Wenn sie zerreißen, dann laßt die Union in Gottes Namen gehen… Ich liebe die Union wie meine eigene Frau. Doch wenn meine Frau mich um eine Trennung bäte und darauf bestünde, ich würde sie gehenlassen – auch wenn es mir das Herz brächt
John Quincy Adams zu dem Gerücht über die sezessionistische Verschwörung von Burr, 1801
34
George Hazard behauptete, daß ihm an West Point nicht sonderlich viel gelegen sei. Und doch hatte er sich des öfteren ausgiebig mit Billy darüber unterhalten, so daß dieser, als er in der Militärakademie eintraf, schon gut darüber Bescheid wußte.
George hatte ihn vor ›Thayers Männern und Thayers System‹ gewarnt. Kernstück des Systems bildete der Glaube daran, daß die persönliche Leistung in absoluten Werten und in einer Rangfolge ausgedrückt werden konnte. Sowohl das System als auch die mit dessen Durchführung beauftragten Männer herrschten immer noch in West Point.
Doch in den sechs Jahren seit dem Abschluß von George waren doch einige Veränderungen vorgenommen worden. Am offensichtlichsten waren diejenigen architektonischer Art. Die Nord- und Südkaserne waren dem Erdboden gleichgemacht worden und durch eine Kaserne mit 176 Zimmern ersetzt worden. Das Dachgesims aus rotem Sandstein erinnerte Billy an englische Schlösser, die er auf Ansichtskarten gesehen hatte.
Östlich der Kaserne und südlich der Kapelle befand sich eine neue Offiziersmesse im Bau. Die alte Sternwarte, die Bibliothek und das Schulgebäude hatte man jedoch stehengelassen.
Seit dem Ende des Kriegs in Mexiko waren zwecks Demonstrationen permanent Pioniertruppen auf dem Areal anwesend. Man konnte sie an ihren dunkelblauen Uniformen mit dem schwarzen Samtkragen und dem Türmchen auf dem Kragenspiegel erkennen. Billy hoffte, eines Tages diese Uniform tragen zu dürfen.
Er war sich im klaren darüber, daß er in den kommenden vier Jahren hart würde arbeiten müssen. Doch die Vorbereitung auf seine Eintrittsprüfung im Juni war reine Verschwendung gewesen. In Mathematik zum Beispiel hatte er nur ein einfaches Rechenproblem an der Tafel lösen und drei ebenso einfache Fragen mündlich beantworten müssen. Kein Wunder hatte man in der Zivilbevölkerung oft den Eindruck, die Aufnahmeprüfung sei lächerlich einfach.
Statt mit Trommeln wurden die Kadetten nun mit Signalhörnern gerufen. Billy war noch keine zehn Minuten auf seinem Zimmer, als bereits ein Student der dritten Klasse hereinstürmte, sich als Kadett Caleb Slocum vorstellte und von Billy die Achtungstellung verlangte.
Billy tat sein Bestes. Der Kadett, ein hagerer Bursche mit plattem, schwarzem Haar und einem schlechten Teint, kritisierte ihn und sagte dann mit affektierter Stimme: »Erzählen Sie mir etwas über sich, Sir. Ist Ihr Vater Demokrat?«
Billy antwortete freundlich: »Ich glaube, das hängt davon ab, wen die Partei diesen Monat nominieren wird.«
»Sir, ich habe Ihnen eine Frage gestellt, die mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten ist. Statt dessen haben Sie eine Vorlesung über Politik gehalten.« Der Kadett senkte bedrohlich die Stimme und zischte: »Darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß Ihr Vater Politiker ist, Sir?«
Billy schluckte und würgte seinen Ärger hinunter. »Nein, Sir. Er ist Eisenhüttenbesitzer.«
»Sir!« brüllte der Kadett, »ich habe Sie geradeheraus gefragt, ob Ihr Vater Politiker ist oder nicht, und als Antwort darauf liefern Sie mir einen Diskurs über die Industrie! Stellen Sie sich dort in die Ecke und verharren Sie eine Viertelstunde mit dem Gesicht zur Wand! Ich werde ab und zu nachsehen. Unterdessen können Sie sich vielleicht einige Gedanken machen. Wie zum Beispiel: Wenn ich weiterhin so geschwätzig und stur bin, wird meine Karriere an dieser Schule nur von kurzer Dauer und höchst unangenehm sein. Nun, Sir. In die Ecke!«
Billy gehorchte mit rotem Gesicht. Wäre er wie sein Bruder, hätte er dem arroganten Kadetten eine geknallt und sich hinterher Gedanken über die möglichen Folgen gemacht. Aber er war etwas bedächtiger, und deshalb war George der Meinung, daß er ein hervorragender Pioniersoldat werden würde. Mit seiner vertrauensseligen Art wurde er aber auch leicht zum Opfer. Er stand beinahe eine Stunde in der Ecke, bis endlich ein Student der zweiten Klasse hereinkam und sich seiner erbarmte. Slocum hatte natürlich nicht die geringste Absicht gehabt wiederzukommen.
Slocum. Billy rieb sich die schmerzenden Beine und merkte sich den Namen.
»Sie tun besser daran, sich an solche Schikanen zu gewöhnen, Sir«, sagte der Kadett. »Sie werden recht lange Junior sein.«
»Ja, Sir«, murmelte Billy. Einige Dinge in West Point hatten sich nicht geändert und würden sich auch nie ändern.
Billy und die anderen Neuankömmlinge, die alle noch Zivilkleider trugen, marschierten hinter dem uniformierten Bataillon durch die Ebene für das Sommercamp. Sie stolperten schwerbeladen durch den Staub, bis sie die ganze Habe der Senioren verstaut hatten.
Am ersten Tag des Sommerlagers wurde Billy noch mit einer weiteren Neuerung der Akademie vertraut gemacht. Sie war zwar weniger spektakulär als die andern, aber nicht weniger bedeutend. Später sagte man, daß es die wichtigste Veränderung überhaupt gewesen sei, weil sie so destruktiv war.
In jedem Zelt war Raum für drei Mann, ihr Bettzeug, ein Gestell mit Musketen, die ihnen eventuell ausgehändigt würden, sowie für eine meistens zerkratzte grüne Truhe. Die Truhe wies drei Fächer für die Wäsche der Kadetten auf. Außerdem bildete sie die einzige Sitzgelegenheit im Zelt. Als Billy hereinmarschierte, gefolgt von einem hageren, blassen, verwirrt dreinblickenden Junior, saß der dritte Bewohner des Zelts gerade auf der Truhe und polierte seine teuren Wellington-Stiefel mit dem Taschentuch.
Er blickte kurz auf. »Guten Abend, die Herren. Ich heiße McAleer. Dillard McAleer.« Er streckte die Hand zum Gruß hin.
Billy schüttelte sie und versuchte herauszufinden, was für einen Akzent der Bursche hatte. Es klang nach Süden, aber etwas härter und nasaler als die Sprache in South Carolina.
»Ich bin Billy Hazard aus Pennsylvania, und das ist Fred Pratt aus Milwaukee.«
»Frank Pratt«, sagte der großgewachsene junge Mann. Seine Stimme klang entschuldigend.
»Na, na. Zwei Yankees.« Dillard McAleer grinste.
McAleer hatte blaßblaue Augen und blonde Locken, die in seine rötliche Stirn fielen. Billy hatte ihn schon vorher, als die Neuankömmlinge erfaßt und in vier Gruppen aufgeteilt wurden, bemerkt. Jede der Gruppen war einer Kadettenkompanie angeschlossen worden.
»Habt ihr zwei vor, euch gegen mich zu verbünden?« fragte McAleer. Etwas an McAleer ließ Billy aufhorchen. Was war es? McAleer lächelte zwar immer noch, aber die Frage barg einen gewissen Ernst. Billy fand es ein schlechtes Omen.
Draußen hörte er Schritte und Geflüster. Billy antwortete auf McAleers Frage mit einer Gegenfrage: »Weshalb sollten wir? Wir leiden doch hier gemeinsam.«
»Ich habe nicht die Absicht zu leiden«, gab McAleer zurück. »Dem ersten Yankee-Hurensohn, der mir in die Quere kommt, schlag’ ich die Nase zum Hinterkopf raus.«
Billy kratzte sich am Kinn. »Woher kommst du, McAleer?«
»Aus einer kleinen Ortschaft in Kentucky namens Pine Vale. Mein Daddy ist ein Farmer.« Er starrte Billy an. »Und der Besitzer von vier Sklaven.«
Offensichtlich erwartete der Kadett eine Reaktion. Er saß immer noch auf der Truhe, und seinem hämisch groben Gesichtsausdruck nach zu schließen, würde er mit jeder Form von Kritik fertig werden. Billy war nicht darauf gefaßt gewesen, in West Point auf regionale Feindseligkeit zu stoßen, und die Erkenntnis seiner Naivität versetzte ihm einen leichten Schock. Aber er würde sich um keinen Preis auf eine Diskussion über Sklaverei einlassen.
Als Bewohner ein und desselben Zelts waren sie alle gleichgestellt, und McAleer mußte das einsehen. Billy machte eine Handbewegung. »Ich möchte meine Wäsche verstauen. Würdest du bitte aus dem Weg gehen?«
»Na klar.« Langsam stand McAleer auf. Es sah aus, als ob sich eine Schlange langsam aufrollte. Obwohl untersetzt, hatte er eine natürliche Anmut, die sein mädchenhaftes Aussehen eher unterstrich. Doch als er sich mit den Fingerspitzen über die Handflächen fuhr, als ob er sich für einen Kampf vorbereite, bemerkte Billy, daß er Schwielen an den Händen hatte.
McAleers Grinsen wurde noch etwas breiter. »Wetten, daß du mich beiseite schieben mußt, wenn du an diese Truhe ran willst.«
Von Frank Pratt war ein unterdrücktes, pathetisches Stöhnen zu vernehmen. Jetzt wußte Billy, weshalb ihm Dillard McAleer bekannt vorkam: Der Kadett aus Kentucky benahm sich genau wie einige der jungen Männer, die er in Mont Royal getroffen hatte, arrogant und fast verzweifelt streitsüchtig. Vielleicht war dies die übliche Abwehr Yankees gegenüber?
Billy blickte McAleer fest in die Augen. »McAleer, ich habe keinen Streit mit dir. Wir werden zwei Monate in diesem Höllenloch zusammenleben müssen, und es wäre besser, wenn wir miteinander auskämen. Meiner Meinung nach hat das nichts damit zu tun, wer wir sind oder woher wir kommen, sondern damit, wie wir miteinander umgehen. Nun, ich habe nichts Außergewöhnliches verlangt, sondern ich will lediglich an diese Truhe herankommen, die zu einem Drittel mir zusteht. Aber wenn ich dich wegschieben muß, wie du es nennst, so glaube ich, daß ich dazu fähig bin.«
McAleer war von der Bestimmtheit in Billys Stimme beeindruckt. Er winkte ab. »Zum Teufel, Hazard, ich hab’ bloß Spaß gemacht.« Mit einer tiefen Verbeugung machte er Platz. »Er gehört dir. Dir auch, Fred.«
»Frank.«
»Na klar, Frank.«
Billy entspannte sich und wandte sich nach dem Zelteingang um, wo er seine Sachen deponiert hatte. Plötzlich:
»Los Jungs – ziehen!«
Billy erkannte Slocums Stimme, gerade bevor alle Pflöcke aus dem Boden gezogen wurden und das ganze Zelt über ihnen zusammenfiel.
McAleer fluchte und schlug um sich. Als die drei Junioren sich schließlich hervorgebuddelt hatten, mußte Billy den Jungen aus Kentucky festhalten, damit er nicht auf die lachenden Senioren losging.
George hatte erzählt, er und Orry seien als Junioren besonders von einem Senior geplagt worden, der sie nicht ausstehen konnte. Billy erging es gleich. Caleb Slocum aus Arkansas hatte es immer wieder auf ihn abgesehen und beschuldigte ihn irgendwelcher realer oder imaginärer Vergehen. Es dauerte nicht lange und Billy träumte nachts von Slocums häßlichem, fleckigem Gesicht und von Augenblicken des Triumphs, in denen er Slocum auf mannigfaltige Art und Weise umbrachte.
Er hielt die Schikaniererei aus, weil er wußte, daß ihm nichts anderes übrigblieb, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Wenn er Wache stand, dachte er gern über die Zukunft nach. Die Übung bestand darin, daß man zwei Stunden auf dem Posten auf und ab marschierte, dann vier Stunden Ruhestellung, dann wieder zwei Stunden auf Posten stehen und so weiter, während vierundzwanzig Stunden. Um sich die Zeit zu vertreiben, ließ Billy seiner Phantasie freien Lauf und stellte sich einen sonnigen Tag vor, an dem er seine Aufnahme in die Pioniertruppen geschafft haben und in der Lage sein würde, eine Frau zu heiraten. Es gab keinen Zweifel mehr daran, wer seine Frau sein würde. Er hoffte lediglich, daß Brett ihn ebenso sehr wollte wie er sie.
Eine Woche vor dem Ende des Sommercamps geriet McAleer mit zwei Junioren aus dem Norden in Streit. Es ging um die Frage der Sklaverei in den neuen Territorien. Ein Kampf entspann sich. McAleer behauptete sich, bis ein Frechmaul aus New York namens Phil Sheridan, der als Zänker bekannt war, sich einmischte. Diesmal stellte Sheridan sich auf die Seite der Disziplin. Er versuchte, den Streit zu schlichten, aber sein Intervenieren machte McAleer nur um so wütender. Er riß einen Ast von einem nahestehenden Baum ab und stürmte auf Sheridan los. Glücklicherweise gelang es den andern Kadetten, die beiden Kampfhähne voneinander zu trennen, aber es dauerte etwa fünf Minuten, bis sie McAleer beruhigt hatten.
Am folgenden Tag ließ Superintendent Henry Brewerton McAleer zu sich ins Büro holen. Niemand wußte, was hinter der verschlossenen Tür vor sich ging, aber am späten Nachmittag sah man McAleer seine Sachen packen.
»Jungs«, sagte er mit einem frechen Grinsen, »ich lasse euch zwei zwar nicht gern zurück, aber der Super hat sich ziemlich klar ausgedrückt: entweder die Entlassung oder eine formelle Anklage. Nun, wenn ich schon dieses abolitionistische Drecksnest verlassen muß, dann wenigstens mit Stil.«
Empfand McAleer Bedauern, so verbarg er dies gut. Billy fand es absurd, daß der Bursche aus Kentucky ausgerechnet die Akademie einer abolitionistischen Neigung beschuldigte. Im größten Teil des Landes war man genau gegenteiliger Ansicht.
Frank Pratt, der stets darauf bedacht war, keinen Anstoß zu erregen, sagte: »Ja, das ist dir gelungen, Dillard.« Billy zeigte seine Gefühle nicht; die Sinnlosigkeit und die Heftigkeit des Streits widerten ihn an.
Frank fuhr mit seiner hohen Stimme fort: »Du hast diese beiden Junioren und Sheridan wie zwei kleine Jungs abgeschüttelt.«
McAleer zuckte die Achseln. »Klar. Gentlemen kämpfen immer besser als der Pöbel, und das ist es, was die Yankees sind – Pöbel. Bastarde. Die meisten Yankees«, fügte er in Anbetracht seiner Zeltmitbewohner hinzu. Billy hatte dieselbe Meinung bereits von andern Kadetten aus dem Süden kennengelernt. Vielleicht wollten sie damit nur ein Minderwertigkeitsgefühl wettmachen?
McAleer verabschiedete sich mit einem Händeschütteln. »Es war ein Riesenspaß, Jungs.«
»Ja«, sagte Billy, obwohl er es nicht so meinte. »Mach’s gut, Dillard.«
»Na klar. Macht euch keine Sorgen um mich!«
Er winkte nochmals und trottete von dannen. Die Erinnerung an den Ast und an sein haßverzerrtes Gesicht blieb.
Am ersten September traf ein neuer Superintendent ein. Wie Brewerton, war auch Robert Lee Mitglied der Pioniertruppen, aber er genoß einen wesentlich besseren Ruf. Lee wurde allgemein als der beste Soldat Amerikas betrachtet. Man sagte, daß Winfield Scott ihn sozusagen verehrte. Lee mußte sich an der Akademie mit einem ganz besonderen Problem auseinandersetzen: Sein ältester Sohn, Curtis, gehörte zu der 54er Klasse, und es fehlte nicht an abfälligen Bemerkungen über Nepotismus.
Billy sah den neuen Superintendenten zum erstenmal beim sonntäglichen Kapellenbesuch aus nächster Nähe. Dieser Besuch war übrigens Pflicht – auch etwas, das sich seit Georges Tagen nicht verändert hatte. Lee war fast einsachtzig groß, hatte braune Augen, buschige Augenbrauen und ein Gesicht, das Charakterstärke verriet. In seinem schwarzen Haar zeigten sich vereinzelt graue Strähnen, nicht aber in seinem Schnurrbart, der beiderseits gut einen Zentimeter über die Mundwinkel hervorragte. Billy schätzte Lee auf etwa fünfundvierzig.
Der Kaplan hielt eine seiner üblichen einschläfernden Predigten zu einem beliebten kirchlichen Thema: das tausendjährige Reich Christi. Daraufhin schlug er ein Gebet für den neuen Superintendenten vor. Anschließend stieg Oberst Lee von seinem Kirchenstuhl herunter und hielt eine kurze Ansprache.
Er zitierte den jungen König aus Shakespeares Heinrich V. und nannte die Kadetten eine Schar von Brüdern. Er rief jeden Zuhörer dazu auf, in diesem Sinn an das Armeekorps zu denken und sich daran zu erinnern, daß die Männer von West Point einzig und allein der Nation, der sie Treue geschworen hatten, verpflichtet waren.
»Was hältst du von ihm?« fragte Frank Pratt in seiner ihm eigenen vorsichtigen Art. Billy hatte den Jungen aus Wisconsin zum Zimmergenossen bekommen, und sie waren eben dabei, sich rasch vor dem Abendessen in ihrem neuen Quartier einzurichten.
»Er entspricht zweifellos dem Bild des idealen Soldaten«, sagte Billy. »Ich hoffe bloß, daß er den Frieden hier aufrechterhalten kann.«
»Eine Schar von Brüdern«, murmelte Frank. »Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Das ist es, was wir sind, nicht wahr?«
»Was wir sein sollten.« Ein Bild tauchte vor Billys geistigem Auge auf – das Gesicht von McAleer, als er Sheridan angriff.
Ein herrisches Türklopfen, auf das das übliche »In Ordnung?« folgte.
»In Ordnung«, wiederholte Billy.
Doch statt weiterzugehen, trat der inspizierende Senior ein. James E. B. Stuart war ein jovialer, äußerst beliebter Junge aus Virginia, dem jemand den Spitznamen Beauty gegeben hatte, gerade weil er häßlich war.
Mit gespielter Strenge sagte Stuart: »Sirs, seid vorsichtig, jetzt, da dieser Institution ein Mann aus Virginia vorsteht.« Er warf einen verstohlenen Blick über seine Schulter und senkte dann die Stimme. »Ich bin gekommen, um euch zu warnen. Einer der Trommler hat eine Ladung Schnaps hereingeschmuggelt. Slocum hat ihm etwas davon abgekauft. Er ist betrunken und erwähnt immer wieder eure Namen« – Frank Pratt erblaßte –, »also seid vor ihm auf der Hut!«
»Wir werden aufpassen, Sir«, sagte Billy. »Vielen Dank.«
»Ich möchte nicht, daß ihr von jedem Südstaatler, dem ihr begegnet, Schlechtes denkt«, fügte Stuart noch hinzu und verschwand.
Billy betrachtete nachdenklich die Herbstsonne, die ihre Strahlen verschwenderisch durch das bleiverglaste Fenster warf. Ich möchte nicht, daß ihr von jedem Südstaatler, dem ihr begegnet, Schlechtes denkt. Sogar bei einfachen Gesprächen wurde man unweigerlich an die sich vertiefende Kluft erinnert.
Frank brach das Schweigen. »Was haben wir Slocum getan?«
»Nichts.«
»Weshalb kann er uns denn nicht leiden?«
»Wir sind Junioren, und er ist bereits länger hier. Er kommt aus dem Süden, und wir sind Yankees. Woher soll ich wissen, weshalb er etwas gegen uns hat, Frank? Ich vermute, daß es immer irgend jemanden auf der Welt gibt, der einen haßt.«
Frank nagte an seiner Lippe und stellte sich dabei eine düstere Zukunft vor. Er war kein Feigling, wie Billy herausgefunden hatte, bloß pessimistisch und leicht aus der Fassung zu bringen. Hatte er seine Scheu erst mal überwunden, würde ein guter Offizier aus ihm werden.
»Nun«, sagte Frank schließlich, »ich könnte mir denken, daß Slocum in absehbarer Zeit unsere Skalps an die Tür nageln möchte.«
»Glaub’ ich auch. Am besten, wir beherzigen den Ratschlag von Beauty und gehen ihm aus dem Weg.«
Aber er hatte das Gefühl, daß ein Zusammentreffen mit Slocum nicht abwendbar sei. Sei’s drum. Wenn es soweit wäre, würde er es schon mit dem Kadetten aus Arkansas aufnehmen, und zum Teufel mit dem Preis, den er dafür zahlen müßte.
Er wollte Frank beruhigen und ihm klarmachen, daß sie mit Slocum fertig werden würden, doch bevor es dazu kam, erklang das Signalhorn. Türen flogen auf, und Kadetten rannten geräuschvoll die Treppe hinunter, um gemeinsam in die Kantine zu marschieren. Frank stolperte auf der Treppe, fiel hin und riß sich das Hosenbein auf. Draußen in der hellen Sonne fiel Slocum das Dreieck auf, und er erstattete Bericht über Frank.
Billy wollte etwas sagen, aber er hielt sich unter Kontrolle. Slocum grinste hämisch und erstattete Bericht wegen ›frechem Verhalten und frechem Gesichtsausdruck‹.
Zweifellos würde es eines Tages zu einer Abrechnung kommen.
35
Von Schlaflosigkeit und Gedanken an Madeline gequält, nahm Orry den Brief nochmals zur Hand.
Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Als er das Papier ein wenig weiter weghielt, vermochte er das Datum – 16. Dezember – und auch den Rest zu lesen. Er hatte schon anfangs Herbst bemerkt, daß mit seiner Sehschärfe etwas nicht stimmte; es deprimierte ihn, wie auch so vieles andere.
Der Brief war eine Mischung aus Freude und Zynismus. George hatte Billy anfangs Dezember in West Point besucht. Billy hielt sich gut, er gehörte in jeder Klasse zu den Besten und würde die Prüfungen im Januar sicher ohne Schwierigkeiten bestehen.
Der Brief endete mit einigen Bemerkungen über den neugewählten Präsidenten. Viele Nordstaatler bezeichneten Franklin Pierce schon jetzt als Gimpel. Einer der vielen und auch prominentesten Namen, der im Zusammenhang mit der Kabinettsbildung genannt wurde, war derjenige von Senator Jefferson Davis.
Davis von den ›Mississippi Rifles‹, erinnerte sich Orry mit einem schwachen Lächeln. Oberst Davis und seine Freiwilligen, die Rothemden, hatten heroisch in Buena Vista gekämpft. Sollte er Kriegsminister werden, hätte die Akademie einen echten Freund in Wash…
Ein Knall, der von unten kam, riß ihn mit einem Sprung aus dem Bett. Er war noch nicht einmal an der Schlafzimmertür, als ihn seine steifen Knie bereits schmerzten. Gott im Himmel, er war wirklich am Auseinanderfallen! Das Alter und der in diesen Gegenden feuchte Winter beschleunigten diesen Prozeß.
»Orry? Was war dieser Lärm?« fragte seine Mutter von ihrem Schlafzimmer her.
»Ich schaue mal eben nach. Sicher nichts Schlimmes. Geh wieder ins Bett.«
Er hatte es sanft sagen wollen, aber aus irgendeinem Grund klang seine Stimme heiser vor Angst. Unten auf dem Treppenabsatz huschten schwarze Gesichter im Widerschein von Kerzen vorbei. Orry faßte das Treppengeländer und eilte nach unten. Die Anstrengung verstärkte den Schmerz in den Gelenken.
»Laßt mich durch.«
Die Sklaven stoben zur Seite. Hinter ihm kam Vetter Charles die Treppe heruntergerannt. Orry öffnete die Tür zur Bibliothek.
Das erste, was er sah, war die Lache verschütteten Whiskeys auf dem polierten Fußboden. Tillets Glas war zerbrochen, und der Lärm, den Orry gehört hatte, war durch den umkippenden Stuhl verursacht worden.
Orry stürzte ins Zimmer, zu betäubt, um Trauer zu verspüren. Tillet lag steif auf der Seite, Augen und Mund offen, als ob er von etwas überrascht worden wäre.
Schlaganfall, dachte Orry. »Papa, kannst du mich hören?«
Er wußte nicht, weshalb er das sagte. Schock, dachte er später. Als er Clarissas verdrießliche Stimme aus dem zweiten Stock hörte, wußte er, daß er einem Toten die Frage gestellt hatte.
Am 2. Januar beerdigten sie Tillet auf dem kleinen Friedhof der Plantage. Viele Sklaven schauten durch den schwarzen Eisenzaun zu. Während des Gebets, bevor der Sarg in die Grube gesenkt wurde, begann es zu nieseln. Ashton stand auf der andern Seite des Grabs bei Huntoon; sie mißachtete die Sitte, die besagte, daß alle Familienmitglieder zum Trauern beisammen stehen sollten.
Clarissa weinte nicht, sondern starrte nur vor sich hin. Sie hatte seit Tillets Tod nicht geweint. Nach dem Begräbnis redete Orry mit ihr, aber offensichtlich hörte sie ihn gar nicht. Er fragte sie erneut, wie es ihr ginge, doch ihre Antwort bestand nur aus unverständlichem Gemurmel, und ihr Gesicht war wie eine Maske. Orry konnte sich an keinen traurigeren Tag in Mont Royal erinnern.
Nachdem die Familie die Einfriedung verlassen hatte, kamen die Sklaven, umringten das Grab und verabschiedeten sich von Tillet mit einigen Gebetsworten, kurzen Hymnen oder auch nur mit einem Kopfnicken. Cooper ging neben seinem Bruder her. Er wunderte sich darüber, daß die Neger ihrem Besitzer freundlich gesinnt waren. Dann aber dachte er, daß die Menschen aller Hautfarben noch nie für logisches oder konsequentes Benehmen berühmt gewesen waren.
