Prolog. Zwei Schicksale


1686: Der Köhlerjunge

»Es ist nun wirklich an der Zeit, daß der Junge meinen Namen annimmt«, sagte Windom nach dem Abendbrot. Die Sache verdroß ihn. Jedesmal, wenn er zuviel getrunken hatte, kam er darauf zu sprechen. Die Mutter des Jungen saß neben dem kleinen Feuer und schloß die Bibel, die sie auf den Knien hielt. Bess Windom hatte sich selbst, wie jeden Abend, etwas vorgelesen. Der Junge konnte an ihren Lippenbewegungen erkennen, daß sie nur langsam vorwärtskam. Sie war gerade bei ihrem Lieblingsvers im 5. Kapitel des Matthäus-Evangeliums angelangt: ›Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich‹, als Windom mit seiner Bemerkung herausplatzte.

Der Junge, Joseph Moffat, saß mit dem Rücken zur Kaminecke und schnitzte ein kleines Boot. Er zwar zwölf, von untersetztem Körperbau wie seine Mutter, mit breiten Schultern, hellbraunem Haar und blaßblauen Augen, die manchmal farblos schienen.

Windom warf seinem Stiefsohn einen finsteren Blick zu. Frühlingsregen prasselte auf das Strohdach. Windoms Augen waren von Kohlestaub verschmiert, die abgebrochenen Fingernägel wiesen einen Trauerrand auf. Windom war eine verkrachte Existenz, vierzig Jahre alt. Wenn er nicht gerade betrunken war, hackte er Holz und ließ es während zwei Wochen in zwanzig Fuß hohen Stapeln verschwelen. Er stellte Holzkohle für die kleinen Hochöfen am Fluß her, eine schmutzige, erniedrigende Arbeit. Bezeichnenderweise warnten die Mütter die umherstreunenden Nachbarskinder vor dem Schwarzen Mann.

Joseph sagte nichts und starrte vor sich hin. Windom entging jedoch nicht, daß der Junge nervös mit dem Zeigefinger auf den Messergriff trommelte. Der Junge war temperamentvoll, und manchmal fürchtete sich Windom vor ihm. Aber jetzt nicht. Das hartnäckige Schweigen des Jungen, sein herausfordernder Trotz, brachten den Stiefvater in Harnisch.

Schließlich sagte Joseph: »Mein eigener Name gefällt mir« und widmete sich wieder seinem halbfertig geschnitzten Boot.

»Du unverschämter Kerl«, stieß Windom mit barscher Stimme hervor und stürzte sich auf den Jungen. Sein Stuhl kippte um. Bess warf sich dazwischen. »Laß ihn, Thad, kein wahrer Jünger unseres Herrn würde einem Kind etwas zuleide tun.«

»Fragt sich, wer wem etwas antun will. Sieh ihn dir an!« Joseph stand mit dem Rücken zum Kamin. Er keuchte. Mit starrem Blick hielt er das Messer auf Hüfthöhe, bereit zuzustechen. Langsam öffnete Windom seine geballte Faust, trat linkisch ein paar Schritte zurück und rückte seinen Stuhl zurecht. Wie immer war es Bess, die litt, wenn die Angst und der Groll des Jungen sich gegen ihn richteten. Joseph nahm seine Stellung beim Kamin wieder ein und fragte sich, wie lange er das noch aushalten konnte.

»Ich will nichts mehr von deinem heiligen Herrn hören«, sagte Windom zu seiner Frau. »Du sagst immer, daß er den armen Mann erhöhen werde. Dein erster Mann war ein Idiot, daß er für einen solchen Mist gestorben ist. Wenn dein lieber Jesus sich mal seine Hände an meinen Kohlen schmutzig macht, werde ich an ihn glauben, vorher nicht.« Er langte nach der grünen Ginflasche.

Später in der Nacht, als Joseph regungslos auf seinem Strohsack in der Ecke lag, hörte er, wie Windom seine Mutter hinter dem zerschlissenen Bettvorhang mit Worten und Fäusten mißhandelte. Bess schluchzte, und der Junge preßte die Zähne zusammen. Dann hörte er Bess stöhnen. Der Streit war wieder mal in der typischen Weise beigelegt worden, dachte er zynisch. Er konnte es seiner Mutter nicht verübeln, daß sie ein bißchen Geborgenheit und Liebe suchte. Sie hatte den falschen Mann geheiratet, das war alles. Lange nachdem das Bett schon nicht mehr quietschte, lag Joseph noch wach und dachte darüber nach, wie er den Köhler töten könnte. Nie würde er den Namen seines Stiefvaters annehmen. Er konnte etwas Besseres werden als Windom. Mit seinem Trotz zeigte er, daß er an ein besseres Leben für sich selbst glaubte. An ein Leben, wie es Andrew Archer führte, der Eisenhüttenbesitzer, zu dem Windom ihn vor zwei Jahren in die Lehre geschickt hatte.

Manchmal jedoch wurde Joseph mutlos, dann nämlich, wenn ihm seine Hoffnungen und sein Glaube an ein besseres Leben wie dumme Tagträume vorkamen. Er war doch keinen Dreck wert. Sein Körper war schmutzig, sein Verstand taugte nichts, und seine Kleider waren dauernd voller Kohlestaub. Obwohl er nicht verstand, welches Verbrechens sein Vater sich in Schottland schuldig gemacht hatte und wofür er gestorben war, konnte er es nicht ungeschehen machen; es haftete wie ein Makel an ihm. ›Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden…‹ Kein Wunder war dies der Lieblingsvers seiner Mutter.

Sein Vater, ein hagerer, strenger Bauer, an den er sich nur schemenhaft erinnerte, war ein fanatischer Verfechter des Presbyterianismus in Schottland gewesen. Er war an den Spanischen Stiefeln und der Daumenschraube verblutet. Dies geschah während der ›Zeit des Mordens‹, wie Bess es nannte, nämlich während den ersten Monaten der Amtszeit des Duke of York, der später als Jakob II. den Thron bestieg. Nach einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche hatte er geschworen, den Presbyterianismus auszurotten und die Episkopalkirche im ganzen Land zu institutionalisieren. Kaum war Robert Moffat im Gefängnis eines blutigen Todes gestorben, eilten Freunde zu seinem Hof, um seiner Frau mitzuteilen, sie solle fliehen. Knapp eine Stunde, bevor der Herzog mit seinen Männern eintraf, hatte sie sich mit ihrem einzigen Sohn auf den Weg gemacht. Ihr ganzer Besitz wurde niedergebrannt. Nach Monaten der Wanderschaft gelangten Mutter und Sohn schließlich zu den Hügeln im südlichen Shropshire. Bess war müde und erschöpft, und so entschloß sie sich, dort zu bleiben.

Der Severn River schlängelte sich im Süden und im Westen durch das bewaldete Hochland, die Gegend machte einen einigermaßen sicheren und ländlichen Eindruck. Mit dem letzten Geld, das sie aus ihrer Heimat hatte retten können, mietete sie ein Häuschen. Sie arbeitete als Magd, und innerhalb von zwei Jahren begegnete sie schließlich Windom und heiratete ihn. Sie gab sogar vor, der offiziellen Kirche beigetreten zu sein, denn obwohl Robert Moffat ihr einen inbrünstigen Glauben eingeflößt hatte, hatte er ihr nicht den Mut eingeflößt, nach seinem Tod weiterhin den Behörden Widerstand zu leisten. Angesichts des Elends verwandelte sich ihr Glaube zusehends in Resignation. Ein halt- und wertloser Glaube, wie Joseph oft dachte. Das wollte er nicht für sich. Sein Vorbild war der willensstarke Archer, der oberhalb des Flusses am Hügel in einem herrschaftlichen Haus wohnte und der Besitzer der Eisenhütte war. Hatte nicht auch der alte Giles Joseph gesagt, daß er intelligent und willensstark genug sei, um einen ebensolchen Erfolg im Leben zu haben? Und in letzter Zeit hatte er es oft wiederholt. Meistens glaubte Joseph dem Alten. So lange zumindest, bis er wieder einmal den Kohlestaub unter seinen Fingernägeln sah und hörte, wie die andern Lehrlinge sich über ihn lustig machten: »Dreckiger Joe, schwarz wie ein Neger.« Dann sah er, wie verblendet seine Träume waren, und lachte so lange über seine Blödheit, bis die Scham seine blaßblauen Augen mit schier endlosen Tränen füllte.

Der alte Giles Hazard, ein Junggeselle, war einer der drei wichtigsten Männer in Archers Eisenhütte. Ihm war der mit Kohle angefeuerte Frischofen anvertraut, in welchem die vom Schmelzofen kommenden Roheisenbarren wieder eingeschmolzen wurden, damit überschüssiger Kohlenstoff und andere Elemente ausgeschieden wurden; das Gußeisen wäre sonst für die Herstellung von Hufeisen, Faßreifen und Pflugscharen zu spröde geworden. Giles Hazard hatte eine rauhe Stimme, seine Gesellen und Lehrlinge mußten wie Sklaven arbeiten. Sein ganzes Leben lang hatte er in unmittelbarer Nähe des Hochofens gewohnt und schon im Alter von neun Jahren dort zu arbeiten begonnen. Seine untersetzte, behäbige Gestalt strotzte nur so vor Energie. Man hätte ihn für eine ältere Ausgabe von Joseph halten können, und vielleicht behandelte er den Jungen deshalb wie einen Sohn.

