18. Kapitel

Den leitenden Diagnostiker der Pathologie kannte Conway gut genug, um ihn von all den anderen Tralthanern, die in der Kantine saßen, unterscheiden zu können, und er war angenehm überrascht, Murchison am selben Tisch zu sehen. Wie üblich versorgte Thornnastor seine Assistentin mit dem neuesten Klatsch über andere Spezies, und die beiden waren darin so vertieft, daß sie nicht einmal bemerkten, als sich Conway zu ihnen an den Tisch gesellte.

„…bei einer Lebensform mit einer Körpertemperatur von nur ein paar Grad über dem absoluten Nullpunkt würde man den Trieb zur wahllosen Paarung nicht für wahrscheinlich oder auch nicht einmal für möglich halten“, polterte die Stimme des Tralthaners pedantisch aus dem Translator. „Aber glauben Sie mir, eine geringfügige Erhöhung der Körpertemperatur kann, selbst wenn sie versehentlich durch die Behandlung verursacht wird, bei den anderen anwesenden SNLU-Geschlechtern zu heftiger Erregung führen. Vier Geschlechter bei einer einzigen Spezies sind sowieso schon verwirrend, selbst wenn man ein SNLU-Band im Kopf gespeichert hat, und ein gewisser melfanischer Chefarzt — Sie wissen schon, wen ich meine — war gefühlsmäßig so durcheinander, daß er mit den Greifvorrichtungen seines Fahrzeugs die Bereitschaft signalisiert hat.“

„Ehrlich gesagt, Sir, sind meine Probleme von etwas anderer Natur.“, begann Murchison.

„Das ist mir klar“, unterbrach Thornnastor sie. „Aber wirklich, das scheint doch kein großes emotionales, physisches oder psychologisches Problem zu sein. Natürlich finde ich die Praktiken dieses Paarungsvorgangs persönlich abstoßend, bin aber dennoch bereit, die Angelegenheit nüchtern zu betrachten und Ihnen jeden Ratschlag zu geben, den ich geben kann.“

„Mein Problem ist die deutliche Erregung, die ich verspürt habe, während ich fünfmal hintereinander untreu gewesen bin“, sagte Murchison.

Die reden über uns! dachte Conway und spürte, wie sein Gesicht allmählich rot anlief. Doch die beiden waren immer noch zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um ihn oder seine Verlegenheit zu bemerken.

„Dieses Thema werde ich gerne mit meinen Diagnostikerkollegen erörtern“, sprach Thornnastor schwerfällig weiter. „Vielleicht sind einige von ihnen auf ähnliche Schwierigkeiten gestoßen. Ich selbst natürlich nicht, denn wir FGLIs geben uns diesen Aktivitäten nur einen ganz kurzen Teil des tralthanischen Jahrs über hin, und in dieser Zeit ist die Betätigung. nun ja, eher von frenetischer Begeisterung geprägt und keinesfalls Gegenstand irgendwelcher scharfsinnigen Selbstanalysen.“ Einen Moment lang nahmen alle seine Augen einen verträumten Blick an. Dann fuhr er fort: „Jedenfalls deutet eine kurze Befragung meines terrestrischen Gehirnpartners darauf hin, daß sich DBDGs nicht mit unwichtiger und überflüssiger emotionaler Haarspalterei beschäftigen, sondern sich einfach entspannen und den Vorgang genießen. Ist der Paarungsvorgang für Sie trotz der leichten Unterschiede, die Sie eingangs erwähnt haben, noch immer angenehm und schön?. oh, hallo Conway!“

Thornnastor hatte das Auge, mit dem er zuvor die Mahlzeit betrachtet hatte, zu Conway nach oben geschwenkt und fuhr nun fort: „Wir haben gerade von Ihnen gesprochen. Offenbar stellen Sie sich sehr schnell auf die Probleme mit den vielen verschiedenen Gehirnpartnern ein, und gerade eben hat mir Murchison erzählt, daß Sie.“