Judith und Brett gingen neben Clarissa. Voller Stolz betrachtete Cooper seine Frau. Mitte Dezember hatte sie ihm eine Tochter geschenkt: Marie-Louise. Das Kind befand sich im Herrenhaus in der Obhut von Dienstmädchen.
Cooper fielen die schlaffen Schultern und der ernste Gesichtsausdruck seines Bruders auf. Er versuchte, Orry auf andere Gedanken zu bringen.
»Bevor ich Charleston verließ, sind mir Neuigkeiten über Davis zu Ohren gekommen.«
»Was?«
»Du weißt doch, daß er es letzten Monat abgelehnt hat, mit Pierce in Washington zu verhandeln.«
»Ja.«
»Man sagt, daß er nun doch eingelenkt hat. Vielleicht geht er trotzdem zur Antrittsrede. Es wäre außerordentlich gut für den Süden, wenn er Kabinettsmitglied würde. Er ist ehrlich und meistens auch recht vernünftig.«
Orry zuckte die Achseln. »Das wird auch nichts bringen, Cooper.«
»Ich kann und will nicht glauben, daß ein Mann nichts bringen kann. Wenn du das glaubst, wozu denn weitermachen?«
Sein Bruder ignorierte die Frage. »Heutzutage ist Washington ein riesiges Irrenhaus – und die Wahnsinnigsten sind diejenigen, die das amerikanische Volk wählt, um es im Kongreß zu vertreten. Mit Ausnahme unserer eigenen Legislative ist mir kaum eine verachtungswürdigere Institution bekannt.«
»Wenn du etwas dagegen hast, wie sich die Dinge in South Carolina entwickeln, ändere sie! Laß dich wählen und geh selber nach Washington!«
Orry blieb abrupt stehen und starrte seinen Bruder an. Hatte er richtig gehört? »Hast du gesagt, daß ich in die Politik gehen soll?«
»Wieso nicht? Wade Hampton hat’s ja auch gemacht.« Der wohlhabende und respektable Plantagenbesitzer war vor kurzem in die Legislative gewählt worden. Cooper fuhr fort: »Du hast genug Zeit und Geld. Und mit deinem Geschlechtsnamen hast du in der Gegend hier große Chancen. Du hast die Leute auch nicht so vor den Kopf gestoßen wie ich. Du bist Hampton recht ähnlich. Ihr könntet im rhetorischen Sturm der Hauptstadt die Stimme der Vernunft und der Mäßigung erheben. Es gibt nur noch wenige solche Männer – und die sind wertvoll.«
Es reizte Orry; aber nur einen Augenblick lang. »Ich würde eher Zuhälter als Politiker werden, das ist ehrenvoller.«
Cooper lächelte nicht. »Hast du schon mal was von Edmund Burke gelesen?«
»Nein. Wieso?«
»Ich hab’ all seine Reden und Referate studiert, die ich auftreiben konnte. Burke war ein guter Freund der Kolonien und ein Mann mit einem hervorragenden Verstand. In einem Brief schrieb er einmal, daß für den Triumph eines schlechten Mannes nur eins nötig sei – die Untätigkeit guter Männer.«
Verärgert über diese Anspielung wollte Orry eine scharfe Antwort geben, aber Brett stieß plötzlich einen Schrei aus.
»Es ist Mutter«, schrie Cooper. Clarissa sank in Judiths Arme und schluchzte laut. Orry war dankbar, daß sie dem Schmerz nun endlich freien Lauf lassen konnte.
Seine Erleichterung verwandelte sich in Angst, als er eine Stunde später seine Mutter immer noch auf ihrem Zimmer weinen hörte. Er ließ den Arzt rufen, der ihr zur Beruhigung Laudanum gab. Dann sagte er zur versammelten Familie:
»Der Tod ist niemals leicht zu ertragen, aber für eine Frau, die ein Leben lang untrennbar mit ihrem Gatten verbunden war, ist es noch viel schwerer. Doch Clarissa ist stark und wird bald wieder sie selbst sein.«
In diesem Punkt irrte er sich jedoch.
Nach knapp einer Woche bemerkte Orry die erste Veränderung. Wenn Clarissa lächelte und plauderte, schien sie durch ihn hindurchzusehen. Stellten die Diener ihr eine Frage über den Haushalt, so versprach sie zu antworten, sobald sie etwas, das sie nicht beim Namen nannte, erledigt hätte, doch dann ging sie weg und kam nicht wieder.
Sie entwickelte eine neue Leidenschaft; ein Vergnügen, dem in South Carolina recht häufig gefrönt wurde: Sie begann, Nachforschungen anzustellen und einen Stammbaum zu zeichnen.
Eine grüne Linie stellte die Bretts, die Familie ihrer Mutter, dar. Eine rote Linie war für die väterliche Seite gedacht, die mit ihrem Vater, Ashton Gault, zu Ende ging. Für die Mains verwendete sie nochmals andere Farben, so daß der ganze Stammbaum, der ein großes Pergamentblatt füllte, einem regenbogenfarbenen Spinnennetz glich.
Clarissa legte das Pergamentpapier auf den Tisch, der beim Fenster ihres Zimmers stand. Sie verbrachte Stunden mit dieser Arbeit, so daß das Papier bald verschmiert und beinahe unlesbar war; aber dennoch fuhr sie mit der Arbeit fort. Sie nahm keine Notiz mehr von den Aufgaben auf der Plantage, die sie früher so sorgfältig erledigt hatte.
Orry sagte nichts. Er verstand, daß Tillets Tod ihren Verstand an einen fernen Ort entrückt hatte. Wenn sich dadurch ihr Schmerz linderte – um so besser. Er würde versuchen, ihre vergessenen Pflichten so gut wie möglich zu übernehmen.
Aber es gab Gebiete, auf denen er ungeschickt war oder sich ganz einfach nicht auskannte. Die Plantage funktionierte nicht mehr so gut wie früher – wie eine Uhr, die immer zwanzig Minuten nachgeht, wie oft man sie auch richtig stellt.
»Gerade, verdammt noch mal – gerade! Was ist los mit euch?«
Es war ein strahlend blauer Februarmorgen, und Orry überwachte die Vorbereitungen für die Frühlingssaat. Er hatte einige ältere, erfahrene Neger angeschrien, die in dreißig Zentimeter Abstand Richtseile in parallelen Linien anlegten. Im Augenblick arbeiteten die Männer am andern Ende des rechteckigen Feldes. Sie drehten sich um und starrten ihren Besitzer mit Befremden an; die Linien waren gerade.
Die meist jüngeren Sklaven und Sklavinnen, die das Saatgut mit Hacken den Seilen entlang eingruben, waren genauso verdattert. Orry hatte so laut geschrien, daß sogar einige Sklaven, die am andern Ende einen Bewässerungsgraben aushoben, aufschauten. All die Blicke bezeugten, daß Orry im Unrecht war.
Er schloß die Augen und rieb sich die Lider mit den Fingerspitzen. Fast die ganze Nacht über war er wach gewesen, hatte über seine Mutter nachgedacht und einen Brief an George aufgesetzt, in dem er schrieb, daß die Mains ihre Sommerferien nicht mehr in Newport verbringen würden. Als Grund dafür gab er Clarissas Gesundheitszustand an; die Wahrheit blieb unerwähnt. Im letzten Sommer hatte er eine unverhohlene Feindseligkeit seitens einiger Bewohner des kleinen Badeorts gespürt. Die Unfreundlichkeit von Yankees über sich ergehen lassen zu müssen – das war nicht gerade Orrys Vorstellung von Ferien.
»Orry, die Linien sind gerade!«
Bretts Stimme schreckte ihn aus seinem Gedankengang auf, und er öffnete rasch die Augen. Er drehte sich um und erblickte seine Schwester, nicht weit von ihm entfernt, am Flußufer. Sie mußte also gerade in dem Augenblick, in dem er die Sklaven angeschrien hatte, hinzugekommen sein. Ihre Wangen waren rot, und sie atmete schwer.
Er schielte über die Schulter. Sie hatte recht. Müdigkeit oder eine Sinnestäuschung hatte ihn so weit gebracht. Die Sklaven hatten ihre Arbeit wieder aufgenommen; sie wußten, daß der Fehler bei ihm lag.
Brett ging zu ihm hin und berührte seine Hand: »Du bist wieder einmal zu lange aufgeblieben.« Er zuckte die Achseln. Sie fuhr fort: »In der Küche war vorhin ein schreckliches Durcheinander. Dilly zog Sue an den Ohren, weil sie vergessen hatte, Badesalz zu bestellen. Sue hat geschworen, sie hätte es dir gesagt.«
Er konnte sich plötzlich wieder daran erinnern. »Mein Gott, das stimmt. Ich bin derjenige, der es vergessen hat. Ich wollte es eben auf die Bestelliste schreiben, als ich zu Semiramis’ Kind, das Masern hatte, gerufen wurde.«
»Das Schlimmste ist überstanden, es wird wieder gesund werden.«
»Nicht wegen mir. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was ich mit dem sechs Monate alten Baby machen sollte. Wieso weißt du überhaupt so gut Bescheid?«
Sanft erwiderte sie: »Sie haben nach mir gefragt, gleich nachdem du fortgegangen bist. Ich konnte nicht viel mehr für das Kind tun, als es gut einzuwickeln und darauf zu achten, daß es warm hatte. Aber Semiramis war vor Sorgen ganz aufgeregt, und so habe ich eine Weile mit ihr geplaudert und ihr die Hand gehalten. Das hat sie beruhigt, und das Baby konnte etwas schlafen – genau das, was es brauchte.«
»Ich wußte wirklich nicht, was tun. Ich bin mir wie ein hilfloser Idiot vorgekommen.«
»Mach dir keine Vorwürfe, Orry. Mama hat eben viel auf der Plantage getan, mehr als ihr Männer je wahrgenommen habt.« Mehr wagte sie nicht zu sagen. Sie lächelte und berührte leicht seine Hand. »Ich möchte dir helfen, die Plantage zu führen. Ich kann es.«
»Aber du bist ja noch ein – «
»Ein kleines Mädchen? Oh, das klingt ja beinahe wie Ashton.«
Sie hatte aus ihrem Köcher von Pfeilen genau den richtigen ausgewählt, um ihn zu treffen und seinen Widerstand zu brechen. Er mußte lachen. Dann sagte er: »Du hast recht, ich wußte nicht, wieviel Mama für die Plantage getan hat, und ich bin sicher, daß Vater sich auch nicht darüber im klaren war. Ich würde mich über deine Hilfe freuen. Ja, ich wäre dankbar dafür. Spring überall dort ein, wo es deiner Meinung nach nötig ist. Wenn sich jemand darüber wundern sollte, sag ihm, daß ich dir freie Hand gegeben habe. Sag ihm, er solle sich an mich wenden. Na, was ist?«
»Wenn die Sklaven bei jedem wichtigen Befehl erst noch dich fragen müssen, ist es sinnlos für mich, die Arbeit zu machen. Und unter den Umständen möchte ich auch nicht. Ich muß die gleichen Machtbefugnisse haben wie du, und jedermann muß es auch wissen.«
»Also gut, du hast gewonnen.« In seine Bewunderung mischte sich Ehrfurcht. »Du bist ein Wunder. Und dabei bist du noch nicht einmal fünfzehn – «
»Das Alter hat damit nichts zu tun. Es gibt Mädchen, die lernen schon mit zwölf, Frauen zu sein. Ich meine, nicht nur keck und kokett!« Die Anspielung auf Ashton verfehlte ihre Wirkung bei Orry nicht. »Es gibt auch solche, die es nie lernen. Lieber sterbe ich, als daß ich zu diesen gehöre.«
Mit einem liebevollen Lächeln sagte er: »Keine Angst, das wirst du sicher nicht.« Er war nicht weniger müde, fühlte sich jetzt dennoch viel besser. »Nun, ich denke, wir sollten sehen, daß wir zu Badesalz kommen.«
»Cuffey ist mit dem Karren nach Charleston unterwegs. Ich habe den Passierschein selbst geschrieben.«
Wieder lachte er und legte dann den Arm um sie: »Ich habe das Gefühl, daß es nun auf der Plantage besser werden wird.«
Ashton ging im Schlafzimmer auf und ab. Brett beugte sich über den Schreibtisch. Eisbedeckte Äste und Zweige klirrten gegen die Fensterscheiben. Der Wind heulte über den Fluß.
Aus dem Gästezimmer drang erneut eine Niessalve. Ashton zog eine Grimasse. Huntoon hatte sie von Charleston, gerade bevor der Sturm aufzog, nach Hause gebracht und lag nun mit einer fürchterlichen Erkältung im Bett.
»Wenn er nur endlich mit diesem schrecklichen Niesen aufhörte!« sagte sie aufgebracht. Brett schaute vom Bilanzbuch auf und erschrak über die Gehässigkeit in der Stimme ihrer Schwester. Wie konnte jemand nur so wütend auf eine Krankheit sein?
Aber dies war nicht der eigentliche Grund für Ashtons Zorn. Sie vermißte jetzt schon den Glanz und die Fröhlichkeit von Charleston. Huntoon hatte sie zum größten gesellschaftlichen Anlaß der Saison, zum großen Ball, der von der Saint-Cecilia-Gesellschaft organisiert wurde, eingeladen. Jetzt, wieder zurück am Ashley, fühlte sie sich eingesperrt.
Ihre kleine Schwester begnügte sich anscheinend damit, ihre Zeit mit Bestellisten und Bilanzen zu verbringen. Brett hatte in den letzten Wochen damit angefangen, sich als Herrin der Plantage aufzuführen. Aber noch schlimmer – die Nigger behandelten sie auch so.
»Wenn ich hier fertig bin, werde ich einen von Mamas Zitronengrogs mischen«, sagte Brett. »Vielleicht hilft das.«
»Willst du den Onkel Doktor spielen?«
Wieder schaute Brett ihre Schwester an, diesmal jedoch strenger. »Es gibt keinen Grund, schnippisch zu sein. Ich tue bloß, was ich kann.«
»Es scheint, du packst jede Gelegenheit beim Schopf. Ich habe gehört, daß du heute schon wieder bei den Hütten warst!«
»Hattie hat eine Eiterbeule bekommen; ich hab’ sie aufgestochen und die Wunde verbunden. Wieso?«
»Ich verstehe wirklich nicht, wieso du deine Zeit mit solch widerlichen Sachen vergeudest.«
Brett klappte das Bilanzbuch zu, stand auf und zupfte ihren Rock zurecht.
»Jemand sollte dich daran erinnern, daß all die widerlichen Sachen – wie du es nennst – Mont Royal fortbestehen lassen. Damit wurden die Brokatrollen bezahlt, die du für dein Abendkleid am Saint-Cecilia-Ball gekauft hast.«
Ashtons mockiertes Lachen war eine Abwehr. Sie hatte sich dafür entschieden, ihre Ziele durch die Manipulation anderer zu erreichen, während sie vorgab, die traditionelle Rolle der Frau zu spielen. Brett hingegen machte ihre Unabhängigkeit geltend! Ashton beneidete sie darum, und zugleich haßte sie ihre Schwester noch mehr.
Sie versteckte ihren Haß hinter einem Achselzucken und einer eleganten Bewegung in Richtung Tür. »Beruhige dich. Mir ist es egal, wenn du dich hier vergraben willst. Aber laß dir eins sagen: Diejenigen, die es in der Welt zu etwas bringen wollen, vertrödeln ihre Zeit nicht mit den Problemen der Nigger und der armen Weißen. Sie bemühen sich um wichtige Persönlichkeiten.«
»Ich weiß, daß sie das tun, aber ich will es nicht, wie du sagst, zu etwas bringen. Ich will bloß Orry helfen.«
Selbstgefällige kleine Hure, dachte Ashton. Am liebsten hätte sie ihrer Schwester die Augen ausgekratzt, sie verletzt, bis sie um Gnade flehte. Aber sie lächelte und sagte fröhlich: »Du machst es auf deine Art und ich auf meine – mit James. Oh, aber etwas würde mich noch interessieren: Du bist ja so mit Verarzten und Rechnen beschäftigt – hast du überhaupt noch Zeit, all die Briefe deines Kadetten zu beantworten? Er könnte dich sonst leicht vergessen!«
»Für Billy habe ich immer Zeit. Mach dir keine Sorgen.«
Bretts ruhige Art brachte Ashton beinahe zum Explodieren. Ein neuerliches, heftiges Niesen Huntoons lenkte sie ab. Sie eilte in die Halle, wo sie beinahe mit Charles zusammengeprallt wäre, der nach unten wollte. Sie trat beiseite, und nun war sie es, die niesen mußte.
»Sag, Ashton, woher hast du die Erkältung?« Charles grinste und zeigte mit dem Daumen in Richtung Gästezimmer. »Hast du in Charleston noch etwas anderes von ihm bekommen?«
»Fahr zur Hölle, du mit deiner schmutzigen Phantasie!«
»Was ist los? Bist du zu vornehm geworden für einen Spaß?«
Als Antwort knallte sie nur die Tür zu.
Im Gästezimmer starrte Huntoon Ashton an, während er einen Schwall der übelsten Schimpfworte, die ihm je zu Ohren gekommen waren, über sich ergehen lassen mußte.
Nach seiner Amtsübernahme bereiste Präsident Pierce mit Kabinettsmitgliedern den Norden. In verschiedenen größeren Städten wurden riesige Bankette veranstaltet. George und Stanley waren an der Feier in Philadelphia zugegen.
Pierce war ein gut aussehender, freundlicher Mann. Stanley war derart von ihm überwältigt, daß er praktisch die ganze Zeit um ihn herumscharwenzelte. George hingegen interessierte sich mehr für den neuen Kriegsminister, Jefferson Davis. Davis benahm sich wie ein Soldat. Er war Mitte Vierzig und immer noch schlank. Er hatte hohe Backenknochen, tiefliegende graublaue Augen, und in seinem Haar zeigten sich schon recht viele graue Strähnen. George hatte gehört, daß er auf einem Auge blind sei, konnte aber nicht feststellen, auf welchem.
Während des kurzen Empfangs vor dem Abendessen konnte George einiges über die Meinungen und Ansichten, die der Minister vertrat, in Erfahrung bringen. Davis sprach über eines seiner Lieblingsthemen: die Förderung einer transkontinentalen Eisenbahn.
»Ich bin ein strikter Verfechter der Verfassung«, sagte der neue Minister zu George und einigen andern Gästen, die um ihn herumstanden. »Ich weiß, daß die Bundesregierung kein Recht hat, sich in innere Angelegenheiten der einzelnen Staaten einzumischen. Deshalb könnte man logischerweise fragen – «
»Wie dann eine Regierungsbeihilfe für eine Eisenbahn gerechtfertigt werden kann?«
Davis lächelte den Mann, der ihn unterbrochen hatte, freundlich an. »Ich hätte es nicht besser sagen können, Sir.« Alle lachten. »Meiner Meinung nach handelt es sich hierbei jedoch um eine Angelegenheit der nationalen Verteidigung«, fuhr er fort. »Wenn die Territorien an der Pazifikküste keine Verbindung zum Rest des Landes haben, können sie uns von einem ausländischen Feind problemlos entrissen werden. Außerdem wäre eine transkontinentale Linie – vorzugsweise durch den Süden – «, bei dieser Bemerkung atmeten einige Zuhörer hörbar ein, doch der Minister schien sich nicht darum zu scheren, »für die Verteidigung unserer Grenzen sehr nützlich, denn Truppenverschiebungen zu den gefährdeten Gebieten wären so wesentlich einfacher. Im Augenblick beläuft sich die Zahl der Offiziere und Soldaten auf nur zehntausend Mann. Zwischen hier und Kalifornien gibt es schätzungsweise vierhunderttausend Indianer, von denen vierzigtausend als Feinde betrachtet werden müssen. Diese Gefahr muß mit neuen Mitteln gebannt werden.«
»Wie könnten die aussehen, Herr Minister?« fragte George.
»Zum einen – eine größere Armee. Mindestens zwei neue Regimenter, und zwar berittene Regimenter, die große Distanzen in kurzer Zeit bewältigen können. Die Indianer haben keine Angst vor unsern Fußtruppen; sie werden von ihnen ›marschierender Haufen‹ genannt – eine recht abschätzige Bezeichnung.«
George hatte gehört, daß Davis eher Soldat als Politiker war, und langsam begann er es zu glauben. Davis beeindruckte ihn.
»Vieles in unserer Armee ist überholt«, fuhr der Minister fort. »So zum Beispiel die Taktik. Um diesem Übel abzuhelfen, habe ich vor, einen Offizier nach Frankreich zu schicken, um die Taktik der Franzosen zu studieren. Wenn es auf der Krim zum Krieg kommt, wie dies im Augenblick den Anschein erweckt, so haben wir die seltene Gelegenheit, die europäischen Armeen auf dem Feld zu beobachten. Zudem sollte auch in der Militärakademie einiges verbessert werden.«
»Das interessiert mich, Sir«, sagte George. »Mein Bruder ist momentan ein Junior, und ich habe ‘46 abgeschlossen.«
»Ja, Mr. Hazard. Ich bin über beides informiert. Meiner Ansicht nach sollte der Lehrplan von West Point ausgebaut werden.« Das war nichts Neues; die Idee eines fünfjährigen Studiums geisterte schon seit einigen Jahren herum. »Der Taktik der berittenen Truppen aber muß mehr Bedeutung zukommen. Ich möchte eine neue Reithalle bauen, die Ställe vergrößern – «
Ein Zuhörer unterbrach ihn: »Man sagt, daß Sie eine zweite Militärakademie im Süden eröffnen wollen, Herr Minister.«
Davis wandte sich dem Sprecher zu und wurde zum erstenmal etwas heftig: »Das ist falsches und bösartiges Gerede, Sir. Der Vorschlag mag von andern stammen, auf keinen Fall von mir. So etwas würde eine Spaltung vorantreiben, und das ist das letzte, das wir im Augenblick in diesem Land brauchen können. Als sich John Calhoun gegen den Clay-Kompromiß aussprach, sagte er, daß die Bande, die die Staaten zusammenhalten, eins nach dem andern reißen. Er war sicher, daß eine Spaltung nicht verhindert werden konnte. Aber ich teile seine Ansicht nicht. Wenn es eine Institution gibt, die einen nationalen Standpunkt vertritt, dann ist es West Point. Und ich, für meinen Teil, will es auch so halten.«
Obwohl George jedem Politiker aus dem tiefen Süden unwillkürlich mißtraute, bemerkte er, wie er in den Applaus der andern einstimmte. Dennoch gab Davis’ Haltung eher das Ideal als die Realität wieder.
Vor kurzem hatte Billy geschrieben, in West Point formierten sich Cliquen von Nord- und Südstaatlern, zwischen denen die Spannung ständig wachse. Charles Main würde im Juni in die Akademie eintreten. Würden diese Spannungen der Freundschaft zwischen ihm und Billy etwas anhaben können? George hoffte nicht.
Als der Beifall verklungen war, sagte George: »Sehr gut, Herr Minister. Es gibt heutzutage zu viele Extremisten auf beiden Seiten. Wir sollten mehr Leute wie Sie haben.«
Er erhob das Glas: »Auf die Akademie.«
Auch Davis erhob das Glas: »Und auf die Union.«
36
Während Charles nordwärts reiste, bereitete sich, am andern Ende der Welt, Rußland auf den Krieg gegen die Türkei vor. Der zukünftige Kadett trug bei seiner Ankunft in West Point einen breitkrempigen Farmerhut und einen alten rostroten Samtmantel. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern; in einem seiner Stiefel stak das Jagdmesser.
Billy und sein Freund und Klassenkamerad, ein vergnügter Bursche aus Virginia namens Fitzhugh Lee, lehnten sich aus einem Fenster des zweiten Stocks der Kaserne und beobachteten, wie Charles auf der unter ihnen liegenden Straße herantrottete. Sie hatten ihn bereits den ganzen Nachmittag erwartet. Sicher hatte Charles schon den Einberufungsbefehl abgegeben und sich im Register des Adjutanten eingetragen. Zweifellos hatte er Orrys finanzielle Verhältnisse mit ›wohlhabend‹ und nicht mit ›durchschnittlich‹ bezeichnet. Er hatte sein Bargeld beim Kassierer hinterlegt und war nun auf der Suche nach seinem Zimmer.
»Mein Gott«, rief Fitz Lee verwundert. »Schau dir die Haarpracht an!«
Billy nickte. »Ich hab’ zwar gewußt, daß er viel hat, aber das hab’ ich doch nicht erwartet.« Seine Augen glänzten plötzlich. Trotz der Freundschaft mit Charles hatte es Billy nicht unterlassen können, ihm einen würdigen Empfang zu bereiten.
»Er ist zottig wie ein Bison«, meinte Fitz. Im gleichen Moment wußte Billy, daß dies Charles’ Spitzname sein würde. Er selber hatte immer noch keinen.
Charles spürte, daß ihn jemand beobachtete, und spähte hinauf. Billy sprang hastig vom Fenster weg und zerrte Fitz mit.
»Er darf dich nicht sehen. Ist das Zimmer fertig?«
»Glaub’ schon«, sagte Fitz mit unverhohlener Schadenfreude.
Der junge Mann aus Virginia war der Neffe des Superintendenten, aber Billy war sicher, daß ihm dies eine mögliche Entlassung nicht ersparen würde. Fitz Lee verstieß gewöhnlich gegen die Regeln – und das mit Hochgenuß. »Beauty ist vor einer Weile nach oben gegangen, um das Werkzeug zurechtzulegen und in einen der Kittel zu schlüpfen, die wir genäht haben. Ich hol’ jetzt meinen. Du hältst das Opfer hier zurück, bis ich wiederkomme.«
»In Ordnung, aber beeile dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zur Parade.« Billy lehnte sich aus dem Fenster und winkte. »Hallo Charles!«
Charles blinzelte und erwiderte dann voller Freude den Gruß. »Teufel noch mal, du bist’s! Wie geht’s dir?«
»Schön, daß du da bist. Komm rauf.«
Er trat wieder vom Fenster zurück und bemerkte, daß Fitz immer noch bei der Tür herumlungerte. »Was ist?«
»Ich hab’ vergessen, dir zu sagen, daß sich Slocum selber zum Empfang eingeladen hat. Du kennst ja Beauty – er ist so verflixt aufrichtig, daß er allen alles erzählt.«
Billys Miene verfinsterte sich. »Slocum täte besser daran, uns das nicht zu verderben. Sag ihm einen schönen Gruß, und er soll das Maul halten.«
»Du meinst, ich soll es so – äh – direkt sagen?«
»Ja. Ich bin nicht mehr sein Prügelknabe. Ich bin kein Junior mehr.«
»Da hast du vollkommen recht«, sagte Fitz grinsend und stürmte hinaus.
