— Es muß eine neue Frau kommen, und die alte ist weggewischt wie der Abdruck eines Blattes.

— Zeige mir den Abdruck eines Blattes, Baba Ilias.

— Genau das will ich sagen, du Steinkopf, die Erinnerung an die Frau ist plötzlich so flüchtig wie der Abdruck eines Blattes.

— Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Baba Ilias, du mußt immerzu erklären, was du eigentlich sagen willst.

— Das hängt allein von den Zuhörern ab, Baba Yusuf. Wer nicht verstehen will, der stolpert über seine eigenen Fragen.

— Kommt näher, meine Brüder, kommt näher. Salim ist zu Bett gegangen, und die Drohungen, die gelegentlich auf uns herabprasseln, sind verstummt, was auch immer der Grund dafür sein mag, wir sollten uns der Segnungen erfreuen, solange wir können. Es gibt unter euch keinen, der nicht wüßte, ich bin von meiner ersten Reise mit einer Frau zurückgekehrt, mit einer jungen Frau, die es mir angetan hatte von dem ersten Augenblick an, als ich sie sah, am Fluß, wo sie mit den anderen Mädchen des Dorfes unsere Sachen wusch. Der Morgen duftete nach erwachenden Pflanzen, nach Blüten im Tau, und ich hatte nichts zu tun, ich hatte keine Arbeit, meine Füße trugen mich zum Fluß, auf Umwegen, ich zwängte mich durch eine Böschung, und auf einmal stand ich am Wasser, und nicht weit von mir entfernt waren die jungen Frauen des Dorfes, gebückt schlugen sie Kleidungsstücke gegen einen Stein, der im Wasser lag, flach wie ein Tisch. Ich sage, die Frauen des Dorfes, aber eigentlich meine ich nur eine Frau, die meinen Blick gefangennahm. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber was ich sah, das erfreute mich so sehr, ich wollte es so lange anschauen, wie ich nur konnte. Ich bewegte mich nicht, ich starrte auf diese Frau, deren Körper glänzte von all den Wassertropfen, die von den ersten ausgelassenen Sonnenstrahlen des Morgens umspielt wurden, ihre Haut war dunkel, so dunkel wie meine, und ihre Bewegungen waren so kräftig und so fest wie die meinen damals. Lange stand ich am Ufer, gefangen von dem Anblick dieses Mädchens, bis ich mich traute, näher zu treten. Ich hatte nicht bedacht, die Mädchen könnten mich nicht bemerkt haben, ich war überrascht, als das erste Mädchen, das mich erblickte, einen spitzen Schrei von sich gab, und alle anderen wirbelten umher im Wasser, als seien sie Fische, die nach einem Bissen schnappen. Ich blieb stehen, meine Hände versuchten mich zu entschuldigen, alle Frauen drehten sich um, damit sie mich beäugen konnten, sie wandten sich ab, um ihre Scham zu schützen, sie waren aufgeregt und erschrocken, und das eine Mädchen, das es mir angetan hatte, es gab sich bescheiden, und doch blickte es mich unvermittelt mit lächelnden Augen an, und in diesem Augenblick lag die größte Aufgabe meines Lebens. Ich wollte diese Augen für immer ansehen dürfen, nicht nur das, ich wollte dieses Mädchen mit den lächelnden Augen für immer besitzen. Wer bist du? fragte eines der älteren Mädchen. Ich bin Sidi Mubarak Bombay, sagte ich, der Führer der Karawane. Ach, sagte die junge Frau, die es mir angetan hatte, dann sind das deine Kleidungsstücke, die wir hier waschen? Und sie hob die Hose hoch, die sie gerade in ihren Händen hielt, und ließ sie baumeln, und die Mädchen lachten, und ich lachte mit ihnen, weil es nichts anderes