Aber Joseph lernte auch sehr schnell, und das gefiel Giles. Joseph war Giles im letzten Sommer aufgefallen, als er gerade sein zweites Lehrjahr begann. Der Hochofen-Meister hatte damit geprahlt, wie geschickt Joseph an der Sandrinne arbeitete, von wo aus das glänzende geschmolzene Eisen in weitere kleine Wannen floß. Da Giles in der Eisenhütte der Dienstälteste war, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, den Jungen in die Frischerei versetzen zu lassen. Hier mußte Joseph nun mit der langen Eisenstange gleichzeitig in drei oder vier Wannen arbeiten, damit das Roheisen einheitlich geschmolzen werden konnte. Joseph erwies sich als sehr geschickt, und bald ertappte Giles sich dabei, wie er ihm ein Kompliment machte.

»Du bist geschickt und hast das für dieses Gewerbe nötige Verständnis. Zudem bist du umgänglich, außer wenn – wie ich festgestellt habe – die andern dich wegen dem Beruf deines Stiefvaters hänseln. Nimm dir ein Beispiel an Herrn Archer. Zugegeben, er ist ein Dickkopf, aber er weiß auch, daß es manchmal besser ist, nachzugeben. Er verkauft seine Erzeugnisse mit einem Lächeln und mit liebenswürdigen Worten und zwingt seinen Kunden nichts auf.«

Im stillen war der alte Mann davon überzeugt, daß Joseph gar nicht zuhörte. Josephs Leben und Charakter hatten bereits starre Formen angenommen. Ohne Zweifel hatten ihn Lebensumstände und ungebildete Eltern zu einem Leben im Abseits verurteilt. Und doch ermutigte Giles Joseph weiterhin. Vielleicht deshalb, weil er älter wurde und sah, daß es nicht klug von ihm gewesen war, sein Leben lang Junggeselle zu bleiben. Er zeigte Joseph nicht nur, wie man Eisen herstellt, sondern vermittelte ihm auch das dazugehörige Wissen.

»Eisen regiert die Welt, mein Junge. Es bricht Erde auf und verbindet Kontinente – und auch Kriege werden damit gewonnen.« In Archers Öfen wurden Kanonenkugeln für Kriegsschiffe hergestellt. Giles wandte sein großflächiges Gesicht dem Mond zu und sagte: »Eisen kam von irgendwoher auf die Welt, von woher, weiß nur Gott. Schon in den frühesten Tagen der Menschheit kannte man Meteorsteine.«

»Was ist ein Meteor?« warf der Junge ein.

Giles lächelte. »Eine Sternschnuppe. Sicher hast du schon welche gesehen.« Der Junge nickte nachdenklich. Giles sprach von vielen Dingen, die nach und nach, je mehr Joseph vom Gewerbe lernte, an Bedeutung gewannen. Giles erzählte die Geschichte der Eisenherstellung. Er sprach vom Stück- und vom Flüßofen, die es seit dem 10. Jahrhundert in Deutschland gab, von den hauts fourneaux, die im 15. Jahrhundert in Frankreich aufkamen, und von den Wallonen, die vor etwa sechzig Jahren in Belgien das Wiedereinschmelzungsverfahren der Schlacken entwickelt hatten. »Doch all das ist bloß ein Ticken der großen Eisenuhr. Vor 700 Jahren hat der heilige Dunstan Eisen bearbeitet. Man sagt, er habe in seinem Schlafzimmer in Glastonbury eine Schmiede gehabt. Die ägyptischen Pharaonen wurden mit eisernen Amuletten und eisernen Dolchklingen begraben, weil das Metall so wertvoll, edel und mächtig war. Ich habe über Dolche aus Babylonien und Mesopotamien gelesen, die es bereits Jahrtausende vor Christus gegeben haben soll.«

»Ich kann nicht gut lesen.«

»Dann sollte es dir jemand beibringen, oder du solltest es selber lernen«, brummte Giles. »Ein Mann kann vieles durch Lesen lernen, Joseph, nicht alles, aber vieles. Ich meine, ein Mann, der nicht unbedingt Köhler werden möchte.« Joseph verstand und nickte ohne eine Spur von Ärger. »Kannst du überhaupt lesen?« fragte Giles.

»Ja, doch.« Schweigend blickte Joseph Giles an. »Nur ein bißchen«, schränkte er ein. »Meine Mutter versuchte es mir mit der Bibel beizubringen. Ich mag die Heldengeschichten über Samson und David. Aber Windom wollte nicht, daß Mutter mir das Lesen beibrachte, und so hörte sie damit auf.« Giles überlegte. »Wenn du jeden Abend eine halbe Stunde länger bleibst, könnte ich es versuchen.«

»Aber Windom …«

»Du mußt eben schwindeln«, unterbrach ihn Giles. »Wenn er fragt, warum du zu spät kommst, dann mußt du ihm eben eine Lüge auftischen. Das heißt, wenn du wirklich etwas werden willst. Wenn du nicht Köhler werden möchtest.«

»Glauben Sie, daß ich das kann, Meister Hazard?«

»Und du, glaubst du es?«

»Ja.«

»Dann wirst du’s können. Dem Mutigen gehört die Welt.«

Dieses Gespräch hatte im Sommer stattgefunden. Im Herbst und Winter unterrichtete Giles den Jungen. Und sein Unterricht war gut, so gut, daß Joseph dies seiner Mutter mitteilen mußte. Eines Abends, als Windom irgendwo herumpolterte, zeigte er ihr ein Buch, das er heimlich nach Hause genommen hatte. Es war ein sehr umstrittenes Buch mit dem Titel ›Metallum Martis‹. Verfasser war der jüngst verstorbene Dud Dudley, ein unehelicher Sohn des fünften Lord Dudley. Dud Dudley nahm für sich in Anspruch, Eisen erfolgreich durch Mineralkohle – oder Steinkohle – eingeschmolzen zu haben, wie Joseph seiner Mutter, zwar mit etlicher Anstrengung, aber doch mit Erfolg, vorlas. Ihre Augen glühten vor Bewunderung, doch dann erlosch der Glanz. »Lernen ist etwas Herrliches, mein Junge, aber es kann zu Hochmut führen. Jesus sollte der Mittelpunkt deines Lebens sein.« Joseph hörte dies nur ungern, aber er sagte nichts. »Es gibt nur zwei Dinge, die im Leben wichtig sind«, fuhr seine Mutter fort, »die Liebe zu Gottes Sohn und die Nächstenliebe. Die Liebe, die ich für dich empfinde«, sagte sie abschließend und drückte ihn plötzlich an sich. Er hörte ihr Weinen und fühlte, wie sie zitterte. Seit der Zeit des Mordens hatte sie resigniert und keine Hoffnungen mehr. Sie hoffte nur noch auf das Jenseits und glaubte nur noch an den Heiland und an ihren Sohn. Joseph hatte seine Zweifel. Er empfand Mitleid mit ihr, aber er mußte sein eigenes Leben leben. Bess erzählte Windom nichts von den Unterrichtsstunden. Sie konnte jedoch einen Anflug von Stolz nicht verbergen, was Windom zutiefst ärgerte.

An einem Sommerabend, nicht lange, nachdem der Streit darüber stattgefunden hatte, ob Joseph den Namen seines Stiefvaters annehmen würde, kam Joseph nach Hause und fand seine Mutter blutend, grün und blau geschlagen, beinahe bewußtlos auf dem schmutzigen Boden. Windom war weggegangen. Sie wollte nicht sagen, was geschehen war, und flehte Joseph so lange an, bis er versprach, seine Drohungen nicht wahrzumachen. Doch der Haß auf seinen Stiefvater wuchs in ihm.

Als die Hügel von Shropshire mit dem Nahen des nächsten Herbstes rot und golden leuchteten, hatte Joseph so große Fortschritte gemacht, daß Giles einen weiteren kühnen Schritt wagte.

»Ich werde mich mit Herrn Archer unterhalten und ihn darum bitten, daß er dir eine Stunde pro Woche mit dem Hauslehrer, der im Herrenhaus wohnt, erlaubt. Sicher wird er es gestatten, daß der Lehrer dir ein bißchen Mathematik und vielleicht sogar etwas Latein beibringt.«

»Weshalb sollte er, ich bin doch niemand.«

Der alte Giles lachte und strich Joseph übers Haar, bis es ganz zerzaust aussah. »Er wird sich darüber freuen, zu einem so redlichen Gesellen zu kommen, und dies praktisch ohne Kosten. Das ist mal eins. Zum andern ist Herr Archer ein anständiger Mensch. Es gibt nur wenige auf dieser Welt.«

Joseph glaubte ihm nicht, bis Giles ihm mitteilte, daß Herr Archer seine Einwilligung gegeben hatte. Als er an jenem Abend nach Hause rannte, vergaß er in seiner Freude und Aufregung seine sonst übliche Vorsicht. Über dem Fluß und den Hügeln lag schwerer Nebel, und er fröstelte, als er die Hütte erreichte. Windom war da, rußig und halb betrunken. Joseph, der sich so darüber freute, daß jemand ihm wohlgesinnt war, reagierte nicht auf die warnenden Blicke seiner Mutter und sprudelte mit der Neuigkeit heraus. Windom war nicht beeindruckt. »Um Himmels willen, weshalb sollte der junge Narr einen Lehrer brauchen!« Er blickte den Jungen voller Spott an, und Joseph hatte das Gefühl, als ob ein Schwert ihn durchbohre. »Er ist unwissend. Genauso unwissend wie ich.« Bess nestelte an ihrer Schürze herum. Sie war verwirrt und wußte nicht, wie sie aus der Falle herauskommen sollte.

