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In den Tagen nach der Beerdigung ging der Priester die Ereignisse jener Nacht an der Seite des Sterbenden immer wieder durch, bis er die Erinnerung nicht mehr ertragen konnte. Unter den Vorwürfen, die er sich machte, bedrückte ihn einer besonders. Die Ehefrau hatte ihn zu einer si es capax gedrängt, der Letzten Ölung für jene, die nicht mehr bei Bewußtsein sind. Aber der Brite war bei Bewußtsein gewesen, er hatte ihm in die Augen geblickt, als er sich über ihn gebeugt hatte. Der Priester hatte keinen Versuch unternommen, mit ihm zu sprechen. Statt dessen hatte er dem Drängen der Ehefrau nachgegeben, er hatte sich nicht getraut zu fragen, ob der Sterbende das Sakrament wünsche, geschweige denn, ob es ihm zustehe. Obwohl er den Mann nicht kannte. Was war er nur für ein Priester? Es mußte einen Weg geben, die Wahrheit zu erfahren. Erst dann würde er seinen Seelenfrieden wiederfinden. Wenn er die Diener ausfragte? Diener wissen doch alles. Zudem würden sie ehrlichere Auskunft geben als die Ehefrau, der er nicht vertrauen konnte, gerade weil sie so eine eifrige Katholikin war. Verwirrend. Es war eine bedrohlich unverständliche Situation.


Bei der Sonntagsmesse bemerkte Massimo, wie ihn ein Priester beäugte. Ein vornehm aussehender Priester. Doch er schien mehr Interesse an ihm zu haben als an der Messe. Er sah aus wie ein Diener Gottes, der den Reichen beistand. Ein junger, glattrasierter Mann mit hochnäsigem Blick. Er hatte sich bestimmt verlaufen, in dieses Viertel. Am Sonntag morgen? Wieso beäugte er ihn? Nach der Messe, auf der Treppe, sprach der Priester ihn an.

— Bist du Massimo Gotti?

— Der bin ich.

— Kann ich einige Worte mit dir wechseln?

— Mit mir? Wieso, Padre?

— Du hast im Haushalt des Signore Burton gedient.

— Das habe ich.

— Einige Jahre lang.

— Neun Jahre.

— Hast du Umgang mit dem Signore gehabt?

— Umgang? Ich bin der Gärtner.

— Du hast mit ihm gelegentlich gesprochen?

— Einige Male.

— Weißt du etwas über seinen Glauben?

— Er war gläubig.

— Bist du dir sicher?

— Völlig sicher.

— Woran hast du das erkannt?

— Er war ein guter Mann.

— Das hoffen wir, für ihn. Aber auch ein Heide kann ein guter Mensch sein.

— Heide? Er war kein Heide.

— Er ist selten bei der Messe gesehen worden.

— Es gibt eine Kapelle in dem Haus.

— Du hast ihn dort beten sehen?

— Ich arbeite draußen.

— Du hast ihn also nicht beten sehen?

— Er hat gebetet. Das weiß ich bestimmt. Vielleicht hat er woanders gebetet. Er war ein sehr starker Mann. Bestimmt kein Heide, Heiden sind anders.


Nichts hatte er von diesem dümmlichen Gärtner erfahren. Die Dienstmagd. Hoffentlich wußte sie mehr. Ein leichtes, sie auf dem Markt anzusprechen. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, daß sie seine Beweggründe hinterfragen würde. Was sollte er ihr antworten? Er konnte ihr unmöglich seine Zweifel eingestehen. Er log sie an, er beging weitere Fehler, um Klarheit über seine Verfehlung zu gewinnen. Mein Gott, in was hatte er sich da verrannt. Er behauptete, für die Zeitung der Diözese einen Nachruf verfassen zu müssen, einen Nachruf, der die vielen Seiten des Signore Burton beleuchten sollte. Ach, sagte die Dienstmagd zu seinem Erstaunen — Anna hieß sie —, Sie wollen herausfinden, ob er ein guter Katholik war?

— Das ist eine der Fragen, die uns interessieren.

— Ich würde sagen, ja und nein.