Wenig später eilte Charles mit wehendem Mantel die Treppe hinauf. Billy und er stießen ein Freudengeschrei aus und umarmten sich wie zwei Brüder, die sich für lange Zeit aus den Augen verloren haben. Dann schmiß Charles Hut und Koffer auf eines der Betten und strich sich das lange Haar aus der feuchten Stirn.
»Allmächtiger, du siehst wirklich gut aus in der Uniform, Billy! Aber ich hab’ vergessen, daß es im Norden so verdammt heiß ist.«
»Für dich wird es, bevor das Sommercamp vorbei ist, noch viel heißer werden – auch wenn die Temperatur fällt. Du wirst ein Junior sein, vergiß das nicht. Und ich werde es ziemlich sicher schaffen, Kadettenkorporal im Camp zu werden.«
Charles runzelte die Stirn. »Bedeutet das, daß wir für ein Jahr nicht mehr Freunde sein können?«
»Doch, aber wir können es nicht offen zeigen, sonst – «
»Kadett Main?«
Der Schrei aus der Halle ließ Charles zusammenzucken. Billy mußte seinen Freund am Arm halten, damit dieser nicht das Jagdmesser zog.
Charles blickte den Fremden, der in der Türe stand, feindselig an. Es war Fitz Lee, der einen halblangen, grauen Kittel aus rauhem Stoff trug. »Wer zum Teufel sind Sie?« wollte Charles wissen.
Fitz paßte sich Charles’ grobem Tonfall an. »Erheben Sie Ihre Stimme nicht, Sir! Ich bin Mr. Fitz und, zusammen mit Mr. Jeb, einer der Armeebarbiere.«
»Und?«
»Ihr Haar, Sir. Es ist wirklich unerläßlich, daß man ihm Beachtung schenkt. Sollten Sie dies ablehnen, so wäre ich gezwungen, dem Superintendenten zu rapportieren.«
Mit erhobener Stimme sagte Charles: »Nein, warten Sie! Billy, wird das bei allen Neuen gemacht?«
»Ja sicher«, antwortete Billy mit unbeweglichem Gesicht. »Mr. Fitz und Mr. Jeb haben mir das Haar in meiner ersten Stunde hier zurechtgestutzt.«
»Verflucht noch mal, die sind ja noch gar nicht so alt, daß sie schon Barbiere sein könnten.«
»Oh, als sie mich unter die Fittiche genommen haben, waren sie noch Lehrlinge.«
»Na dann eben.«
Obwohl Charles immer noch seine Zweifel hegte, folgte er Fitz die Treppe hoch zum Abstellraum, der für diese Gelegenheit geputzt und vorbereitet worden war. Billy bildete die Nachhut und hatte Mühe, sein Kichern zu unterdrücken.
Im Abstellraum war es infernalisch heiß. Die Hitze im fensterlosen Raum wurde durch zwei brennende Öllampen noch erhöht. Auf einem billigen Tisch lagen ein Spiegel mit Silberrahmen, Kämme, Bürsten, Scheren und ein Rasiermesser. Neben einem wackligen Stuhl stand Beauty Stuart. Er trug einen Kittel und strahlte Autorität aus.
»Nehmen Sie Platz, Sir. Schnell, schnell! Dieser Kadett wartet auch darauf, daß ihm das Haar geschnitten wird.«
Er zeigte auf Caleb Slocum, der an der Wand herumlungerte. Billy und der Kadett aus Arkansas nickten sich zu; keiner von beiden lächelte. Sobald die Senioren die neuen Uniformen bekamen, würde Slocum in Urlaub gehen – keinen Augenblick zu früh für Billy.
Charles setzte sich. Mit wichtigem Gehabe winkte Stuart und schnippte mit den Fingern. »Mr. Fitz? Den Umhang bitte.«
Fitz Lee brachte ein schmutziges, zerrissenes Tuch, das er Charles um den Hals band. »Das ist aber verdammt schmutzig«, beklagte sich Charles. »Sieht aus, als ob da schon scharenweise Leute geblutet hätten. Was für ein Barbiersalon ist…?«
»Ruhig, Sir. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn Sie dauernd plappern«, sagte Stuart und warf seinem Kunden einen strengen Blick zu. Er schnippte mehrere Male mit der Schere und ging dann gezielt auf das Haar oberhalb des linken Ohrs von Charles los. Billy versuchte anhand der Geräusche, die von unten kamen, die Zeit abzuschätzen. Um vier Uhr mußten sie fertig sein.
»Den Spiegel bitte, Mr. Fitz.«
Der Hilfsbarbier stürzte sich nach vorn und drehte den Spiegel auf Stuarts übertriebene Gesten hin einmal in diese und dann in die andere Richtung. Konnte Charles denn nicht sehen, daß alles nur fingiert war? Aber kein Neuankömmling bemerkte es je; Angst und die ungewohnte Umgebung waren die Garanten dafür, daß das Spiel jedes Jahr wieder klappte.
Stuart stand mit geneigtem Kopf, das Kinn in der rechten Hand, den rechten Ellbogen in der linken Handfläche da und betrachtete sein Kunstwerk. Auf der linken Seite war das Haar nur noch einen Zentimeter lang, auf der rechten jedoch – durch einen exakten Mittelscheitel getrennt – noch genauso lang und unberührt wie zuvor. Billy drehte sich zur Wand und biß sich auf die Unterlippe. Tränen rannen ihm über die Wangen.
»Die eine Hälfte ist fertig«, gab Stuart bekannt. »Nun zur anderen – «
Von der Ebene her tönte das Signal: genau der richtige Zeitpunkt. Mr. Jeb ließ die Schere fallen, Mr. Fitz warf den Spiegel auf den Tisch, Billy und Slocum rannten zur Tür.
»He«, schrie Charles. »Was ist los?«
Stuart riß sich den Kittel vom Leib. »Wir müssen antreten. Kommen Sie mit, Sir.«
»Wir werden das Haar ein anderes Mal fertig schneiden«, rief Fitz vom untern Treppenabsatz.
»Ein anderes Mal?« brüllte Charles und verfolgte seine Peiniger. Unter der Tür des Abstellraums warf er Billy einen vernichtenden Blick zu – den Blick eines hintergangenen Mannes –, aber jener bemerkte es wegen der Tränen in den Augen nicht. »Welch anderes Mal?« schrie Charles. »Wie zum Teufel soll ich mein Aussehen erklären?«
»Das weiß ich nicht, Sir«, frohlockte Fitz, als er die Treppe hinuntersauste. »Aber erklären müssen Sie es – denn ich bin sicher, daß sich alle Offiziere darüber wundern werden.«
»Ein verdammter Trick«, polterte Charles. Er zog das Messer aus dem Stiefel und warf es den Davoneilenden nach. Slocum war ein wenig zurückgeblieben. Das Jagdmesser sauste an seinem Ohr vorbei und grub sich in einen Balken des Treppengeländers. Die Klinge summte, und Charles ließ eine Tirade von Flüchen über die Männer von West Point und deren Gemeinheiten vom Stapel.
Als man Charles über seinen Haarschnitt ausfragte, sagte er bloß, daß er allein dafür verantwortlich sei. Trotz Drohungen von Stabsoffizieren und Senioren ließ er sich nicht von seiner Geschichte abbringen. Seine Verschwiegenheit brachte ihm den Respekt der meisten Führer des Kadettenkorps ein – auch denjenigen von Beauty Stuart.
Es dauerte nicht lange, bis Charles Stuart zu vergöttern begann, obwohl die beiden auf den ersten Blick gesehen nicht viel gemeinsam hatten. Charles sah gut aus; Stuart war das augenfällige Gegenteil: Sein gedrungener Körper stand in scharfem Gegensatz zu seinen ungewöhnlich langen Armen. Doch mit Schneid und Charme machte er seine äußere Erscheinung mehr als wett. Seine blauen Augen strahlten fast immer Humor aus, und bei den jungen Damen, die im Hotel abstiegen, war er ungeheuer erfolgreich.
In militärischer Hinsicht hatte Charles keine Schwierigkeiten mit der Ausbildung in West Point – in schulischer Hinsicht sah es ein wenig anders aus. Die Kurse in englischer Grammatik und in Geographie waren recht einfach, um nicht zu sagen langweilig. Aber trotz der ausgezeichneten Vorbereitung von Herrn Nagel blieb Algebra ein absolutes Mysterium. Charles gesellte sich unverzüglich zu den Unsterblichen und verließ sie auch nach den Januarprüfungen nicht, bei denen er beinahe durchgefallen wäre. Auch im zweiten Semester, als er mit dem Französischstudium begann, verbesserte sich seine Lage kaum.
»Wieso zum Teufel müssen Soldaten Französisch können?« fragte er Billy bei einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich miteinander unterhalten konnten, ohne daß ihre verschiedenen Ränge sie behindert hätten. Es war an einem Samstagnachmittag im Februar, und das Wetter wurde allmählich wärmer. Sie strolchten in den Hügeln oberhalb von Fort Putnam herum. Wenn sie nordwärts blickten, konnten sie große Eisblöcke auf dem grauen Fluß treiben sehen. Vereinzelt stiegen Rauchschwaden aus den Kaminen der Steinhäuser unter ihnen in die trockene Winterluft auf. Billy, der Fausthandschuhe trug, zerbrach einen Ast und schleuderte beide Stücke fort.
»Weil eine ganze Menge militärischer und wissenschaftlicher Schriftstücke auf französisch verfaßt sind, Mr. Bison! Vielleicht mußt du eines Tages einen solchen Text übersetzen.«
»Ich nicht. Ich gehe zu den Dragonern und mache Jagd auf die Indianer.« Er blickte seinen Freund argwöhnisch an. »Ist das wirklich der Grund?«
»Wieso sollte ich dich anlügen?«
»Weil ich ein Junior bin und du ein gewiefter Rhetoriker. Das hast du ja schließlich bewiesen, als du mich dem Barbier ans Messer geliefert hast.«
Billy zog eine Grimasse.
»Ein gewiefter Rhetoriker«, wiederholte Charles genüßlich. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, stellte er sich wie ein Ankläger vor Billy hin und sagte: »Ha, ich hab’s, du heißt von nun an Rhet.«
Billy rümpfte die Nase und murrte, aber im geheimen freute er sich, denn es hatte ihn gestört, immer noch ohne Spitznamen zu sein. Zudem schien es ihm höchst angebracht, daß er von seinem besten Freund auserkoren worden war.
Gegen Ende Mai des Jahres 1854 verabschiedete der Senat die Kansas-Nebraska-Bill. Senator Douglas hatte den Gesetzesentwurf im Januar vorgelegt und damit die schwelende Sklavenkontroverse wieder einmal zum Aufflackern gebracht.
Mit dem Gesetz wurden zwei neue Territorien ins Leben gerufen. Douglas fand, es sei ein Ausdruck der Volkssouveränität; die Sklavengegner hingegen waren der Ansicht, daß es Verrat sei – eine Aufhebung des alten Missouri-Kompromisses, der die Sklaverei nördlich des 36. Breitengrades verboten hatte. Es wurde gemunkelt, daß Jefferson Davis Präsident Pierce dazu angehalten habe, das Gesetz zu unterzeichnen. Die Sklavengegner vertraten die Meinung, daß offensichtlich eine neue politische Partei notwendig sei, um die finsteren Komplotte, die in Washington geschmiedet wurden, zu bekämpfen.
In einem Brief an Charles schrieb Orry, daß der vor vier Jahren geschlossene Clay-Kompromiß – wie dies aus den Phrasendreschereien beider Seiten zu schließen sei – in Schutt und Asche liege. Charles, der nicht viel von den nationalen Problemen verstand und sich auch nicht allzu sehr dafür interessierte, fühlte sich deswegen in die Enge gedrängt, denn ab und zu schrieben Senioren wegen eines heftigen Blicks oder eines gemurmelten Protests einen Bericht über ihn und nannten sein Benehmen eine typische ›südliche Unverschämtheit‹. Südstaatler wie zum Beispiel Slocum reagierten auf ein solches Vorgehen mit grausamen Schikanen Junioren aus dem Norden gegenüber. Lee ermahnte die Kadetten immer noch, ein Bund von Brüdern zu sein, aber Charles sah, wie sich das Korps langsam in zwei feindliche Lager spaltete.
Innerhalb beider Lager gab es natürlich verschiedene Abstufungen. So vertrat Slocum das eine Extrem der Südstaatler und Beauty Stuart das andere – das heißt, wenn er sich anständig benahm und sein Temperament nicht mit ihm durchging. Charles nahm sich sowohl Stuart als auch Billy zum Vorbild, denn Billy hielt sich aus den politischen Diskussionen heraus und konzentrierte sich auf gute Noten, die er, allem Anschein nach, ohne große Mühe erzielte. Dennoch fand es Charles – in Anbetracht seiner Erziehung und der Lage der Dinge – manchmal sehr schwierig, sein Temperament zu zügeln. Während eines Anwesenheitsappells wurde er von einem verhaßten Kadettenfeldwebel aus Vermont herausgepickt. Der Yankee riß ihm unter dem Vorwand einer Inspektion drei Uniformknöpfe ab.
»Kein Wunder, daß Sie nie ordentlich aussehen, Sir«, knurrte der Yankee. »Die Nigger fehlen Ihnen hier.«
»Ich poliere meine Knöpfe selbst und kämpfe meinen Kampf selbst.«
Der Kadett aus Vermont schob den Unterkiefer vor; seine Augen funkelten in der Morgensonne.
»Was haben Sie gesagt, Sir?«
»Ich habe gesagt – « Charles erinnerte sich plötzlich an seine hundertneunzig Fehlerpunkte und daran, daß seine Juniorenzeit erst in zwei Wochen zu Ende sein würde. »Nichts, Sir.«
Der Kadettenfeldwebel stolzierte selbstgefällig weiter. Vielleicht war auch er erleichtert, denn Charles hatte den Ruf, daß er mit Jagdmesser und Fäusten ausgezeichnet umzugehen verstand.
Charles haßte es, sich von einem Yankee beleidigen zu lassen und klein beizugeben. Er verhielt sich nur so, weil er Orry eine angemessene Leistung an der Akademie schuldig war, und dies war ihm wichtiger als echte oder imaginäre Kränkungen seiner Ehre. Zumindest glaubte er das zu diesem Zeitpunkt.
Eigenartigerweise war es ein Südstaatler, der Charles zum erstenmal dazu veranlaßte, ernsthaft über die Sklaverei nachzudenken. Der Schuldige war Caleb Slocum, der nun zum Kadettenfeldwebel aufgerückt war.
Der Kadett aus Arkansas hatte ausgezeichnete Noten und befand sich in den meisten Fächern unter den Besten. Billy meinte, er sei so gut, weil er sich die Prüfungsfragen zum vornherein beschaffe und auch sonst mogle. Obwohl auf Mogeln natürlich auch strenge Strafen standen, schenkten weder die Offiziere noch die Professoren diesem Tatbestand die Aufmerksamkeit, die sie andern disziplinarischen Vergehen, wie zum Beispiel dem Trinken, widmeten.
Dies war ein weiterer Grund dafür, daß Billy Slocum verachtete. Er sagte Charles, daß er die Absicht habe, den Kadetten aus Arkansas eines Tages zu verdreschen.
Slocum verstand es meisterhaft, die Junioren zu quälen. Er trieb sich oft bei Benny Haven herum – der Besitzer lebte immer noch, er schien unsterblich – und konnte dort verschiedene Schikaniermethoden in Erfahrung bringen, die in der Vergangenheit ausprobiert und als zu gemein verworfen worden waren.
Aber für Slocum waren sie nicht zu gemein. Seine Opfer waren Junioren aus dem Norden. Als Charles die absolute Macht bemerkte, die Slocum ausübte, wurde ihm klar, daß zu Hause genau die gleichen Machtverhältnisse zwischen dem weißen Herrn und dem schwarzen Sklaven herrschten. Natürlich waren diese Verhältnisse schon immer dagewesen, aber er hatte noch nie zuvor erkannt, wie mißbräuchlich und grausam sie ausgenutzt werden konnten.
Charles fühlte sich dem Süden gegenüber unloyal, aber er vermochte einige Zweifel an der Sklaverei nicht zu unterdrücken. Tag für Tag wurde er mit ihm fremden Ideen bombardiert; es gärte in der Nation, und es gärte in der Akademie. Im stillen begann er über verschiedene Aspekte der eigentümlichen Institution der Sklaverei nachzudenken: über ihre Berechtigung und über ihre langfristige praktische Anwendbarkeit. Es fiel ihm schwer zuzugeben, daß das System völlig falsch war – schließlich war er trotz allem ein Südstaatler –, aber da so viele Leute dagegen waren, mußte irgend etwas daran falsch sein. In Anbetracht der Feindseligkeiten, die durch die Sklaverei geschaffen wurden, schien sie für den Süden eher eine Last als ein Gewinn. Manchmal war Charles sogar beinahe bereit, jenem Wahlreden haltenden Mann aus Illinois, Lincoln, zuzustimmen; er sagte nämlich, daß das Problem einzig und allein mit einer stufenweisen Emanzipation gelöst werden könne.
Obwohl er immer noch aufgewühlt war, wollte Charles unter allen Umständen Auseinandersetzungen wegen dieser Frage vermeiden. In der Nacht auf den 1. Juni aber wurde dieser Entschluß über den Haufen geworfen.
Um halb zehn nahm Charles Seife und Handtuch und ging nach unten zum Waschraum der Kaserne. Da es schon spät war, hoffte er, allein zu sein. Einmal pro Woche mußten die Kadetten ein Bad nehmen, aber sie durften dies ohne eine Sondererlaubnis von Oberst Lee nicht öfter tun.
Öllampen verbreiteten im Korridor ein schummriges Licht. Es wurde gemunkelt, daß Minister Davis demnächst ein Gaslichtsystem zu installieren gedachte. Charles eilte durch den Eingang am Getränkeladen vorbei; er wollte nicht gesehen werden. Das viele Marschieren hatte ihn erschöpft, und seine Beine schmerzten. Er lechzte danach, sich in der Badewanne auszustrecken und vor dem Zapfenstreich noch zehn oder fünfzehn Minuten lang im warmen Wasser zu dösen.
Als er sich der Doppeltür des Waschraums näherte, begann er leise zu pfeifen. Doch plötzlich hielt er inne und spitzte die Ohren. Er runzelte die Stirn. Hinter der Tür waren Stimmen zu hören; zwei verhalten, eine dritte etwas lauter.
Flehend.
Mit einem Ruck riß er die Tür auf. Verdutzt wirbelten Caleb Slocum und ein schmächtiger Klassenkamerad aus Louisiana herum. Slocum hielt in der einen Hand einen offenen Behälter, aus dem ein durchdringender Terpentingeruch aufstieg, der sich mit dem Duft von Seife und der feuchten Luft vermischte.
Der Kadett aus Louisiana hielt einen dritten jungen Mann am Nacken fest und preßte sein Gesicht in die leere Wanne. Der Junge starrte Charles aus großen, dunklen, feuchten und verängstigten Augen an. Charles erinnerte sich an ihn: ein erst am selben Tag angekommener Neuling.
»Verschwinden Sie, Sir«, sagte Slocum zu Charles. »Diese disziplinarische Angelegenheit geht Sie nichts an.«
»Disziplinarische Angelegenheit? Daß ich nicht lache! Der Bursche ist erst seit heute nachmittag hier. Er kann sich wohl noch ein oder zwei Fehler leisten!«
»Der Yankee hat uns beleidigt«, brüllte der Kadett aus Louisiana.
»Das ist nicht wahr«, protestierte der Junge in der Wanne. »Sie haben mich geschnappt, hierhergezerrt und – «
»Du sagst gar nichts«, polterte der Louisianer, packte den Neuling wieder am Nacken und drückte so stark, bis der Bursche winselte.
Slocum trat nach vorn, um Charles die Sicht zu versperren. Sein mit Pusteln übersätes Gesicht verfinsterte sich, als er sagte: »Ich sage Ihnen nur noch einmal, daß Sie gehen sollen, Sir!«
Charles schüttelte langsam den Kopf. Die mit den Wannen verbundenen Wasserleitungen strahlten Wärme aus. Er trocknete sich seine feuchten Hände am Hemdzipfel ab und sagte: »Nicht, bis ich weiß, was ihr mit ihm vorhabt.« Allerdings glaubte er es jetzt schon zu wissen.
Schnell machte er einen Schritt zur Seite und stürzte sich nach vorn, bevor Slocum reagieren konnte. Das Opfer war nackt. Es war ganz ausgemergelt und sah mit seinem nackten, leicht erhobenen Gesäß erbärmlich aus. Seine Hoden waren mit einer Schnur so stark zugeschnürt, daß sie bereits geschwollen waren.
Charles befeuchtete sich den Gaumen, der auf einmal wie ausgedörrt schien. Es wurde hier wieder einmal eine der schon früher erprobten Quälereien angewendet. Charles war gerade vor dem Abschluß des Unterfangens dazugekommen – dem Opfer sollte Terpentin in den Anus gegossen werden.
Die Galle kam ihm hoch, die Wut verschlug ihm beinahe die Sprache: »So behandelt man nicht einmal einen Hund! Laßt ihn los!«
Slocum konnte und wollte sich nicht von einem Junioren herumkommandieren lassen. »Main, ich warne Sie – «
Die Tür wurde geöffnet. Charles wirbelte herum und erblickte Frank Pratt mit einem Handtuch über dem Arm. Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht, als er die Lage überblickte. Er würgte und sah sehr wütend aus. In sanftem, aber äußerst bestimmtem Ton sagte Charles:
»Hol Billy Hazard. Ich will, daß er sieht, welche Schweinerei Slocum diesmal ausgeheckt hat.«
Frank rannte hinaus und schmetterte die Tür zu. Slocum stellte den Behälter mit dem Terpentin auf den glitschigen Boden und massierte sich dann gemächlich die Knöchel mit der linken Handfläche. »Anscheinend verstehen Sie nur eine Art von Befehl, Sir. Nun gut, ich werde mich anpassen.«
Charles hätte wegen diesem Getue beinahe losgelacht, aber er wagte es nicht, denn die zwei waren Senioren und saßen obendrein noch in der Patsche. Das machte sie gefährlich.
Der Kadett aus Louisiana ließ von dem Jungen in der Wanne ab, der nach vorn fiel und einen leisen Schrei ausstieß. Slocum massierte sich immer noch melodramatisch die Hand. Sein Kamerad packte ihn am Arm.
»Laß dich nicht mit ihm ein, Slocum. Du kennst seinen Ruf. Es fehlen ihm bloß noch zehn Minuspunkte, und er wird entlassen. Wenn wir einen Rapport schreiben, sind wir ihn los.«
Die Idee überzeugte den Kadetten aus Arkansas, der sich im Grunde nicht mit jemandem, der so groß und stark wie Charles war, auf einen Kampf einlassen wollte. Slocum rieb sich immer noch die Hand und sagte, ohne sich direkt an jemanden zu wenden: »Der verdammte Idiot sollte sowieso auf unserer Seite stehen. Wir kommen alle aus dem gleichen Teil – «
Die Tür wurde geöffnet. Frank und Billy kamen herein. Billy schlug die Tür zu. Als er sah, was los war, explodierte er.
»Mein Gott! Sir« – er zeigte auf den zusammengekauerten Burschen – »ziehen Sie sich an und gehen Sie auf Ihr Zimmer.«
»J-ja, Sir.« Der Neuankömmling tastete zaghaft über den Badewannenrand nach seinen Kleidern, aber sie waren weit weg. Charles kickte sie ihm zu. Slocum starrte Billy feindselig an.
»Kommen Sie nicht hier herein, um Befehle zu erteilen, Sir. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Vorgesetzter bin, und – «
Billy unterbrach ihn. »Zum Teufel damit! Sie glauben wohl, West Point sei Ihre Plantage und jeder Junior ein Nigger, den Sie mißhandeln können. Sie verdammter Sklavenhalter!«
»Komm, laß das, Rhet«, schrie Charles. »Diese Art von Gerede ist wirklich unnötig.«
Aber sein Freund schäumte vor Wut. »Wenn du auf seiner Seite stehst, dann sag es doch gleich.«
»Du verdammter – «
Charles’ Schrei widerhallte im feuchten Raum, und seine Faust schnellte nach vorn, bevor er wußte, was er tat. Er vermochte gerade noch den Schlag zu bremsen.
Billy war schon einen Schritt zurückgesprungen und hatte die Fäuste erhoben, um den Schlag abzuwehren. Er war nicht weniger verblüfft als Charles.
Charles fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Nur wegen ein paar Worten, die er nicht als Individuum, sondern als Südstaatler aufgefaßt hatte, war er bereit gewesen, einen Streit vom Zaun zu brechen. Er hatte genau wie Whitney Smith und die ganze Bande reagiert.
Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund: »Rhet, es tut mir leid.«
»Schon gut.« Billys Ton war nicht gerade freundlich.
»Slocum ist derjenige, den wir – «
»Schon gut, sagte ich!«
Billy starrte seinem Freund einen kurzen Augenblick wütend in die Augen, dann beruhigte er sich etwas. Er machte eine Kopfbewegung Richtung Tür.
»Alle raus – außer dir, Slocum. Deine Art von Disziplinierung wird in dieser Gegend nicht geschätzt. Es ist an der Zeit, daß dir das jemand klarmacht.«
Besorgt sagte Frank Pratt: »Billy, du wirst die Hälfte des Korps gegen dich haben, wenn du das machst.«
»Glaub’ ich nicht. Aber ich geh’ das Risiko ein. Raus hier!«
»Ich steh’ draußen Wache«, sagte Charles. »Es wird dich niemand stören.«
Charles hatte ein Angebot gemacht, das vom Korps verstanden würde: Ein Nordstaatler, der sich mit Slocum befaßte, und ein Südstaatler, der Wache stand, waren der Beweis dafür, daß Slocums Benehmen und nicht sein Geburtsort die Ursache des Kampfes war.