Mit raschen Schritten ging sie auf das Feuer zu und warf in ihrer Nervosität den Schürhaken um. Joseph blickte seinem Stiefvater fest in die Augen, als er sagte: »Nicht mehr. Der alte Giles hat mir Unterricht erteilt.«

»Worin?«

»Im Lesen. In Allgemeinbildung.«

Windom grinste und bohrte mit dem kleinen Finger in der Nase. Dann wischte er ihn an seinen Kniehosen ab und lachte. »Welche Verschwendung. Du brauchst doch keine Bücher, um im Frischwerk zu arbeiten.«

»Doch, wenn man so reich werden will wie Meister Archer.«

»Oho, du glaubst also wirklich, daß du eines Tages reich sein wirst.«

Joseph preßte die Lippen aufeinander. »Verdammt soll ich sein, wenn ich so arm und dumm bleibe wie du.«

Windom brüllte und stürzte sich auf den Jungen. Bess, die nervös im Schmortopf, der an einer Kette über dem Herd hing, herumgerührt hatte, rannte mit offenen Armen auf ihren Mann los.

»Er hat es nicht so gemeint, Thad. Sei barmherzig, so wie Jesus es uns gelehrt h…«

»Blöde, fromme Hure. Ich tue mit ihm, was ich will«, schrie Windom und schlug sie an die Schläfe. Sie stolperte, prallte mit der Schulter hart auf dem Kaminsims auf und stieß einen Schrei aus. Der Schmerz war stärker als ihre Gottergebenheit. Sie erspähte den Schürhaken, riß ihn hastig an sich und hielt ihn abwehrend hoch. Es sah pathetisch aus, doch Windom empfand es als Bedrohung und fiel über sie her. Voller Angst und Wut fing Joseph an, mit seinem Stiefvater zu ringen, aber Windom schüttelte ihn ab. Voller Entsetzen tastete Bess nach dem verlorenen Schürhaken, war aber nicht in der Lage, ihn fest in den Griff zu bekommen. Windom konnte ihn ihr leicht entreißen und streckte sie mit zwei Schlägen an die Schläfe zu Boden. Ein feiner Blutfaden rann über Bess’ Wangen.

Joseph starrte sie einen Augenblick lang an, dann stürzte er sich in einer unbändigen Wut auf den Schürhaken. Windom warf ihn gegen die Wand. Joseph rannte zum Herd, ergriff die Kette, an der der Topf hing, und goß den heißen Inhalt des Topfes über Windom. Windom schrie und preßte die Hände auf seine verbrühten Augen. Joseph hatte Brandwunden an den Händen, aber er spürte sie kaum. Er hob den leeren Topf und ließ ihn auf Windoms Kopf niedersausen. Als Windom wimmernd zu Boden fiel, wickelte Joseph die Kette um den Hals seines Stiefvaters und zog so lange daran, bis sie sich ins Fleisch eingefressen hatte. Windom bewegte sich nicht mehr.

Joseph rannte in den Nebel hinaus und erbrach sich. Seine Handflächen brannten, und es wurde ihm bewußt, was er getan hatte. Er wollte sich gehenlassen und heulen, er wollte wegrennen, aber er tat keines von beidem. Er zwang sich, in die Hütte zurückzugehen. Als er drinnen war, sah er, wie sich seine Mutter schwach bewegte. Sie war also nicht tot! Nach vielen Versuchen gelang es ihm schließlich, sie auf die Füße zu stellen. Sie murmelte zusammenhangloses Zeug und lachte dazwischen. Er hüllte sie in einen Schal und geleitete sie langsam durch den Nebel bis zur Wohnung von Giles Hazard, der etwa zwei Meilen weit weg wohnte. Sie strauchelte mehrmals auf dem Weg, aber auf sein Drängen hin ging sie weiter. Verdrossen öffnete Giles die Tür. Durch den Kerzenschimmer konnte man sein Gesicht sehen. Wenige Augenblicke später half er Bess in sein noch warmes, niedriges Bett. Nachdem er sie untersucht hatte, strich er sich nachdenklich übers Kinn.

»Ich werde den Arzt rufen«, sagte Joseph. »Wo finde ich ihn?«

Der alte Giles konnte seine Besorgnis nicht verbergen. »Ein Arzt wird hier nicht mehr viel machen können.«

Joseph war wie betäubt, und endlich kamen die Tränen. »Das darf nicht wahr sein.«

»Sieh sie dir an. Sie atmet kaum noch. Und was den hiesigen Barbier anbelangt, er ist ein Analphabet. Er kann nichts für sie tun und wird bloß Fragen stellen.« Dieser Satz war bereits eine versteckte Frage, denn Joseph hatte Giles nur berichtet, daß Windom seine Mutter geschlagen hatte.

»Jetzt hilft nur warten«, sagte Giles schließlich und rieb sich die Augen.

»Und zu Gott beten«, sagte Joseph verzweifelt.

Giles setzte einen Topf auf den Herd. Joseph sank neben dem Bett auf die Knie, faltete die Hände und betete voller Inbrunst. Es gab keine Anzeichen dafür, daß sein Gebet erhört worden war. Im Gegenteil, Bess atmete leiser und schwächer. Als sich der Nebel über dem Fluß lichtete, berührte Giles behutsam Josephs Schulter, damit er aufwache. »Setz dich ans Feuer«, sagte er und zog eine Bettdecke über das zerschundene und friedliche Gesicht von Bess. »Es ist vorbei. Sie ist unterwegs zu ihrem Jesus, und wir können nichts mehr tun. Aber wie steht es mit dir? Was mit dir geschieht, hängt davon ab, ob man dich erwischt.« Giles atmete tief. »Dein Stiefvater ist tot, nicht wahr?« Der Junge nickte. »Das dachte ich mir. Sonst wärst du nicht hierhergekommen. Er hätte sie gepflegt.«

Josephs ganzer Schmerz verschaffte sich mit einem Schrei Luft: »Ich bin froh, daß ich ihn getötet habe.«

»Das glaube ich dir. Aber damit bist du zum Mörder geworden. Herr Archer wird keinen Mörder einstellen, und ich kann es ihm nicht verübeln. Aber…« Seine Stimme wurde weicher, die aufgesetzte Strenge verflog. »Ich will nicht, daß man dich hängt oder vierteilt. Was können wir tun?« Er fing an, auf und ab zu schreiten. »Sie werden nach Joseph Moffat suchen, oder nicht? Nun gut, dann wirst du eben nicht mehr so heißen.«

Nach dieser Entscheidung verfertigte Giles ein Schreiben, das besagte, daß der Inhaber, Joseph Hazard, sein Neffe, in Familiengeschäften auf Reisen sei. Nach kurzem Zögern unterschrieb er mit seinem Namen, fügte noch die Worte Onkel und Vormund hinzu sowie einige Schnörkel; letztere verliehen dem Ganzen ein echt urkundliches Aussehen.

Giles versprach Joseph ein christliches Begräbnis für Bess und bestand darauf, daß der Junge nicht helfen und nicht bleiben konnte. Nachdem er ihm zwei Schilling, ein in ein Halstuch gebundenes Brot und den Rat, keine Hauptstraße zu benützen, gegeben hatte, verabschiedete er sich mit einer väterlichen Umarmung und entließ den verwirrten Joseph in die nebelgrauen Hügel.

Irgendwo auf einer einsamen Straße in Gloucestershire hielt Joseph inne und schaute auf. Die Nacht war sternenklar. Im Osten, über dem Dach eines kleinen Bauernhofs, sah er einen weißen Streifen. Etwas Brennendes, das rasch zu Boden fiel. Eisen. Gott sandte den Menschen Eisen, genau wie Giles gesagt hatte. Der Junge verstand, weshalb Eisenhüttenbesitzer so stolz auf ihren Beruf waren. Es war ein im Himmel geborenes und gesegnetes Gewerbe. Voller Ehrfurcht wartete Joseph, bis der weiße Streifen am Horizont verschwunden war. Er stellte sich einen enormen Meteor vor, der irgendwo in einem frischen Krater schwelte. Es konnte kein mächtigeres Material in der ganzen Schöpfung geben. Kein Wunder, wurden damit Kriege gewonnen, Distanzen überwunden. Von diesem Augenblick an zweifelte er nie mehr an seinem Lebensweg.

Joseph marschierte eilends in Richtung des Hafens von Bristol. Er wurde nicht einmal angehalten oder nach dem Schreiben gefragt, das Giles so sorgfältig für ihn aufgesetzt hatte. So sehr vermißte die Welt Thad Windom also nicht! Joseph trauerte um seine Mutter, bedauerte jedoch kaum, seinen Stiefvater erschlagen zu haben. Er hatte getan, was er hatte tun müssen; die Rache hatte sich mit dem Gebot der Stunde verbrüdert.