— Du bist dir nicht sicher?

— Oh doch, ich bin mir völlig sicher. Er wußte sehr viel über den Glauben. Manchmal erzählte er mir Heiligengeschichten, die ich noch nie gehört hatte. Wußten Sie, daß der heilige Josaphat ein Inder war? Er hieß eigentlich Buda oder so ähnlich.

— Hast du diesen Geschichten geglaubt?

— Oh ja, seinen Geschichten mußte man glauben.

— Aber du hast auch bezweifelt, daß er ein guter Katholik war?

— Mit gutem Grund.

— Ich habe gehört, es gibt in dem Haus eine kleine Kapelle.

— Sehen Sie, genau das ist es. Dort war er nie. Nur die Herrin ging in die Kapelle und manchmal auch ich. Das hat sie erlaubt.

— Vielleicht hat er in seinem Zimmer gebetet?

— Ich habe ihn nie beten gesehen.

— Vielleicht hat er nicht in deiner Anwesenheit gebetet.

— Wenn er zu Hause war, verließ er sein Arbeitszimmer meist den ganzen Tag nicht. Und dort, Padre, dort gab es keinen Platz zum Beten, auch kein Kreuz und kein Bild unseres Heilands.

— Ich verstehe. Hast du ihn jemals etwas Ungewöhnliches tun sehen?

— Er hat nur Ungewöhnliches getan.

— Hast du ihn in einer merkwürdigen Position überrascht? Auf dem Boden sitzend oder kniend?

— Nein. Er saß immer auf seinem Stuhl, wenn ich hereinkam. Oder er lief in seinem Arbeitszimmer umher. Manchmal deklamierte er etwas.

— Was denn?

— Ich habe es nicht verstanden.

— Natürlich, er war Engländer.

— Es war nicht auf englisch.

— Du verstehst Englisch?

— Kein Wort. Wozu auch. Die Herrschaften sprachen hervorragend italienisch. Untereinander immer englisch. Nach so langer Zeit, ich war mehr als elf Jahre im Dienst, man gewöhnt sich an den Klang einer Sprache.

— Was für eine Sprache war es?

— Das kann ich Ihnen nicht sagen.

— Du hast ihn nicht gefragt?

— Wo denken Sie hin, Padre!

— An was hat es dich erinnert?

— An ein Gedicht oder an ein Gebet. Einfältig, immer wieder dasselbe.

— Wie ein Refrain?

— Was ist das?

— Eine Wiederholung des Wichtigsten. So wie wir immer wieder sprechen: Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.

— So etwas, vielleicht. Ähnlich.

— War es ein häßlicher Laut, der aus dem Rachen kommt?

— Nein, eigentlich klang es schön.

— Hörst du, klang es etwa so: Bismillah-hir-rahman-nir-rahim?

— Nein, das war es nicht.

— Oder so: Laa-illaha-ilallah?

— Jaja. So klang es. Sie kennen es? Bestimmt war es das.

— Mein Gott!

— Habe ich etwas Falsches gesagt, Padre?

— Was habe ich bloß getan!

— Was ist denn, Padre?

— Er war Mohammedaner, er war ein verdammter Mohammedaner.


Die Abendsonne strich die Dachziegel glatt, als er den Gang auf sich nahm, den er unbedingt hatte vermeiden wollen. Er suchte den Bischof auf, seinen Beichtvater. Er schilderte ihm die Zweifel, die sich in ihm ausgebreitet hatten wie Pilzkulturen. Die überhandgenommen hatten seit dem Gespräch mit der Dienstmagd. Er hatte sich gefürchtet vor diesem Gespräch, er hatte sich nicht zugetraut, offen auszusprechen, was ihn bedrückte. Doch die Vorwürfe, die er sich ausgemalt hatte, sie hätten ihn nicht annähernd so tief verunsichert wie die völlig ruhige Reaktion des Bischofs. Er lächelte mit jener Souveränität, die einem zufällt, wenn man in einem Palazzo lebt. Wenn man in so eine Position hineingeboren wird. Der Priester hingegen hatte hart studieren müssen, er hatte die Stiege der Bildung erklommen, und trotzdem, er war hereingelegt worden von einem, der über mehr Macht verfügte, mehr Selbstsicherheit. Ich sehe, ich hätte Sie einweihen sollen, sagte der Bischof nonchalant. Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, daß ich Signore Burton die Beichte einmal abgenommen habe.