»Beeil dich«, sagte Charles zum Neuankömmling, der große Mühe hatte, sein zerknittertes Hemd überzuziehen. »Zieh deine Schuhe draußen an.«
Der Junge verließ den Raum, gefolgt von Frank Pratt. Charles starrte den Kadetten aus Louisiana an. »Sieht so aus, als müßte ich Sie raustragen.«
»Nein – nein!« Der Mann aus Louisiana flüchtete wie eine Krabbe seitwärts. Erst in der Halle drehte er sich um und rannte wie der Teufel.
Charles spähte den düsteren Korridor hinunter, in dem sich niemand außer Frank Pratt befand, der bei der Treppe kauerte und ängstlich nach oben starrte. Der Mann, der den Getränkeladen bediente, kam heraus, schloß die Tür ab, bemerkte Charles und Frank und stieg dann ohne ein Wort zu sagen die Treppe hoch.
Charles lehnte sich gegen die Doppeltür, er war immer noch von den Ereignissen aufgewühlt. Aus weiter Ferne vernahm er die ersten Töne des Zapfenstreichs. Vom Waschraum her kam ein leiser Angstschrei und gleich danach der erste Schlag einer Faust.
Zehn Minuten später kam Billy heraus. Außer den Blutspritzern auf seinem Hemd und den kleinen Blutergüssen auf dem Handrücken war ihm nichts anzumerken.
Nein, das stimmte nicht ganz, wie Charles feststellte. Die Augen strahlten eine gewisse Unruhe aus. »Kann er noch gehen?« fragte Charles.
»Ja, aber es wird ihm für eine Weile nicht danach zumute sein.« Ihre Blicke trafen sich, aber Billy schaute weg. »Ich befürchte, daß ich zu großen Gefallen daran gefunden habe.«
Von der Treppe her bedeutete Frank Pratt ihnen, sich zu beeilen. Sie würden sich alle Minuspunkte einhandeln, wenn der inspizierende Offizier vor ihrer Tür »Alles in Ordnung?« riefe und keine Antwort erhielte.
Aber Charles war das egal. Er dachte über Billys Bemerkung nach. Hatte Billy Slocum so durchgeprügelt, weil dieser ein Südstaatler war? Sie gesellten sich zu Frank, der angstvoll fragte: »Was wird passieren, wenn Slocum darüber redet?«
Als sie die Treppe hinaufstiegen, sagte Billy: »Ich habe ihm klarzumachen versucht, dies besser zu unterlassen. Ich glaube, er weiß, daß ich ihm – sollte unsere kleine Sitzung in irgendeinem offiziellen Bericht auftauchen – vor meiner Entlassung nochmals einen Besuch abstatten werde; und seinem Genossen aus Louisiana ebenfalls.«
Frank fuhr fort: »Du könntest ja auch formell Klage gegen ihn einreichen, wegen Mißhandlung dieses Neuen – «
Billy schüttelte den Kopf. »Wenn ich das täte, würde man Slocum als Helden betrachten und mich als einen rachsüchtigen Yankee. Die Spannung ist hier schon groß genug. Ich bin der Ansicht, daß wir es dabei bewenden lassen sollten.«
Schweigend trotteten sie die düstere Treppe hinauf. Charles quälten Zweifel an sich selbst wie auch an Billy. Sie konnten beide nicht abstreiten, daß nun auch sie von der Krankheit befallen worden waren, die das ganze Land erfaßt hatte, und noch im selben Augenblick beschloß er, daß es auf keinen Fall schlimmer werden durfte.
Bald darauf verließen die Senioren die Akademie. Unter den Absolventen befanden sich Stuart, der Neffe des Superintendenten, und ein Bursche aus Maine namens Ollie O. Howard, dem Charles eine noch praktisch neue Wolldecke abkaufte. Billy packte für seinen Urlaub.
Die ganze Akademie redete über die Änderungen, die im Herbst eingeführt werden sollten. Fast zehn Jahre lang hatte das Direktorium davon gesprochen, die Studienzeit auf fünf Jahre zu erhöhen, und Minister Davis hatte es endlich geschafft, die Änderung durchzusetzen. Die Hälfte der Neuen würde gemäß dem neuen Programm ausgebildet, während die andere Hälfte noch einmal den Vierjahreskurs absolvieren würde. Die Teilung wurde deshalb vorgenommen, weil es kein Jahr ohne Absolventen geben sollte.
Das fünfjährige Studium sollte die von vielen angeprangerte einseitige Ausrichtung auf Mathematik, Wissenschaft und Technik ändern. In Zukunft würden auch Englisch, Geschichte, Rhetorik und Spanisch zu den Studienfächern gehören.
»Was zum Teufel soll ich mit noch einer Sprache?« beklagte sich Charles. »Ich hab’ schon mit Französisch genug Schwierigkeiten.«
»Durch den Krieg haben wir viele neue Territorien gewonnen – und dort sprechen viele Leute Spanisch. Das wird wohl der Grund dafür sein.« Billy schloß den Koffer, streckte sich und ging ans Fenster.
»Die Dragoner«, sagte Charles, »treiben keine Konversation mit den Mex’, sie knallen sie ab.«
Billy sah ihn schief an. »Ich glaube nicht, daß die Mexikaner das lustig finden würden.« Mit einem Achselzucken gab Charles seinem Freund zu verstehen, daß er recht hatte, aber Billy bemerkte es nicht; die Hände auf dem Fenstersims, starrte er einer bekannten Gestalt nach, die über die Ebene hinkte. Zufälligerweise bemerkte der Kadett, daß Billy am Fenster stand, und schaute weg.
»Slocum«, sagte Billy trocken.
Charles trat zu Billy. »Er kann schon wieder besser gehen.«
Der Kadett aus Arkansas hinkte davon. Charles wandte sich vom Fenster ab. Schon seit Tagen plagten ihn Schuldgefühle. Doch heute, da er seinen Freund erst im September wiedersehen würde, war seine letzte Chance, mit Billy darüber zu reden.
»Ich fühle mich elend wegen jenes Abends. Nicht wegen Slocum, sondern wegen dem, was ich dir beinahe angetan hätte.«
Billys abwehrende Handbewegung erleichterte Charles ungemein. »Ich war genauso schuld daran«, sagte Billy. »Ich finde, es war für uns beide eine gute Lektion. Soll doch der Rest des Korps sich prügeln! Wir sollten und werden dies nicht tun.«
»Du hast vollkommen recht.« Charles freute sich über Billys Zusicherung, aber er hatte das Gefühl, daß es sich eher um Wunschdenken handelte.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Charles zupfte sich einen Strohhalm von der Hose. Der Wunsch, sich mitzuteilen, war übermächtig.
»Ich muß dir noch etwas sagen. Die meiste Zeit über hier hasse ich es, ein Südstaatler zu sein, denn es bedeutet schließlich, akademisch minderwertig zu sein – nein, nein, du kannst es ruhig zugeben, ihr Yankeeburschen stecht uns doch immer aus. Dafür haben wir bessere Nerven und sind zäher.«
»Auch wenn das stimmen würde – was ich zwar nicht glaube –, so sind genau dies die Eigenschaften eines guten Soldaten.«
Charles überhörte das Kompliment. »Als Südstaatler fühlt man sich hier automatisch zweitrangig. Man schämt sich seiner Herkunft. Man ist wütend, weil der Rest des Korps sich so selbstgerecht gibt« – er streckte das Kinn vor –, »was, verdammt noch mal, nicht stimmt.«
»Ich habe das Gefühl, daß Selbstgefälligkeit eine Yankee-Krankheit ist, Bison.«
Ein Lächeln entkräftete den Trotz in Charles’ Blick ein bißchen. »Ich glaube, nur ein Südstaatler kann verstehen, was ich eben gesagt habe. Ich meine, wirklich verstehen. Aber ich danke dir, daß du zugehört hast.« Er streckte Billy die Hand hin. »Freunde?«
»Klar. Für immer.« Ihr Handschlag war fest und kraftvoll.
Vom Norddock her war ein Pfiff zu hören. Billy nahm seinen Koffer und stürzte zur Tür. »Wenn du Brett schreibst, sag ihr, daß ich sie vermisse.«
»Schreib doch selber!« Charles’ Augen funkelten. »Ich glaube, sie kommt hierher zu Besuch, wenn du zurück bist.«
Billy blieb die Luft weg. »Wenn du einen Witz machen solltest – «
»Ich würde mich nie über dich lustig machen. Nicht, nachdem ich gesehen habe, wie du Slocum vermöbelt hast.« Charles nahm seine französische Grammatik vom Regal, öffnete das Buch und entnahm ihm einen zusammengefalteten Brief. »Ich hab’ ihn erst heute morgen von Brett bekommen. Sie schreibt, sie wolle dich in einem«, er suchte das Wort, »günstigen Moment überraschen. Verstehst du das?«
»Na klar.« Billy tanzte mit dem Koffer in der Hand herum. Zwei Kadetten, die draußen vorbeigingen, lachten. »Und wer wird die Anstandsdame spielen?«
»Orry. Er nimmt Ashton auch mit; sie bekäme sonst einen Wutanfall.«
Doch dies vermochte Billys Freude nicht zu trüben. Singend hüpfte er die Treppe hinunter, und Charles sah ihm zu, wie er völlig unmilitärisch über die Ebene raste und einigen Professoren übermütig salutierte.
Charles fühlte sich eine volle halbe Stunde lang wohl. Dann hörte er vier Kadetten im Nebenzimmer lauthals über Kansas diskutieren. Eine Erklärung, ein Handschlag mochten wohl die Spannungen zwischen Freunden lindern, aber sie würden niemals die Probleme lösen, von denen das Land beherrscht wurde. Und schon gar nicht, solange immer noch einige Südstaatler diese Probleme in Abrede stellten.
Zum Teufel noch mal, dachte er, welch höllisches Durcheinander.
Superintendent Lee und ein jüngerer Offizier schlenderten gemütlich zum Westende der Ebene. Eine große Anzahl von Hotelgästen waren mit einigen Kindern herbeigekommen, um den Vorführungen der Reiter beizuwohnen. Der jüngere Offizier hatte die Übung nach draußen verlegt, da es in der Reithalle zu heiß war. Es war Samstag nachmittag; die umliegenden Hügel schimmerten im Dunst der Julihitze. Doch die Hitze schien weder den Applaus der Zuschauer zu schmälern, noch konnte sie dem Enthusiasmus, mit dem die Kadetten ihre Übungen vorführten, etwas anhaben. Einige von ihnen zeigten die korrekte Art des Sattelns und Zäumens sowie des Auf- und Absteigens. Andere ritten in den verschiedenen Gangarten oder sprangen über einige Strohballen. Eine ausgewählte Gruppe von Senioren griff im Galopp Strohpuppen an und hieb im Vorbeireiten mit dem Säbel auf sie ein.
Der jüngere Offizier beobachtete die ganze Szene kritisch. Er trug eine Dienstmütze mit einer orangefarbenen Quaste und einem Emblem – gekreuzte Säbel mit der Nummer zwei in oberen Winkel. Leutnant Hawes vom Zweiten Dragonerregiment erteilte den Reitunterricht. Vor einem Jahr hatte er einen schon lange überfälligen Instruktionskurs in Kavalleriestrategie eingeführt – eine Neuerung für die Akademie.
»Beeindruckend«, sagte Lee und erhob seine Stimme über den Lärm der trottenden Hufe. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Leutnant.«
»Vielen Dank, Sir.« Hawes zeigte auf einen dunkelhaarigen, gutaussehenden Reiter, der seinen Fuchs gekonnt führte; es schien, als würden Roß und Reiter über die Heuballen fliegen. »Er ist der beste Reiter des Kadettenkorps. Eigentlich sollte er die Vorführungen nicht mit den anderen bestreiten; er ist nämlich erst in der dritten Klasse. Aber er ist das ganze Jahr hindurch in jeder freien Minute in die Reithalle gekommen. Wenn er diesen Herbst mit der Reitausbildung beginnt, werde ich ihm kaum noch etwas beibringen können. Ich lasse ihn gern mit den andern Burschen reiten, weil das ein Ansporn für sie ist.«
Der Kadett, über den gerade diskutiert wurde, sprang über einen weiteren Ballen und landete mit einer natürlichen Anmut auf seinem Grimsley-Dienstsattel. Lee betrachtete sein dunkles, wehendes Haar und sein Profil und dachte einen Augenblick nach.
»Er kommt aus South Carolina, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Sein Name ist Main.«
»Ah ja. Ein Vetter von ihm war vor ungefähr zehn Jahren hier. Der Junge macht einen guten Eindruck.«
Leutnant Hawes nickte begeistert. »Ungefähr der gleiche Schlag wie Stuart – nur, daß er besser aussieht.«
Beide lachten. Dann fuhr Hawes fort: »Ich bin sicher, daß er nach seinem Abschluß zu den Dragonern oder den Kavalleriejägern eingeteilt wird.«
»Oder vielleicht zu einem dieser neuen Reiterregimenter, die der Minister bilden will.«
»Mains Noten werden ihm keine Wahl lassen«, bemerkte Hawes. »Aber im militärischen Unterricht ist er ausgezeichnet. Die Idee, daß ein Mann kämpfen kann und dafür bezahlt wird, scheint ihn sehr zu beeindrucken.«
»Das wird vorbeigehen, wenn er zum erstenmal ein Schlachtfeld sieht.«
»Ja, Sir. Aber ich hoffe auf jeden Fall, daß er die Abschlußprüfung schaffen wird. Er ist ein Draufgänger, eine weitere Ähnlichkeit mit Stuart.«
»Dann wird er überall eingesetzt werden können.«
Hawes schwieg, aber er war einverstanden. Er wußte, warum er die Tortur, Hunderte von unfähigen Burschen auszubilden, aushalten konnte; Burschen, die nie in der Lage sein würden, auf etwas unruhigerem als einem Schaukelstuhl zu sitzen. Aber er hielt durch in der Hoffnung, einen überdurchschnittlich begabten Schüler zu finden. Dieses Jahr war er erfolgreich gewesen.
Beide Offiziere betrachteten Charles, wie er mit einem breiten Lächeln über den letzten Ballen sprang. Für einen Augenblick schienen Roß und Reiter zentaurenähnlich im schwülen Himmel zu schweben.
37
An einem Freitag im September traf Orry mit den beiden Schwestern im Hotel ein; sie kamen gerade rechtzeitig zur Abendparade. Als Brett Billy sah, klatschte sie entzückt in die Hände: Er hatte neue Rangabzeichen.
Wie sie später herausfand, war er zum ersten Kompaniefeldwebel ernannt worden. Er hatte Brett die Neuigkeit verschwiegen – es sollte eine Überraschung sein.
Ashton entging der erfreute Ausdruck ihrer Schwester nicht. Haß stieg in ihr hoch – und auch eine unerwartete Reaktion beim Anblick von Billy Hazard. Eine Welle des Verlangens durchflutete sie, die sie jedoch mit Willensanstrengung unterdrückte. Billy hatte sie verlassen, und er würde dafür büßen.
Aber sie wollte nicht, daß er anfing, sich vor ihr in acht zu nehmen – weder jetzt noch in Zukunft. Ihr von der Sonne bestrahltes Gesicht zeigte keinerlei Regung, und sie behielt unentwegt ihr charmantes Lächeln bei. Kurz darauf bemerkte sie, daß zwei Gentlemen des Hotels sie beobachteten, und sie fühlte sich sofort wesentlich besser. Ihrer kleinen, farblosen Schwester zollte man keinerlei Aufmerksamkeit – zumindest nicht solcher Art.
Billy Hazard war schließlich nicht der einzige Mann auf Erden. Vor ihren Augen marschierten gerade mehrere hundert in genauen Formationen. Sicher waren einige davon gewillt, ihren Aufenthalt hier zu versüßen. Da James auf eine Heirat drängte, war dies vielleicht die letzte Gelegenheit, sich noch mal richtig auszutoben.
Sie betrachtete die starken, strammen Beine der marschierenden Kadetten. Mit der Zungenspitze befeuchtete sie ihre Oberlippe. Ihre Leistengegend fühlte sich warm und feucht an. Sie wußte, daß sie eine wundervolle Zeit in West Point verleben würde.
Für Orry war die Parade ein stark gefühlsbetontes Erlebnis. Es tat gut, die Trommeln, Pfeifen und Hörner wieder zu hören. Die wehenden Flaggen und die in herbstliches Gold und Karmin getauchten Hügel im Hintergrund brachten lebhafte Erinnerungen und vergessene Gedanken zurück. Und als er Charles erspähte, der zwischen den größeren Kadetten in einer Kompanie am Flügel marschierte, war er ungemein stolz.
Am nächsten Tag lud Billy Orry und die Mädchen ein, sich seinen Fechtunterricht anzuschauen. Ashton schützte Kopfschmerzen vor und blieb auf der Veranda des Hotels. Brett und ihr Bruder saßen während einer Stunde auf einer harten Bank und schauten zu, wie Billy und ein Dutzend andere Kadetten mit verschiedenen Fechtwaffen übten: breite Schwerter aus Nußbaum für die Anfänger, Florette oder, wie zum Beispiel Billy und sein Gegner, leichte Säbel.
De Jaman, der Fechtmeister, gesellte sich zu den Besuchern. Billy verwirrte seinen Gegner mit Täuschungsmanövern, Stößen und Ausfällen. »Der Bursche ist außerordentlich talentiert für diesen Sport«, sagte der Franzose mit der Begeisterung eines stolzen Vaters. »Aber die meisten Kadetten, die sich beim Studium auszeichnen, sind begabt, denn Fechten ist hauptsächlich von der Intelligenz abhängig.«
»Ja, das stimmt«, sagte Orry und erinnerte sich, daß er in dieser Disziplin nicht besonders gut gewesen war.
Billy beendete den Kampf mit einem einfachen Ausfall, indem er den Schutzknopf seines Säbels genau in die Treffläche der gepolsterten Jacke seines Gegners bohrte. Nach dem Stoß grüßte er seinen Gegner, riß die Maske vom Kopf und drehte sich grinsend zu Brett um. Sie war aufgesprungen und applaudierte ihm.
Orry strahlte. Dann bemerkte er das Gesicht von Billys Gegner. Unter dem rechten Auge des Burschen war ein blauer Halbmond zu sehen. »Woher hat er diese Prellung?« fragte Orry, als Billy zu ihnen trat.
Billy versuchte ein Lächeln aufzusetzen. »Soviel ich weiß, hatte er eine Diskussion mit einem seiner Zimmergenossen.«
»Was für eine Diskussion?« wollte Brett wissen.
»Ich glaube, es hatte irgend was mit Senator Douglas zu tun. Mein Gegner kommt aus Alabama und – « er sprach den Satz nicht zu Ende.
Beunruhigt fragte Orry: »Passieren solche Sachen häufig hier?«
»O nein, äußerst selten«, antwortete Billy viel zu hastig. Ihre Blicke trafen sich. Beide wußten, daß sich der andere über die Lüge im klaren war.
An diesem Abend machte sich Orry nach Buttermilk Falls auf, um Benny Haven den ersten nicht verbotenen Besuch abzustatten. Billy nahm Brett, nachdem er Orry um Erlaubnis gefragt hatte, auf den ›Liebespfad‹ mit.
Schemenhaft glitten Paare auf dem in der Dunkelheit versinkenden Pfad an ihnen vorbei. Durch die Blätter der herunterhängenden Äste waren die im Osten dahingleitenden Wolken im letzten Sonnenlicht zu sehen. Unten auf dem Fluß bewegte sich das Albany-Nachtschiff wie ein Glühwürmchen.
Brett trug ihr reich besticktes Spenzerjäckchen mit dazu passenden Handschuhen – was, wie sie bemerkt hatte, im Norden nicht mehr in Mode war. Billy fand sie die entzückendste Gestalt, die er je gesehen hatte:
»Mademoiselle, vous êtes absolument ravissante.«
Sie lachte und ergriff seinen Arm. »Das muß ein Kompliment sein. Es tönt so schön, daß es gar nichts anderes sein kann. Was bedeutet es?«
Sie waren neben einer der Bänke, die es in den verschiedenen Winkeln entlang des Pfades gab, stehengeblieben.
»Es bedeutet, daß ich endlich eine praktische Verwendung für all die unendlich langen Französischstunden gefunden habe.«
Sie lachte erneut. Er beugte sich vor und küßte sie sanft auf den Mund.
»Es bedeutet, daß ich dich schön finde.«
Der Kuß verwirrte sie, obwohl sie sich schon lange danach gesehnt hatte. Ihr fiel nichts ein, das sie hätte sagen können. Sie befürchtete, daß er lachen würde, wenn sie das Wort Liebe aussprechen würde. Verunsichert stellte sie sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn von neuem – diesmal kräftig. Sie sanken händehaltend auf die Bank.
»Mein Gott, bin ich froh, daß du hier bist, Brett. Ich glaubte, der Urlaub würde nie zu Ende gehen.«
»Du bist sicher gern nach Hause gegangen.«
»O ja. Ich war froh, wieder in Lehigh Station zu sein, aber doch weniger, als ich es mir vorgestellt hatte. Alle waren dort – außer der Person, die mir am meisten am Herzen liegt. Die Tage zogen sich dahin, und gegen das Ende konnte ich es kaum noch erwarten, zu packen und zu gehen. George verstand mich, nicht aber meine Mutter. Ich glaube, daß ich sie mit meiner Langeweile verletzt habe. Es tat mir leid, und ich versuchte, meine Gefühle zu verbergen, aber – aber ich hab’ dich so vermißt.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte sie leise: »Auch ich hab’ dich vermißt, Billy.« Er drückte ihre Hand noch stärker. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie einsam ich das ganze Jahr über gewesen bin. Meine Tage bestanden nur noch aus dem Warten auf deine Briefe. Ich glaube nicht, daß du hier überhaupt Zeit hast, einsam zu sein. Dein Stundenplan ist ja unheimlich vollgestopft. Es hat mich gefreut, daß ich deine Freunde kennenlernen konnte, aber einige von ihnen haben mich, als ich das erste Mal den Mund geöffnet habe, schief angeschaut.«
»Dein Akzent hat ihnen gefallen.«
»Hat er ihnen gefallen oder hat er sie abgestoßen?« Einige Kadetten – Yankees, wie sie vermutete – hatten sie mit unverhohlener Gehässigkeit angestarrt.
Er gab keine Antwort, denn er war sich der Ablehnung, ja sogar offenen Feindseligkeit bewußt, die einige Nordstaatler den gelegentlichen Besucherinnen aus dem Süden entgegenbrachten. Die Tatsache, daß Brett und er nicht die gleiche Herkunft hatten, warf einige praktische Probleme für die Zukunft auf, Probleme, mit denen er sich jetzt nicht herumschlagen wollte, die er aber auch nicht ewig auf die Seite schieben konnte. Und hier war nicht der Ort, um darüber zu sprechen. Er schob den Säbelgurt zur Seite, langte in die Tasche und zog das Stück schwarzen Samts hervor, das er von seiner Urlaubsmütze abgetrennt hatte. Er drehte es zwischen den Fingern, als er die damit verbundene Tradition erklärte, und sagte abschließend:
»Aber ich konnte es diesen Sommer, als ich nach Hause ging, meinem Mädchen nicht geben, denn es war in South Carolina.«
Er drückte ihr das Samtband in die Hand. Sie strich über die Goldstickereien und flüsterte: »Vielen Dank.«
»Ich hoffe«, er schluckte leer, »ich hoffe, daß du immer mein Mädchen bleiben wirst.«
»Ja, Billy. Immer.«
Ein Kadett, der mit seiner Begleiterin in der Dunkelheit an ihnen vorbeiging, stieß ein zynisches Lachen aus, als er das Gespräch hörte. Aber Brett und Billy nahmen nichts wahr: Sie saßen eng umschlungen da und küßten sich.
Kurz darauf schlenderten sie wieder zum steilen Abhang zurück. Billy hatte noch nie eine solch vollkommene Nacht erlebt, und noch nie war er so sicher gewesen, daß die Zukunft genauso vollkommen sein würde.
Schemenhafte Gestalten zeichneten sich in der Dunkelheit ab; ein Kadettenleutnant mit einem Mädchen am Arm. Der Kadett – er kam aus Michigan – war noch nie besonders freundlich mit Billy gewesen. Nun, da er mit seiner Gefährtin über den Liebespfad ging, redete er so laut, daß Brett ihn hören mußte.
»Das ist sie. Glaubst du, daß ein Mädchen aus dem Süden ihrem Yankee-Liebhaber beibringt, wie man die Nigger mißhandelt? Nur für den Fall, daß er in die Familie hineinheiratet?«
Das Mädchen kicherte. Billy wollte sich auf ihn stürzen, aber Brett hielt ihn zurück.
»Laß doch, es lohnt sich nicht.«
Das Paar verschwand. Billy schäumte vor Wut und entschuldigte sich dann bei Brett für das Verhalten des Leutnants, aber sie versicherte ihm, daß sie schon Schlimmeres erlebt habe. Dennoch war die Stimmung nicht mehr dieselbe. Die beleidigende Bemerkung zeigte ihm, daß sie beide – wenn er sie heiraten würde – der Wut der bigotten Leute ihres Landesteils ausgesetzt sein würden.
Sein Bruder George hatte natürlich gleiche Beleidigungen über sich ergehen lassen müssen, als er Constance aus Texas brachte. Aber er war mit der Situation fertig geworden. Und wenn es ein Hazard geschafft hatte, so würde auch er es können.
»Law, was ist das für ein stinkiger Ort?« flüsterte Ashton, als der Yankee-Senior das Schlüsselloch zu finden versuchte, was in der Dunkelheit nicht so einfach war.
»Delafields Pfefferdose«, sagte der Senior undeutlich. Anscheinend hatte er recht viel getrunken, bevor er sie aus dem Hotel gelotst hatte, aber es war ihr gleichgültig. Vielleicht würde er sie um so besser befriedigen. Sein Verstand war eher langsam, aber seine Schultern sehr kräftig. Nicht nur die Schultern, hoffte sie.
»Es ist das Ordonnanzlaboratorium«, fuhr er fort und fand endlich das Schlüsselloch. Es roch nach Pech, Paste und Schwefel. »Die Senioren müssen hier unten arbeiten. Wir mischen Pülverchen, nehmen Gestein auseinander – «
»Wie bist du zum Schlüssel gekommen?«
»Hab’ ihn von einem Kadetten gekauft, der im letzten Juni abgeschlossen hat. Kommst du nicht rein? Wolltest du nicht…?«
Er war nicht genug betrunken, um den Satz zu beenden.