Unterwegs wurde er von neuartigen Gedanken überrascht, die oft um Religion kreisten. Er hatte sich nie mit dem Glauben seiner Mutter an einen liebenden, vergebenden und offenbar machtlosen Christus anfreunden können, aber er entdeckte seine Sympathie für das Alte Testament. Bess hatte ihm viele Geschichten von starken, tapferen Männern vorgelesen, die keine noch so kühne Tat scheuten. Auf seinem mühseligen Marsch durch Felder und Wälder auf dem Weg nach dem großen Hafen von Westengland fühlte er sich mehr und mehr mit jenen Gestalten und ihrem Gott verwandt.

Nach mehreren Fehlschlägen konnte er endlich einen Kapitän ausfindig machen, der demnächst in die Neue Welt segeln würde; in jenen Teil der Erde, der vielen Engländern eine zweite Heimat bot. Der Kapitän mit dem Holzbein hieß Smollet, sein Schiff Möwe von Portsmouth. Er machte Joseph einen klaren Vorschlag.

»Du unterschreibst ein Dokument, mit dem du dich mir verdingst. Dafür biete ich dir die Überfahrt und die Verpflegung an Bord. Wir werden Bridgetown auf Barbados anlaufen und anschließend die Kolonien in Amerika. Dort braucht man gelernte Arbeiter. Wenn du wirklich so gut mit Eisen umgehen kannst, wie du behauptest, wird es für mich nicht schwierig sein, dir eine Stelle zu verschaffen.«

Der Kapitän sah Joseph verstohlen über den Rand des Bierkruges an. Der Junge nahm ihm seinen harten Handel nicht übel, er bewunderte ihn sogar dafür. Er sagte sich im stillen, daß ein Mann, der Erfolg haben wollte, immer wieder schwierige Entscheidungen treffen mußte. So war es auch mit den Helden des Alten Testaments gewesen, mit Abraham und mit Moses. Wenn er sich jemanden zum Vorbild nehmen sollte, dann sie.

»Nun, Hazard, wie lautet deine Antwort?«

»Sie haben mir nicht gesagt, wie lange ich Ihnen dienen soll.«

Kapitän Smollet lächelte bewundernd. »Die meisten sind so aufgeregt oder so schuldbeladen« – Josephs Gesicht zeigte keinerlei Regung, er ignorierte den Test –, »daß sie glattweg vergessen, danach zu fragen, bis wir aus der Meeresbucht segeln.« Er blickte in seinen Bierkrug.

»Der Vertrag läuft sieben Jahre.«

Erst wollte Joseph nein schreien. Aber er unterließ es. Smollet faßte sein Schweigen als Absage auf; mit einem Achselzucken stand er auf und warf einige Münzen auf den schmierigen Tisch. Es würde nicht leicht sein, während sieben Jahren der Sklave eines andern Mannes zu sein, dachte Joseph. Doch konnte er die Zeit geschickt und klug nutzen. Er konnte sich weiterbilden, wie Giles ihm eindringlich geraten hatte, und er konnte sich noch mehr Fachwissen über sein Gewerbe aneignen. Nach sieben Jahren würde er ein freier Mann in einem neuen Land sein, wo man Eisenhüttenbesitzer brauchte und wo niemals jemand etwas von Thad Windom gehört hatte. Kapitän Smollet blieb an der Kneipentür stehen, als Joseph rief: »Ich werde unterschreiben.«

An jenem Abend, als Joseph über den Kai zur Möwe von Portsmouth eilte, regnete es. Die Fenster am Heck des Schiffes, dort wo der Kapitän wohnte, waren erleuchtet. Es sah sehr einladend aus, und bald würde Joseph in jener Kabine sein Zeichen unter den Verdingungsvertrag setzen. Er lächelte, als er an Smollet dachte; ein Schurke. Er hatte nur einige flüchtige Fragen zu Josephs Vergangenheit gestellt. Joseph, der befürchtet hatte, das Angebot könnte zurückgezogen werden, hatte etwas vorschnell Giles’ Dokument vorgezeigt! Der Kapitän hatte es kritisch betrachtet und mit einem Grinsen zurückgegeben.

»Familiengeschäfte. Bis in die Kolonien! Man stelle sich so was vor.« Ihre Blicke trafen sich. Smollet wußte, daß der Junge auf der Flucht war, aber das kümmerte ihn nicht. Joseph bewunderte die Skrupellosigkeit des Kapitäns. Er mochte ihn mehr denn je. Sieben Jahre würden vorbeigehen; es war gar nicht so lange. Mit diesen Gedanken hielt er an einer Treppe an, die zum Wasser führte. Er kletterte die halbe Treppe hinunter, hielt sich mit der einen Hand am glitschigen Holz fest und tauchte die andere einmal, zweimal, dreimal ins Salzwasser. Sollte noch symbolisches Blut an ihm haften, so fühlte er sich jetzt gereinigt. Er fing ein neues Leben an. Im Lichte der Schiffslaterne betrachtete er seine Finger und lachte laut. Früher hatte er noch Kohlestaub unter den Fingernägeln gehabt. Auch der war jetzt verschwunden.

Pfeifend schlenderte er auf das Fallreep zu und ging mit zunehmend besserer Stimmung an Bord. Obwohl er sich für die nächsten sieben Jahre verpflichtet hatte, betrachtete er das Ganze nun mit einem neuen Gefühl persönlicher Freiheit. Das Leben in der Neuen Welt würde für Joseph Mof – nein, für Joseph Hazard anders werden. Gott würde schon dafür sorgen. Der Gott, an den er glaubte, und der ihm in dieser Stunde vertrauter wurde, war eine Gottheit, die dem tapferen Mann, der keine harte Arbeit scheute, wohlgesinnt war. In den letzten Tagen waren sich Joseph und sein Gott nähergekommen. Jetzt waren sie Freunde geworden.

1687: Der Aristokrat

Im Frühsommer des darauffolgenden Jahres träumte jenseits des Ozeans, in der königlichen Kolonie Carolina, noch jemand davon, reich zu werden. Sein Ehrgeiz steigerte sich zur Besessenheit. Reichtum, Macht und Sicherheit hatte er bereits erlebt. Doch die Sicherheit hatte sich als Illusion erwiesen; Wohlstand und Macht waren hinweggefegt worden wie der schimmernde Sand am Strand von Charles Town, wenn die Sturmflut kam. Charles de Main war dreißig Jahre alt. Seit zwei Jahren war er mit seiner schönen Frau Jeanne in der Kolonie. Es waren erst siebzehn Jahre her, seitdem die ersten Europäer nach Carolina eingewandert waren und sich dort niedergelassen hatten. Die insgesamt zwei- oder dreitausend weißen Einwohner waren also alle mehr oder weniger Neuankömmlinge.

Unter den Ansiedlern befand sich eine Gruppe von Abenteurern, die ursprünglich von Barbados gekommen waren. Sie hatten sich im Dorf Charles Town niedergelassen und hatten es unter den Lords Proprietors, den englischen Aristokraten, die die Kolonie wie ein Finanzgeschäft gegründet hatten, rasch zu einer gewissen Macht gebracht. Es dauerte nicht lange, bis die Einwanderer aus Barbados ihren Hochmut offen zeigten. Charles war der Meinung, daß sie unpraktische Idioten waren. Sie träumten von einem landwirtschaftlichen Paradies, das sie mit dem Anbau von Seide, Zucker, Tabak und Baumwolle reich machen würde. Charles war realistischer. Das Küstentiefland von Carolina war für die traditionelle Landwirtschaft viel zu feucht. Im Sommer war das Klima fast unerträglich heiß und fieberverseucht, nur die Widerstandsfähigsten überlebten. Im allgemeinen gründete der gegenwärtige Wohlstand der Kolonie auf drei Einnahmequellen: Pelze, mit denen Charles bereits handelte, Viehzucht und jene Art von Wohlstand, die er sich nun eben mit dem Gewehr aus dem Hinterland zu verschaffen versuchte: Indianer für den Sklavenhandel.

Charles de Main war keineswegs in dieses Land der Küstensümpfe und lichten Wälder gekommen, weil es ihn geographisch oder kommerziell interessiert hätte. Er und Jeanne waren aus dem Loiretal geflohen, wo Charles als der vierzehnte Herzog seiner Dynastie zur Welt gekommen war. Er hatte mit zwanzig geheiratet und die Verwaltung der Weinberge, die seiner Familie gehörten, übernommen. Während einiger Jahre führte das junge Paar ein idyllisches Leben, abgesehen von der traurigen Tatsache, daß Jeanne keine Kinder bekam. Doch dann hatte der sich von Generation auf Generation übertragene Glaube der Familie sie in den Ruin geführt. Als Ludwig XIV. 1685 das Edikt von Nantes aufhob, war es mit dem Waffenstillstand zwischen den französischen Katholiken und Protestanten vorbei. Wie alle andern stolzen Hugenotten – einige Franzosen ersetzten das Wort stolz durch verräterisch – waren Charles de Main und seine Gemahlin von der nun in Frankreich wütenden Säuberungswelle bedroht. Nachdem der Terror einmal ausgebrochen war, wurde jeder Versuch, das Land zu verlassen, als schwerwiegendes Verbrechen angesehen. Doch genau wie Tausende von anderen Hugenotten schmiedeten auch die de Mains Fluchtpläne. Im Dorf, in der Nähe des Château de Main mit seinen runden Türmen, wohnte ein gewisser Rechtsanwalt namens Emilion, der hinter der Frömmigkeit, die er an den Tag legte, ebenso bigott wie unehrlich war. Er wußte sehr wohl, wie in England aus den samtigen Rotweinen und den fruchtigen Weißweinen des Schlosses Profit zu schlagen war. Es gelüstete ihn sehr nach den Weinbergen der de Mains, und um an sie heranzukommen, bestach er einen Knecht, der ihm Informationen über seinen Herrn und seine Herrin liefern sollte. Emilion schürte den Verdacht, daß die de Mains fliehen wollten, und es dauerte auch nicht lange, bis der Knecht die ersten Anzeichen von Fluchtvorbereitungen beobachten konnte. Ein Wort an den zuständigen Beamten genügte. In der Nacht, als sich die de Mains auf den Weg machten, wurden sie – erst knapp einen halben Kilometer vom Schloß entfernt – bereits von den Behörden gestellt.

