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Meta protestierte nicht, als Jason ihr das schmutzige Gesicht wusch und die zahlreichen Schnittwunden mit Dermaschaum einsprühte. Der Medikasten hatte die Platzwunde am Hinterkopf bereits mit vierzehn Stichen genäht, als sie noch bewußtlos war, und hatte die Naht mit einem Verband bedeckt.

Meta war unmittelbar darauf zu Bewußtsein gekommen und hatte die weitere Behandlung klaglos über sich ergehen lassen.

Grif schnarchte auf den Pelzen, aus denen Jason ihm ein Lager bereitet harte. Der Junge war nur oberflächlich verletzt worden, und der Medikasten hatte ihm ein Schlafmittel gegeben. Jason brauchte sich also nur um Meta zu kümmern.

„Was ist eigentlich passiert?“ fragte er sie.

„Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten“, versicherte Meta ihm. „Sie haben uns überrascht, weil sie zuerst nur Grif angegriffen haben, aber das war ein guter Plan. Ich habe drei oder vier getötet, bis ich bewußtlos wurde. Warum sind wir jetzt hier?“

Jason schilderte ihr kurz, wodurch er Temuchin dazu gebracht hatte, seine Krieger in Shanins Lager zu schicken, und fügte hinzu: „Der alte Knabe war gerissen genug, mich gleich nach Schießpulver zu fragen, als er mein Bowiemesser gesehen hatte. Ich habe mich dumm gestellt und behauptet, andere Pyrraner wüßten mehr davon. Das scheint er mir abgenommen zu haben — zumindest vorläufig. Aber wir müssen jetzt zu ihm ziehen; er will uns in der Nähe haben. Morgen früh sagen wir Shanins Ratten ade und schließen uns Temuchin an. Er läßt uns bis dahin von seinen Leuten ›schützen‹, aber ich weiß nicht recht, ob sie uns nicht eher am Fortlaufen hindern sollen.“

„Ich sehe wirklich schrecklich aus!“ rief Meta nach einem Blick in den Spiegel.

„Für mich bist du immer hübsch“, versicherte Jason ihr, stellte den Medikasten auf Tiefschlaf und drückte ihn gegen ihren Arm. Als sie eingeschlafen war, deckte er sie und Grif vorsichtig zu. Er hatte Gewissensbisse, weil er eine Frau und ein Kind in diese Umgebung verschleppt hatte. Aber dann fiel ihm ein, daß die Lebensbedingungen hier trotzdem wesentlich besser als auf Pyrrus waren. Ob Meta und Grif ihm später einmal dafür dankbar sein würden? Er wußte es nicht.

Am nächsten Morgen hatten die beiden Pyrraner sich nur soweit erholt, daß sie aus dem Camach stolpern konnten, den Temuchins Soldaten abbauen mußten. Die Männer führten diesen Auftrag nur ungern aus, aber Jason wollte nichts mehr mit Shanins Leuten zu tun haben. Als der Escung endlich beladen war, band er Meta und Grif darauf fest, und der kleine Zug setzte sich unter den finsteren Blicken der versammelten Zuschauer in Bewegung.

In Temuchins Lager gab es genügend Frauen, die das Zelt aufbauen konnten, so daß die Männer danebenstehen und gaffen konnten, wie es ihre Gewohnheit war. Jason hielt sich nicht damit auf, die Arbeit zu überwachen. Das überließ er Meta, denn Temuchin hatte ihm bestellen lassen, er wünsche ihn sofort nach seiner Ankunft bei sich zu sehen.

Die beiden Wachtposten am Eingang des Zelts traten zur Seite, als Jason erschien. Offenbar hatte es sich inzwischen herumgesprochen, daß dieser Jongleur etwas Besonderes war.

Temuchin stand allein in der Mitte des Zelts; von dem Messer in seiner Hand tropfte rotes Blut. Jason blieb stehen und atmete dann erleichtert auf, als er merkte, daß das Blut von einem Ziegenkadaver stammte, den Temuchin zu Zielübungen benützt hatte.

„Das Messer ist gut ausbalanciert“, stellte Temuchin fest.