»Ja, das hab’ ich gesagt, aber ich wußte doch nicht, daß du mich an einen derart stinkenden Ort führen würdest.«
Als sie in der Tür stand, zögerte sie. Über ihr verdeckte einer der schloßartigen Türme die Sterne am herbstlichen Abendhimmel. Das Gebäude stand einsam unterhalb des nördlichen Rands der Ebene.
Aus dem dunklen Zimmer heraus ergriff der schweratmende Kadett ihre Hand. »Komm herein, und ich werde dir ein Andenken geben. Alle Mädchen, die im Hotel übernachten, wollen ein West-Point-Andenken.«
Er schlurfte zu ihr, lehnte sich an den Türrahmen und fingerte an einem der Messingknöpfe seines Mantels herum, die sich Ashton zuvor genau angesehen hatte. Kadett stand oben, U.S.M.A. unten und in der Mitte waren ein Adler und ein Schild zu sehen.
Sie zögerte immer noch. Der Gestank des Laboratoriums war überwältigend, aber ihr Verlangen, das sie schon seit Wochen verspürte, ebenfalls.
»Willst du sagen, daß du mir einen Knopf gibst, wenn ich mit dir ‘reinkomme?«
Er schnippte mit den Fingern gegen einen der Knöpfe. »Du hast freie Wahl.«
»Nun – einverstanden.« Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Aber ich hab’ nicht diese Knöpfe gemeint«, fuhr sie fort, als sie ihm ihre Hand auf den Unterleib legte.
Später flüsterte er in der Dunkelheit. »Wie fühlst du dich?«
»Als hätte ich noch fast nichts bekommen, Liebling.«
Hörbares Schlucken. »Ich hab’ ein paar Freunde. Ich könnte sie holen. Sie wären unheimlich dankbar. Bis ich wieder zurück bin, bin ich so weit, daß ich ein zweites Mal zur Quelle gehen könnte.«
Ashton lag da und ruhte sich aus, ihr Unterarm über den Augen.
»Hol sie, Liebling. So viele, wie du willst, aber laß mich nicht zulange warten! Und stell klar, daß jeder, der kommt, mir auch ein Andenken geben will!«
»Ich sage dir, ich hab’ es mit eigenen Augen gesehen«, sagte ein Kadett aus New Jersey, den Billy recht gut kannte. Vor drei Tagen waren die Mains nach New York aufgebrochen. Der Kadett zeichnete mit dem Zeigefinger einen Umfang von fünf Zentimetern in die Luft. »Die Schachtel war ungefähr so groß. Darin hatte sie die Knöpfe von allen, denen sie ihre Gunst erwiesen hat.«
»Wie viele Knöpfe waren drin?«
»Sieben.«
Billy starrte ihn völlig entgeistert an. »In eineinhalb Stunden?«
»Vielleicht sogar weniger.«
»Waren Südstaatler darunter?«
»Kein einziger. Es scheint, daß einige Yankees ihre Vorurteile den Südstaatlern gegenüber recht schnell abbauen können.«
»Sieben. Ich kann’s nicht glauben. Wenn Bison das hört, wird er von einer blinden Wut gepackt werden.«
»Und das schwache Geschlecht verteidigen?«
»Ja genau«, sagte Billy. »Schließlich ist sie seine Kusine.«
»Aber es hat sie ja niemand dazu gezwungen«, entgegnete der Kadett hastig. »Ich möchte behaupten, daß es in Tat und Wahrheit genau umgekehrt war. Und überhaupt – ich glaube nicht, daß es Bison zu Ohren kommen wird.«
»Wieso nicht?«
»Die Dame behauptete, daß sie in weniger als sechs Monaten wieder hier sein werde. Falls auch nur einer der sieben in der Zwischenzeit etwas ausplaudere – ihren Namen oder sonst etwas –, würde er die Hölle auf Erden erleben.«
»Die Hölle auf Erden? Hat sie noch mehr gesagt?«
»Nein. Vielleicht glaubte ihr keiner, aber alle tun wenigstens, als ob. Ich hab’ das Gefühl, sie wollen sie alle wiedersehen«, sagte er mit einem genießerischen, aber merkwürdig nervösen Lächeln. »Oder vielleicht wollen sie Mains Jagdmesser nicht zu nahe kommen.«
Billy vermutete, daß Ashton die sieben Kadetten hinters Licht geführt hatte. Er wußte nichts von einem zweiten Besuch der Schwestern. Dann merkte er plötzlich, daß er das Nächstliegende – gerade vor seiner Nase – übersehen hatte: den grinsenden Kadetten.
»Moment mal. Wenn alle dichthalten, wieso weißt du denn Bescheid?«
Der Kadett grinste noch breiter, ein Augenzwinkern verriet unzüchtige Gedanken, doch seine Nervosität blieb. »Ich war die Nummer sieben. Aber das beste kommt noch: Sie wollte von uns allen, die sie – äh – mit unserer Großzügigkeit beehrten, keine Mantelknöpfe.«
Billy fühlte sich elend. »Was wollte sie?«
»Hosenknöpfe!«
Er wurde leichenblaß und konnte nur stammeln: »Warum erzählst du mir das alles?«
»Freundschaftsdienst.« Es tönte zwar falsch, aber Billy blieb ruhig. »Zudem hab’ ich gesehn, wie du der andern Schwester den Hof gemacht hast, und ich fand, du solltest es wissen. Du hast die bessere ausgewählt – auf jeden Fall vom Standpunkt des Gentlemans.« Er zwinkerte. Billy nahm kaum Notiz davon und blieb todernst.
»Allmächtiger! Sieben Hosenknöpfe! Bison darf das nie erfahren.«
Der Kadett lächelte nicht mehr. »Deshalb bin ich zu dir gekommen, Hazard. Es war mir ernst mit dem, was ich über Bison und sein Jagdmesser gesagt habe. Ich bin kein Feigling, aber vor ihm hab’ ich Angst. Und die andern sechs auch. Es wird weder Prahlerei noch Geschwätz geben. Verlaß dich drauf.«
Nachdem Billy wieder allein war und sich vom ersten Schreck erholt hatte, dachte er über die Worte des Kadetten nach. Plötzlich wurde ihm klar, welch großes Glück es für ihn gewesen war, die Verbindung mit Bretts Schwester rechtzeitig abzubrechen. Er wußte nicht, was er über sie denken sollte, er wußte nur, daß irgend etwas mit ihr nicht stimmte. Wie gut, daß sie nicht mehr an ihm interessiert war. Während ihres ganzen Aufenthalts hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen und so getan, als existiere er nicht. Gott sei Dank, sie hatte ihn vergessen.
38
Virgilia zog den zerschlissenen Schal enger um die Schultern und befestigte ihn mit einer Nadel. Dann rührte sie wieder im Haferschleim auf dem kleinen Eisenherd, dessen viertes Bein fehlte und durch kaputte Ziegelsteine ersetzt worden war.
Ein Novembersturm bedeckte die Blechdächer der umliegenden Hütten mit einem wohltuenden Schneemantel. Schnee füllte auch die Furchen im gefrorenen Schlamm auf der Gasse. Der schneidende Wind rüttelte an den mit Wachspapier verhängten Fenstern und wehte Schneeflocken durch die Löcher in der Wand, an der ein Stich von Frederick Douglass hing.
Grady saß an einem wackligen Tisch. Sein verwaschenes blaues Flanellhemd war bis an den Hals zugeknöpft. Er hatte ungefähr fünfzehn Kilo abgenommen und sah nicht mehr gesund aus. Wenn er lächelte – was in letzter Zeit selten vorkam –, waren perfekte, handgefertigte und richtig eingesetzte Oberzähne zu sehen. Nur ein leicht gelblicher Schimmer deutete darauf hin, daß sie künstlich waren.
Grady gegenüber saß ein Besucher – ein schlanker, elegant gekleideter Schwarzer mit hellbrauner Haut, grauem Haar und eindringlichen braunen Augen. Lemuel Tubbs. Als er zur Tür hereingekommen war, hatte er augenfällig gehinkt.
Die Tasse mit dem dünnen Kaffee, die Virgilia Tubbs vorgesetzt hatte, war unberührt geblieben. Er fand keinen Spaß daran, die Slums während eines Schneesturms aufsuchen zu müssen, aber die Pflicht hatte es verlangt. Er redete ernst auf Grady ein.
»Mit einem Bericht über Ihre Erfahrungen würden Sie unserer nächsten öffentlichen Zusammenkunft mehr Glaubwürdigkeit verleihen und ihre Gewichtigkeit steigern. Nichts kann das Publikum besser davon überzeugen, daß die Sklaverei böse ist, als ein persönlicher Bericht von einem ehemaligen Sklaven.«
»Eine öffentliche Zusammenkunft, sagten Sie?« Grady dachte laut. »Ich weiß nicht, Mr. Tubbs… Die Sklavenfänger aus South Carolina könnten doch davon erfahren!«
»Ich verstehe Ihre Besorgnis«, sagte Tubbs verständnisvoll. »Natürlich kann Ihnen niemand die Entscheidung abnehmen.«
Er zögerte, bevor er auf den heiklen letzten Punkt zu sprechen kam. »Falls aber Ihre Entscheidung positiv ausfallen sollte, so hätten wir eine Bedingung. Wir möchten die Stärkstmögliche Verurteilung der Sklaverei, aber keinen Aufruf zu einem gewaltsamen Aufstand im Süden. Diese Art Reden beunruhigt und stößt einige Weiße ab, die wir dringend zur Förderung unserer Sache benötigen. Um ehrlich zu sein: Sie würden aus Angst kein Geld mehr spenden.«
»Sie verwässern also die Wahrheit?« fragte Virgilia. »Sie prostituieren sich und Ihre Organisation für einige Silberstücke?«
Zum erstenmal runzelte der Besucher die Stirn, und in seinen Augen zeigte sich eine Spur von Zorn. »So würde ich es nicht ausdrücken, Miss Hazard.« In den Kreisen der Sklavereigegner nannte man sie immer noch so und nicht Mrs. Grady.
In Wirklichkeit waren die führenden Köpfe der Bewegung in Philadelphia sich nicht einig, ob die Hilfe von Virgilia und ihrem Liebhaber wünschenswert war. Beide vertraten extreme Ansichten, die die Bewegung in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnte. Ein Teil der Führungsspitze wollte mit ihnen überhaupt nichts zu tun haben; die andern, deren wichtigster Vertreter Tubbs war, wollten Gradys Hilfe zwar annehmen, doch nur, wenn er bereit war, sich etwas unter Kontrolle zu halten. Tubbs beschloß widerwillig, daß er gut daran täte, dies noch einmal zu betonen.
»Bei Verhandlungen mit den Mächtigen müssen immer gewisse Kompromisse eingegangen werden, wenn man etwas zu erreichen – «
»Mr. Tubbs«, unterbrach ihn Grady. »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie gehen. Wir sind an einer Zusammenarbeit unter den von Ihnen gestellten Bedingungen nicht interessiert.«
Tubbs gab sich Mühe, seiner Stimme nichts von seiner Erregung anmerken zu lassen. »Ich wünschte, Sie wären weniger voreilig. Vielleicht überlegen Sie sich das ganze noch mal, wenn ich Ihnen Folgendes sage: Ich persönlich bin der Meinung, daß Sie der Sache der Sklavenabschaffung von großem Nutzen sein können – aber nicht die ganze Bewegung teilt diese Ansicht. Es dauerte recht lange, bis einige unserer Mitglieder davon überzeugt werden konnten.« Er blickte Virgilia kurz an. »Und ich bezweifle, daß man diese Einladung wiederholt.«
»Grady will nicht vor Schlappschwänzen und Huren reden«, sagte Virgilia und schüttelte den Kopf. Ihr Haar war ungekämmt, stumpf und ungewaschen. »Wir halten es punkto Sklavenabschaffung mit der Meinung von Mr. Garrison.«
»Die Verfassung verbrennen? Unterstützen Sie das?« Tubbs schüttelte den Kopf. Am Jahrestag der Unabhängigkeit hatte Garrison einen nationalen Aufruhr provoziert, als er anläßlich einer politischen Versammlung in der Nähe von Boston eine Abschrift der Verfassung verbrannt hatte. Virgilia war anscheinend der Meinung, daß er richtig gehandelt habe.
»Wieso nicht? Die Verfassung ist nichts anderes als das, was Garrison über sie sagte: ein Bund mit dem Tod und eine Abmachung mit der Hölle!«
»Solche Aussagen sind es gerade, die die Leute abstoßen, die wir am nötigsten – «
Virgilia unterbrach ihn höhnisch: »Ach, kommen Sie mir nicht damit, Mr. Tubbs. Was für eine Haltung ist das – wenn Sie wirklich von der Sache überzeugt sind?«
In seinen Augen blitzte es erneut. »Vielleicht drücke ich meine Überzeugung anders aus als Sie, Miss Hazard.«
»Indem Sie es ablehnen, Risiken einzugehen? Indem Sie sich elegant kleiden und freundschaftliche Beziehungen mit bigotten Weißen pflegen? Indem Sie es ablehnen, Ihren eigenen Wohlstand zu opfern und – «
Tubbs konnte nicht länger an sich halten und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Kommen Sie mir nicht mit Risiko und Opfer! Ich bin als Sklave in Maryland aufgewachsen und mit vierzehn davongerannt, zusammen mit meinem jüngeren Bruder. Man erwischte uns und schickte uns zu Sklavenbändigern. Mir haben sie das hier angetan« – er zeigte auf sein verkrüppeltes Bein –, »aber meinem Bruder ist es schlimmer ergangen. Er ist seither geistig gestört.«
Grady fragte verächtlich: »Und Sie würden es ihnen nicht gerne heimzahlen?«
»Natürlich! Zuerst gab es nur diesen einen Gedanken. Dann floh ich nach Philadelphia, und als ich nach ein oder zwei Jahren keine Angst mehr hatte, verfolgt zu werden, begann ich nachzudenken. Nun bin ich weniger an einer persönlichen Rache als an der Freiheit anderer interessiert. Es ist das System, das ich am meisten hasse – es ist das System, das ich abschaffen will.«
»Es soll mit Gewalt zugrunde gehn«, schrie Virgilia.
»Nein. Jede Bewegung dieser Art wird die Aufrechterhaltung der Sklaverei nur fördern und auch die Unterdrückung – «
Tubbs zögerte, als er ihre Feindseligkeit bemerkte. Er stand auf und setzte sorgfältig den Zylinder auf das graue Haar. »Ich glaube, ich rede in den Wind.«
Sie lachte ihn aus: »Ja, das tun Sie wirklich.«
Tubbs preßte die Lippen zusammen, sagte jedoch nichts. Er drehte sich um und hinkte zur Tür. Virgilia rief ihm garstig hinterher: »Vergessen Sie nicht, die Tür hinter sich zu schließen.«
Keine Antwort; die Tür wurde sanft, aber energisch geschlossen.
War Grady zuvor noch kerzengerade auf dem Stuhl gesessen, so sackte er nun plötzlich zusammen. »Dieses Türeschließen wird auch nichts nützen.« Er fröstelte – nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Hoffnungslosigkeit. »Leg noch etwas mehr Holz auf.«
»Wir haben kein Holz mehr – und gerade noch so viel Geld, daß ich nach Lehigh Station fahren kann.« Sie war nicht wütend, sondern schilderte nur den Tatbestand. Sie löffelte etwas Brei in eine Blechschüssel und stellte sie ihm hin. »Ich muß wieder nach Hause gehen.«
Grady starrte in die Schüssel, schnitt eine Grimasse und stieß sie weg. »Ich hab’ es nicht gern, wenn du dorthin gehst. Ich hasse es, daß du betteln mußt.«
»Ich bettle nie. Ich sage ihnen, was ich brauche, und ich bekomme es. Und wieso eigentlich nicht? Sie haben genug. Sie verschleudern mehr Geld an einem einzigen Tag, als die ganze Niggersiedlung hier in einem Jahr ausgibt.« Sie hatte sich hinter ihn gestellt und versuchte, ihm mit einer Nackenmassage etwas Wärme zu geben. »Soldaten im Krieg führen kein Luxusleben.«
»Tubbs denkt nicht, daß wir uns im Krieg befinden.«
»Eunuchen wie Tubbs haben zu lange zu bequem gelebt. Sie haben alles vergessen. Wir werden den Krieg ohne sie gewinnen. Eines Tages werden wir triumphieren, Grady. Ich weiß es.«
Teilnahmslos und zweifelnd griff Grady nach ihrer Hand: Virgilia starrte in die Ferne. Der Schnee drang immer noch durch die Risse in der Wand und fiel auf ihre Wolldecken, die ihnen als Schlafstätte dienten. In der gegenüberliegenden Ecke, wo ein großer Spalt klaffte, hatte der Schnee auf einem Haufen Lumpen bereits einen luftigen Zuckerhut geformt. Grady sammelte Lumpen für ihren Lebensunterhalt. Gab es keine Lumpen, so stahl er, und wenn auch das nichts brachte, ging Virgilia für einige Tage nach Lehigh Station.
»Der Ofen gibt überhaupt keine Wärme mehr ab«, sagte sie. »Wir sollten für eine Weile unter die Decken schlüpfen.«
»Manchmal mache ich mir Vorwürfe, weil ich dich in dieses Leben hineingezogen – «
»Pst, Grady.« Sie drückte ihre kalten Finger auf seine Lippen. »Es war meine Wahl. Du und ich, wir sind Soldaten. Wir werden Hauptmann Weston helfen, den Tag des Triumphs herbeizuführen.«
Er schaute sie mißbilligend an. »Du solltest seinen Namen nicht laut sagen, Virgilia.«
Sie lachte, und er ärgerte sich wegen ihrer für die weiße Frau typischen Überlegenheit. »Du nimmst diesen Unsinn doch nicht für bare Münze? All diese Decknamen und chiffrierten Bücher? Dutzende kennen die wahre Identität des Mannes, der sich Hauptmann Weston nennt. Hunderte wissen über seine Tätigkeit Bescheid, und in einigen Monaten werden es Hunderttausende sein. Nachdem wir ihm geholfen haben, deine Leute unten im Süden zu befreien, werden wir uns um meine Leute hier im Norden kümmern. Wir knöpfen uns jeden Weißen und jede Weiße vor, die uns in unserem Kampf aktiv oder durch ihre Gleichgültigkeit behindert haben. Und wir werden uns Stanley und die Hure, die er geheiratet hat, als erste vornehmen.«
Ihr Lächeln und die geflüsterten Worte erschreckten Grady so sehr, daß er seine Wut vergaß.
»Es macht mir nichts aus, des Essens oder der Kleider wegen nach Hause zu gehen«, versicherte sie ihm, als sie unter die kalten Decken schlüpften, die nach Dreck und Ruß stanken. »Aber ich wünschte, ich dürfte dich ab und zu mitn…«
»Nein.« In diesem Punkt blieb er unbeugsam. »Du weißt, was uns die Leute antun würden, wenn wir uns zusammen in diesem Nest zeigten.«
»O ja, ich weiß«, seufzte sie und drückte sich gegen ihn. »Und ich hasse sie deswegen. Mein Gott, wie ich sie hasse. Liebling. Ihnen werden wir es auch zurückzahlen. Wir – oh!«
Sie war verblüfft. Sogar in dieser Kälte begehrte er sie. Und bald darauf vergaßen die beiden ihr Elend auf die einzig mögliche Art, die ihnen geblieben war.
Ein Ausläufer des Wintersturms zog über Lehigh Station hinweg und bestäubte den Boden und die Hausdächer mit einer weißen Puderschicht. Als Virgilia mit dem Nachtboot ankam, fielen immer noch vereinzelt Schneeflocken. Nächstes Jahr würde sie in einem geheizten Zug reisen können, und es würde keine Rolle mehr spielen, ob der Fluß zugefroren war. Die Lehigh-Eisenbahngesellschaft hatte verlauten lassen, daß sie die Strecke nach Bethlehem hinunter und auch talaufwärts verlängern würde.
Wie sehr sie ihre Familie auch haßte, so war ihr doch klar, daß sie in Philadelphia nur dank ihrer Toleranz überleben konnte. Genauer gesagt, dank der Toleranz ihres Bruders George und seiner Frau, die es ihr gestatteten, eine Nacht in Belvedere zu bleiben und sich mit einem Leinensack voller abgetragener Kleider, mit Eßwaren und mit etwas Geld davonzustehlen. Obwohl sie sich mehr und mehr dem Gedankengut der Extremisten verschrieben hatte, blieb Virgilia in einem Punkt realistisch. Sie wußte, daß sie Grady nie nach Lehigh Station bringen würde, und sie versuchte, jeweils in der Nacht anzukommen, damit die Dunkelheit ihr Schutz bot. Sonst würden gewisse bigotte Einwohner sie entdecken und womöglich angreifen. Sie wußte genau, wer diese Leute waren, und sie würde es ihnen zum gegebenen Zeitpunkt heimzahlen.
Mit einem für die Jahreszeit zu leichten Mantel und zu dünnen Wollhandschuhen bekleidet, kämpfte sie sich durch das Schneegestöber den Hügel hoch. Als sie in Belvedere ankam, war ihr Haar schneeweiß. Sie betrat das Haus, ohne zu klingeln – George erlaubte ihr das – und hörte Stimmen aus dem Wohnzimmer: Sie kamen von Constance, George und einem römisch-katholischen Priester aus der Gegend.
»Was ist eine christliche Antwort auf die Kansas-Frage?« fragte der Priester. »Dieses Problem verfolgt mich in letzter Zeit. Ich fühle mich verpflichtet, die Angelegenheit mit jedem Gemeindemitglied zu besprechen, damit ich weiß, wie sie – «
Er hielt inne und bemerkte Virgilia in der Tür. George sah sie überrascht, Constance etwas bestürzt an.
»Guten Abend, George. Constance. Pater Donnelly.«
»Wir haben dich nicht erwartet – «, sagte George zögernd. Sie wußten nie, wann Virgilia kommen würde, und jedesmal machte George die gleiche Bemerkung. In letzter Zeit fing sie an, ihn langweilig zu finden.
Mit einem unaufrichtigen Lächeln nahm sie seine Bemerkung zur Kenntnis. Dann sagte sie zum Priester: »Es gibt keine christliche Antwort auf die Situation in Kansas. Sogenannte Christen haben die Neger zu Sklaven gemacht. Jeder, der es wagt, einen Sklaven über eine territoriale Grenze zu bringen, hat nur eine einzige Antwort verdient, ja, fordert sie geradezu heraus: eine Kugel. Wenn ich dort wäre, wäre ich die erste, die schießen würde.«
Sie sagte das alles dermaßen ruhig und vernünftig, daß der ältliche Priester sprachlos war.
George nicht. Blaß vor Wut, aber gefaßt, entgegnete er: »Ich glaube, du solltest nach oben gehen und deine nassen Kleider wechseln.«
Sie starrte ihn einen Augenblick an. »Natürlich, George. Auf Wiedersehen, Pater.«
Nachdem der Priester gegangen war, schritt George wütend auf und ab. »Ich verstehe nicht, wieso wir Virgilia überhaupt noch tolerieren. Manchmal habe ich das Gefühl, wir seien Dummköpfe.«
Constance schüttelte den Kopf. »Du willst Virgilia doch nicht behandeln, wie es Stanley tut. Sie ist immer noch deine Schwester.«
Er starrte auf die kleine Lache geschmolzenen Schnees, die Virgilias Schuhe hinterlassen hatten. »Es fällt mir zusehends schwerer, mich an diese Tatsache zu erinnern.«
»Aber es ist so«, sagte Constance.
Später in der Nacht erwachte George und bemerkte, daß Constance sich in der Dunkelheit hin und her warf.
»Was ist? Bist du wieder krank?«
Der Gedanke kam ihm, weil sie sich seit einiger Zeit nicht wohl fühlte. Kaum zwei Monate, nachdem sie bemerkt hatte, daß sie wieder schwanger war, hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Es war die dritte in drei Jahren, und die körperlichen Nachwirkungen – Schwindel, Schweißausbrüche und Übelkeit in der Nacht – schienen jedesmal länger zu dauern. George machte sich nicht nur über ihren körperlichen, sondern auch über ihren seelischen Zustand Sorgen, denn der Arzt hatte angetönt, sie würde vielleicht nie mehr ein Kind ganz austragen können.
»Mir geht es gut«, sagte sie. »Ich muß mich anziehen und für eine Stunde weggehen. Es kommt wieder jemand.«
»Ach ja, das stimmt. Das hab’ ich ganz vergessen.«
»Schlaf du nur weiter.«
Aber er hatte die Füße schon auf dem eisigen Boden. »Das kommt nicht in Frage. Das Wetter ist fürchterlich, und du kannst nicht den ganzen Weg bis zum Schuppen zu Fuß gehen. Ich zieh’ nur schnell die Kleider über und bring den Einspänner zur Vordertür.«
Sie versuchte weiter, ihn davon abzuhalten, mit ihr in die Kälte hinauszugehen, aber er beharrte auf seinem Vorhaben. Beide wußten, daß er seinen Kopf durchsetzen würde. In Tat und Wahrheit war Constance glücklich, daß er sie begleiten wollte. Sie fühlte sich schwach, und die ersten Anzeichen einer starken Erkältung machten sich bemerkbar. Sie haßte den Gedanken, sich allein in die Winternacht zu wagen, aber sie hätte es dennoch getan.
George wollte auch aus einem andern Grund mitgehen: um den Neuankömmling zu sehen und mit ihm zu sprechen. Mehr als alle Meinungen von Rednern, Journalisten und Theologen halfen ihm die Gespräche mit den Flüchtlingen, sich über das Problem, das die Nation entzweite, eine Meinung zu bilden. Er zog seine Jacke zu und tätschelte seiner Frau den Arm.
»Ich komme mit. Keine weiteren Einwände.«
Zwanzig Minuten später lenkte er den quietschenden Einspänner zum Schuppen, der sich am Ende des Fabrikgeländes befand. Drinnen flackerte eine Laterne. Er half Constance beim Aussteigen. Sie hatte einen Koffer mitgebracht. Plötzlich küßte sie ihn. Ihre Lippen und seine Wangen waren eiskalt und steif wie Pergament, aber der Kuß war dennoch erwärmend.