gab, was ich tun konnte, und weil das Lachen einen Menschen schöner macht, und ich mußte meinem abgenutzten Gesicht so viel Schönheit verleihen, wie ich nur konnte. So etwas trage ich nicht, sagte ich, als das Lachen ausdünnte. Soso, rief eines der anderen Mädchen, du bist wohl nicht so wichtig, du darfst die Kleider der Herren noch nicht tragen. Sie sind unbequem, stammelte ich. Was trägst du denn, Mann von der Küste? fragte das Mädchen, das es mir angetan hatte. Ein Tuch, so wie dieses hier, und wenn es kalt wird, oder an Feiertagen, trage ich eine Kanzu. Vielleicht wasche ich gerade für dich, rief ein anderes Mädchen aus, und es hielt eine Kanzu hoch. Ich bin dir dankbar, sagte ich, selbst wenn diese Kanzu vielleicht nicht die meinige ist. Laß uns tauschen, sagte das Mädchen, das es mir angetan hatte, und die beiden knüllten die Stoffe zusammen und warfen sie sich zu, und die Rufe und das Gelächter der anderen Mädchen zogen sich zusammen zu einem stürmischen Geschrei, aus dem ich ausgeschlossen war. Prüf doch erst einmal, ob sie ihm überhaupt paßt, rief eines der anderen Mädchen. Und mein Mädchen ließ die Kanzu auseinanderfallen, hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich und beäugte mich über den Kragen hinweg. Ich kann das so nicht abschätzen, rief es. Und die Rufe der anderen Mädchen durchnäßten mich wie dichter Regen, ich konnte sie nicht auseinanderhalten, die vielen Rufe der Anfeuerung und Herausforderung. Geh doch zu ihr, hörte ich, hast du etwa Angst, hörte ich, laß dich messen, hörte ich, er traut sich nicht ins Wasser, hörte ich, und auf einmal stand ich vor dem Mädchen, das es mir angetan hatte und das eine weiße Kanzu in den Händen hielt. Ich versuchte zu lächeln, aber die junge Frau heulte auf mit flatternder Zunge, wie es die Menschen in dieser Gegend bei Beerdigungen tun, und das Lachen um mich herum brauste noch mehr auf, als sie mit ihrer lautesten Stimme rief: Ach, ist der klein. Und tatsächlich, es war mir nicht aufgefallen, sie war größer als ich, um einiges größer als ich, und da die Kanzu ihr fast bis zur Nasenspitze reichte, konnte sie nicht meine Kanzu sein, und mein Herz schrumpfte, weil es so schön gewesen wäre, wenn sie mir meine Kanzu entgegengehalten hätte. Paß auf, rief ein anderes Mädchen, der fällt durch diese Kanzu hindurch, das Lachen war inzwischen zu einem Wasserfall geworden, an einem reißenden Fluß. Doch das Mädchen, das vor mir stand, kein schönes Mädchen, die Nase etwas schief und etwas lang, das Kinn zu spitz, doch ein Mädchen, wie ich es noch nie gesehen hatte, die Augen zwei hüpfende und springende und tollende Dik-Dik, es lachte nicht mehr, es blickte mich mit leicht geneigtem Kopf nachdenklich an, die Kanzu glitt nach unten, der Blick, in den wir uns verhedderten, war wie ein Palmwedeldach, das uns vor dem niederprasselnden Lachen schützte. Wir standen da, bis eines der Mädchen die anderen wieder zur Arbeit rief und das Mädchen vor mir sich kopfschüttelnd umdrehte, so wie alle anderen Mädchen mir auf einmal den Rücken zukehrten und sich bückten, um Kleidungsstücke aus dem Wasser zu ziehen. Ich konnte nicht dort stehenbleiben, als sei ich eine Weide, ich mußte mich zurückziehen, obwohl ich sie, die es mir angetan hatte, noch stundenlang hätte betrachten können.