Der junge Adlige und seine Frau mußten siebzehn Tage im Gefängnis verbringen. Sie wurden verhört und mit Messern und glühenden Eisen gefoltert. Doch keiner von beiden wurde schwach, zumindest nicht nach außen hin, obwohl Jeanne gegen das Ende hin nur noch schrie oder weinte. Sie wären im Verlies in Chalonnes gestorben, wenn nicht Charles’ Onkel aus Paris ihnen geholfen hätte. Er war ein kluger Politiker, der es verstand, seinen Glauben so mühelos zu wechseln wie seine Seidenkleider. Er kannte einige wichtige Männer, deren katholische Prinzipien nichts mit ihrer Börse gemein hatten. Bestechungsgelder wurden bezahlt, und eine bestimmte Hintertür wurde offengelassen. Charles und Jeanne de Main flüchteten im Kielraum eines altersschwachen Bootes, das in den rauhen Gewässern des Ärmelkanals beinahe kenterte. In London wurde ihnen von andern Hugenotten geraten, nach Carolina auszuwandern. Die religiös liberale Kolonie war zum sicheren Hafen für viele Hugenotten geworden. Monate später, nachdem sie den Ozean überquert hatten, fragte sich der durch die Hitze und die in der Kolonie herrschende Arroganz deprimierte junge Adlige, ob die Reise – oder das Leben überhaupt – die Anstrengung überhaupt wert gewesen sei. Charles Town war nicht unbedingt ein Glücksbringer für diejenigen, die Charles hießen. Wenigstens dachte er dies damals.

Er hatte seinen Nachnamen in Main umgewandelt, um zu zeigen, daß er in einem neuen Land ein neues Leben anfing. Seinen Pessimismus hatte er schnell überwunden. In Carolina war er von vielen Regeln befreit, an die er sich hatte halten müssen, solange er seinen Adelstitel trug. Er hatte die Folter überlebt – die Narben an seinen Beinen und auf seiner Brust zeugten davon –, und er würde auch die Armut überleben. Der geldgierige kleine Rechtsanwalt hatte zwar seine Ländereien und sein Schloß gestohlen, aber er würde neues Land besitzen und ein neues großes Haus bauen. Oder seine Nachkommen würden dies tun, vorausgesetzt natürlich, daß Jeanne ihm jemals einen Erben schenken würde.

Arme Jeanne. Ihre grauen Augen waren so klar und schön wie eh und je. Doch eine schmale weiße Strähne in ihrem Haar ließ auf die im Gefängnis erduldeten Schmerzen schließen. Genau wie das liebliche Jung-Mädchen-Lächeln und die Art und Weise, wie sie auf jede ernsthafte Frage als Antwort einfach summte oder lachte. Manchmal erkannte sie ihren Gatten, doch glaubte sie immer noch, daß sie in Frankreich lebe. Ihr Geist hatte die Folter nicht so erfolgreich überstanden wie ihr Körper. Der Zusammenbruch ihres Geistes tat ihrer Leidenschaft jedoch keinen Abbruch. Und doch gingen keine Kinder aus ihrem Beisammensein hervor. Zudem war Charles nicht mehr der Jüngste, und so kam es, daß er manch schlaflose Nacht in dieser Sorge verbrachte. Mit dreißig wurde ein Mann langsam alt; mit vierzig konnte er sagen, daß er ein langes Leben geführt hatte.

Im Bemühen, an einer Furt des Cooper River, oberhalb von Charles Town, einen kleinen Handelsposten zu gründen, hatte sich Charles auch körperlich verändert: Er sah nicht mehr aus wie ein Aristokrat. Er war zwar immer noch groß und hatte deswegen eine etwas gebeugte Haltung, doch Armut, Arbeit und Anspannung hatten sein einst gutes Aussehen entstellt. Sein ehemals fröhliches und häufiges Lächeln schien falsch, ja fast grausam und zeigte sich überdies nur noch selten. Seine Haltung hatte jeglichen Stolz eingebüßt. Er saß schlaff auf dem Rücken des kleinen Ponys, das schwer unter seiner Last zu tragen hatte. Er war beinahe zur unmenschlichen Karikatur seiner selbst geworden.

Besonders heute sah er kaum wie ein Weißer aus. Sein braunes Haar hing bis zur Mitte seines Rückens herab und wurde von einem roten Band zusammengehalten. Seine Haut war ebenso braun wie diejenige der acht gefesselten, halbnackten menschlichen Wesen, die in einer Reihe hinter ihm her stolperten. Obwohl es ein äußerst heißer Frühlingsmorgen war, trug Charles lange Wildlederhosen und ein Wams aus altem, rissigem Leder. An seinem perlenverzierten Gürtel hingen zwei geladene Pistolen und zwei Messer. Über den Knien hielt er eine Muskete. Ein vorsichtiger Sklavenhändler und ein guter Schütze. Dies war die vierte Expedition, die Charles zu den Siedlungen der Tscherokesen an den Hügeln am Fuße des Berges unternommen hatte. Hätte er nicht ab und zu einige Indianer verkaufen können, wäre er längst ruiniert gewesen. Der kleine Handelsposten am Fluß brachte nicht genug Geld ein, obwohl die Agenten in Charles Town ihm alle Pelze abkauften, die er von jenen Stämmen bezog, deren Dörfer er ab und zu auch überfiel und plünderte.

Die sieben Männer und Frauen, die sich alle mühsam in ihren Ketten dahinschleppten, waren nicht älter als dreißig. Es waren schöne, dunkelhäutige Menschen mit schlanken Gliedern und dem schönsten schwarzen Haar, das er je gesehen hatte. Besonders das Mädchen war sehr attraktiv, dachte er. Bereits war ihm aufgefallen, daß sie ihn häufig anstarrte. Zweifellos verbarg sich hinter ihren großen, sanften Augen der Wunsch, ihm die Kehle durchzuschneiden. Charles hatte seinen Gefangenen den Rücken zugewandt, denn am Ende der Kolonne ritt ein Helfer, der ebenso schwer bewaffnet war wie er. Es handelte sich um einen bulligen Halbblutindianer, der offensichtlich von einem aus Florida kommenden Spanier gezeugt worden war.

Vor einem Jahr war er zum kleinen Handelsposten gestoßen. Er konnte bereits etwas Französisch. Er behauptete, sein einziger Ehrgeiz sei es, die feindlichen Stämme zu bekämpfen. Offenbar arbeitete er gern für Charles, vielleicht deshalb, weil es in Carolina an die dreißig verschiedene Stämme gab und die meisten Beutezüge gegeneinander unternahmen. Und somit war für das Halbblut, der sich selbst ›König Sebastian‹ nannte, Beruf und Berufung ein und dasselbe. König Sebastian hatte das Gesicht eines Schurken, und wie viele andere Indianer liebte er es, sich wie ein Weißer herauszustaffieren. Heute trug er schmutzige Kniehosen, die früher einmal aus rosa Seide gewesen waren, einen flaschengrünen Brokatmantel, der offen über seine imposante schweißbedeckte Brust fiel, und einen riesigen, schlampigen, mit unechtem Geschmeide geschmückten Turban. König Sebastian fand Gefallen an seiner Arbeit. Immer wieder trieb er sein Pony neben die Gefangenen und stieß einen oder mehrere mit der Muskete ins Gesäß. In den meisten Fällen hatte dies haßerfüllte Blicke zur Folge, worauf das Halbblut giftig lachte und eine Warnung ausstieß, wie eben jetzt: »Aufgepaßt, kleiner Bruder, oder ich brauche dieses Feuereisen, um aus dir weniger als einen Mann zu machen.«

»Auch du solltest aufpassen«, sagte Charles auf Französisch, nachdem er sein Pony angehalten hatte und die Kolonne vorbeiziehen ließ. Er stellte fest, daß die ohnehin finsteren Blicke der Gefangenen ungewöhnlich haßerfüllt waren. »Ich möchte meine Beute unversehrt am Auktionstisch abliefern.«

König Sebastian war nicht empfänglich für Kritik und ließ seinen Ärger an einem sich etwas langsam dahinschleppenden Gefangenen aus, dem er seine Reitpeitsche zu kosten gab. Charles ließ es widerwillig geschehen.