Sie eilte zur Tür und gab das vereinbarte Zeichen: zweimal Klopfen, Pause, zweimal Klopfen. George stapfte durch den knirschenden, glänzenden Schnee, der in die Schuhe drang und seine Strümpfe naß machte. Der Sturm war vorüber. Der Mond hing wie ein edler Porzellanteller im sternenklaren Nachthimmel.
Beizer, der Händler, öffnete vorsichtig die Türe und schrak zusammen, als er die zweite Gestalt sah.
»Ich bin es nur«, sagte George.
»Ach ja. Kommen Sie schnell herein.«
Der Flüchtling saß an einem Tisch; in der Hand hielt er ein Stück getrocknetes Rindfleisch. Er war ein muskulöser, rotbrauner Mann, dessen Backenknochen auf einen Schuß Indianerblut hindeuteten. Er mochte ungefähr fünfunddreißig sein, aber sein krauses Haar war schneeweiß. George konnte sich den Grund vorstellen.
»Das ist Kee«, sagte Beizer mit so stolzer Stimme, als würde er ein Mitglied seiner eigenen Familie vorstellen. »Er ist den ganzen Weg von Alabama hierhergekommen. Sein Name ist eine Abkürzung für Chero-kee. Seine Großmutter mütterlicherseits war eine Angehörige dieses Stamms.«
»Nun, Kee, es freut mich, daß Sie hier sind«, sagte Constance. Sie stellte den Koffer neben den Tisch. »Da drin sind ein Paar Stiefel und zwei Hemden. Haben Sie einen Wintermantel?«
»Ja, Ma’m.« Der Ausreißer hatte eine kräftige, sonore Baßstimme. Er wirkte nervös.
»Er hat einen beim Bahnhof in der Nähe von Wheeling bekommen«, sagte Beizer.
»Gut«, meinte Constance. »In Kanada ist es meist noch kälter als in Pennsylvania. Aber wenn Sie einmal über der Grenze sind, brauchen Sie keine Angst mehr vor den Sklavenfängern zu haben.«
»Ich will arbeiten«, antwortete Kee hastig. »Ich bin ein guter Koch.«
»Ich nehme an, daß dies seine Hauptaufgabe gewesen ist«, sagte Beizer.
George nahm das Gespräch nicht bewußt auf, so fasziniert war er von der Haltung und dem Benehmen des einstigen Sklaven. Kees Kopf schien tief zwischen den Achseln zu sitzen, als würde er sich fortwährend ducken. Sogar hier, auf freiem Gebiet, waren Angst und Mißtrauen in seinen Augen zu lesen. Er schielte ständig zur Tür, als erwarte er jeden Augenblick, daß jemand hereinstürze.
»– arbeitete für einen außergewöhnlich harten und gemeinen Herrn«, sagte Beizer eben. »Kee, zeigen Sie ihnen bitte, was Sie mir gezeigt haben.«
Der Ausreißer legte das unberührte Stück Fleisch auf die Seite. Er stand auf, knöpfte das Hemd auf und zog es aus. Constance würgte und ergriff den Arm ihres Gatten. George wurde es angesichts solch vieler Narben ebenfalls übel. Sie bedeckten den ganzen Rücken, von den Schulterblättern bis zum Kreuz; stellenweise sah es aus, als wäre ein Schlangennest unter der Haut erstarrt.
Beizers sonst sanfte Augen glühten vor Zorn. »Einige rühren von der Peitsche her, andere von glühenden Eisen. Wann passierte es zum erstenmal, Kee?«
»Als ich neun war. Ich hab’ Beeren aus dem Garten des Herrn genommen.« Er krümmte die Finger, um eine kleine Handvoll zu zeigen. »So viele Beeren.«
George schüttelte den Kopf. Er wußte, warum er in den letzten Monaten so hart urteilte.
Später, als sie wieder in Belvedere im Bett lagen, hielt George Constance in den Armen, und sie wärmten sich aneinander. »Jedesmal, wenn ich einen Mann wie Kee treffe, frage ich mich, wieso wir die Sklaverei so lange toleriert haben.«
Er konnte ihren bewundernden Blick nicht sehen, als sie antwortete: »George, bist du dir bewußt, wie sehr du dich verändert hast? So etwas hättest du nie gesagt, als wir uns kennenlernten.«
»Vielleicht nicht. Aber jetzt bin ich mir meiner Gefühle bewußt. Wir müssen der Sklaverei ein Ende setzen. Wenn es geht, mit dem Einverständnis und der Mitwirkung derjenigen, die das System unterstützen. Aber wenn sie der Vernunft kein Gehör schenken wollen, dann muß es eben ohne sie gehen.«
»Was würde passieren, wenn du zwischen der Abschaffung der Sklaverei und der Freundschaft mit Orry wählen müßtest? Schließlich ist er einer von denen, die das System unterstützen.«
»Ich weiß. Aber ich hoffe, daß es nie zu einer solchen Entscheidung kommen wird.«
»Aber wenn es soweit käme, was würde passieren? Ich will dich nicht drängen, aber das Problem beschäftigt mich schon lange. Ich weiß, wie gern du Orry magst und wie sehr du ihn respektierst – «
Obwohl ihn die Entscheidung außerordentlich schmerzen würde, gab es eine Antwort vor seinem Gewissen: »Ich würde die Freundschaft aufgeben, nicht meine Überzeugung.«
Sie umarmte ihn. Bald darauf schlief sie in seinen Armen ein. Er lag noch eine Weile länger wach; Bilder von wüsten Narben und dunklen Augen, die dauernd auf eine Türe starrten, tauchten vor ihm auf. Als er endlich eingeschlafen war, träumte er von einem schwarzen Mann, der schrie, während ihn jemand mit einem glühenden Eisen brandmarkte.
Vertraten Angehörige der Pflanzerklasse des Südens eine extreme Seite, die George nicht leiden konnte, so vertrat seine eigene Schwester die andere. Während ihres zweitägigen Besuchs in Belvedere diskutierten sie über Volkssouveränität, über die Gesetze zur Verfolgung und Auslieferung flüchtiger Sklaven und eigentlich über fast alle Aspekte der Sklaverei. Virgilias Standpunkt ließ keinerlei Spielraum für Kompromisse.
»Ich würde das ganze Problem mit einem Schlag lösen«, sagte sie beim Abendessen zu George und Constance. Constance hatte die Kinder bereits zum Spielen geschickt, denn sie befürchtete, daß das Gespräch – wie gewöhnlich – gehässig enden würde. »Ein Tag Arbeit im Süden, und alles wäre vorbei. Das ist auf jeden Fall mein Traum«, fügte Virgilia mit einem Lächeln hinzu, das George erschaudern ließ.
Sie drückte ihre Gabel in das dritte Stück Kuchen, nahm einen Bissen und goß noch mehr heiße Rumsauce, die auf einem Silbertablett stand, darüber. Sie blickte ihren Bruder ruhig an. »Du kannst schaudern und Grimassen schneiden, soviel du willst, George. Du kannst über Gewissen und Gnade reden, bis du schwarz wirst, aber der Tag wird kommen.«
»Virgilia, das ist Quatsch. Eine Revolution der Sklaven kann unmöglich erfolgreich sein.«
»Natürlich kann sie – wenn sie richtig finanziert und organisiert wird. Eine triumphale Nacht des Feuers und der Gerechtigkeit, und die Ungleichheit wird in einem riesigen Strom von Blut ertränkt.«
Er war dermaßen entsetzt, daß er beinahe die Tasse fallen gelassen hätte. Er und Constance starrten zuerst einander, dann die Besucherin an. Diese schaute an die Wand – oder auf eine apokalyptische Szene dahinter.
George wollte sie anschreien, entschloß sich aber, die Bemerkung nicht ernst zu nehmen.
»Du solltest melodramatische Stücke schreiben.«
Sie sah ihn plötzlich an: »Mach Witze, solang du willst, der Tag wird kommen.«
Constance, die sich durch den eisigen Blick nicht einschüchtern ließ, sagte: »Du bist dir natürlich bewußt, daß die Angst vor einer Revolution der Schwarzen viele Weiße davon abhält, sich auch nur auf eine Diskussion über eine stufenweise, kompensierte Emanzipation einzulassen?«
»Eine stufenweise, kompensierte Emanzipation ist ein gefährlicher Gedanke. Wie Mr. Garrison sagte: Das ist, als ob man einem Dieb Geld gäbe, damit er gestohlenes Eigentum zurückgibt.«
»Trotzdem – was die Südstaatler von der Emanzipation befürchten, sind befreite Sklaven, die mit Steinen und Mistgabeln auf sie losgehen. Deine aufrührerischen Theorien machen die Situation auch nicht gerade besser.«
Virgilia schob ihren Nachtischteller beiseite. »Ich sage dir, es sind mehr als bloße Theorien.«
»Du wiederholst dich«, sagte George heftig. »Wenn wir schon beim Thema sind, laß mich dir etwas offen und ehrlich sagen. Du solltest deinen Kontakt mit Hauptmann Weston abbrechen.«
Sie riß die Augen auf. Für einmal war ihre Stimme leise. »Was weißt du über Hauptmann Weston?«
»Ich weiß, daß es ihn gibt. Ich weiß, daß Weston nur ein nom de guerre ist, und ich weiß, daß er genauso extremistisch ist wie die schlimmsten Hitzköpfe des Südens.«
Es gelang ihr, sich spöttisch zu geben. »Hast du Spione angestellt, um mich zu beobachten?«
»Sei nicht blöd! Ich habe im ganzen Staat Geschäftsverbindungen, und ich kenne viele Männer der Legislative in Harrisburg. Und alle hören sie immer wieder etwas Neues. So unter anderem, daß Hauptmann Weston tatkräftig eine Revolte der Schwarzen im Süden schürt. Er macht sich jedermann zum Feind, sogar Leute, die sonst gegen die Sklaverei kämpfen. Du tust besser daran, dich von ihm zu trennen, oder du wirst unter den Konsequenzen zu leiden haben.«
»Wenn es Konsequenzen gibt, wie du das nennst, dann werde ich stolz sein, sie zu tragen.«
Ihm schwindelte. Was sollte er mit ihr anfangen? Er versuchte einen anderen Weg. »Ich wäre nicht so voreilig. Es gibt auch in Pennsylvania viele, die die Sklavengegner hassen. Gewalttätige Leute.«
»Ist es das, was Erfolg und Geld aus dir gemacht haben, George? Haben sie dich deiner Prinzipien beraubt und sie durch Feigheit ersetzt?« Sie stand wie eine beleidigte Königin auf und verließ das Zimmer.
Constance preßte die Hände auf die Augen. »Ich kann sie nicht länger ertragen. Welch ekelhafte, besessene Kreatur sie doch ist!«
Er streckte den Arm aus, um ihre Hand zu ergreifen und sie zu beruhigen, aber seine Augen waren immer noch auf die Tür geheftet, durch die Virgilia verschwunden war.
»Es ist mehr als Besessenheit«, sagte er sanft. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie wahnsinnig ist.«
Mit hervorgequollenen, offenen Augen und einer verfärbten, zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervorhängenden Zunge baumelte der Mann am Dachsparren. Die Kopfstellung zeigte deutlich, daß die Schlinge das Genick des Mannes gebrochen hatte.
Unter der sich langsam drehenden, todesstarren Gestalt unterhielt sich ein halbes Dutzend Männer mit gedämpfter Stimme. Zwei der Männer hielten brennende Fackeln in den Händen. Hinter ihnen standen große Kisten mit aufgemalten Aufschriften: GEOR. AL. MISS. Eine der Kisten war mit einem Brecheisen aufgebrochen worden. Sie enthielt neue Gewehre.
Grady, die Todesangst in den Gliedern, sah all dies durch eine Ritze in der Stalltür. Er war mit einer zwei Seiten langen, verschlüsselten Meldung von Philadelphia in die Umgebung von Lancaster geschickt worden. Der Mann, dem er die verschlüsselte Meldung hätte überbringen sollen, hing nun im Stall. Gott sei Dank hatte er Stimmen gehört, als er durch das Weideland gekrochen war, und hatte rechtzeitig innehalten können.
Er wollte sich wieder davonstehlen. Eine Sau, die gerade ihre Ferkel säugte, quietschte laut, als er an ihrem Verschlag vorbeischlich. Vom Lärm aufgeschreckt, kam ein bewaffneter Mann an die Stalltür.
»Halt, du da!«
Grady rannte los. Ein Schuß pfiff über seinen Kopf hinweg.
»Fangt diesen Nigger. Er hat uns gesehen!«
Grady rannte, wie noch nie in seinem Leben. Ab und zu warf er einen Blick zurück. Die Männer verfolgten ihn zu Pferd. Hinter ihnen tauchte die untergehende Dezembersonne den Stall in ein leuchtend rotes Licht. Plötzlich züngelten Flammen aus dem Heuboden und verschlangen das riesige, grelle Zauberzeichen, das auf den Stall gemalt worden war. Sie hatten das Haus in Brand gesteckt.
Ihre Schüsse trafen ihn nicht, trieben ihn jedoch an. Er hetzte keuchend über eine steinige Böschung, verlor das Gleichgewicht und prallte hart mit dem Kiefer auf. Blut rieselte aus seinem Mund, aber er beachtete es kaum und schnappte nach Luft, als er ins dichte Unterholz stürmte. Schließlich gelang es ihm, den Verfolgern zu entkommen, nachdem er unter dem überhängenden Ufer eines Flüßchens eine halbe Stunde im kalten Wasser hatte ausharren müssen. Erst dann bemerkte er, wie hoch der Preis für sein Leben gewesen war. Als er seine Oberlippe berührte, glänzten Tränen in seinen Augen.
Am nächsten Morgen stolperte er in die Hütte in Philadelphia. Erst dort brach er zusammen. Die Worte sprudelten wirr aus ihm hervor: »Hauptmann Weston ist tot. Ich hab’ ihn hängen gesehen. Sie haben ihn verbrannt, zusammen mit dem Stall. Mich haben sie fast erwischt. Ich bin gerannt und hingefallen. Ich hab’ meine Zähne verloren. Verdammt noch mal, ich hab’ meine Zähne verloren!« Tränen rollten ihm über die Wangen, als er sich in Virgilias Arme stürzte.
»Komm, es wird alles wieder gut.« Sie hielt ihn und streichelte seinen Kopf. »Weine nicht. Hauptmann Weston war nicht der beste Mann. Er hat zuviel geredet. Zu viele Leute wußten von seiner Existenz. Früher oder später wird ein besserer Mann kommen. Dann wird die Revolution gelingen.«
»Ja, aber – ich hab’ meine neuen Zähne verloren, verdammt noch mal!«
Sie legte sanft seinen Kopf an ihre Brust und schwieg. Dann starrte sie in die Ferne und sah lächelnd das Blut von Weißen fließen.
39
Ashton drehte den Schlüssel herum und vergewisserte sich, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen war. Dann eilte sie durch ihr Schlafzimmer und schloß die Fensterläden. Sie versuchte, gegen ihre Panik anzukämpfen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen.
Schicht um Schicht entledigte sie sich ihrer Kleider und ließ sie im ganzen Zimmer verstreut liegen. Dann trat sie nackt vor den Spiegel und betrachtete sich genau.
Konnte man schon etwas sehen? Nein, noch nicht. Ihr Bauch war immer noch flach und glatt. Aber er würde es nicht lange bleiben. Seit ihrer Reise nach West Point waren ungefähr neunzig Tage verstrichen, und nun war sie durch ihre eigene Sorglosigkeit in die Falle getappt.
Der Zeitpunkt ihres Mißgeschicks hätte unpassender nicht sein können. Etwa vor einem Monat hatte sie Huntoons lästigem Drängen nachgegeben und mit ihm vereinbart, daß sie im Frühling heiraten würden. Bereits zu jenem Zeitpunkt war ihre Blutung einen Monat überfällig gewesen. Sie hatte sich eingeredet, daß es sich bloß um eine kleine Störung handle, die sicher wieder verschwinden würde. Den Gedanken, daß die himmlische Nacht im Labor Folgen haben könnte, hatte sie hartnäckig beiseite geschoben.
Aber die Störung verschwand nicht von allein, und inzwischen hatte Huntoon zusammen mit Orry ein Datum für März festgesetzt. Die Falle war zugeschnappt.
»Allmächtiger, was soll ich bloß tun?« fragte sie das dunkelhaarige Mädchen, das ihr aus dem Spiegel entgegenstarrte.
Orry! Sie würde zu Orry gehen. Er würde nett sein und Verständnis haben. Es gelang ihr, sich selber zu überzeugen, und sie glaubte so lange daran, bis sie sich wieder angezogen und ihr Haar mit Kämmen und Nadeln hochgesteckt hatte. Doch dann wußte sie, daß sie ein Dummkopf war. Orry würde niemals ihrem Vorhaben zustimmen.
Und Brett? Nein, das kam überhaupt nicht in Frage. Auf keinen Fall würde sie ihrer Schwester die Freude bereiten und ihr sagen, daß sie in der Klemme saß. Überdies stand Brett in letzter Zeit auf viel zu vertrautem Fuß mit Orry. Sie lief ihm überall hin nach, beriet sich mit ihm über dies und das, als wäre sie die Herrin von Mont Royal – diese anmaßende, kleine Hure. Würde Ashton sich ihr anvertrauen, ginge Brett schnurstracks zu Orry und würde sie verpetzen.
Fürchterliche, stechende Kopfschmerzen strahlten plötzlich von ihrer Stirnmitte aus. Sie schloß die Schlafzimmertür auf und ging langsam die Treppe hinunter. Unten in der Halle hatte sie das Gefühl, in ihrem Leib bewege sich etwas. Entsetzt preßte sie die Hände auf ihr Kleid und suchte verzweifelt nach irgendwelchen Anzeichen. Sie spürte nichts. Es mußten Blähungen sein. Ihr Körper war in letzter Zeit völlig durcheinandergeraten.
Brett tauchte vom hinteren Teil des Hauses her auf mit einem Brief in der Hand. »Billy studiert Chemie! Er schreibt, daß Professor Bailey einfach großartig ist. Er zeigt ihnen, wo man die Chemie überall anwenden kann, wie zum Beispiel bei der Herstellung von Schießbaumwolle und beim Heliograph – «
»Glaubst du, ich schere mich auch nur im geringsten um Billys Angelegenheiten?« schrie Ashton und stürmte an Brett vorbei.
»Ashton, was um Himmels willen ist denn in letzter Zeit mit dir l…?«
Doch die Tür fiel mit einem Knall ins Schloß und verschluckte den Rest der Worte.
Verängstigt und von der tiefstehenden Dezembersonne geblendet, rannte Ashton zum Ashley hinunter. Sie wäre beinahe kopfvoran über das Ende des Piers hinausgestürzt, bevor sie merkte, wo sie war. Eine Weile lang starrte sie auf den schimmernden Fluß hinaus und spielte mit dem Gedanken, Selbstmord zu begehen.
Doch eine resolute innere Stimme rebellierte. James Huntoon mochte zwar eine träge, dumme Schnecke sein, aber er verkehrte in wichtigen politischen Kreisen, und zudem wurde er immer einflußreicher. Sie hatte nicht die Absicht, auf die Heirat oder die damit verbundenen Chancen zu verzichten und sich wie die einfältige Heldin eines Groschenromans zu ertränken.
Doch was dann? Wohin konnte sie sich wenden? Sie hatte das Schicksal mit ihrer Verhaltensweise herausgefordert, und obwohl sie gewußt hatte, daß sie eines Tages in die Klemme geraten könnte, hatte sie keinerlei praktische Vorkehrungen getroffen. Nun, von Mont Royal war keine Hilfe zu erwarten. Alle Niggerfrauen haßten sie und mißtrauten ihr. Es beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch ihre arme Mutter konnte nicht weiter als Helferin in Betracht gezogen werden. Alles, was Clarissa tat, war, mit einem todgeweihten Lächeln auf den Lippen durchs Haus zu streifen oder stundenlang am Zeichentisch Linien auszuradieren, die sie tags zuvor in den Stammbaum eingetragen hatte.
»Verdammt noch mal«, sagte Ashton zu einem großen, blauen Eichelhäher, der sie von einer wilden Palme her mißmutig anstarrte. »Im ganzen Staat von South Carolina gibt es nicht eine einzige Person, die intelligent oder vertrauenswürdig genug wäre, um – «
Plötzlich tauchte ein Gesicht vor ihren Augen auf. Wenn jemand helfen konnte, dann sie. Zumindest würde sie vielleicht wissen, an wen Ashton sich wenden könnte. Alle sagten doch, daß ihre Nigger sie ausnahmslos verehrten und ihr blindes Vertrauen entgegenbrachten.
Aber was würde sie von der Lösung halten, die Ashton für das Problem vorzuschlagen gedachte? Es gab Frauen, für die so etwas eine Todsünde war.
Das kannst du nur herausfinden, wenn du sie fragst, sagte sie sich. Welche Wahl hatte sie denn – außer den totalen Ruin hinzunehmen? Aber dazu war sie unter keinen Umständen bereit.
Überraschenderweise fühlte sie sich besser, je länger sie über diesen Einfall nachsann. Sie schlief tief, und als sie am nächsten Morgen, elegant gekleidet, mit Handschuhen und Sonnenschirm die Treppe herunterkam, sah sie frisch und ausgeruht aus.
Gleich nachdem sie nach der Kutsche gerufen hatte, kam Orry um die Hausecke. Er hatte den rechten Hemdsärmel hochgerollt und hielt einen Hammer in der Hand.
»Oh, wie hübsch du heute aussiehst!« sagte er und steckte den Hammer in den Gürtel.
»Mein lieber Orry, du glaubst doch nicht, ich sei eine jener braven, fleißigen Hausfrauen, die nichts auf ihr Äußeres geben? Brett vielleicht, aber nicht ich.«
Er fingerte an seinem langen Bart herum und reagierte nicht auf die Bemerkung. »Stattest du jemandem einen Besuch ab?«
»Ja, Sir. Ich gehe nach Resolute hinüber. Es ist schon zu lange her, seitdem ich Madeline zum letztenmal meine Aufwartung gemacht habe.«
Ein runzliger, schwarzer Diener öffnete die Tür. »Mistress Madeline? Sie ist im Musikzimmer. Wenn Sie bitte hier warten wollen, werde ich Sie anmelden, Miss Ashton.«
Er schritt vornehm davon. Eine andere Tür wurde geöffnet und Justin streckte den Kopf heraus.
»Wer ist da? Oh, Ashton! Guten Morgen. Ich habe Sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gesehen.«
»Ja, das stimmt. Ich bin wirklich schon viel zu lange nicht mehr hier gewesen.« Ashton lächelte. »Sie sehen aufgebracht aus, Justin.«
»Mit gutem Grund.« Er schlenderte zu ihr hin und hielt ihr eine Ausgabe des Mercury vor die Augen. »Es bilden sich immer mehr von diesen verfluchten republikanischen Gruppen im Norden, und alle wollen sie verdammt noch mal dasselbe: die Aufhebung des Gesetzes über die Verfolgung und Auslieferung flüchtiger Sklaven sowie der Kansas-Nebraska-Bill.«
Ashton stieß einen Seufzer aus. »Es ist einfach schrecklich. Orry sagte, daß es aber doch wenigstens eine gute Nachricht gibt. In Kansas soll ein sklavenfreundlicher Abgeordneter in den Kongreß gewählt worden sein.« Doch Ashton fühlte sich bei solchen Themen nie besonders sicher. »Das stimmt doch?«
»Ja. Es mußten allerdings viele Männer über den Missouri reiten, um sicherzustellen, daß die Wahlen auch richtig durchgeführt wurden. Ich bete zum Himmel, daß diese neue Partei zugrunde geht. Es sind nämlich bloß lauter Yankee-Fanatiker, die nur darauf aus sind, uns Böses anzutun.«
Er schlug mit der Zeitung auf seine Handfläche und ging davon. Ashton war erleichtert, denn sie war ziemlich nervös. Sie entnahm ihrer Handtasche ein gestärktes Spitzentaschentuch und tupfte ihre Oberlippe trocken. Der Diener kam zurück und geleitete sie ins Musikzimmer.
Madeline erhob sich, um Ashton zu grüßen, strich ihr Kleid glatt und lächelte. Ein höfliches Lächeln, aber nicht mehr. Die beiden Frauen waren sich noch nie besonders nahegestanden. Ashton warf einen Blick auf das kleine Buch, das Madeline auf den Tisch gelegt hatte: Walden, oder das Leben in den Wäldern. Sie hatte noch nie etwas davon gehört. Die Leute sagten, Madeline lese eine Menge Schundliteratur aus dem Norden.
»Welch unerwartetes Vergnügen, Ashton. Sie sehen blendend aus.«
»Sie – Sie auch.« Nach diesem kurzen Zögern gewann sie ihre Fassung wieder und beschloß, die beste schauspielerische Leistung zu erbringen, deren sie fähig war.
»Möchten Sie eine Erfrischung?«
»Nein, danke. Ich bin hierhergekommen, weil ich ein ernsthaftes Gespräch mit Ihnen führen möchte. Nur Sie können mir helfen.« Mit einem übertriebenen Blick über ihre Schulter fügte sie hinzu: »Ist es Ihnen recht, wenn ich die Tür schließe, damit wir unter vier Augen reden können?«
Madeline zog ihre dunklen Brauen hoch. »Natürlich. Ist jemand in Ihrer Familie krank? Orry?«
Ashton eilte zur Tür und schloß sie. Wäre sie nicht so sehr mit ihrem eigenen Auftreten beschäftigt gewesen, wäre ihr vielleicht der eigenartige Tonfall nicht entgangen, mit dem Madeline den Namen ihres Bruders ausgesprochen hatte.
»Nein, danke, es sind alle wohlauf. Ich bin diejenige, die Hilfe braucht. Um es kurz und offen zu sagen, Madeline, ich kenne niemanden außer Ihnen, dem ich vertrauen und der mir raten kann. An meine Familie kann ich mich unter gar keinen Umständen wenden. Sehen Sie, vor einigen Monaten habe ich«, sie zögerte absichtlich, um einen starken Effekt zu bewirken »mir eine Indiskretion zuschulden kommen lassen. Und nun bin ich, wie man so schön sagt, in Schwierigkeiten.«
»Ich verstehe.«
Madeline, die sehr mitfühlend war, sagte dies ohne eine Spur von Verurteilung in der Stimme. Blaß deutete sie auf einen Stuhl. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Vielen Dank. Es ist so belastend, das Geheimnis ganz allein mit sich herumtragen zu müssen. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.« Die Tränen traten ihr, genau nach Plan, in die Augen. Warum auch nicht? Sie war wirklich verzweifelt. Nichts durfte schiefgehen, sonst war sie erledigt. Es würde keine zweite Chance hier geben.