— Sie selbst?

— Seine Gemahlin hat ihn gedrängt, zur Beichte zu gehen. Über Jahre hinweg, wie ich vermute. Sie hat auf ihn eingeredet. Sie hat ihn angefleht. Es wird dein Herz erleichtern, hat sie ihn beschworen. Das einzige, was ihm das Herz leichter machen würde, hat er geantwortet, sei die Nachricht, daß er nicht bald sterben müsse. Gewitzte Kreatur, dieser Signore Burton.

— Wieso haben Sie ihm die Beichte abgenommen?

— Er war der britische Konsul in unserer Stadt, und seine Frau ist eine treue Tochter der Kirche. Außerdem, unter uns gesprochen, ich nehme gerne Menschen, die selten beichten, das Sündenbekenntnis ab. Tatsächlich erwies sie sich als interessant.

— Interessant?

— Er hat zunächst behauptet, er habe nichts zu beichten.

— Wie überheblich.

— Obwohl er mehr als ein Jahrzehnt Offizier war, obwohl er auf allen Kontinenten in größte Gefahr geraten sei, habe er nie einen Menschen umgebracht. Sie wissen gar nicht, wie hoch mir das anzurechnen ist, sagte er. Ich bedrängte ihn ein wenig, worauf er eine kleine Sünde gestand, eine petite bêtise, wie er sich ausdrückte. Zwar habe er niemanden getötet, aber einmal habe er das Gerücht in die Welt gesetzt, einen Araber umgebracht zu haben, weil dieser beobachtet habe, wie er im Stehen pinkelte. Das sei allerdings miserabel erfunden, er müsse sich nachträglich selber rügen, versuchen Sie in diesen Gewändern aufrecht stehend zu pinkeln, sagte er, das sei völlig unmöglich. Ich habe ihm erklärt, das könne nicht wirklich als Sünde durchgehen, es müsse etwas Schwerwiegenderes in seinem reichhaltigen Leben geben. Nein, behauptete er. Nichts, was ihm einfallen würde.

— Haben Sie ihn gefragt, ob er stets ein guter Christ war?

— Oh ja, er reagierte heftig. Das wollen Sie nicht wissen, Hochwürden, rief er aus, glauben Sie mir, das wollen Sie weit umgehen. Er habe noch etwas anzubieten, eine wirklich große Schande, sagte er nach einer Weile, als er merkte, daß ich mich nicht so leicht zufriedengeben würde, er schäme sich heute noch dafür, eine Jugendsünde, im Sindh, es sei nicht wichtig, wo das liege, Gott wüßte es, er sei einmal dort gewesen und schnell wieder weitergezogen. Da unterbrach ich ihn, das ging doch zu weit. Pardon, sagte er, diese Beichtangelegenheit macht mich nervös, Sie merken es, ich erkenne mich selber kaum wieder.

— Ich weiß, wo dieser Sindh liegt, er hat lange dort gelebt. Unter Mohammedanern.

— Im Sindh, sagte er, hätten irgendwelche Amateure ohne Kenntnis und Verstand nach archäologischen Schätzen gegraben. Archäologie, das Wort existierte damals noch nicht, eine bedeutende Wissenschaft, er sei der letzte, der das bestreite, aber damals habe er sich einen Spaß erlaubt, er habe einen billigen roten Tonkrug, im Atheneum-Stil, bemalt mit etruskischen Figuren, zerhauen und die Scherben dort verbuddelt, wo die eifrigen Sucher gerade ihre Ausgrabung vornahmen, und sie hätten die Scherben natürlich gefunden, die Aufregung unter ihnen sei groß gewesen, sie hätten sich mit dem Fund gebrüstet und behauptet, die Geschichte der Etrusker und vielleicht sogar die Geschichte des alten Rom müßten neu geschrieben werden. Das habe sich als etwas voreilig erwiesen. Er wisse nicht, ob sein Freund Walter Scott sie aufgeklärt habe, oder ob ihnen von alleine Bedenken gekommen seien, nachdem sie keine anderen Funde gemacht hätten, aber eines Tages hätten sie ihre Sachen zusammengepackt und seien verschwunden. Er schäme sich heute noch dafür. Eine erstaunliche Beichte, finden Sie nicht auch?

