17

„Wenn alles lange Zeit gleich ist, kann man nicht mehr sagen, wieviel Zeit vergangen ist. Ich frage mich nur, wie lange ich schon hier unten bin.“ Jason schleppte sich einige Schritte weiter. „Ziemlich lange, nehme ich an.“

Vor ihm teilte sich die Höhle in zwei Gänge, und er markierte die Abzweigung in Schulterhöhe, bevor er den rechten Gang wählte. Dieser Tunnel endete an einem Wasserlauf, und Jason trank am Fluß, bevor er sich auf den Rückweg machte. An der Abzweigung brachte er das Zeichen für ›Wasser‹ an und folgte dem zweiten Gang.

„Tausendachthundertdrei… tausendachthundertvier…“ Er zählte jetzt jeden dritten Schritt seines linken Fußes. Die Zahl war bedeutungslos, aber er hatte wenigstens etwas zu sagen, und der Klang seiner eigenen Stimme war ihm lieber als das ewige Schweigen.

Zumindest hatte er seit einiger Zeit keinen Hunger mehr. Die ständigen Magenschmerzen waren anfangs sehr unangenehm gewesen, aber das hatte sich gegeben. Er hatte genug Wasser zu trinken und mußte sich nur seinen Gürtel enger schnallen.

„Ha, ich kenne dich, du böse Abzweigung!“ Jason spuckte in die Richtung der drei Zeichen an der Höhlenwand. Dann kratzte er mit seinem Messer ein viertes darunter. Er würde nicht mehr hierher zurückkommen. Nun wußte er, wohin er sich in dem Labyrinth vor sich zu wenden hatte. Ei hoffte es jedenfalls.

„Zeit für eine Rast?“ fragte er sich. „Zeit für eine Rast“, antwortete er sich. Aber noch nicht gleich. Dieser Tunnel führte schräg nach unten, und Jason roch Wasser. Seine Nase war sehr empfindlich geworden. Am Wasser gab es oft Sand, auf dem man besser als auf Felsen schlief. Jasons abgemagerter Körper brauchte eine weiche Unterlage.

Ausgezeichnet. Hier gab es Sand, einen breiten, sandigen Streifen. Das Wasser bildete fast einen See. Jason streckte sich im Sand aus, schaltete seine Taschenlampe ab und schlief ein.

Zu Anfang hatte er nicht schlafen können, ohne daß die Lampe schwach glühte, aber jetzt machte das keinen Unterschied mehr.

Er schlief wie immer kurz, wachte auf und schlief sofort wieder ein. Aber diesmal stimmte irgend etwas nicht. Er lag mit offenen Augen in der Dunkelheit. Dann drehte er sich um und sah ins Wasser.

Weit entfernt. Tief unten. Ein schwacher, ein sehr schwacher blauer Lichtschimmer.

Jason blieb unbeweglich liegen und dachte lange darüber nach. Er war müde und schwach und hungrig. Wahrscheinlich bildete er sich alles nur ein. Fieberphantasien eines Sterbenden.

Er schloß die Augen und döste, aber als er sie wieder öffnete, war der Lichtschimmer noch immer da. Was konnte das bedeuten?

„Jason, du mußt etwas tun“, murmelte er vor sich hin und schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtschimmer im Wasser verschwand. Jason stellte die Lampe in den Sand und zog sein Messer. Er brachte sich einen Schnitt am Unterarm bei, aus dem dicke Blutstropfen quollen. „Das tut weh!“ sagte er. „Das ist besser!“ Der Schmerz machte ihn wieder hellwach, bewirkte einen Adrenalinstoß und ließ ihn klar denken.

„Wenn es dort unten Licht gibt, muß es einen Weg ins Freie geben. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich habe also noch eine letzte Chance, aus dieser Falle zu entkommen. Jetzt. Solange ich einigermaßen bei Kräften bin.“

Jason sprach nicht weiter, sondern holte tief Luft, atmete aus, füllte seine Lungen wieder mit Sauerstoff und wiederholte diesen Vorgang, bis ihm schwindlig wurde. Dann holte er ein letztes Mal Luft, schaltete die Taschenlampe auf volle Lichtstärke um und nahm sie in den Mund. Dann sprang er ins Wasser.