„Ja“, bestätigte Conway schnell. Flehend blickte er in das eine Auge des Tralthaners und in die beiden von Murchison und fuhr fort: „Bitte, ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie diese ganz persönliche Angelegenheit mit niemand anderem besprechen würden.“

„Ich sehe keinen Grund, warum man das nicht tun sollte“, entgegnete Thornnastor und richtete auf ihn ein zweites Auge. „Diese Angelegenheit ist zweifellos von grundlegendem Interesse und wäre für Kollegen, die vor ähnlichen Problemen gestanden haben oder demnächst stehen, bestimmt aufschlußreich. Manchmal sind Ihre Reaktionen nur schwer zu verstehen, Conway.“

Der Diagnostiker auf Probe blickte Murchison zornig an, die, wie er meinte, mit ihrem Chef viel zu offen über ihre grundlegend interessanten Probleme gesprochen hatte.

Doch warf sie ihm lediglich ein liebliches Lächeln zurück und sagte dann zu Thornnastor: „Sie müssen ihn entschuldigen, Sir. Ich glaube, er hat Hunger, und Hunger wirkt sich sowohl auf sein Bewußtsein als auch auf seinen Blutzuckerspiegel aus, wodurch er sich manchmal ein wenig unlogisch verhält.“

„Ah ja, auf mich hat Hunger die gleiche Wirkung“, pflichtete ihr der Tralthaner verständnisvoll bei und richtete das Auge wieder auf den Teller.

Murchison bestellte über die Tastatur bereits ein Sandwich, daß für sämtliche Gehirnpartner Conways optisch annehmbar war.

„Bestell bitte gleich drei davon“, bat Conway sie mit einem Lächeln.

Er machte sich gerade über das erste Sandwich her, als Thornnastor, der über den Vorteil verfügte, mit allen vier Mündern sprechen zu können, fortfuhr: „Offenbar muß ich Ihnen dazu gratulieren, wie Sie sich auf Operationsverfahren einstellen, für die chirurgische Kenntnisse anderer Spezies erforderlich sind.

Nicht nur, daß Sie sich dieses Wissen nach kurzer Besinnungszeit oder sogar auf Anhieb ins Gedächtnis gerufen haben, allem Anschein nach haben Sie obendrein neue Verfahren eingeleitet, die auf einer Verbindung von Erfahrungen verschiedener Lebewesen beruhen. Wie ich gehört habe, waren die operierenden Chefärzte höchst beeindruckt.“

In fliegender Hast zerkaute Conway den Sandwichbissen, schluckte ihn hinunter und antwortete: „Die eigentliche Arbeit haben ausschließlich die Chefärzte geleistet.“

„Da haben mir Hossantir und Edanelt aber etwas anderes erzählt“, erwiderte Thornnastor. „Doch vermutlich liegt es in der Natur der Sache, daß Chefärzte den Großteil der Arbeit leisten und Diagnostiker fast das gesamte Lob einstreichen — oder aber auch den Tadel, falls etwas schiefgeht. Wo wir gerade von Fällen sprechen, deren Verlauf sich womöglich nicht so günstig darstellt: Ich würde gerne mit Ihnen erörtern,

was Sie bezüglich des Ungeborenen vorhaben. Die innere Sekretion seines Elternteils und Beschützers ist eine höchst komplizierte Sache, und mich interessiert dieses Wesen außerordentlich. Jedenfalls sehe ich einige rein physische Probleme auf uns zukommen, die.“

Bei dieser Untertreibung blieb Conway fast das Essen im Hals stecken, und es dauerte einen Moment, bevor er wieder sprechen konnte.