— Eine verjährte Lüge. Und das war alles?

— Nein, ich habe schon noch mehr aus ihm herausgeholt. Er hat gestanden, er sei an dem Tag, an dem er von der Königin Victoria zum Ritter geschlagen wurde, zu einem Drucker in ein verruchtes Viertel südlich der Themse geeilt, er habe den Empfang frühzeitig verlassen, um die Neuauflage eines Buches namens Kamasutra vorzubereiten. Ich war auch von dieser angeblichen Sünde wenig beeindruckt, bis er mir erklärte, was in diesem Buch steht. Ich kann es nicht wiederholen, es genügt zu sagen, es ist sündhaft durch und durch. Und er hat es nicht nur verlegt, er hat es auch übersetzt. Und dann hat er mir von fleischlichen Gelüsten in Afrika berichtet, denen er nachgegeben habe, mit drei Frauen, ein wahres Sodom, ich mußte ihn unterbrechen, ich hatte genug gehört. Ich habe ihm das te absolvo erteilt und ihn schnell hinauskomplimentiert. Es hatte so harmlos angefangen, und dann auf einmal …

— Wenn er in seinem Leben so viel gelogen hat, woher wissen wir, wo er in Fragen des Glaubens stand?

— Sie machen sich unnötig Sorgen. Er war Katholik. Basta.

— Woher wissen wir das?

— Er hat zu mir gesagt: Wenn schon Christ, dann wolle er am liebsten Katholik sein.

— Was für ein Glaubensbekenntnis.

— Seien wir Realisten. Wer glaubt schon aus freien Stücken.

— Ja, aber die Unfreiheit sollte von Gott bestimmt sein.

— Ach, da fällt mir ein, er hat noch etwas gesagt, Sie werden sehen, er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor: Er sei Katholik, weil es in Triest leider keine Elchasiten gebe. Sehnsucht nach den Elchasiten, haben Sie so etwas schon einmal gehört?

— Was bedeutet das? Was bedeutet das für mich?

— Sie sollten die Angelegenheit hinter sich lassen.

— Hat er Gott wenigstens gesucht?

— Durchaus, und wie die meisten Menschen selten gefunden. Er hatte einen ungewöhnlichen Standpunkt in dieser Frage. Kein Mensch wird Gott wirklich begegnen, erklärte er mir einmal bei einem festlichen Dinner. Denn was würde geschehen? Seine Persönlichkeit würde sich auflösen, er würde in Gott aufgehen. Kein Ich mehr, keine Zukunft mehr, er würde ins Ewige übertreten. Wer würde schon ein Mensch bleiben wollen, wenn er in Gott sein könnte. Bemerkenswerte Logik, nicht wahr?

— Was folgte für ihn daraus?

— Daß wir suchen wollen, natürlich, aber auf gar keinen Fall finden. Genau das habe er ein Leben lang getan, sagte er. Er habe überall gesucht, die meisten Menschen hingegen, die würden immer wieder in denselben Topf blicken. Dann schaute er mir forsch in die Augen. Etwas verschmitzt, muß ich sagen.

— Sie halten daran fest, er war Katholik?

— Sagen wir es so, er war ein Katholik ehrenhalber.

— Das überfordert mich. Wieso haben Sie mich hingeschickt?

— Weil ich ungern mitten in der Nacht aus meinem Bett gescheucht werde. Jetzt lassen Sie diese Angelegenheit ruhen, bevor sie mir lästig zu werden beginnt.


Richard Francis Burton starb früh am Morgen, noch bevor man einen schwarzen von einem weißen Faden hätte unterscheiden können. Über seinem Kopf hing eine persische Kalligraphie, auf der geschrieben stand:

Auch dies wird vergehen.

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