Mit dem Auktionstisch war die örtliche Versteigerung gemeint. Es handelte sich um eine geheime Versteigerung auf dem Land oberhalb von Charles Town. Seit mehreren Jahren war der Sklavenhandel mit Indianern in der Kolonie ein zwar illegales, aber ertragreiches und durchaus übliches Geschäft. Attraktiv daran war das relativ geringe Risiko. Charles hatte die Indianer in der Abenddämmerung, als sie auf einem kleinen Stück Land ihre Melonen anbauten, gefangengenommen. Dabei hatte er nur das Gewehr auf sie gerichtet. Die Tscherokesen waren sowohl Krieger als auch Bauern. Wenn man sie auf ihren Feldern am Fuß der Hügel erwischte, war es relativ einfach, sie gefangenzunehmen. Natürlich war immer eine gewisse Gefahr damit verbunden. Auf der Wanderung zur Küste starben nur wenige Indianer, wohingegen viele von den über Bridgetown aus Afrika gebrachten Schwarzen auf der langen Seereise umkamen. Außerdem konnte man sich kaum am Afrikagewerbe beteiligen, wenn man nicht Schiffe oder wenigstens etwas Kapital besaß. Aber alles, was Charles sein Eigentum nennen konnte, war sein kleiner Handelsposten, sein Pony und seine Gewehre.

Die Hitze nahm zu, und Schwärme von winzigen Insekten überfielen die sich durch sandige Hügel schlängelnde Prozession der Gefangenen. Die Temperatur und die wie Kleckse aussehenden Wälder am Horizont waren für Charles ein Hinweis, daß sie sich dem Küstengebiet näherten. Eine Nacht und einen halben Tag noch, und sie würden seinen Handelsposten erreichen, wo Jeanne wartete. Er fühlte sich jedesmal ruhelos auf diesen Streifzügen. Heute jedoch war er mehr als nur wachsam, er war gereizt. Es fiel ihm auf, daß das Mädchen ihn wiederum anstarrte. Wartete sie auf einen günstigen Augenblick, in dem sie den Männern ein Zeichen geben konnte, sich davonzumachen? Er zügelte sein Pony und ritt für den Rest des Nachmittags neben König Sebastian einher.

In der Nacht zündeten sie ein Lagerfeuer an, nicht um sich daran zu wärmen, sondern um die Insekten fernzuhalten. König Sebastian übernahm die erste Wache. Charles legte sich ausgestreckt hin; seine Waffen lagen griffbereit auf seiner Brust. Träge und schläfrig begann er darüber nachzudenken, wie er wieder zu Vermögen kommen könnte. Er mußte anders vorgehen. Die Tatsache, daß Soll und Haben ausgeglichen waren, brachte kein Geld ein. Abgesehen davon war die Abgeschiedenheit des Postens für Jeanne in ihrem bedauerlichen Geisteszustand nicht bekömmlich. Sie hatte etwas Besseres verdient, und er wollte es ihr geben. Er liebte sie tief. Aber man mußte praktisch denken. Auch wenn es ihm gelang, wieder Grundbesitz zu erwerben, stellte sich die Frage, wer ihn erben sollte. Seine arme Frau, der er treu geblieben war – das einzige Positive in seinem Leben –, war nicht nur verrückt, sie war unfruchtbar.

Er war beinahe eingeschlafen, als ein Kettenklirren ihn aufschreckte. Seine Augen öffneten sich genau in dem Augenblick, als König Sebastian einen Warnschrei ausstieß. Auch er war eingeschlafen, wie man aus seiner sitzenden Haltung und der hektischen Art und Weise, mit der er nach der Muskete griff, schließen konnte. Die acht Indianer, die an den Fuß- und Handgelenken aneinandergekettet waren, stürzten in einer Reihe auf ihre Häscher los. Das Mädchen, als dritte von rechts, wurde mitgeschleppt. Sie mußte direkt über das Feuer springen. Voller Entsetzen griff Charles nach einer seiner Pistolen. Gott im Himmel, bitte laß das Pulver nicht von der Nachtluft feucht sein! Die Pistole ging nicht los. Er schnappte die nächste. Der Tscherokese am linken Ende der Reihe war mit einem Stein bewaffnet. Er schleuderte ihn auf König Sebastian, der eben versuchte, sowohl auf die Knie zu kommen, als auch mit seiner Muskete zu zielen. Er duckte sich, aber der Stein traf ihn an der rechten Schläfe. Es war nicht schlimm, aber als seine Muskete endlich losging, verpuffte das Pulver sinnlos in der Dunkelheit. Einer der Angreifer wollte Charles eben seinen nackten Fuß auf den Hals setzen, und er hätte ihn erdrosselt, wenn Charles sich nicht blitzartig auf die linke Seite gerollt, seine rechte Hand erhoben und abgedrückt hätte. Die Kugel durchbohrte den Unterkiefer des Indianers und fegte einen Teil seines Schädels weg. Ein fürchterlicher Anblick, der den Mut der Angreifer brach, obwohl der Kampf nicht sofort aufhörte. Charles war gezwungen, einen zweiten Indianer zu erschießen, und König Sebastian tötete einen weiteren mit seiner Muskete, bevor die vier andern das Mädchen und die Toten zurückzogen. Das Haar des einen Leichnams streifte die glühenden Kohlen und fing Feuer.

Charles zitterte. Er war schwarz von Dreck und Pulver und vom Blut und Hirn des ersten Indianers bespritzt. Zum Abendessen hatte er stark gesalzenes Wildfleisch gekaut, das ihm jetzt Magenschwierigkeiten bereitete. Als er wieder hinter dem Gebüsch hervortrat, fand er einen offensichtlich erschütterten König Sebastian vor, der die noch lebenden Indianer auspeitschte. Er hatte die drei Toten von den Ketten befreit, jedoch ohne lange nach den Schlüsseln für die Handschellen zu suchen, er hatte einfach zum Messer gegriffen. Irgendwo im Dunkeln machten sich bereits Geier über die Körper her. Das Halbblut riß den Kopf des Mädchens an den Haaren hoch. »Ich denke, die Hure hat auch eine Strafe verdient.«

Einen Augenblick lang konnte Charles hinter dem verrutschten Mieder des Fellkleides die dunklen Brüste des Mädchens sehen. Der Anblick rührte ihn. Ihre Brüste waren voll und kräftig. Lauernd sah sie König Sebastian an und änderte ihre Haltung, so daß das Kleid wieder saß und ihren Körper bedeckte. Charles packte seinen Helfer am Handgelenk, als dieser eben zugreifen wollte. Im Schein des Feuers sah sein blutverschmiertes Gesicht wie dasjenige eines Tscherokesen in voller Kriegsbemalung aus.

»Du bist derjenige, der bestraft werden sollte«, sagte Charles. »Du bist auf der Wache eingeschlafen.«

König Sebastian sah aus, als ob er jeden Augenblick über seinen Arbeitgeber herfallen würde. Charles sah ihn unverwandt an.

Obwohl das Mädchen das Französisch des großen Mannes nicht verstehen konnte, verstand sie den Sinn seiner Worte. Sie wagte nicht zu lächeln, aber ihre Augen leuchteten kurz vor Dankbarkeit auf. Eine Minute verging. Dann eine weitere. Das Halbblut verscheuchte eine Mücke, die auf seinem Hals saß, und blickte weg. Und damit war die Sache erledigt.

Aber nicht für Charles. Die ganze Angelegenheit hatte ihn tief erschüttert. König Sebastian löste ihn wieder mit der Wache ab, doch Charles konnte nicht einschlafen. Die Berührung mit dem Tod hatte ihn an seine Kinderlosigkeit erinnert. Drei Brüder waren als Kinder gestorben. Eine Schwester war zu Beginn der Unruhen in Frankreich über die Pyrenäen geflohen. Er war der letzte Mann seines Geschlechts. Als er schließlich doch in Schlaf sank, hatte er merkwürdige Träume von den fruchtbaren Feldern der Tscherokesen und den Brüsten der Indianerin.

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages gelangten sie zur Handels-Station am Cooper, einem der beiden nach Anthony Ashley Cooper benannten Flüsse. Cooper, Graf von Shaftesbury, war einer der ersten Grundbesitzer in Carolina gewesen.

Jeanne ging es gut. Sie und Charles gingen eine halbe Stunde am Flußufer spazieren. Er hatte den Arm um sie gelegt. Sie plauderte wie ein Kind, und sie beobachteten einen Silberreiher, der im seichten Gewässer auf einem Bein balancierte. Jeanne hatte Besseres verdient – ein Haus und beschützende Dienstboten.