»Ich kann Sie verstehen«, murmelte Madeline.
»Wissen Sie, die Leute in der Nachbarschaft – sie alle reden mit solcher Achtung von Ihnen. Das ist der Grund, weshalb mir klar war, daß ich mit Ihnen würde sprechen können, daß ich Sie um Ihre Hilfe bitten – «
»Ich nehme an, Sie wollen das Kind nicht haben?«
»Nein, ich kann nicht! Im Frühling werde ich James heiraten. Das Datum ist bereits vereinbart worden. Ich liebe ihn, Madeline – «
Klang die Lüge glaubwürdig? Ihre Knie zitterten unter der Kleiderschicht wie Espenlaub. Sie preßte sie gegeneinander.
»Gott möge mir vergeben…« Sie hatte das Gefühl, daß ihr Seufzer eine Nuance zu stark gewesen sei. Sie senkte den Blick. »Es ist nicht sein Kind.«
»Es interessiert mich nicht, wer der Vater ist. Aber ich müßte lügen, wenn ich Ihnen nicht sagte, daß ich die Lösung, die Sie ins Auge gefaßt haben, moralisch ablehne.«
Jetzt, dachte Ashton in voller Panik. Jetzt! Laß dich gehen! Sie beugte sich von der Taille an vor und schluchzte derart gekonnt, daß sie beinahe selbst davon überzeugt war.
»Oh, ich habe befürchtet, daß Sie so denken. So viele Frauen sind dagegen. Ich schätze es, daß Sie Ihre persönliche Meinung haben, und ich will offen zugeben, daß ich gesündigt habe. Aber soll ich wegen eines einzigen dummen Fehlers James verlieren und mein ganzes Leben zerstören lassen? Können Sie mir nicht wenigstens einen Namen nennen? Ich weiß, daß es Leute im Hinterland gibt, die Mädchen helfen, die in Schwierigkeiten sind. Ich werde nie jemandem sagen, woher ich die Information habe. Sagen Sie mir nur, an wen ich mich wenden kann.« Sie faltete die Hände wie zum Gebet. »Bitte, Madeline!«
Madeline blickte ihren Gast prüfend an. Als sie Ashtons gerötete Augen sah, überwand sie allmählich ihr Mißtrauen. Mit raschelnden Kleidern ging sie zu der jüngeren Frau hinüber, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte, während Ashton ihre Hand ergriff: »Beruhigen Sie sich. Ich werde Ihnen helfen. Ich kann zwar nicht vorgeben, daß ich in moralischer Hinsicht einverstanden bin, aber, wie Sie selber sagten, finde ich es auch nicht richtig, daß Ihr ganzes Leben wegen eines Augenblicks unkontrollierter Gefühle zerstört werden soll. Wir alle haben solche Momente.« Dann fuhr sie mit ernster Stimme fort: »Ich kenne eine Frau. Sie lebt im Sumpfgebiet und sagte mir einmal, daß ich zu ihr kommen könnte, wenn ich je Hilfe nötig hätte. Es wäre jedoch gefährlich für Sie, sie allein aufzusuchen. Es sollte Sie jemand begleiten.«
In Ashtons Gesicht spiegelte sich Hoffnung. Madeline holte tief Atem, als würde sie in tiefes Wasser springen. Das war genau das Gefühl, daß sie empfand. Es widerstrebte ihr, sich auf die Probleme dieses oberflächlichen, eingebildeten Mädchens einzulassen, das nur aus reiner Verzweiflung zu ihr gekommen war. Aber Ashton war ein Mensch, ein Mensch, der Hilfe brauchte. Und es war Madelines Pech, daß sie sich immer wieder von solchen Überlegungen beeinflussen ließ.
»Ich werde Sie begleiten«, sagte sie unvermittelt. »Ich werde ein paar Tage brauchen, um Vorbereitungen zu treffen und mir den Weg beschreiben zu lassen. Ich habe Aunt Belle noch nie besucht.«
»Oh, ich danke Ihnen. Ach, Madeline, Sie sind die wundervollste, einfühlsamste – «
»Nicht so laut«, unterbrach Madeline sie sanft. »Ich muß meine Dienerin Nancy einweihen, aber sonst dürfen nur Sie und ich es wissen. Wir wollen nicht, daß Ihr Ruf leidet oder daß Sie in Schwierigkeiten geraten.«
Und auch ich will deswegen keine Schwierigkeiten haben, sagte sie sich und dachte dabei nervös an Justin.
Die Vorbereitungen waren umständlich. Zuerst mußte mit der Hebamme Kontakt aufgenommen werden. Nancy kümmerte sich darum. Dann mußte ein Zeitpunkt vereinbart und Ashton mittels eines versiegelten Briefes mitgeteilt werden. Der Brief wurde von dem einzigen Mann, dem Nancy trauen konnte, nach Mont Royal geschmuggelt: einem kaffeebraunen Sklaven namens Pete, mit dem sie schon seit mehr als einem Jahr zusammenlebte.
Mehrere Tage vor dem vereinbarten Termin sagte Madeline Justin, daß sie einige Einkäufe in Charleston erledigen wolle. Er murmelte sein Einverständnis und nahm kaum Notiz davon, als sie sagte, sie wolle über Nacht wegbleiben. Aber er bestand darauf, daß sie Nancy und auch einen männlichen Sklaven mitnehme. Sie hatte mit dieser Bedingung gerechnet.
In der Nacht vor der fingierten Reise nach Charleston schlief sie beinahe nicht. Gegen elf Uhr torkelte Justin in ihr Zimmer; er war in den vergangenen zwei Stunden mit Francis unten gesessen; sie hatten getrunken und über die aufwieglerischen Sklavengegner in Kansas geflucht. Wortlos näherte er sich ihrem Bett. Er zerrte ihr Nachthemd bis über die Taille hoch, legte die Hände um ihre Knöchel und riß ihr die Beine auseinander. Zehn Minuten später, immer noch wortlos, ging er wieder.
Sie haßte seine rohe Art des Geschlechtsverkehrs. Aber wenn er so zu ihr kam, ging er danach in sein eigenes Zimmer und ließ sie für den Rest der Nacht in Frieden. Jetzt würde er wenigstens ihre Nervosität nicht bemerken.
Am Morgen – es war ein sonniger, lieblicher Tag, genau zwei Wochen vor Weihnachten – packte Nancy Madelines Koffer. Um zwölf Uhr fuhr Pete mit der Kalesche mit dem Klappverdeck vor. Die Sonne war seit etwa einer Stunde verschwunden, und das Wetter sah bedrohlich aus. Madeline wollte die Straßen des Hinterlandes nicht während eines Sturms befahren, aber nun war es für irgendwelche Änderungen zu spät.
Sobald Resolute außer Sicht war, übergab Nancy Madeline die Zügel. Pete trottete auf der linken Seite der Kalesche dahin. Auf diese Art und Weise bewegten sie sich auf eine verlassene Straßenkreuzung zu, wo Ashton in ihrem Wagen wartete. Sie sah bleich und verängstigt aus.
Pete übernahm Ashtons zweirädrige Kutsche und fuhr in den Wald. Ein Freund von ihm, ein freier Mann, wohnte in der Nähe; Pete würde bei ihm übernachten und die Frauen am nächsten Tag zu etwa derselben Zeit wieder bei der Kreuzung treffen. Ashton plauderte kurz über den Grund, den sie für ihr Fernbleiben von Mont Royal angegeben hatte; auch sie hatte gesagt, sie würde eine Freundin besuchen, die aber gar nicht existierte. Madeline hörte zwar Ashtons Stimme, nahm aber nur wenige Worte auf.
Es war eng im Wagen für die drei Frauen. Ashton saß in der Mitte. Es war Madeline klar, daß Orrys Schwester nicht gern gegen eine Negerin gepreßt wurde, aber sie würde sich damit abfinden müssen.
Madeline zog an den Zügeln, und die Kalesche setzte sich in Bewegung. Besorgt warf sie einen Blick auf die rasch dahinziehenden, schieferfarbenen Wolken. Die ganze Angelegenheit machte sie zusehends nervöser. Etwas war wenigstens von Vorteil: der abgeschiedene Ort, an dem Aunt Belle Nin lebte. Die Hütte lag tief in den Sümpfen oberhalb von Resolute und konnte nur über schlechte, kaum befahrene Wege erreicht werden. Madeline war ziemlich sicher, daß ihnen niemand auf dem Weg zu Aunt Belle begegnen würde, zumindest nicht jemand, der sie erkennen würde.
Als sie ungefähr die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten, wurde der Himmel pechschwarz, und es fing an, heftig zu regnen. Obschon der Sturm nur kurz dauerte, verwandelte sich die Straße in einen Morast, und sie blieben mit dem linken Rad in einer aufgeweichten Furche stecken.
»Alle aussteigen«, befahl Madeline.
Sie und Nancy preßten ihre Schultern gegen das Rad und legten es frei; Ashton stand daneben und schaute zu. Gerade als sie das Rad aus dem Schlamm gehoben hatten, hörte Madeline ein Geräusch, das ihr Herz beinahe zum Stillstand gebracht hätte. Ein Reiter kam ihnen auf der Straße entgegen.
»Ducken Sie sich! Verstecken Sie sich dort drüben!« sagte Madeline zu Ashton, die über ihren Befehl verwirrt war. Madeline glaubte doch wohl nicht, daß sie sich ins nasse, dreckige Unterholz kauern und ihr schönes Kleid ruinieren würde?
»Zum Teufel, so beeilen Sie sich doch!« Madeline stieß sie weg. Keine Sekunde zu früh. Der Reiter galoppierte ins Blickfeld und wurde langsamer, als er die Kalesche entdeckte.
Irgendwie kam ihr die untersetzte Gestalt mit dem schwarzen, breitkrempigen Hut bekannt vor. Madeline spürte einen bohrenden Schmerz im Magen. Sie erkannte ihn. Würde auch er sie erkennen?
»Miz Madeline, was um Himmels willen tun Sie denn bei diesem scheußlichen Wetter so weit von Resolute?« sagte Watt Smith, ein Mann mittleren Alters, der oft Pferderennen mit ihrem Gatten bestritt.
»Nur ein Botengang, Mr. Smith.«
»Hier draußen? Außer ein paar dummen Niggern lebt doch hier niemand! Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht verirrt haben?«
Madeline schüttelte den Kopf, aber Smith war nicht überzeugt. Unfreundlich starrte er Nancy an. »Die Straßen sind für weiße Frauen nicht sicher, wenn die Hälfte der Nigger ständig von einem Aufstand redet. Möchten Sie, daß ich Sie begleite?«
»Nein, vielen Dank. Es ist alles in Ordnung. Auf Wiedersehen.«
Verwirrt und beleidigt über die Zurückweisung warf Smith Madeline einen finsteren Blick zu, tippte an den Hut und ritt mißmutig davon.
Madeline wartete etwa fünf Minuten und rief dann Ashton aus ihrem Versteck. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie befürchtete, daß nun das ganze Komplott ans Tageslicht käme.
Nun, es war zu spät; sie konnten also genausogut weitermachen.
Ashton stöhnte in der baufälligen Hütte, obwohl überhaupt noch nichts geschehen war. Madeline saß von der Anstrengung des Nachmittags völlig erschöpft auf der kleinen Veranda in Aunt Belles Schaukelstuhl.
Die zähe, alte Frau mit einem Achtel Negerblut horchte auf die Schreie ihrer Patientin und paffte an ihrer Tonpfeife. »Sobald es vorbei ist und sie sich ausruht, werden wir drinnen die Strohsäcke für Sie und Nancy zurechtmachen.«
»Das ist lieb, vielen Dank, Aunt Belle.«
»Ich muß Ihnen sagen« – sie zeigte mit dem Pfeifenstiel auf Madeline –, »daß ich ihr nur helfe, weil Sie mich darum gebeten haben. Dieses Mädchen mißhandelt seine Leute.«
»Ja, ich weiß. Wir sind uns nie sehr nahegestanden, aber ich hatte das Gefühl, ich müßte ihr helfen. Sie wußte nicht, an wen sie sich hätte wenden können.«
»Machen Sie es sich nicht zur Gewohnheit, Ihre Haut für Leute ihres Schlags zu riskieren. Sie ist ein gemeiner, verwöhnter Schreihals, und das Wort Dankbarkeit kennt sie nicht.«
Madeline lächelte müde. Aunt Belle ging hinein. Die Tür wurde geschlossen.
Beim Anblick der Hebamme brach Ashton erneut in ängstliches Stöhnen aus. Die alte Frau sagte heftig: »Nancy, nimm die Flasche Schnaps dort und gieß ihr etwas in die Kehle. Und Sie, Missy – Sie sind ruhig und liegen still, oder ich schicke Sie fort, und dann können Sie Ihren Bastard haben – ob Ihnen das paßt oder nicht.«
Ashtons Klagelaute wurden leiser. Madeline sackte im Sessel zusammen und versuchte, sich zu entspannen, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder mußte sie an den mißtrauischen Blick von Watt Smith denken.
Als sie am nächsten Tag zur Kreuzung zurückfuhren, fiel Ashton mehrere Male in Ohnmacht. Madeline hatte das Gefühl, daß Ashton ihr etwas vorspielte; wahrscheinlich glaubte sie, ohnmächtig werden zu müssen. Pete traf sie mit der anderen Kutsche. Beim Abschied hatte Ashton gerade noch ein schwaches Lächeln und ein halbherziges Dankwort für sie übrig.
Der Sturm vom Vortag hatte die Straßen mit Ästen und Palmettowedeln übersät. Madeline sah, daß auch in Resolute Unordnung herrschte. Sie mußte einigen Leuten sagen, daß sie aufräumen sollten. Aber nicht heute. Morgen war immer noch früh genug…
»Miz Madeline!« Nancys eindringliches Flüstern riß sie aus ihrer müden Träumerei. Sie schaute auf und sah, wie Justin mit großen Schritten vom Haus herkam. Sein Gesicht war wutverzerrt.
»Ich hab’ gehört, daß du Charleston flußaufwärts gesucht hast«, brüllte er. »Hast du vergessen, wo es sich befindet?«
Sie wurde von Panik und Verwirrung geschüttelt. Watt Smith mußte hierhergeritten sein und erzählt haben, wo er sie gesehen hatte: auf einer abgelegenen Straße, wo keine anständige weiße Frau hingehörte. Jeder gewissenhafte Mann hätte so gehandelt. Eigentlich hatte sie es von Smith erwartet, aber sie hatte sich die Wahrheit nicht eingestehen wollen.
»Justin – «
Das Wort verhallte. Sie war zu betäubt und müde, als daß sie sich eine Lüge hätte ausdenken können.
Nancy und Pete blickten sich entsetzt an. Justin ging auf die Kalesche los, packte Madeline am Arm und zerrte sie heraus. Ihr Herz zitterte, und sie konnte es nicht fassen, daß er dabei noch lächelte. Er freute sich, daß sie in der Falle saß.
»Wo bist du gewesen?« Er schüttelte ihr Handgelenk; es tat weh. »Hast du mir Hörner aufgesetzt?«
»Justin, um Himmels willen, sag solche Sachen nicht vor – au!«
Tränen stiegen ihr in die Augen; er hatte sie wieder am Arm gezerrt, diesmal noch heftiger. Er trat dicht an sie heran.
»Hast du hinter meinem Rücken herumgehurt? Bald werden wir es wissen.« Er schleppte sie ins Haus.
»Ich frage dich zum letztenmal: Wo bist du gewesen?«
»Laß das, Justin. Ich hab’ dich nicht betrogen, wie du das nennst. Ich würde nie so etwas tun. Ich hab’ dir an unserem Hochzeitstag mein Versprechen gegeben.«
Während sie redete, trat sie einige Schritte zurück. Er folgte ihr quer durchs Schlafzimmer, die Schritte seiner schmutzverkrusteten Stiefel widerhallten sanft und stetig. Ein dreifüßiger Ständer mit einer Vase stand ihm im Weg. Er packte den Ständer und warf ihn beiseite. Der Ständer klirrte, die Vase zerbrach.
»Wo bist du dann gewesen?«
»Auf einem – einem privaten Botengang. Eine Frauensache.« Sie war zu Tode verängstigt und wußte nichts anderes zu sagen.
»Die Antwort befriedigt mich nicht.« Seine Hand schnellte vor, und er packte sie erneut am Handgelenk. »Ich will die Wahrheit wissen.«
»Laß mich los; tu mir nicht mehr weh, oder ich schreie so laut, daß das ganze Haus herbeieilt.«
Das amüsierte ihn offensichtlich. Er ließ sie los und trat zurück. »Mach nur. Niemand wird sich darum kümmern, außer vielleicht dieser Niggerschlampe, mit der du so dick befreundet bist. Aber warte nur, ich werd’ sie mir auch noch vornehmen.«
Eine neue, stärkere Furcht erfaßte Madeline. Obwohl sie Angst hatte, wußte sie, daß sie seinen Fragen beinahe unbegrenzt würde standhalten können. Aber wenn die arme Nancy da hineingezogen würde…
»Du brauchst nicht so beunruhigt zu sein, Liebes.« Sein Tonfall war freundlich und gesprächig. »Ich werde dir nicht weh tun. Kein Haar werde ich dir krümmen; das würde einen schlechten Eindruck machen. Überdies bist du eine Lady oder solltest wenigstens eine sein. Peitschenschläge und ähnliche Überzeugungsmittel sind für Nigger. Ich werde sie heute abend an deiner Niggerhure ausprobieren, und auch an ihrem Bock. Mittlerweile ersuche ich dich weiterhin höflich um eine Antwort.«
Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie haßte die Schwäche, die die Tränen aufsteigen ließ, aber die Schwäche war auf die Spannung, Erschöpfung und Angst zurückzuführen. Sie hatte sich nicht länger unter Kontrolle.
»Ich hab’ dir schon eine Antwort gegeben, Justin. Ich habe dich nicht betrogen. Das würde ich nie tun.«
Ein langgezogener, gekränkter Seufzer. »Liebes, das kann ich nicht akzeptieren. Ich werde dich leider in diesem Zimmer lassen müssen, bis du vernünftig wirst.«
»Hier lassen…?«
Sie verstand ihn erst nach einer Weile, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Wie ein Tier, das um sein Leben rennt, hastete sie an ihm vorbei zur Tür. Beinahe hätte sie es geschafft. Ihre Finger waren nur noch Zentimeter vom polierten Messingknopf entfernt. Da fuhr seine Hand dazwischen. Er packte sie am Handgelenk und schleuderte sie durchs Zimmer. Sie schrie auf, schlug gegen den Bettrand und fiel auf den Boden.
»Du hast mich mit deinen Lügen und deinem Ungehorsam zutiefst verletzt. Dieses Mal werde ich die Strafe nicht auf einen Tag und eine Nacht beschränken. Auf Wiedersehen, Liebes.«
»Justin!«
Sie drehte den Türknopf heftig hin und her, und es gelang ihr, die Tür einen Spalt breit zu öffnen. Aber er war stärker und zog sie von der anderen Seite zu. Als der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde, brach sie zusammen.
Sobald Justin draußen war, hörte er auf zu lächeln und ließ seinem wahren Gefühl, der Wut, freien Lauf. Die Bestrafung, die er soeben angeordnet hatte – Madeline würde für mindestens eine Woche eingesperrt bleiben –, würde nicht von großem Nutzen sein. Madeline hatte ihm während Jahren mit ihren Büchern und ihren unweiblichen Ansichten die Stirn geboten. Ihre letzte Eskapade war nur der Höhepunkt ihrer Auflehnung gewesen. Eine Auflehnung, die durch seine Toleranz noch genährt worden war…
Durch seine Schwäche.
Aber das würde nun alles anders werden, gelobte er sich, als er die Treppe hinunterstürmte. Er brüllte die Hausneger an, sie sollten Nancy und Pete suchen. Aber die beiden waren nirgends zu finden.
Eine Stunde später wurde ihm klar, daß sie davongerannt waren. Seine ungeheure Wut wurde noch heftiger. Er ließ durch einen Boten Francis ausrichten, unverzüglich eine Patrouille zu organisieren. Sollten sie gefaßt werden, waren die Flüchtlinge auf der Stelle zu erschießen.
Die beiden wurden nur einmal kurz gesehen, und zwar zwei Tage später auf einer Fähre, als sie den Savannah-Fluß überquerten. Irgendwoher hatten sie gefälschte Pässe bekommen. Keiner der Nachbarn von Resolute sah sie jemals wieder.
Wie lange war sie schon eingeschlossen? Drei Tage? Nein, es mußten vier Tage sein, dachte sie.
Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, was mit Nancy und Pete geschehen war. Sie befürchtete, daß sie mißhandelt oder getötet worden waren. Sie war verwirrt und konnte sich kaum noch in Erinnerung rufen, weshalb sie sich um die beiden sorgte. Tagsüber schlief sie, und des nachts irrte sie in ihrem Zimmer – in ihrem Käfig – umher. Vor den verriegelten Fenstern stand rund um die Uhr eine Wache. Einmal pro Tag, bei Sonnenaufgang, kamen zwei Hausneger an die Tür. Einer paßte auf, und der andere stellte die Essensration für einen Tag hinein. Sie bestand aus drei halben Schnitten grobkörnigem Schwarzbrot und einer kleinen Schüssel Wasser. In den wenigen Sekunden, während denen die Türe offen stand, warfen ihr die Sklaven hastige, mitleidige Blicke zu, aber sie trauten sich nicht, etwas zu sagen.
Da sie kein Wasser bekam, um sich zu waschen, brauchte sie jeden Tag ein wenig dafür aus der kleinen Schüssel. Es half nichts; sie bemerkte bald, daß sie anfing zu stinken. Am dritten Tag, während sie schlief, schlüpfte jemand herein und leerte den randvollen Nachttopf. Zu diesem Zeitpunkt roch es in ihrem Zimmer bereits wie in einem Stall.
Aber was machte es schon? Mit jeder Stunde, die verstrich, nahm sie ihre Umgebung weniger wahr. Sie hörte eigenartige Geräusche, und in den Zimmerecken tanzten merkwürdige Lichtreflexe, blutrot oder schneeweiß…
Oder waren sie in ihrem Kopf?
»Orry. Orry, warum bist du nicht früher gekommen?«
Sie sah ihn mit traurigen Augen bei der Tür stehen, die rechte Hand ausgestreckt. Dankbar rannte sie zu ihm hin. Als sie ihn eben berühren wollte, verschwand er.
Sie begann zu weinen. Zutiefst in ihr sagte eine dünne, ruhige Stimme: »Wie beschämt dein Vater wäre, wenn er das sehen würde.«
Aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie war krank, erschöpft, verängstigt. Nach einer Weile gingen ihre Schluchzer in Schreie über.
»Eine stärkende Mahlzeit – das ist es, was sie braucht.«
»Ja, Herr Doktor«, sagte Justin besorgt, »wir haben schon die ganze Woche versucht, sie davon zu überzeugen, aber sie weigert sich.«
Justin und der Arzt schauten sich an; ihre Gesichter strahlten Mitgefühl und Besorgnis aus. Nur ihre Augen verrieten ihre wahren Gefühle.
Madeline bemerkte es, aber sie verstand die Bedeutung nicht. Sie war halb bewußtlos; das schwarze Haar fiel ihr unordentlich über die Schultern; ihre großen Augen blickten wie die eines Kindes; ihr Gesicht war leichenblaß.
»Oh, das erstaunt mich keineswegs«, sagte der Arzt mit weisem Lächeln. »Das ist ein häufiges Symptom bei nervöser Erschöpfung.« Er war ein rundlicher, elegant gekleideter, an Erfolg gewöhnter Mann namens Lonzo Sapp.
»Glücklicherweise«, fuhr er fort, »verfügt die moderne Medizin über eine Behandlungsweise, die meistens erfolgreich ist: Bettruhe, viel heißen Tee und Essen, wenn sie sich besser fühlt. Ich verschreibe ihr auch noch ein recht starkes Sellerietonikum, das sie einmal täglich einnehmen soll.«
»Sellerietonikum?« wiederholte Justin. »Ihre eigene Mischung?«
Dr. Sapp nickte. »Die Basis ist Weinessig, dem Sellerie zugesetzt wird.«
Der Arzt lehnte sich über das Bett und strich Madeline eine Strähne aus der Stirn. Ihre Haut glänzte im Licht der Kerzen, die neben dem Bett in einem Kandelaber standen. Als er ihr so über das Haar strich, glich er einem liebenswürdigen Vater. »Wenn Sie mich hören können, Mrs. LaMotte, möchte ich Ihnen sagen, daß Sie bald wieder Sie selbst sein können. Wollen Sie das?«
Ihre dicke, ausgetrocknete Zunge hing über die aufgesprungene Unterlippe. Sie gab keinen Laut von sich, starrte den Arzt mit gepeinigten Augen an, die sie kurz schloß, um ihr Einverständnis kundzutun.
»Dann müssen Sie meine Anordnungen genau befolgen. Ihr Gatte hat mich aus Charleston holen lassen. Er ist über Ihren Zustand zutiefst besorgt. Ich habe ihn beruhigt, aber es liegt letztlich allein in Ihren Händen, ob Sie gesund werden. Werden Sie alles tun. was ich Ihnen sage?«
»J-ja.«
Justin bückte sich und küßte sie sanft auf die Wange. Jetzt, da er ein Mittel gegen ihr rebellisches Wesen gefunden hatte, fühlte er sich sehr viel besser. Zudem war es auch eine Art Rache, da sie ihn zum Hahnrei gemacht hatte. Er war ganz sicher, daß dies letzte Woche der Fall gewesen war, und vielleicht hatte sie es schon seit Jahren getan. Auf jeden Fall war sie oft genug allein fortgegangen.
Indem er sie eingesperrt hatte und sie hungern ließ, hatte er ihren Widerstand gebrochen. Nur etwas warnte ihn: Sie hatte ihm noch immer nicht verraten, mit wem sie an jenem Tag wo gewesen war.