„Ein gutes Wurfmesser.“

Jason nickte schweigend, denn er wußte, daß er nicht hierher befohlen worden war, um nur diese Feststellung zu hören.

„Erzähl mir alles, was du über Schießpulver weißt“, forderte Temuchin ihn auf.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

Temuchin warf einen Blick auf das Messer in seiner Hand.

„Erzähl mir alles. Sofort. Könntest du Schießpulver zum Knallen bringen, anstatt es nur abbrennen zu lassen?“

Jason saß in der Klemme. Wenn Temuchin den Verdacht hatte, er werde belogen, würde er keine Sekunde lang zögern, den Jongleur als Zielscheibe für sein Wurfmesser zu benützen.

Temuchin schien zu wissen, was mit Schießpulver möglich war, deshalb konnte Jason ihn nicht täuschen, sondern mußte etwas riskieren.

„Ich habe noch nie Schießpulver gesehen, aber ich weiß, was darüber erzählt wird. Ich habe gehört, wie man es zur Explosion bringt.“

„Das habe ich mir gedacht.“ Temuchin nickte vor sich hin.

„Du weißt bestimmt mehr.“

„Viele Menschen haben Geheimnisse, die sie nie verraten wollen. Aber Temuchin ist mein Herr, und ich will ihm in jeder Beziehung behilflich sein.“

„Gut. Vergiß das nicht. Sag mir nun, was du von den Leuten in der Tiefe weißt.“

„Nichts“, antwortete Jason verblüfft.

„Richtig, niemand weiß etwas von den Tiefländern, aber das wird jetzt anders. Ich habe einen Überfall vor, und du begleitest mich. Ich kann etwas Schießpulver brauchen. Mach dich also bereit — wir brechen mittags auf. Nur du weißt, daß es sich um mehr als einen Jagdausflug handelt. Sei also vorsichtig, damit du nichts verrätst.“

„Ich würde lieber sterben, als jemand ein Wort davon erzählen!“

Jason kehrte nachdenklich in seinen Camach zurück und erzählte Meta sofort, was er gehört hatte.

„Seltsam“, murmelte Meta mit gerunzelter Stirn. Jason nickte zustimmend. „Wie will er eine zehn Kilometer hohe Felswand überwinden? Trotzdem kennt er Schießpulver, das nur im Tiefland hergestellt wird. Nun, wir werden ja sehen.“

Jason zeigte auf ihr Funkgerät, das im Stahlkasten lag. „Ihr nehmt um Mitternacht Verbindung mit Kerk auf und berichtet ausführlich. Wahrscheinlich seid ihr hier nicht gefährdet, aber falls es Schwierigkeiten gibt, soll er euch herausholen.“

„Nein. Wir bleiben hier, bis du zurückkommst“, versicherte Meta ihm. „Keine Angst, wir wissen, was wir zu tun haben.“

„Richtig“, stimmte Grif zu. „Dieser Planet ist im Vergleich zu Pyrrus ganz harmlos. Nur das Essen ist schlechter.“ Jason sah die beiden an, öffnete den Mund und schloß ihn wieder, weil es wirklich nichts zu sagen gab. Er packte einen Ledersack mit Kleidungsstücken und anderen notwendigen Dingen und versteckte einen winzigen Sender und Empfänger im hohlen Stiel seiner Axt. Jasons Bewaffnung bestand nur aus dieser Axt und einem kurzen Schwert; er halte es aufgegeben, sich als Bogenschütze zu versuchen, weil er dafür kein Talent hatte. Jetzt hing er sich einen Schild über den linken Arm, winkte Meta zum Abschied zu und ritt davon.

Als er Temuchins Camach erreichte, sah er dort weniger als fünfzig Mann versammelt. Da sie alle normal ausgerüstet waren, konnte der Ausflug nicht lange dauern. Nachdem Jason einige abweisende Blicke registriert hatte, fiel ihm auf, daß er der einzige Außenseiter in dieser Gesellschaft war, die aus hohen Offizieren und Angehörigen von Temuchins Stamm bestand „Ich kann auch den Mund halten“, erklärte Jason Ahankk, der nur mit einem kurzen Fluch antwortete. Als Temuchin erschien, brachen sie auf und ritten in Doppelreihe aus dem Lager.