Der eisige Schock kam nicht unerwartet. Jason tauchte tief und schwamm auf die Stelle zu, an der er den Lichtschimmer gesehen hatte. Das Wasser war unglaublich transparent, und er sah überall nur Felsen. Tiefer, noch tiefer; seine Kleidung sog sich voll und zog ihn nach unten. Dicht über dem Boden des Sees erfaßte ihn eine Strömung und riß ihn mit sich durch einen kurzen Kanal.

Dann sah er weit über sich wieder Licht. Er versuchte aufzutauchen, aber es kam nicht näher. Die Taschenlampe fiel ihm aus dem Mund und wurde davongewirbelt. Höher, höher.

Das Licht schien schwächer zu werden, obwohl er sich ihm näherte. In seiner Angst schlug er mit den Armen um sich, fühlte ein Hindernis über seinem Kopf und bekam etwas Hartes zu fassen. Er zog sich daran hoch und streckte den Kopf aus dem Wasser.

In den ersten Minuten konnte er sich nur an der Baumwurzel festhalten und keuchend Luft holen. Dann sah er sich um und erkannte, daß er sich am Ufer eines Tümpels befand, der von hohen Bäumen umgeben war. Dahinter begann eine gewaltige Felswand, die bis zu den Wolken aufragte und darin verschwand.

Jason war im Tiefland.

Er zog sich mühsam aus dem Wasser und blieb erschöpft am Ufer liegen, bis er sich wieder etwas erholt hatte. Unter den Büschen in seiner Nähe wuchsen rote Beeren, auf die er sich gierig stürzte; als er sie herunterschlang, bekam er heftige Magenkrämpfe. Dann lag er wieder im Gras und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Er schlief ein, ohne es zu wollen, und als er aufwachte, konnte er klarer denken. „Verteidigung.

Jeder gegen jeden. Der erste Einheimische, der mich sieht, will mir wahrscheinlich den Schädel einschlagen, um meinen Pelz zu bekommen. Verteidigung.“

Sein Messer war wie die Taschenlampe verschwunden, deshalb mußte er mit einem scharfen Steinsplitter auskommen.

Er sägte damit einen kräftigen Baumschößling dicht über dem Boden ab, entastete ihn und hatte eine Stunde später einen brauchbaren Stab in der Hand. Dieser Stab diente ihm zunächst als Stütze, als er auf einem Waldweg davonhumpelte, der in die gewünschte Richtung führte — nach Osten.

Gegen Abend, als sein Kopf wieder zu schwimmen begann, traf er einen Fremden auf diesem Pfad. Der andere trug eine Art Uniform, war kräftig gebaut und mit einem Bogen und einer Hellebarde bewaffnet. Der Mann blieb stehen und stellte Jason in einem unbekannten Dialekt einige Fragen, die Jason mit einem Schulterzucken beantwortete. Jason bemühte sich, harmlos und schwach zu wirken, was nicht weiter schwierig war. In seinem gegenwärtigen Zustand wirkte er kaum bedrohlich. Der Fremde schien der gleichen Meinung zu sein, denn er verzichtete auf seinen Bogen und hob kaum die Hellebarde, als er näher kam.

Jason wußte, daß alles von dem einzigen Schlag abhing, den er führen konnte. Dieser kräftige junge Mann würde kurzen Prozeß mit ihm machen, wenn er ihn nicht gleich richtig traf.

„Brummel, brummel“, murmelte Jason vor sich hin und packte seinen Stab mit beiden Händen, während er zurücktrat.

„Frmblebrmble!“ sagte der Mann und schüttelte drohend seine Hellebarde.

Jason riß die linke Hand nach unten, so daß das andere Ende seines Stabes nach oben flog; als er gleichzeitig eine Drehbewegung vollführte, wurde der Fremde unterhalb des Brustkorbs getroffen. Er klappte zusammen und blieb liegen.

„Endlich wieder Glück gehabt!“ Jason fiel über die pralle Tasche am Gürtel des Fremden her. Er hoffte, Verpflegung darin zu finden.

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