„Darf man sich mit einem Terrestrier beim Essen nicht unterhalten?“ erkundigte sich. Thornnastor bei Murchison mit jenem Mund, der ihr am nächsten war. „Warum war Ihre Spezies nicht so vorausblickend, wenigstens eine zusätzliche Körperöffnung zur Nahrungsaufnahme zu entwickeln?“

„Entschuldigen Sie“, sagte Conway mit einem Lächeln. „Ich würde mich über jede Hilfe und jeden Ratschlag freuen, den Sie mir geben können. Nie zuvor sind wir einer Spezies begegnet, die sich einer Behandlung mit solcher Vehemenz widersetzt wie die Beschützer der Ungeborenen, und ich glaube nicht, daß wir schon alle Probleme erkannt, geschweige denn die Lösungen dafür gefunden haben. Im Grunde wäre ich Ihnen sogar äußerst dankbar, wenn Ihre Verpflichtungen es Ihnen gestatten würden, bei der Geburt zugegen zu sein.“

„Ich habe schon befürchtet, Sie würden mich nie mehr darum bitten, Conway“, knurrte Thornnastor.

„Es gibt mehrere Probleme“, fuhr Conway fort, wobei er sich leicht über den Bauch strich und sich fragte, ob eins der Probleme in einer plötzlichen Magenverstimmung bestehen könnte, weil er zu schnell gegessen hatte. In entschuldigendem Ton sagte er: „Aber im Moment bin ich in Gedanken immer noch bei dem hudlarischen Wissen und den Fragen, die durch meine kürzlichen Erlebnisse im hudlarischen OP und auf der Geriatriestation aufgeworfen worden sind. Dabei handelt es sich sowohl um psychologische als auch um physiologische Probleme, die mich so stark beschäftigen, daß ich Schwierigkeiten habe, den Kopf freizubekommen, um mir Gedanken zum Fall des Beschützers zu machen, auch wenn das albern klingt.“

„Ich finde das ganz verständlich, wenn man bedenkt, wie intensiv Sie sich noch vor kurzem mit der FROB-Lebensform beschäftigt haben“, entgegnete Thornnastor. „Falls Sie jedoch im Fall dieser Hudlarer vor ungelösten Problemen stehen sollten, wäre der einfachste Weg, den Kopf von den lästigen Gedanken daran zu befreien, sich sofort alle notwendigen Fragen zu stellen und so viele wie möglich davon zu beantworten. Selbst wenn es sich dabei vielleicht um unbefriedigende oder unvollständige Antworten handelt, treiben Sie die Angelegenheit auf diese Weise wenigstens so weit voran, wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für Sie machbar ist. Damit wird sich dann Ihr Verstand abfinden und es Ihnen ermöglichen, an andere Dinge zu denken, auch an den ständig schwangeren Beschützer.

Außerdem ist Ihre momentane eigenartige Geistesverfassung alles andere als selten, Conway“, fuhr der Tralthaner fort, wobei er in seinen Vortragston verfiel. „Es muß einen äußerst triftigen Grund geben, warum sich Ihre Gedanken nicht von diesem Thema abwenden wollen. Vielleicht stehen Sie kurz vor wichtigen Schlußfolgerungen, und wenn das Problem jetzt beiseite geschoben wird, könnten die relevanten Überlegungen verblassen und unwiederbringlich verloren sein. Mir ist bewußt, daß ich langsam wie ein Psychologe klinge, aber man kann nicht im medizinischen Bereich tätig sein, ohne sich auch auf diesem Gebiet einige Kenntnisse anzueignen. Natürlich bin ich imstande, Ihnen bei den physiologischen Problemen der hudlarischen Lebensform behilflich zu sein, aber allmählich habe ich den Verdacht, der entscheidende Punkt ist der psychologische Aspekt. In dem Fall sollten Sie unverzüglich O'Mara konsultieren.“

„Sie meinen, ich soll mich gleich jetzt bei ihm melden?“ erkundigte sich Conway etwas zaghaft.

„Theoretisch darf ein Diagnostiker jederzeit jedes Personalmitglied des Hospitals um Hilfe bitten — und umgekehrt“, erwiderte der Tralthaner.

Conway blickte Murchison an, die ihn verständnisvoll anlächelte. „Ruf ihn ruhig an“, riet sie ihm. „Über den Kommunikator kann er seinem Jähzorn ja bloß mit Worten freien Lauf lassen.“

„Das beruhigt mich überhaupt nicht“, erwiderte Conway und griff nach dem Kommunikator.