Der Ritt war hart, und Jason stellte dankbar fest, daß sein wochenlanges Training im Sattel sich jetzt bezahlt machte. Die Gruppe ritt zunächst nach Osten davon, aber sobald das Lager hinter einigen Hügeln verschwunden war, schwenkten die Nomaden nach Süden ab und trabten in diese Richtung weiter.

Rechts und links von ihnen erhoben sich Berge, während sie ein Tal nach dem anderen durchquerten und dabei immer höher kletterten. Jason litt unter der Kälte, weil die eisige Luft bei jedem Atemzug schmerzte, aber die Barbaren schienen nichts davon zu merken.

Bei Sonnenuntergang wurde hastig eine kalte Mahlzeit eingenommen; dann ging der Ritt weiter. Jason war durchaus damit einverstanden, denn er war während der Rast beinahe am Boden festgefroren. Sie ritten jetzt hintereinander her, und Jason folgte kurze Zeit später dem Beispiel der meisten anderen, die abgestiegen waren, um ihre Moropen auf dem engen Pfad zu führen. Auf diese Weise verschaffte er sich wenigstens etwas Bewegung und erfror nicht im Sattel.

Als sie einen Punkt erreichten, an dem zwei Täler zusammentrafen, sah Jason nach rechts und erkannte verblüfft ein graues Meer, das in einiger Entfernung jenseits der fast senkrecht abfallenden Klippen begann. Ein Meer? Nein, bestimmt nicht — schließlich befanden sie sich in der Mitte eines Kontinents. Und in großer Höhe. Dann fiel ihm plötzlich ein, welches Meer er vor sich hatte: ein Wolkenmeer, auf das er herabsah.

Jason wartete und beobachtete, bis der Pfad nach unten führte. Dann hielt er sein Reittier an, um sich wieder in den Sattel zu schwingen. Irgendwo vor ihm lag das Ende der Welt.

Hier endete der Herrschaftsbereich der Nomaden an den senkrechten Felswänden, die aus der Tiefebene aufstiegen. Der warme Südwind brachte Wolken mit, die an der Klippe nach oben stiegen und in der Kälte abregneten. Jason fragte sich, ob die Menschen dieses Gebiets am Fuß der Felswand jemals die Sonne zu Gesicht bekamen.

Der Pfad führte weiter bergab. Die Gruppe passierte einen schmalen Einschnitt zwischen riesigen Felsbrocken, und Jason wußte, daß das Ziel nicht mehr weit entfernt sein konnte, als er dort zwei Posten Wache halten sah. Kurze Zeit später hielt die Kolonne an. Jason sollte zu Temuchin kommen.

Temuchin kaute langsam auf einem zähen Stück Fleisch herum, und Jason mußte warten, bis der Nomadenführer diesen Leckerbissen mit einem großen Schluck Achadh hinuntergespült hatte. Im Osten wurde es bereits hell; ein neuer Tag brach an.

„Du führst mein Morope“, befahl Temuchin und ging voraus. Jason griff nach den Zügeln des störrischen Tiers und zerrte es hinter sich her. Drei Offiziere folgten ihm. Der Pfad knickte unerwartet scharf ab und endete auf einer großen ebenen Fläche, deren Begrenzung die Klippe bildete.

Temuchin ging darauf zu und starrte nachdenklich auf die geschlossene Wolkendecke hinab. Jason interessierte sich mehr für die Maschine.

Das Ding war eine riesige Winde, deren acht Meter langer A-Rahmen mit der Spitze über die Klippe hinausragte. Jason konnte sich vorstellen, wie lange es gedauert haben mußte, bis dieser handgeschmiedete Rahmen fertig war — und bis er hier oben angebracht und abgestützt worden war. Ein schwarzes Seil führte durch eine Rolle an der Spitze des Rahmens und von dort weiter durch eine Öffnung zwischen den Felsbrocken; dort war es auf die Trommel einer großen Winde gewickelt.