Am nächsten Morgen traf er die Vorbereitungen für die Reise zur Küste. Er wollte um die Mittagszeit mit den Indianern und einigen Fellen, die er für diesen Zweck aufbewahrt hatte, aufbrechen. Wie immer auf seinen Reisen zu der geheimen Auktion würde er die Hauptstraßen meiden, wo man ihn und seine Schmugglerware sehen könnte. Eine halbe Stunde vor seiner Abreise kam Jeanne aufgeregt und schreiend zu ihm gelaufen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, doch bald kam auch König Sebastian. Er sah verängstigt aus und suchte verzweifelt nach den richtigen französischen Ausdrücken. »Wer kommt?« unterbrach ihn Charles. »Herren? Provinzgouverneure? Ist es das, was du sagen willst?« Das erschrockene Halbblut nickte und zeigte fünf ausgestreckte Finger. »Viele.«

Die Nachricht schlug Charles auf den Magen. Blitzartig brachten sie die Gefangenen in den aus Palmettobaumstämmen und Zypressenbrettern gebauten Schuppen. Voller Panik kettete Charles die vier Männer und das Mädchen in einem der Ponyställe an, und König Sebastian knebelte sie. Wenn die Gefangenen auch nur einen Ton von sich gäben, würde der ganze Sklavenhandel auffliegen, und Charles wäre verloren. Die wilden Blicke der Gefangenen ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß dies ihre ganze Hoffnung war. Auf Befehl von Charles überprüfte das Halbblut die Knebel ein zweites Mal. Zu allem Übel war der wichtigste Gast ein Mitglied des Regierungsrats der Kolonie, ein eleganter Engländer namens Moore. Er bereiste – wie er es nannte – das ›verdammte widerliche Hinterland‹ mit vier schwarzen Dienern. Der eine von ihnen schien alles aufs genaueste zu beobachten. Moore war auf der Suche nach einem Stück Land für eine Sommerresidenz, fernab der fieberverseuchten Küste. Er blieb drei Stunden. Die ganze Zeit über konnte Charles seine Nervosität kaum verbergen. Einmal hörte er dumpfes Stampfen und Kettenrasseln aus dem Schuppen, aber Moore, der eben etwas erzählte, schien es nicht zu hören. Mit der den Engländern eigenen Arroganz erging er sich in einem Schwall von Kritik am Wetter, dem primitiven Landleben und an der Neuen Welt im allgemeinen. Gegen vier Uhr, als die Hitze etwas nachgelassen hatte, machte er sich mit seinen Dienern wieder auf den Weg.

Charles schenkte sich einen großzügigen Gin ein, kippte ihn in zwei Schlucken, küßte Jeanne und eilte zum Schuppen. König Sebastian hielt vor der Tür Wache. Als er eintrat, sah er, wie die vier Männer dem Mädchen wütende Blicke zuwarfen. Ihr Knebel war heruntergerutscht. Sie hätte schreien können.

Sie starrte Charles wieder mit der ihr eigenen Intensität an, und endlich verstand er. Vielleicht hatte er sie bereits die ganze Zeit über verstanden, dies aber aus Schuldgefühlen und Rücksichtnahme auf Jeanne nicht wahrhaben wollen. Abrupt wandte er sich um und rannte in die gleißende Sonne hinaus. Der Sklavenhandel mit Indianern wurde langsam zu gefährlich. Auch am nächsten Morgen, als er verspätet zu seiner Reise aufbrach, hing er diesem Gedanken nach, der ihn auch auf den sumpfigen Pfaden bis zum Küstengebiet nicht losließ – als würde ein Kobold auf seinen Schultern mitreiten.

Die Verkaufsstelle befand sich in der Nähe der Palisade, die Charles Town umzäunte. Der Platz war sorgfältig ausgewählt worden, nicht so nah, daß man ihn leicht hätte entdecken können, und nicht so weit abseits, daß es in der Dunkelheit gefährlich gewesen wäre hinzugehen. Man konnte ihn in einem Zehn-Minuten-Ritt entlang des Cooper erreichen. Ein halbes Dutzend Männer hatte sich bereits eingefunden, alles ›snobistische Anglikaner‹, wie Charles sie insgeheim nannte. Es waren Plantagenbesitzer aus dem Distrikt, die alle auf eine reiche Ernte hofften, um damit die Träume aus ihrer Einwanderungszeit zu verwirklichen. Doch bis dahin waren ihre Anstrengungen erfolglos geblieben. Die ganze Kolonie war ein mißlungenes Unterfangen. Trotzdem behaupteten sie nach wie vor, daß das Leben in Carolina in mancher Hinsicht ideal sei. Sie nahmen den neuesten Stadtklatsch durch. Sie beglückwünschten Charles zu seinem Angebot, hielten sich aber nicht zu nahe bei ihm auf. Sein Geruch und seine Herkunft waren für sie eine Beleidigung.

Der aus Palmettoscheiten gezimmerte Verkaufstisch war von Fackeln umsäumt, die ein rauchiges Licht abgaben. Die Versteigerung wurde von einem dieser ehrwürdigen Herren durchgeführt, dafür erhielt er einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtverkaufssumme. Charles hatte gehört, wie sich der Mann in der Stadt über die Übel des Indianerhandels ausgelassen hatte. Solches Gerede war üblich. Die meisten der Anwesenden hatten mindestens schon einen Indianer besessen. Sie verurteilten die Versklavung von Menschen nicht, sie befürchteten höchstens eine mögliche Beeinträchtigung des Indianerhandels für den Fall, daß sich die verschiedenen Stämme einmal einmütig zur Wehr setzten. Sie hatten Angst vor einem Indianeraufstand, aber das hinderte sie nicht daran, an diesem Abend dabeizusein. Verdammte Heuchler, dachte Charles.

Die vier Indianer wurden einer nach dem andern verkauft. Der Preis stieg. Charles stand abseits, und sein Zorn schwand zusehends, als er – eine Tonpfeife rauchend – seinen Gewinn betrachtete. Er hörte den Gesprächen zu. Einer der Männer erwähnte, daß er seinen neuerworbenen Sklaven zur Abhärtung nach Westindien schicken würde, um den Willen des Mannes zu brechen. Ein anderer erörterte die neuen Erleichterungen beim Erwerb von Land, das an Flüsse und Bäche grenzte.

»Ja, aber was nützt Grundbesitz, wenn man die Pacht nicht bezahlen kann und es keine Ernte gibt, die anstelle von Bargeld angenommen wird?«

»Vielleicht gibt es jetzt eine Ernte«, sagte der erste Mann, der auffällig an einem kleinen prallen Sack herumhantierte. Die andern traten neugierig hinzu. Auch Charles rückte etwas näher, um zuzuhören. Die Auktion wurde unterbrochen, während der Mann eine an ihn gerichtete Frage beantwortete. »Dies sind Samen. Aus Madagaskar. Von derselben Sorte, wie sie in den überbewässerten Stadtgärten so prächtig gedeiht.« Ein Mann zeigte aufgeregt auf den Samen. »Ist das jener Reis, den Captain Thurber letztes Jahr Dr. Woodward gegeben hat?« Thurber war der Kapitän eines kleinen Zweimasters, der in Charles Town überholt wurde. Charles hatte gehört, daß Reis mitgebracht worden war.

Der Mann steckte die Körner sorgfältig in seine Tasche. »Genau. Reis wächst in nassem Boden – das heißt, er ist darauf angewiesen. In der Stadt ist man ganz begeistert, weil er so vielseitig verwendbar ist. Alle wollen jetzt plötzlich Land kaufen, und es scheint, als sei für diese verdammten Sümpfe endlich eine ertragbringende Verwendung gefunden.«

Der Mann, der Zweifel hegte, meldete sich mit einer weiteren Frage. »Ja, aber welcher weiße Mann hält die Arbeit in Sumpf und Morast aus?«

»Kein einziger, Manigault. Dazu braucht es Männer, die an große Hitze und beinahe unerträgliche Arbeitsbedingungen gewöhnt sind.« Der Redner machte eine Kunstpause. »Afrikaner – und zwar bedeutend mehr, als derzeit in der Kolonie sind.«

Charles de Main hatte in Frankreich wegen seiner Religion schweres Leiden auf sich genommen. Die Heuchelei der Kirche, die Intrigen und Gemeinheiten von Leuten wie Emilion, und die Grausamkeiten, denen Jeanne ausgesetzt gewesen war, hatten jedoch seinen Glauben, der ihn ja in diese Feuerprobe geführt hatte, beinahe zerstört. Es war sein Wille gewesen, und nicht eine höhere Macht, der ihn trotz der glühenden Eisen der Folterer am Leben erhalten hatte. Zwar glaubte er immer noch an ein höheres Wesen, doch das Bild, das er sich davon machte, hatte sich geändert: Gott war gleichgültig. Er hatte keinen wohlwollenden Plan für den Kosmos oder dessen Kreaturen, wahrscheinlich hatte er überhaupt keinen Plan. Ein Mann sollte sich deshalb ausschließlich auf sich selbst verlassen. Sicher schadete es nicht, wenn man Gott ab und zu höflich die Ehre erwies, so wie man das auch mit einem altersschwachen Onkel tat, doch wenn es um die eigene Zukunft ging, tat ein weiser Mann besser daran, sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Und doch geschah in dieser vom Feuer erhellten Lichtung, inmitten eines großen dichten Waldes mit dampfender, warmer Erde und Vogelgeschrei plötzlich etwas Merkwürdiges mit Charles. Sein alter Glaube flammte unvermutet mit ungeahnter Kraft wieder auf. Einen Augenblick lang spürte er intensiv die Anwesenheit einer außerirdischen Kraft, die ihn in genau diesem Augenblick an genau diese Stelle geführt hatte. Und in diesem Augenblick gab er seinem Leben eine neue Richtung. Nicht einen Schilling von seinem Verdienst würde er wieder in die Handelsstation investieren. Was immer er auch einem jener Winkeladvokaten zahlen mußte, um zu erfahren, wie er hier, näher am Meer, ein Stück Land pachten könnte, er würde es bezahlen. Er wollte noch mehr über die Samen aus Madagaskar in Erfahrung bringen. Er war ein Mann, der das Land bearbeitet hatte, und wenn er Wein anbauen konnte, dann auch Reis. Doch das Hauptproblem blieb die Feldarbeit. Charles kannte die Ungastlichkeit dieser Landstriche. Er würde es nicht einen Monat aushalten, brusttief in verseuchtem Wasser zu arbeiten, ganz abgesehen von den Alligatoren. Die Antwort war klar: ein Negersklave. Zwei, wenn sein Verdienst ihm das gestatten würde. Mit der verzerrten Logik von jemandem, der sich schuldig fühlt und den Beweis zu seiner Entlastung erbringen muß, hatte Charles sich bis jetzt immer als einen Mann betrachtet, der zwar Sklaven verkaufte, ohne jedoch das System unterstützen zu wollen. In seinem Innersten schreckte er davor zurück. Überdies wußte er nie, was mit den Indianern, die er verkaufte, eigentlich geschah. Vielleicht – so rechtfertigte er sich mit einiger Spitzfindigkeit – wurden sie später vom Besitzer freigelassen? Doch jetzt konnte er sich kein Gewissen mehr leisten. Er selbst mußte mindestens einen erstklassigen Neger sein eigen nennen können. Es war eine Frage der Wirtschaftlichkeit, des Überlebens. Ein Mann tat, was er tun mußte.