Ein paar Sekunden später wurde der kleine Bildschirm von den finsteren Gesichtszügen des Chefpsychologen ausgefüllt, so daß man unmöglich sagen konnte, was O'Mara anhatte oder ob er überhaupt vollständig bekleidet war. „An der Geräuschkulisse und der Tatsache, daß Sie noch kauen, erkenne ich, daß Sie aus der Hauptkantine anrufen“, grummelte er in das Mikrophon. „Ich möchte darauf hinweisen, daß ich mich mitten in meiner Ruhepause befinde. Hin und wieder ruhe ich mich nämlich aus, nur um Ihnen und Ihresgleichen vorzugaukeln, ich sei bloß ein Mensch. Vermutlich gibt es für Ihren Anruf einen triftigen Grund, oder wollen Sie sich bei mir nur über das Essen beschweren?“

Conway öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort über die Lippen, da er sich einerseits einem aufgebrachten O'Mara gegenübersah und andererseits in Gedanken immer noch zu eifrig mit der Formulierung der Fragen beschäftigt war.

„Conway.“, drängte O'Mara mit übertriebener Geduld, „was, zum Teufel, wollen Sie?“

„Auskünfte“, antwortete Conway verärgert. Dann mäßigte er den Ton und fuhr fort: „Ich brauche Auskünfte, die möglicherweise bei der Arbeit in der hudlarischen Geriatrie behilflich sein könnten. Diagnostiker Thornnastor, Pathologin Murchison und ich beraten uns gerade über.“

„Das bedeutet, Sie haben sich beim Essen irgendeinen verrückten Plan einfallen lassen“, unterbrach ihn O'Mara mürrisch.

„…eine vorgeschlagene Methode, das Leiden der FROBs zu behandeln“, fuhr Conway fort. „Leider kann man für die gegenwärtigen Kranken auf der Station nur wenig tun, da die altersbedingten Verfallserscheinungen bei ihnen schon zu weit fortgeschritten sind. Aber wenn meine Idee eine physiologische und psychologische Grundlage hat, wäre vielleicht eine frühe Vorsorgebehandlung möglich. Über die Physiologie können mir Murchison und Thornnastor ausführliche Informationen geben, doch der Schlüssel zur Behandlung und jede Hoffnung auf ihren endgültigen Erfolg hängt von dem Verhalten von alten, aber noch nicht unter Verfallserscheinungen leidenden FROBs ab sowie von deren Anpassungsfähigkeit und Umerziehungspotential. Die dabei auftretenden klinischen Schwierigkeiten habe ich bisher noch nicht besprochen, weil das reine Zeitverschwendung wäre, falls die Antworten, die ich von Ihnen erhalte, einer weiteren Untersuchung zuvorkommen würden.“

„Fahren Sie fort“, sagte O'Mara, der nun nicht mehr wie im Halbschlaf klang.

Conway zögerte, da er plötzlich das Gefühl hatte, daß die Zeit, die er intensiv mit Hudlarerchirurgie verbracht hatte, und die Visiten auf der geriatrischen und der Kinderstation der FROBs sowie einige alte Erinnerungen aus seiner frühen Kindheit und vielleicht auch Gedanken und Meinungen seiner Gehirnpartner von anderen Spezies ihn auf eine Idee gebracht hatten, die höchstwahrscheinlich undurchführbar, moralisch fragwürdig und derart albern war, daß O'Mara durchaus Zweifel an seiner Eignung zum zukünftigen Diagnostiker bekommen könnte. Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät.

„Durch mein FROB-Band und durch Vorträge über hudlarische Pathologie, an denen ich gelegentlich teilgenommen habe, steht für mich außer Zweifel, daß die diversen schmerzhaften und unheilbaren Leiden, denen alte Hudlarer zum Opfer fallen, auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sind. Der Funktionsverlust der Gliedmaßen und das abnorme Ausmaß der Verkalkung und der Rißbildung an den Extremitäten kann einfach der Verschlechterung des Kreislaufs zugeschrieben werden, die den älteren Angehörigen einer jeden Spezies gemein ist.