Man brauchte kein technisches Genie zu sein, um zu erkennen, welchem Zweck die ganze Apparatur diente. Jason wandte sich an Temuchin und erkundigte sich: „Lassen wir uns mit diesem Mechanismus ins Tiefland abseilen?“

Der Kriegsherr schien ebenfalls nicht allzuviel von der Maschine zu halten.

„Allerdings. Normalerweise würde ich mein Leben lieber anderswo riskieren, aber wir haben keine andere Wahl. Der Stamm, dessen Angehörige diese Maschine erbaut und betrieben haben — übrigens ein Zweig des Wieselstamms —, hat mir versichert, daß Überfälle auf die Tiefländer nur mit Hilfe dieses Ungetüms möglich sind. Die Überlebenden sind hier und bedienen das Ding. Sie werden hingerichtet, falls es Schwierigkeiten gibt. Wir lassen uns zuerst abseilen.“

„Das hilft uns nicht viel, wenn etwas schiefgeht.“

„Der Mensch wird geboren, um zu sterben. Das Leben ist nur ein Hinauszögern des Unvermeidlichen.“

Dazu konnte Jason sich nicht mehr äußern. Er hob den Kopf, als einige Männer und Frauen herangetrieben wurden.

„Tretet zurück und laßt sie arbeiten“, befahl Temuchin, und die Soldaten zogen sich zurück. „Beobachtet sie genau. Wer etwas falsch macht, wird auf der Stelle getötet “

Die Gefangenen machten sich nach dieser kleinen Aufmunterung an die Arbeit. Sie schienen ihre Sache zu verstehen. Einige von ihnen drehten die große Kurbel; andere stellten die klappernden Sperrklinken ein. Ein Mann kletterte sogar auf den Rahmen hinaus, um das Rad an der Spitze zu schmieren.

„Ich zuerst“, entschied Temuchin und legte das schwere Brustgeschirr aus Leder an. Er wandte sich an Jason. „Du folgst mir, nachdem du mein Morope nach unten geschickt hast. Binde ihm die Augen zu, damit es nicht ängstlich wird.

Nach dir kommt wieder ein Morope.“ Er sah zu den Offizieren hinüber. „Ihr wißt, was ihr zu tun habt.“

Die Wiesel begannen ihren eintönigen Sprechgesang, während sie die Kurbel drehten und das Seil auf die Trommel wickelten. Unter Zug gab es nach und dehnte sich, bevor Temuchin in die Luft gehoben wurde. Dann hing er über dem Abgrund und wurde langsam hinabgelassen, sobald die Schwingungen abgeklungen waren. Jason trat an die Klippe vor und sah Temuchin nach, bis er in den Wolken verschwunden war.

Das Seil war etwa alle hundert Meter zusammengeknotet, Und die Männer an der Winde arbeiteten vorsichtiger, wenn einer dieser Knoten erschien. Sobald er über das Rad hinweggeglitten war, kurbelten sie wieder schneller. Die Männer und Frauen wechselten sich an der Kurbel ab, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, so daß das Seil sehr gleichmäßig auslief.

„Woraus besteht das Seil?“ fragte Jason einen Wiesel, der die Arbeit zu überwachen schien.

„Pflanzen, lange Pflanzen mit Blättern — wir nennen sia Mentri…“

„Ranken?“ vermutete Jason.

„Ja, Ranken. Groß, schwer zu finden. Wachsen an der Klippe. Sie dehnen sich und sind stark.“

„Hoffentlich“, murmelte Jason und griff nach dem Arm des anderen, als das Seil plötzlich wie verrückt auf und ab tanzte.

Der Mann machte eine abwehrende Handbewegung.

„Schon gut. Das bedeutet, daß der Mann unten ist. Das Seil bewegt sich dann. Einholen!“ befahl er seinen Leuten.

Jason ließ den Mann los, der sich den Arm rieb. Die Erklärung klang vernünftig; das Seil mußte sich bewegen, wenn Temuchins Gewicht plötzlich nicht mehr daran zog.

Allerdings konnte sein Körpergewicht nicht viel ausmachen, denn das Seil selbst mußte erheblich mehr wiegen.