»Meine Herren«, rief der Versteigerer. »Die vielen Gespräche lenken uns vom besten Angebot des heutigen Abends ab.«

Er stieg auf den Tisch, hob das Fellkleid des Mädchens hoch und zeigte auf ihre Geschlechtsteile. Die Männer schienen plötzlich sehr aufmerksam.

Ein Mann tat, was er tun mußte. Charles wurde auf einmal klar, daß dies auch auf das Problem der Nachfolge zutraf. Sollte es ihm gelingen, in Carolina sein Vermögen wiederaufzubauen – und jetzt endlich gab es einen Hoffnungsschimmer, etwas, das er seit zwei Jahren nicht mehr gekannt hatte –, dann mußte er sich mit gewissen Tatsachen abfinden. Er hatte nicht die Absicht, seine geliebte Jeanne zu verlassen. Er konnte es sich aber auch nicht mehr leisten, es mit der ehelichen Treue ganz genau zu nehmen.

»Meine Herren, wer macht das erste Angebot für diese anmutige Squaw? Wer bietet mir einen Preis von –?«

»Aufhören.« Charles stieß die Menge mit kräftigen Händen beiseite.

»Was ist, Main?« fragte der Versteigerer. Die Herren, die Charles zur Seite gestoßen hatte, wischten sich den Staub von den Ärmeln und machten höhnische Bemerkungen. Er mochte zwar ein Protestant sein, aber er war auch ein Grobian. Was hätte man auch anderes von einem Franzosen erwarten können!

In aufrechter Haltung wie früher blickte Charles auf den überraschten und leicht verärgerten Versteigerer. »Ich habe mich anders entschieden. Sie wird nicht verkauft.« Langsam lenkte er seinen Blick auf das Mädchen. Der Versteigerer ließ das Kleid fallen. Sie sah Charles mit ihren großen Augen unverwandt an. Sie verstand.

Natürlich war ihm klar, daß es besser war, nicht in Charles Town zu übernachten. Nicht einmal die allerschmutzigsten Herbergen an der Spitze der Halbinsel, dort wo die beiden Flüsse zusammenkamen und sich in den Ozean ergossen, würden einen weißen Mann mit einer Indianerin, die offensichtlich nicht seine Sklavin war, aufnehmen. Statt dessen fand er eine abgeschlossene Lichtung nicht weit von der Palisade. Trotz der Gefahr von Schlangen und Insekten breitete er seine Leintücher aus, stellte seine geladenen Schußwaffen in Reichweite, legte sich neben das Mädchen in die heiße, feuchte Dunkelheit und nahm sie.

Er kannte nur einige wenige Worte in ihrer Sprache, und keines davon war zärtlich. Doch sie wußte um seine Bedürfnisse und wollte, daß er sie berührte. Von Anfang an hatte sie nur eines gewollt: seinen Mund auf ihrem Mund, und seine Hand auf ihrem Bauch. Er hatte es in ihren Augen lesen können, aber nicht verstanden. Charles war ein ausgezeichneter Liebhaber, und er hatte seine Kunst nicht ganz vergessen. Jeannes Treue und ihr Bedürfnis nach Rücksichtnahme hatten dafür gesorgt. Doch bald ging sein anfänglich ruhiger und etwas träger Rhythmus in schnellere, gezieltere Körperbewegungen über. Seine Erregung steigerte sich. Diejenige des Mädchens auch. Ihr passives Vergnügen wurde zur aktiven Leidenschaft. Auf der feuchten, fruchtbaren Erde, inmitten einer Vielfalt von summendem und kreischendem Leben, unter einem nachtschwarzen, von tausend Sternen übersäten Himmel hielten sie sich eng umschlungen. In jener Nacht pflanzte er seinen Samen ebenso zielbewußt, wie er dies mit jenem neuartigen Samen tun würde, mit dessen Ernte er das künftige Main-Vermögen aufbauen wollte.

Zu jener Zeit bestand Charles Town aus weniger als hundert einfachen Wohn- und Geschäftshäusern. Viele der Männer aus Barbados redeten davon, jene für ihre Insel typischen, geräumigen und luftigen Häuser zu bauen. Doch dazu bedurfte es einer besseren wirtschaftlichen Situation und einer erfolgversprechenden Zukunft. Noch umgab sich das Städtchen aber mit einer Vornehmheit, die offenkundig vorgetäuscht war, und wirkte deshalb schäbig.

Charles sah all das am nächsten Morgen mit anderen Augen. Ein erfrischender Wind blies von Nordosten. Er schlenderte zum Kai, das Indianermädchen folgte einen Schritt hinter ihm. Seine Haltung hatte sich geändert. Er strahlte jetzt Sicherheit und Kraft aus. Charles war sich der verachtenden Blicke, die ihm folgten, bewußt. Eine Liaison mit einer Farbigen, ob braun oder schwarz, war gestattet, es war jedoch etwas anderes, dies öffentlich zur Schau zu stellen. Nach einer Weile brachte ihn die Haltung der Bewohner auf einen neuen Gedanken. Die meisten Einwohner Carolinas waren in bezug auf ihre Herkunft extreme Snobs. Wenn bekannt wurde, daß sein Kind ein halber Tscherokese war, würden sie weder ihn noch seine Nachkommen jemals in ihren Kreis aufnehmen, egal wieviel Geld er haben mochte oder wie blaublütig seine eigene Abstammung war.

Charles wußte, daß das Indianermädchen schwanger werden würde. Er mußte irgendwo im Hinterland eine Blockhütte für sie finden und dafür sorgen, daß niemand außer ihm und vielleicht König Sebastian sie zu Gesicht bekam. Dann konnte er Jeanne mitteilen, daß er die Absicht habe, einen Knaben zu adoptieren. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß die Indianerin einem Sohn das Leben schenken würde. Ebensowenig zweifelte er an seiner Fähigkeit, mit ihrem Zorn fertig zu werden, wenn er ihr das Kind wegnahm. Er war ein Mann, das war ein Vorteil. Er war ein Weißer – ein weiterer Vorteil. Er konnte notfalls Gewalt anwenden, wenn es soweit kommen sollte. Es gab wenig, zu dem Charles nicht bereit war, den Fortbestand seines Geschlechts zu sichern. Später würde er vor Fremden den Knaben als Waisen seiner Schwester ausgeben.

Dieser Plan erregte sein Gemüt, und es gelang ihm nicht, seine Reaktion zu verbergen. Das Mädchen ging nun neben ihm. Sie bemerkte sein unvermutetes, hartes Lächeln, das ebenso schnell wieder verschwand. Er sah ihren fragenden Blick. Zärtlich berührte er ihren Arm und sah sie auf eine Art an, die sie offensichtlich als Beruhigung empfand. Sein schnelles, geräuschvolles Atmen normalisierte sich wieder, und sie schritten weiter.

Er erkundigte sich über Schiffe, die Negersklaven zu verkaufen hatten, und erfuhr, daß erst in drei Wochen eins erwartet wurde. Das einzige Schiff, das Beachtung verdiente, gehörte einem Geschäftsmann aus Bridgetown und hatte nur wenige Passagiere an Bord. Es trug den Namen Möwe von Portsmouth. Charles ging an einer Gruppe von fünf jungen Männern vorbei, die offensichtlich von der Aussicht des Hafens fasziniert waren. Er war schon vielen ihrer Art begegnet: Schiffsjungen. Sie machten alle einen geschlagenen Eindruck, mit einer Ausnahme. Ein untersetzter Bursche mit breiten Schultern, hellbraunem Haar und Augen, die wie Eis in der Sonne glitzerten. Sein Gang drückte einen gewissen Stolz aus. Da sie beide in entgegengesetzte Richtungen gingen, sahen sie einander nur kurz an. Der Schiffsjunge wunderte sich über den Mann mit den primitiven Kleidern, der aristokratischen Haltung und dem sprießenden Bart. Der ehemalige Sklavenhändler und zukünftige Sklavenbesitzer fragte sich, wie jemand sich freiwillig in solche Knechtschaft begeben konnte. Ein Matrose lehnte über die Reling des Schiffes. »Zurück an Bord, Jungs. Die Flut kommt. In Penn’s Town werdet ihr schönere Dinge blöd angucken können.« Die Burschen eilten aufs Schiff zurück, und der großgewachsene Aristokrat verschwand langsam in der Menge; das Tscherokesenmädchen folgte ihm mit bewundernden Augen. Beide Männer hatten einander im strahlenden Morgenlicht bereits vergessen.

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