Ich kehrte in unser Lager zurück, langsam, meine Gedanken auf einem kleinen Feuer, das sie nicht aufkochen und nicht zur Ruhe kommen ließ, und ich stellte fest, wie ungut es war, an diesem Tag in diesem Dorf keine Beschäftigung zu haben. Wohin ich auch blickte, ich sah nur die junge Frau vor mir, das lachende Mädchen mit einer Hose in der Hand, dann mit einer Kanzu in der Hand, den ernsthaften Blick, der plötzlich an die Stelle ihres Lachens getreten war, und ihr Hinterteil, ich weiß, ich rede wie ein junger Mann, der seine Zunge noch nicht gezähmt hat, aber ihr Hinterteil vertrieb alle anderen Gedanken aus meinem Kopf. Es war ein Unglück oder es war ein Glück, je nachdem, ob ihr mich fragt oder ob ihr sie fragt, je nachdem, wann ihr mich fragt und wann ihr sie fragt.


Was schreibst du?

Speke schon wieder. Die Klappe des Zeltes hält ihn nicht davon ab zu stören. Er weiß nicht, wie er sich die Zeit vertreiben soll; gleich wird er ein Problem mit ihm besprechen wollen, das er sich vor lauter Langeweile ausgedacht hat. Bin beschäftigt, Jack, dokumentiere die jüngste Etappe unserer Expedition.

Was gibt es da groß zu beschreiben? fragt Speke. Alles sieht gleich aus, eine einzige monotone Soße, egal, ob Wald oder Steppe. Und die Menschen sind noch langweiliger als die Landschaft, sie sehen überall gleich aus, und überall der gleiche dumpfe Ausdruck auf den Gesichtern, was verschwenden wir unsere Zeit, eine Karte dieses Landes zu zeichnen — der weiße Fleck, der beschreibt doch bestens, was sich uns hier offenbart.

Burton spürt, wie er seiner eigenen Zurückhaltung überdrüssig wird. Er hat es nie gelernt, den Mund zu halten. Weißt du, Jack, sagt er, es hätte mich mißtrauisch stimmen sollen, daß du in zehn Jahren Indien nicht mehr als dieses Gestammel von Hindustani gelernt hast. Rechtfertige nicht die Blindheit, zu der du dich selbst verurteilt hast. Gerade die Menschen sind das Interessante in diesem Land, du wirst es erleben, die Kunde von den Menschen wird die Wissenschaft der Zukunft sein für diesen Kontinent.

Du wühlst gern in jedem Morast, das ist mir schon aufgefallen, du verspürst eine perverse Faszination für Unkraut und Ungeziefer, das ist allgemein bekannt, so erkläre mir doch bitte, was war an dem heutigen Tag interessant, an diesem Dorf, in dem alle völlig besoffen waren. Das hast du doch gemerkt, Dick, oder? Deine Hellsicht wird doch nicht ein ganzes besoffenes Dorf übersehen haben? Dabei war es früher Nachmittag.

Nun, ich bin überzeugt, ein ganzes Buch könnte über dieses Besäufnis geschrieben werden. Über das Brauen des Hirsebieres etwa. Jeder Dorfbewohner ist sein eigener Braumeister, ist dir das zu Ohren gekommen? Oft übernehmen die Frauen diese Arbeit. Die Hälfte der Hirse wird in Wasser eingeweicht, bis sie keimt …

Mich interessiert es nicht, wie dieses Bier gebraut wird. Mich interessiert nur die Wirkung. Die Häuptlinge hatten mittags schon eine dicke Stimme, feurig-rote Augen und die zudringliche Art des Betrunkenen.

Und den Grund für das Besäufnis? Hast du den mitbekommen? fragt Burton.

Ja, ich kenne den Grund, und der macht das Ganze keineswegs erträglicher. In der Früh hat es ein Begräbnis gegeben, ein alter Mann wurde unter die Erde gebracht, und kurze Zeit später, als wir auftauchten, da war kein Anzeichen von Trauer zu spüren, im Gegenteil, es gab viel Gelächter und Frohsinn und Plauderei.

Wie in Italien, sagt Burton, das größte Fest des Lebens ist die eigene Beerdigung. Es gibt ein Lied im Mezzogiorno, das geht etwa so: Ach wie lustig ging es zu bei meiner eigenen Leich.

Völliger Humbug, Dick: Diese Wilden haben ihre Gelüste nicht unter Kontrolle. Wie kann sich ein ganzes Dorf am hellichten Tag besaufen. Kein Wunder, daß sie so arm sind.

Arm? Ja, arm sind sie, aber auch geistreich. Weißt du, was sie gesagt haben, als ich sie fragen ließ, wieso sie so ausgelassen feierten? Wegen des toten Mannes, sagten sie, wir freuen uns für ihn, denn er ist endlich dort angekommen, wo er schon eine ganze Weile hinzugelangen hoffte.

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