„Jetzt das Morope“, verlangte Jason und deutete auf Temuchins Reittier, das mißtrauisch die Klippe beäugte. Die Wiesel zogen ihm einen Sack über den Kopf und banden ihm ein ledernes Traggeschirr um. Das Morope ließ alles geduldig über sich ergehen, bis es spürte, daß es den Boden unter den Füßen verlor; in diesem Augenblick wurde es unruhig und schlug aus. Der Mann, mit dem Jason gesprochen hatte, griff nach einem Hammer mit langem Stiel, rannte auf das Tier zu und traf den Sack an einer Stelle, die zwischen den Augen des Tieres lag, das nun bewegungslos in seinem Traggeschirr hing.

Die Männer an der Winde mußten sich anstrengen, um dieses Gewicht über den Abgrund zu hieven.

„Gerade richtig getroffen“, stellte der Mann fest. „Trifft man zu fest, ist er tot. Trifft man nicht fest genug, wacht es zu früh auf und reißt das Seil ab.“

Alles schien zu klappen, und das Seil wurde langsam nachgelassen. Jason döste im Stehen und trat etwas weiter vom Abgrund zurück. Er wachte auf, als die Männer aufgeregt schrien, weil das Seil diesmal so starke Bewegungen ausführte, daß es sogar aus der Rolle sprang.

„Ist es gerissen?“ erkundigte Jason sich.

„Nein, alles in Ordnung. Das Morope ist eben gelandet.“

Jason nickte und sah zu, wie einer der Männer auf den Rahmen kletterte, um das Seil wieder in die Rolle zu legen.

Dann fiel ihm ein, daß er als nächster an der Reihe war. Er hätte viel dafür gegeben, sich diesem Fahrstuhl nicht anvertrauen zu müssen.

Es begann erschreckend genug. Als sich das elastische Seil über ihm spannte, versuchte er auf dem festen Boden zu bleiben — ohne Erfolg. Das Seil schwankte wild, und Jason warf einen Blick in die Tiefe. Dann hob er rasch wieder den Kopf, sah die Gesichter der Nomaden verschwinden und war plötzlich über dem Wolkenmeer, das unter ihm gegen die gewaltige Felswand zu branden schien.

Jason erkannte nun auch, daß die Stelle, an der die Winde angebracht war, erheblich tiefer als andere Punkte am Rand der Klippe lag. Er vermutete, daß der Boden unter ihm im Gegensatz zum übrigen Tiefland deutlich erhöht lag, denn das Seil durfte nicht beliebig lang sein, wenn es außer seinem eigenen Gewicht noch eine Last tragen sollte. Die Wolken kamen langsam näher, bis er das Gefühl hatte, sie mit den Zehenspitzen berühren zu können. Wenige Sekunden später hüllte ihn dichter Nebel ein, und er versank in einem grauen Nichts.

Jason hätte nie geglaubt, daß er am Ende eines kilometerlangen Seils einschlafen könnte, aber die gleichmäßige Bewegung, seine Müdigkeit und das graue Nichts, das ihn umgab, wirkten einschläfernd. Er ließ den Kopf sinken und begann wenig später zu schnarchen.

Er wachte auf, als es ihm in den Hals regnete. Die Luft war hier unten erheblich wärmer, aber Jason fror trotzdem. Vor seinem Gesicht zog langsam die Felswand vorüber, und als er nach unten sah, glaubte er dort eine Bewegung zu erkennen.

Was? Menschen? Freund oder Feind? Er zog seine Streitaxt aus dem Gürtel und hielt sie vorsichtshalber in der Hand. Nun waren bereits einzelne Felsen zu erkennen, die aus dem Gras aufragten. Die Luft war feucht und stickig.

„Mach dich zum Loslassen bereit“, wies Temuchin ihn an, der zwischen den Felsen auftauchte. „Was soll die Axt?“

„Ich wußte nicht, wer mich hier erwarten würde“, erklärte Jason ihm, steckte die Axt in den Gürtel und löste das Brustgeschirr. Als das Seil sich in diesem Augenblick dehnte, war er nur noch einen Meter vom Boden entfernt.