Meine Idee ist nicht neu“, fuhr Conway fort, wobei er einen raschen Blick auf Thornnastor und Murchison warf. „Doch durch die Arbeit an einer Vielzahl von hudlarischen Gliedmaßen- und Organverpflanzungen bei den Opfern des Unfalls im Meneldensystem ist mir aufgefallen, daß die Verschlechterung des Zustands, die ich an den Absorptions- und Ausscheidungsorganen der alten FROBs beobachtet habe, große Ähnlichkeit mit dem vorübergehenden Zustand hat, der während einer Herztransplantation aufgetreten ist, obwohl ich zu der Zeit zu beschäftigt war, um die Anzeichen bewußt wahrzunehmen. Kurz gesagt, die Probleme der FROB-Geriatrie sind auf einen beeinträchtigten oder ungenügend funktionierenden Blutkreislauf zurückzuführen.“

„Wenn die Idee nicht neu ist, warum höre ich Ihnen dann überhaupt zu?“ fragte O'Mara, wobei der für ihn typische sarkastische Humor kurz aufblitzte.

Murchison musterte Conway schweigend, während Thornnastor, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen, weiterhin mit je einem Auge seine Mahlzeit, Murchison, O'Mara und Conway betrachtete.

„Bei den Hudlarern handelt es sich um eine Spezies mit einem sehr hohen Energiebedarf“, fuhr Conway fort. „Ihre Stoffwechselgeschwindigkeit ist sehr hoch und macht eine praktisch ununterbrochene Nährstoffzufuhr über die Absorptionsorgane erforderlich. Mit den auf diese Weise umgewandelten Nährstoffen werden die Hauptorgane wie die beiden Herzen, die Absorptionsorgane selbst, die Gebärmutter, wenn das betreffende Lebewesen gerade dem weiblichen Geschlecht angehört und schwanger ist, und natürlich die Gliedmaßen versorgt.

In den Vorträgen über Pathologie habe ich damals gelernt, daß die sechs ungeheuer starken Glieder von allen Körperteilen den größten Energiebedarf haben und bis zu achtzig Prozent der umgewandelten Nährstoffe beanspruchen“, setzte Conway seine Ausführungen fort. „Doch erst durch die jüngste Erfahrung mit den verunglückten Hudlarern ist meine Aufmerksamkeit nachdrücklich auf diesen Umstand und die ebenfalls allgemein anerkannte Tatsache gelenkt worden, daß der erwachsene Hudlarer gerade durch die überaus hohe Stoffwechselgeschwindigkeit und den übermäßig großen Nahrungsbedarf so phantastisch widerstandsfähig gegen Verletzungen und Krankheiten wird.“

O'Mara setzte gerade zu einer erneuten Unterbrechung an, deshalb fuhr Conway rasch fort: „Mit dem Eintritt ins hohe Alter beginnen die Schwierigkeiten der FROBs unweigerlich in den Gliedmaßen, die nun einen noch höheren Anteil der Körperressourcen beanspruchen, um die Verfallserscheinungen zu bekämpfen. Dadurch werden die beiden Herzen und die Absorptions- und Ausscheidungsorgane, die ebenfalls alle ihren Teil des Nährstoffgehalts des Kreislaufsystems benötigen und von diesem wie auch voneinander abhängig sind, in zunehmendem Maße belastet. Das wiederum führt zu einem teilweisen Versagen dieser Organe, wodurch die Blutversorgung der Glieder weiter vermindert wird und der gesamte Körper in den Teufelskreis altersbedingten Verfalls gerät und.“

„Conway!“ unterbrach O'Mara ihn in bestimmtem Ton. „Ich nehme an, Sie haben dieses ausführliche, aber zweifellos allzu stark vereinfachte Krankheitsbild nur dem armen unwissenden Psychologen zuliebe geschildert, damit dieser die psychologischen Fragen versteht — falls Sie jemals dazu kommen sollten, diese zu stellen.“