„Loslassen!“ befahl Temuchin, und Jason folgte — leider erst, als das Seil bereits wieder zurückschnellte. Er schwebte einen Augenblick lang in der Luft und fiel dann aus drei Meter Höhe zu Boden. Der Schwertknauf bohrte sich schmerzhaft in seine Rippen, aber er war nicht ernstlich verletzt. Das Seil schnellte zurück und verschwand in den Wolken.

„Hierher“, sagte Temuchin und ging voraus, während Jason sich aufraffte. Das Gras war rutschig, und er wäre fast wieder gefallen. Temuchin blieb vor einem großen Felsen stehen und deutete nach oben.

„Von dort aus kannst du am besten beobachten, wann dein Morope herunterkommt. Wecke mich rechtzeitig. Mein Tier grast dort drüben. Du paßt auf, daß es nicht fortläuft.“

Temuchin erwartete offenbar keine Antwort, sondern legte sich an einer relativ trockenen Stelle im Windschatten des Felsens nieder und schlief sofort ein. Jason fluchte leise vor sich hin, während er auf den Felsen kletterte, den Temuchin ihm als Beobachtungsplatz zugewiesen hatte. Dort oben blieb er lange im Regen sitzen, bis er endlich schwere Atemzüge über sich hörte und das Morope erkannte. Er glitt zu Boden und weckte Temuchin, der sofort hellwach war.

„Schnell“, befahl Temuchin mit einem Blick auf das Tier, das sich zu bewegen begann. „Es wacht sonst auf.“

Das Morope sank tiefer, und sie versuchten es festzuhalten, aber es entglitt ihnen wieder. Beim nächstenmal sprang Temuchin ihm auf den Rücken; dieses zusätzliche Gewicht genügte, um wenigstens die Vorderbeine des Tieres zu Boden zu bringen. Jason löste das Traggeschirr und sprang zurück, als das Seil wieder nach oben schnellte.

Der Rest des Tages verlief routinemäßig. Jason wußte nun, was zu tun war, und Temuchin nützte die Gelegenheit, um etwas versäumten Schlaf nachzuholen. Jason hätte ihm gern Gesellschaft geleistet, aber er wußte genau, daß er seinen Auftrag erfüllen mußte. Soldaten und Reittiere landeten in regelmäßigen Abständen, und Jason organisierte den Empfang.

Einige Männer bewachten die Tiere, während andere bereitstanden, um Neuankömmlingen beim Aufsetzen zu helfen. Die übrigen schliefen — nur Ahankk nicht, der nach Jasons Meinung die besten Augen hatte und deshalb als Beobachter auf dem Felsen Posten bezogen hatte.

Fünfundzwanzig Männer und vierundzwanzig Moropen waren bereits gelandet, als das Ende kam.

Jason und die Soldaten dösten fast, als Ahankk einen heiseren Schrei ausstieß und nach oben deutete. Jason hob den Kopf und erkannte einen dunklen Schatten, der auf ihn herabzustürzen schien. Das war zum Glück nur eine optische Illusion. Das abgestürzte Morope und etwa fünfzig Meter Seil prallten weit vom Landeplatz entfernt auf.

Temuchin brauchte nicht geweckt zu werden. Er war bereits von Ahankks Schrei aufgewacht. „Versteckt das Seil und schirrt vier Moropen an, die den Kadaver fortziehen“, befahl er seinen Leuten, Dann wandte er sich an Jason. „Dia Wiesel haben mich gewarnt, daß das Seil nach einiger Zeit reißt, ohne daß dieser Zeitpunkt zu bestimmen wäre. Meistens reißt es unter einer schweren Last.“

„Aber manchmal auch, wenn nur ein Mann daran hängt“, fügte Jason hinzu. „Du wärst ein guter Spieler, Temuchin.“

„Ich bin ein guter Spieler“, erklärte Temuchin ihm gelassen.

„Wir haben nur ein Reserveseil, deshalb wird niemand mehr herabgelassen. Das neue Seil ist bereit, wenn wir zurückkommen. Jetzt reiten wir.“

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