„Das Krankheitsbild ist grob vereinfacht, da stimme ich Ihnen zu, aber im wesentlichen zutreffend“, mischte sich Thornnastor ein, während er in aller Ruhe weiteraß. „Obwohl Conways Art, es zu beschreiben, auf eine neue Betrachtungsweise des Problems hindeutet. Ich kann es ebenfalls kaum erwarten zu erfahren, was Sie denn nun vorhaben, Conway.“

Der Diagnostiker auf Probe holte tief Luft und sagte: „Na gut. Mir erscheint es möglich, die übermäßige Beanspruchung der durch das Alter verminderten Körperreserven der Hudlarer, die sich durch bleibende Schäden an den Gliedmaßen äußert, vor dem Auftreten zu verringern. Durch eine reduzierte Belastung und einen größeren Anteil an der vorhandenen Nährstofffversorgung können die Herzen und die Absorptionsund Ausscheidungsorgane zusätzlich mehrere Jahre lang ihre Funktion erfüllen und eine optimale Durchblutung des verbliebenen Glieds beziehungsweise der verbliebenen Gliedmaßen gewährleisten.“

Mit einem Schlag schien O'Maras Gesicht auf dem Schirm zu einem Standbild geworden zu sein; Murchison starrte Conway mit empörtem Ausdruck an, und Thornnastor hatte ihm sämtliche vier Augen zugewandt, um ihn aufmerksam zu mustern.

„Natürlich wäre ein solcher Eingriff freiwillig und würde nur auf die Bitte und die ausdrückliche Erlaubnis des betreffenden FROB hin vorgenommen werden“, fuhr Conway fort. „Die mit der Entfernung von einigen Gliedmaßen verbundenen Probleme sind relativ simpel. Ausschlaggebend sind die psychologische Vorbereitung und die Nachwirkungen, weil diese darüber entscheiden werden, ob man es mit der Operation versuchen sollte oder nicht.“

O'Mara atmete geräuschvoll durch die Nase aus und grummelte dann: „Nun soll ich Ihnen also sagen, ob es möglich ist, noch nicht von Alterskrankheiten befallenen Hudlarern den Gedanken an die Amputation mehrerer Gliedmaßen schmackhaft zu machen?“

„Mir erscheint eine solche Maßnahme doch ziemlich, nun ja, drastisch zu sein“, wandte Thornnastor ein.

„Dessen bin ich mir bewußt“, entgegnete Conway. „Aber durch das Wissen und die Erfahrungen meines hudlarischen Gehirnpartners liegt es für mich klar auf der Hand, daß diese Spezies allgemein eine Riesenangst vor dem Altwerden hat, die durch das ziemlich erschreckende Krankheitsbild des durchschnittlichen alterskranken FROB hervorgerufen wird. Verstärkt wird diese Angst noch durch das Wissen, daß die alternden Hudlarer geistig klar und rege bleiben, auch wenn fast allen alternden Lebewesen der Hang gemein ist, am liebsten in der Vergangenheit zu leben. Doch am qualvollsten ist es, wenn ein normaler Verstand in einem rapide verfallenden und oftmals schmerzgeplagten Körper gefangen ist. Von daher ist es gut möglich, daß die Hudlarer keine allzu große Abneigung gegen den Gedanken einer Amputation haben, sondern ihn sogar begrüßen.

Doch da meine Kenntnisse in diesem Fall von meinen jüngst gewonnenen persönlichen Erfahrungen und den Gefühlseindrücken meines hudlarischen Gehirnpartners stammen, sind sie rein subjektiv, so daß meine Überlegungen womöglich nicht vollkommen zuverlässig ausfallen. Um zu entscheiden, ob meine Idee etwas taugt oder nicht, ist der objektive Standpunkt eines Psychologen erforderlich, der über Erfahrungen mit Extraterrestriern, einschließlich der FROB-Lebensform, verfügt.“

O'Mara schwieg eine ganze Weile, dann nickte er und fragte: „Was können Sie diesen Hudlarern, die fast sämtlicher Gliedmaßen beraubt wurden, bieten, Conway? Und wodurch könnten diese bedauernswerten Geschöpfe ihr verlängertes und nunmehr weniger schmerzvolles Leben selbst lebenswerter machen?“

„Bisher hatte ich nur Zeit, über einige wenige Möglichkeiten nachzudenken“, antwortete Conway. „Die Situation der FROBs wäre mit der der hudlarischen Amputierten vergleichbar, die wir in ein paar Wochen nach Hause schicken. Diese werden auf den Prothesen eingeschränkt bewegungsfähig sein, während ein oder zwei Vorderglieder voll funktionstüchtig bleiben, und ihre geistigen und körperlichen Kräfte dürften sie bis kurz vorm Tod behalten. Bevor ich mir dessen allerdings sicher sein kann, muß ich natürlich noch mit Thornnastor die physiologischen Einzelheiten besprechen, aber ich.“

„Das ist eine durchaus berechtigte Vermutung, Conway“, fiel ihm der Tralthaner ins Wort. „Ich bezweifle jedenfalls nicht, daß Sie recht haben.“

„Danke, Sir“, entgegnete Conway, der ganz genau spürte, wie ihm bei diesem Kompliment das warme terrestrische Blut ins Gesicht schoß. An O'Mara gewandt fuhrt er fort: „Auf Hudlar steckt die Medizin noch in den Kinderschuhen und wird sich eine Zeitlang vor allem mit der Behandlung von Krankheiten bei sehr jungen FROBs befassen, da die erwachsenen Mitglieder der Spezies nie krank werden. Diese pädiatrischen Fälle bleiben trotz der Krankheit äußerst lebhaft und brauchen kaum gebremst oder beaufsichtigt zu werden, während die verschriebenen Medikamente ihre Wirkung entfalten. Dennoch werden unsere alternden Amputierten körperlich in der Lage sein, die Ausgelassenheit und Verspieltheit der eine halbe Tonne schweren hudlarischen Kleinkinder ohne Verletzungen zu überstehen. Wir bilden bereits die ersten einer ganzen Reihe von Krankenschwestern für die Kinderstation aus, die imstande sein werden, den Kleinen entsprechende Verhaltensregeln beizubringen.“

Die Erwähnung der äußerst gutaussehenden Schwester hatte Conways hudlarischen Gehirnpartner augenblicklich wieder in Erregung versetzt, deshalb mußte sich der Diagnostiker in spe ein paar Sekunden Zeit nehmen, diesen zu ermahnen, sich gefälligst etwas mehr zu beherrschen.

Doch als er versuchte, seine Gedanken wieder auf das zu lenken, was er eigentlich hatte sagen wollen, stiegen in ihm die Erinnerungen an seine steinalte, aber muntere Großmutter und — zu der Zeit — einzige Freundin auf. Das löste plötzlich einen äußerst starken Schmerz von seiten Khones über den in sehr jungen Jahren erlittenen Verlust des Körperkontakts mit den Eltern aus, der für das Fortbestehen des geistig-seelischen Zusammenhalts in der gogleskanischen Gesellschaft so wichtig war. Zusammen mit Khone konnte er den damaligen Verlust dieser Liebe und Wärme nachempfinden und auch ihre bange Erwartung des zukünftigen Verlustes des eigenen Kindes, sobald der eigene Nachkomme geboren und seiner Mutter nur allzu kurz nahe sein würde, bevor er sie endgültig verließ. Und merkwürdigerweise war die kleine Gogleskanerin in der Lage, den Anblick, die Laute und die Erinnerungen an Conways steinalte und gebrechliche erste Freundin ohne das leiseste Anzeichen von Schmerz zu respektieren, obwohl ihrem Wesen beinahe alles zuwiderlief, was Conway und seinen Gehirnpartnern in den Sinn kam.

Wie Conway wußte, war dies ein wichtiger Punkt, denn es gab Anzeichen dafür, daß die Gogleskanerin auch von dem Gedanken an die alterskranken FROBs nicht vollkommen abgestoßen wurde. Zwischen Khone und den übrigen in seinem Kopf herumspukenden Spezies wurde eine Brücke geschlagen, und Conway blinzelte schnell, da ihm plötzlich Tränen in die Augen stiegen.

Er spürte, wie Murchison ihre Hand sanft auf seinen Arm legte, als sie ihn eindringlich fragte: „Was hast du?“

„Conway, ist alles in Ordnung?“ erkundigte sich O'Mara in besorgtem Ton.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin gerade in Gedanken ganz woanders gewesen“, antwortete Conway mit leiser Stimme. „Danke, mit mir ist alles in Ordnung. Mir geht es sogar sehr gut.“

„Aha“, entgegnete O'Mara. „Aber die Gründe für Ihre abschweifenden Gedanken, und worum es darin ging, würde ich schon sehr gern mit Ihnen zu einem geeigneteren Zeitpunkt besprechen. Fahren Sie fort.“ „Wie die älteren Mitglieder der meisten intelligenten Spezies haben auch die sehr alten Hudlarer eine enge Wesensverwandtschaft mit den Kleinkindern, und aus dieser Gemeinsamkeit können beide Seiten großen Nutzen ziehen, wenn man sie zusammenlegt“, setzte Conway seine Ausführungen fort. „Die Alten befinden sich in einer salopp als zweite Kindheit bezeichneten Phase, in der sich Eindrücke und Erinnerungen aus den jüngeren Tagen in den Vordergrund drängen, und außerdem wissen sie mit der verbleibenden Zeit nicht mehr allzuviel anzufangen. Die Kinder wiederum hätten einen erwachsenen Spielkameraden, der sie versteht, an ihrer Gesellschaft Freude hat und — anders als die jüngeren Erwachsenen und Eltern — vielleicht nicht so sehr von den täglichen Dingen des Lebens in Anspruch genommen ist, daß er nicht genügend Zeit für die Kinder hätte.

Sollte die Idee der Amputation für die alterskranken FROBs auf Akzeptanz treffen, wären sie nach meiner festen Überzeugung die idealen Kandidaten für die Ausbildung zum Kinderpfleger“, fuhr Conway fort. „Die weniger alten, deren Intelligenzgrad noch bedeutend höher läge, könnten zu Lehrern für ältere Kinder und Jugendliche ausgebildet werden. Vielleicht wären sie auch mit der Überwachung automatisierter Herstellungsprozesse oder dem Beobachtungsdienst auf den Wetterkontrollstationen sinnvoll beschäftigt oder könnten als.“

„Genug!“ unterbrach ihn O'Mara mit erhobener Hand. „Lassen Sie mir bitte auch noch etwas zu tun übrig, Conway, damit ich hier wenigstens eine Existenzberechtigung habe“, fuhr er sarkastisch fort. „Zumindest ist mir jetzt Ihr untypisches Verhalten von vorhin kein Rätsel mehr. Die Unterlagen über Ihre Kindheit im psychologischen Persönlichkeitsdiagramm und Ihr Vorschlag bezüglich der alterskranken Hudlarer erklären den vorübergehenden Verlust der Selbstbeherrschung voll und ganz.

Was Ihre ursprüngliche Frage angeht, kann ich Ihnen leider keine prompte Antwort geben. Aber ich werde mir sofort meine Fachkenntnisse über Hudlarer ins Gedächtnis rufen und anfangen, daran zu arbeiten. Sie haben mir zu viel zum Nachdenken gegeben, als daß ich mich jetzt wieder schlafen legen könnte.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Conway, aber das Gesicht des Chefpsychologen war bereits vom Bildschirm verschwunden.

„Auch die Verzögerung tut mir leid“, sagte er zu Thornnastor. „Aber jetzt können wir uns wenigstens über den Beschützer unterhalten und uns.“

Er brach mitten im Satz ab, als die blaue Bitte-den-Tisch-räumen-Lampe zu blinken begann. Damit sollte angedeutet werden, daß sie länger in der Kantine geblieben waren, als für den Verzehr der bestellten Gerichte vorgesehen war, und sie den Speiseraum zu verlassen hatten, um den Tisch für andere hungrige Kantinenbesucher freizumachen, von denen schon etliche ungeduldig warteten.

„Gehen wir in Ihr Büro oder in meins?“ wollte Thornnastor wissen.

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