Zuerst hatte es ihn rasend gemacht, daß er nicht an diese Information herangekommen war. Als er aber merkte, daß sie ihm dies nie sagen würde, interpretierte er ihr Schweigen anders. Eigentlich war es für ihn von Vorteil, denn hätte er den Namen ihres Liebhabers erfahren, so hätte er sich wahrscheinlich gedemütigt gefühlt. Es hätte ja ein weißer Trödler oder irgendein Handwerker sein können, oder, noch schlimmer, ein Nigger. Nein, Unwissenheit war der Wahrheit vorzuziehen. Zumindest sagte ihm dies sein Verstand. Was seine Gefühle betraf, so wuchs in ihm ein neuer, stetiger Haß auf seine Frau.
Davon war ihm jedoch nichts anzumerken, als er neben ihrem Bett stand. Zuvor hatte er sich großzügig mit einem nach Zimt duftenden Hautwasser eingestrichen, denn Madeline und das Zimmer stanken fürchterlich. Das konnte ja jetzt aufhören. Er ging zu den Fensterläden und riß sie auf.
Kühle Nachtluft strömte herein, die Kerzen flackerten. Ihre Augen glänzten vor Dankbarkeit.
»Sobald sie wieder bei Kräften ist, wird sie auch wieder bei Sinnen sein«, versicherte ihm Sapp, als sie das Zimmer verließen. »Es ist die Schwäche, die die Verwirrung ihres Geistes hervorgerufen hat.«
Der Arzt schloß die Schlafzimmertür, schaute sich in der Halle nach allen Seiten um und fuhr dann flüsternd fort: »Nach einer Woche sollte sie sich an das Tonikum gewöhnt haben und nicht mehr argwöhnisch sein. Dann können Sie es durch das Mittel, das wir besprochen haben, ersetzen.«
»Dasjenige mit dem Laudanum?«
»Nur eine kleine Dosis. Nichts, was schaden könnte, verstehen Sie. Nur so viel, daß sie ruhig und erträglich bleibt.«
Sie schlenderten zum Treppenabsatz. Dr. Sapp fuhr fort: »Sollten wir das Tonikum absetzen wollen, dann gibt es andere Möglichkeiten, um die medizinische Behandlung fortzusetzen. Opiumtinktur ist eine dunkle Flüssigkeit, aber sie kann in Kekse eingebacken, zum Einstreichen von gewissen Fleischstücken verwendet oder auch mit Weinessig gemischt über Gemüse gegossen werden. Ich möchte damit sagen, daß es sehr viele Anwendungsmöglichkeiten gibt. Wenn Sie de Quincey gelesen haben, dann wissen Sie natürlich, daß Nebenwirkungen auftreten werden. Müdigkeit, Verstopfung, und vielleicht auch Anzeichen von vorzeitigem Altern. Die Symptome können jedoch ohne Schwierigkeiten andern Ursachen zugeschrieben werden. Anstrengung und Belastung des täglichen Lebens«, sagte er achselzuckend. »Sie braucht niemals zu erfahren, daß sie Laudanum bekommt.«
»Das ist wirklich eine gute Neuigkeit«, sagte Justin mit der Erleichterung eines Mannes, der die ganze Nacht aufgeblieben war und endlich schlafen gehen konnte. Auf seinem Gesicht machte sich ein trauriges Lächeln breit. »Ich habe mir solche Sorgen um sie gemacht.«
»Natürlich.«
»Ich will alles daransetzen, damit ihre Nerven beruhigt werden und ihr Seelenfrieden wieder einkehrt.«
»Ein bewundernswertes Ziel.«
»Ich möchte nicht, daß sie sich – oder die Familie – kompromittiert.«
»Ich verstehe«, murmelte Dr. Sapp mit einem Lächeln, das genauso höflich war wie dasjenige seines Gastgebers.
»Noch eine Frage, Doktor. Wie lange kann die Behandlung fortgesetzt werden?«
»Nun, wenn Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind – ein Jahr. Zwei Jahre. Unbegrenzt.«
Die beiden Männer schauten sich erneut ohne ein Wimpernzucken in die Augen: Ihr Einvernehmen war perfekt. Sie plauderten wie alte Freunde und begaben sich nach unten.
40
Ende März des Jahres 1855 wurde Ashtons Hochzeit mit James Huntoon in Mont Royal gefeiert. Orry fand es eine trübe Angelegenheit. Clarissa lächelte der Braut zu, wußte jedoch nicht, wer sie war.
Gleich nach der Zeremonie machte Ashton eine Szene. Huntoon hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt stets widersetzt, eine Hochzeitsreise nach New York in Betracht zu ziehen. Dies war jedoch der einzige Ort, der Ashton interessierte. Die Tatsache, daß sie einerseits alle Yankees verachtete, andererseits jedoch ihre Restaurants und Theater heiß und innig liebte, schien kein Widerspruch für sie darzustellen. Bis zur letzten Sekunde bestand Huntoon darauf, daß sie nach Charleston gingen. Ashton warf ihm ein Stück Kuchen ins Gesicht, schmollte, und der schwitzende Bräutigam änderte unverzüglich seine Meinung; er hatte nämlich Angst, daß sonst Wochen vergehen könnten, bis seine Frau ihm ihre Gunst erweisen würde. Als sie mit der Kutsche wegfuhren, war Ashton wieder bester Laune.
Von diesem Zwischenfall abgesehen, erzürnte Cooper natürlich die meisten männlichen Gäste mit seinen Ansichten. Er stellte immer wieder die Frage, weshalb weder die Sklavengegner noch die Plantagenbesitzer Emersons Vorschlag, den er im Februar der ›New Yorker Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei‹ unterbreitet hatte, auch nur einen Augenblick lang in Erwägung zogen. Emersons sorgfältig ausgearbeiteter Entwurf für eine stufenweise Emanzipation sah vor, daß den Sklavenhaltern Zahlungen von nicht weniger als zweihundert Millionen Dollar geleistet wurden – ein seiner Ansicht nach geringer Preis für die Beseitigung einer nationalen Schande und die Erhaltung des Friedens.
»Beide Seiten hatten nur Hohn übrig«, sagte Cooper. »Nun, ich denke, ich habe eine Erklärung dafür. Sobald es keinen Anlaß mehr für einen Protest gibt, haben die Protestierenden ausgespielt.«
»Wollen Sie damit sagen, daß der Kampf für die Rechte des Südens von zynischen Männern geführt wird?« fragte ein Zuhörer.
»Einige davon meinen es ehrlich. Aber andere wollen, daß die Abolitionisten weiterhin extrem handeln, denn nur dann kann der Süden eine Loslösung von der Union oder eine eigene Regierung rechtfertigen – was natürlich barer Wahnsinn ist.«
Die andern dachten, daß Cooper verrückt und dazu gefährlich war. Früher mochte er ein lästiger Kerl gewesen sein, doch seit er sich für Edmund Burke und dessen politische Ideen interessierte und der Demokratischen Partei von Charleston beigetreten war, durfte er nicht mehr als harmlos bezeichnet werden.
Er hatte sich den Eintritt in die Partei auf ganz einfachem Weg verschafft, indem er mehrere größere Beträge spendete. Es handelte sich um so große Summen, daß es sich die Parteispitze nicht leisten konnte, ihn zu ignorieren. Zudem war er nicht der einzige Mann im Staat, der eine unpopuläre Meinung über die Entwicklung des Südens vertrat.
Cooper fing an, herumzureisen und sich mit andern gemäßigten Demokraten zu treffen und zu besprechen. In Virginia wurde er einem Mann vorgestellt, dessen Ansichten ihn sehr überzeugten. Es handelte sich um einen Politiker namens Henry Wise, der unbedingt Gouverneur werden wollte. Wise verteidigte die Sklaverei mit Leib und Seele, aber er vertrat zugleich die Ansicht, daß diejenigen, die die Sezession befürworteten, Ränkeschmiede oder Idioten waren.
»Ich verstehe natürlich, weshalb sie sich so verhalten«, sage Wise. »Sie wollen die Macht, die der Süden an den Norden und Westen verloren hat, wieder zurückgewinnen. Vielleicht gestehen sie sich das selber nicht einmal ein. Verdammt noch mal, vielleicht glauben sie an ihre eigenen blöden Äußerungen. Aber sie sind gefährlich, Cooper. Sie sind organisiert, aktiv und vertreten ihre Meinung lautstark – eine Gefahr für den ganzen Süden.«
Cooper lächelte auf die ihm eigene trockene, traurige Art. »Wenn sich schlechte Männer zusammentun, dann müssen sich die guten verbünden, denn sonst fallen sie, einer nach dem andern; ein Opfer, das sinnlos ist.«
»Ein weiser Ratschlag.«
»Das war er auch schon, als er 1770 das erste Mal von Burke niedergeschrieben wurde. Das Problem ist, daß man alles wieder vergessen hat.«
»Man hat es nicht vergessen; die Extremisten wollen es einfach nicht hören. Die Extremisten auf beiden Seiten.« Wise hielt inne und betrachtete den Gast. »Ich habe viel von Ihnen gehört, Cooper. In Ihrem Heimatstaat werden Sie schon seit langem wie ein Ausgestoßener behandelt. Ich bin froh, daß Sie der Demokratischen Partei beigetreten sind. Wir könnten noch viele von Ihrer Sorte gebrauchen – vorausgesetzt, es ist nicht bereits zu spät.«
Die politische Entwicklung schien ihm recht zu geben; beide Seiten fuhren mit ihren Provokationen fort.
In Massachusetts trat ein Gesetz in Kraft, das die persönliche Freiheit aller, auch der Schwarzen, garantierte. Das Gesetz war eine Reaktion auf die Burns-Affäre vom Vorjahr. Ein flüchtiger Sklave namens Anthony Burns war im Gericht von Boston in Haft gehalten worden, während Abolitionisten versuchten, ihn freizubekommen, was ihnen aber nicht gelang. Die Bundes- und Staatsbehörden hatten sich daraufhin damit einverstanden erklärt, den Sklaven an den Eigentümer im Süden zurückzugeben.
In der Zwischenzeit wurde in Kansas mit Hilfe der sogenannten Grenzraufbolde aus Missouri eine sklavereifreundliche Legislative gewählt. Die Raufbolde waren mit Pistolen und Gewehren bewaffnet nach Kansas geströmt und hatten die Wahl durch Einschüchterung und Betrug zu ihren Gunsten entschieden. Die auf betrügerische Art gewählte Legislative setzte daraufhin Gesetze in Kraft, die harte Strafen für sklavereifeindliche Agitation vorsah.
Monat für Monat erhöhten beide Seiten ihren Einsatz bei diesem grausamen Spiel. Missouri sandte Horden von nächtlichen Reitern über die Grenze. Der Nordosten schickte den Sklavereigegnern Kisten, gefüllt mit Waffen. Als Inhalt dieser Kisten wurde ›Bibeln‹ angegeben, was Cooper bei einem Treffen der Demokraten in Columbia zu der Bemerkung veranlaßte: »Sogar Gott ist schon einberufen worden. Beide Lager behaupten, daß Er auf ihrer Seite stehe. Glauben Sie, daß Er hin und her rennt? Er muß ja völlig erschöpft sein.«
Keiner lachte.
An einem Nachmittag kam Cooper auf dem Dock der C.S.C. mit dem Vorarbeiter, einem Mann namens Gerd Hochwalt, ins Gespräch. Seine Eltern hatten sich als Einwanderer in Charleston niedergelassen. Der Vorarbeiter konnte zwar mit Drückebergern hart sein, im Grunde war er jedoch ein sanfter Mann mit einem gutmütigen Charakter und einem starken Glauben. Er war verheiratet, hatte elf Kinder und wohnte in einem Haus am Stadtrand, das kaum groß genug war, um allen Platz zu bieten.
Das Gespräch kam bald auf die jüngst in Big Springs, Kansas, abgehaltene Anti-Sklaverei-Konferenz. Die Teilnehmer hatten einen Plan vorgelegt, wonach das Territorium sich um eine Aufnahme als freier Staat in die Union bemühen sollte. Zudem hatten sie die von der betrügerisch gewählten Legislative erlassenen Gesetze als null und nichtig erklärt. Das Vorgehen von Big Springs war in einem besonders scharfen Leitartikel des Mercury verurteilt worden. Hochwalt lobte den Artikel in den höchsten Tönen.
»Ich habe ihn auch gelesen«, sagte Cooper, »aber ich finde, daß er genauso nichtssagend ist wie die früheren Artikel.« Beide Männer behielten während des Gesprächs die schwarzen Packer im Auge, die die Mont Royal mit Baumwollballen für eine Fabrik in Liverpool beluden. Das Schiff wurde wie immer voll ausgelastet, und auf jeden Kunden kamen drei, die warteten. Die Frachtlinie wies einen monatlichen Gewinn von sechzig bis siebzig Prozent aus. Sogar Orry hatte mit der Zeit bemerkt, wie erfolgreich Cooper war.
Hochwalt rügte einen Packer, der gestrauchelt war und die andern Arbeiter aufhielt. Dann wischte er sich mit einem Taschentuch den schweißnassen Nacken ab und sagte: »Mr. Rhetts Äußerungen mögen zwar abgedroschen sein, aber ich glaube daran.«
»Wie können Sie das bloß, Gerd? Er hat wiederum dazu aufgerufen, eine eigene Regierung zu bilden.«
»Und wieso nicht, Sir? Soweit ich mich zurückerinnern kann, haben uns die Nordstaatler beleidigt und verhöhnt. Sie glauben, jeder einzelne von uns sei ein Stück Dreck. Eine Nation von Bordellbesitzern! Das ist doch der Ausdruck, den sie gebrauchen, oder nicht? Ich habe nie einen Sklaven besessen oder das System unterstützt; nie in meinem ganzen Leben. Die Beleidigungen der Nordstaatler treiben mich zur Weißglut. Wenn sie nicht damit aufhören, dann müssen wir in Gottes Namen unsere eigenen Wege gehen.«
Gefühlsmäßig konnte Cooper Hochwalt verstehen, verstandesmäßig war es ihm jedoch unmöglich.
»Aber sehen Sie denn nicht, daß Männer wie Bob Rhett, James Huntoon und Mr. Yancey von Alabama uns in den Abgrund stürzen werden?«
Hochwalt überlegte kurz. »Nein, Sir. Aber auch wenn sie das tun, so werde ich mich ihnen anschließen.«
»Um Himmels willen, Mann, wieso?«
Der Vorarbeiter starrte Cooper an, als wäre dieser nicht ganz bei Trost.
»South Carolina ist meine Heimat. Diese Männer setzen sich dafür ein. Niemand sonst tut das, Mr. Main.«
Ein paar Abende später sagte Cooper zu seinem Bruder: »Ich muß dir gestehen, Orry, mir graute, als Hochwalt mir das sagte. Er ist kein heißblütiger Revolutionär, sondern ein seriöser, respektabler Deutscher. Wenn er und andere anständige Männer seiner Art den Extremisten Gehör schenken, dann steht es schon schlimmer um uns, als ich je vermutet hätte.«
Orry war nach Charleston geritten, um die Bücher der Schiffsgesellschaft durchzusehen. Er und Cooper hatten sich fast den ganzen Tag dieser Arbeit gewidmet; Orry hatte schließlich seine Zufriedenheit geäußert und seinem Bruder ein Lob ausgesprochen – eine Seltenheit. Nun saßen die beiden in bequemen, weißgestrichenen Schaukelstühlen und sahen in den Garten der Tradd Street hinaus. Der kleine Judah, ein stämmiger Junge, rollte dem Baby, Marie-Louise, die mit gespreizten Beinen im dichten Gras saß, einen Ball zu.
Orry kam wieder auf das Geschäft zu sprechen. »Ich bin dankbar, daß die Schiffe voll ausgelastet sind. Der Reismarkt in Südeuropa befindet sich immer noch in einer Krise, und die Nachfrage sinkt mit jedem Monat mehr. Du hast gut daran getan, unsere Tätigkeit zu erweitern.«
Als er dies sagte, tönte seine Stimme eigentlich nicht anders als gewohnt. Und doch wußte Cooper, daß irgend etwas nicht stimmte, aber die Ursache war ihm nicht klar. Gerade als er Orry fragen wollte, kam Judith mit einem Päckchen in der Hand aus dem Haus.
»Ein Bursche der Colony-Buchhandlung hat das für dich abgegeben, Orry.«
»Oh – das Buch, das ich heute morgen kaufen wollte. Sie hatten es nicht mehr am Lager, aber sie erwarteten eine Sendung von zwölf Exemplaren für heute nachmittag.« Er packte das Paket hastig aus. Als Judith die Goldschrift sah, klatschte sie überrascht in die Hände.
»Leaves of Grass! Das ist ja der Gedichtband, gegen den Reverend Entwhistle am letzten Sonntag gewettert hat. Ich habe seine ganze Predigt in der Zeitung gelesen. Er sagte, das Buch sei durch und durch unflätig, es sei das Werk eines Mannes, der nicht mehr auf die Stimme von Vernunft und Ordnung hören wolle.«
Cooper sagte: »Das Buch wird von den Geistlichen des Nordens genauso verdammt. Wie war doch der Name des Verfassers?« Er drehte das Buch in der Hand seines Bruders um: »Whitman. Seit wann hast du denn Zeit für moderne Poesie, und seit wann interessierst du dich dafür?«
Orry errötete unter seinem Bart. »Ich habe es als Geschenk gekauft.«
»Für jemanden in Mont Royal?«
»Nein, für einen Bekannten.«
Cooper drängte nicht, aber er fragte sich, ob er auf diese Art vielleicht den Grund für die schlechte Stimmung seines Bruders erfahren hätte.
»Das Abendessen ist demnächst soweit«, sagte Judith. »Rachel hat seit dem frühen Morgen Krabben gefangen.« Rachel war die freie schwarze Köchin. »Ich habe Ashton und James eingeladen, aber sie waren schon anderweitig verpflichtet. Wir sehen sie selten. Ich muß leider gestehen, daß sie noch nie hier gegessen haben, obwohl wir so nahe beisammen wohnen. Jedesmal, wenn ich sie einlade, haben sie etwas vor.«
Die Huntoons waren in ein elegantes, luftiges Haus an der East Battery gezogen, nur wenige Schritte von der Tradd Street entfernt. Orry war an Ashtons Haus vorbeigeritten, aber eigenartigerweise hatte er gar keine Lust, seine Schwester zu besuchen.
»Sie haben eine Menge neuer Freunde«, erklärte Cooper. »Die meisten von ihnen sind Anhänger von Bob Rhett. Ich muß gestehen, daß es nicht gerade angenehm ist, von seinen Blutsverwandten gemieden zu werden, aber ich glaube, es ist besser, wenn sie uns nicht besuchen oder mit uns essen. James und ich vertreten so radikal verschiedene politische Ansichten, daß wir unter Umständen schon nach der Vorspeise einen Zeitpunkt für ein Duell vereinbaren müßten.«
Er sah etwas fröhlicher aus, als er in die Hände klatschte und rief: »Kinder! Es ist beinahe Essenszeit. Kommt und setzt euch auf meinen Schoß!«
Orry konnte seine Gedanken nicht von Madeline abwenden. Er starrte das Buch an, wickelte es wieder ein und ließ es sorgfältig in seine Tasche gleiten.
Beim Abendessen versuchte Cooper mehrere Male das Gespräch auf das Erweiterungsvorhaben zu lenken, über das er in letzter Zeit viel nachgedacht hatte. Es handelte sich um einen nicht alltäglichen Plan, der gute Nerven und weitaus mehr Kapital erforderte, als die Mains problemlos flüssig machen könnten. Als möglichen Partner hatte er sich George Hazard vorgestellt, aber das Gespräch kam nie soweit, denn Orry ließ alle Diskussionen über das Geschäft im Sand verlaufen. Während des ganzen Essens gab er kaum zwanzig Worte von sich. Als Cooper in dieser Nacht mit Judith im Bett lag, wurde ihm bewußt, daß sein Bruder seit den ersten Monaten nach der Rückkehr aus Mexiko nie mehr in einer solch eigenartigen, gedrückten Stimmung gewesen war.
Huntoons Anwaltskanzlei wie auch sein Ruf wuchsen stetig, Ashton war maßgeblich daran beteiligt. Sie gab Parties, Empfänge und Abendessen; sie pflegte die Beziehungen mit den führenden Männern der Umgebung und ihren häßlichen, herrischen Frauen, ohne jemals durchblicken zu lassen, wie sehr sie sie abstießen oder wie raffiniert sie sie zu manipulieren verstand.
Huntoon arbeitete viele Stunden an einer Ansprache über die sich zuspitzende nationale Krise. An einem Spätsommerabend hielt er vor ungefähr dreißig Gästen im Haus an der East Battery eine Kurzfassung der Rede. Unter den Gästen befanden sich der Verleger Rhett und der vielleicht schärfste Verfechter der Sezession, William Yancey aus Alabama. Er sah sanft und ungefährlich aus, aber er war ein brillianter Redner. Einige nannten ihn ›Prinz der Extremisten‹. Ashton träumte davon, daß er zum König befördert werden würde, damit ihr Gatte den andern Titel übernehmen könnte.
Huntoon, die Silberrandbrille sozusagen als Requisit in der einen Hand, gab sich die größte Mühe, seine Redegewandtheit unter Beweis zu stellen. Die Gäste hörten dem Abschluß seiner Rede, die Ashton auswendig kannte, gespannt zu.
»Die Union gleicht einem riesigen Fort, meine Damen und Herren, das bereits zur Hälfte in die Hände der barbarischen Eindringlinge übergegangen ist. Loyalisten halten immer noch die andere Hälfte, die sie während Generationen rückhaltlos verteidigt haben. Nun ist auch dieser Teil bedroht. Und ich für meinen Teil würde eher das Magazin anzünden und alles in die Luft fliegen lassen, als daß ich den Barbaren auch nur einen Zentimeter zugestehen würde!«
Ashton führte den Applaus an, der laut und überschwenglich war. Während Haussklaven Punsch auf Silbertabletts anboten, näherte sich Yancey Huntoon.
»Eine solche extreme Tat mag sehr wohl nötig werden, James. Und danach muß ein neues Fort auf dem Schutt des alten errichtet werden. Für diese Arbeit brauchen wir loyale Helfer – und fähige Führungskräfte.«
Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, betrachtete er Huntoon als einen der letzteren, oder wenigstens als einen Anwärter, wie Huntoon sich einbildete.
Ashton verstand wenig von den Fragen, die die Männer so endlos erörterten. Sie scherte sich einen Dreck um die Rechte des Südens und wußte nicht einmal, worin sie bestanden – abgesehen vom gottgegebenen Recht, Eigentum in Form von Niggern zu besitzen. Die ganzen Diskussionen faszinierten sie, weil sie sah, wie andere davon aufgewühlt wurden. In dieser Reaktion ahnte sie instinktiv eine Möglichkeit, Macht zu bekommen und zu halten. Ihr Gatte hatte sie davon überzeugt, daß es eines Tages eine eigene Regierung im Süden geben werde. Und sie wollte eine der wichtigsten Damen der politischen Kreise werden.
»James, du warst einfach großartig«, sagte sie, als sie seinen Arm ergriff. »Ich möchte sagen, du hast dich selber übertroffen.« Sie lechzte nach mehr Applaus, und die Taktik hatte Erfolg. Die umstehenden Gäste spendeten erneut Beifall. Yancey schloß sich den andern mit einem »Hört, hört« an.
»Vielen Dank, Liebling.« Huntoons dankbarer Blick grenzte ans Pathetische. Wenn sie allein waren, machte ihm Ashton selten ein Kompliment und sagte ihm oft, er sei ein schlechter Liebhaber.
An diesem Abend lösten die vielen wichtigen Persönlichkeiten und die erfolgreiche Rede jedoch eine unerwartete sexuelle Erregung bei Ashton aus. Sie konnte es kaum erwarten, bis alle Gäste gegangen waren und sie nach oben eilen, die Kleider ausziehen und ihren Gatten neben sich zerren konnte.
Er schwitzte und schnaufte und gab sich alle erdenkliche Mühe. Später fragte er flüsternd: »War es gut so?«
»Ausgezeichnet«, log sie. Er war in seiner Rolle als Extremist so gut, daß sie ihn nicht enttäuschen wollte. Aber er vermochte sie mit seiner plumpen Art nie zu erregen, und im Grunde widerte er sie an. An diesem Abend tröstete sie sich damit, daß alles, auch die Rolle einer angesehenen Dame, seinen Preis hatte.
Sie beschloß, daß wieder mal eine Reise nach Hause fällig war – und zwar bald.
Ashtons Liebhaber hatte einen neuen Ort für ihre Treffen gefunden: die Ruinen einer Kirche auf dem Land mit dem Namen Salvation Chapel. Was für ein köstlich lasterhaftes Erlebnis war es doch, im Sonnenschein draußen ihre Kleider hochzuziehen und sich von Forbes auf dem Kalkfundament nehmen zu lassen!
Sein angebundenes Pferd wieherte und scharrte in der Nähe, und aus der Ferne waren Schüsse zu hören; man versuchte, die Vögel von den Reisfeldern wegzutreiben. Das Geräusch des Pferdes und der Gewehre steigerte ihre Erregung, und danach war sie schlaff vor Befriedigung.
»Ich hab’ Angst, daß ich dir ein Kind mache«, sagte Forbes, sein hübsches, schweißtriefendes Gesicht knapp über dem ihrigen.
Ashton leckte sich die Mundwinkel. »Ich finde, das Risiko verleiht der ganzen Sache einen zusätzlichen Reiz.«
Sie war sich ziemlich sicher, daß die Gefahr, schwanger zu werden, recht klein war. Huntoon war die ganze Zeit bei ihr, und bis anhin war sie noch nicht in Erwartung. Sie vermutete, daß bei Aunt Belle Nin irgend etwas beschädigt worden war. Vielleicht würde sich dies auf die Dauer als Vorteil erweisen, obwohl der Gedanke an Unfruchtbarkeit sie manchmal traurig stimmte.
»Ja, so lange, bis ein Baby den Kopf in die Welt streckt, das mir anstatt Huntoon gleicht«, sagte Forbes.
»Laß James meine Sorge sein. Du sollst dich um etwas anderes kümmern.«
Mit diesem Satz zog sie ihn in ihre Arme. Das Geräusch der in der Ferne explodierenden Gewehre erregte sie von neuem.
Das Fundament hinterließ Schürfungen auf ihrem Hinterteil, aber das nahm sie gern in Kauf. Forbes war ein ausgezeichneter Liebhaber, aufmerksam und stürmisch, wenn sie zusammen waren, aber bereit, ohne sie auszukommen, bis sie ihn wieder treffen wollte. Eitelkeit hielt Ashton davon ab zu fragen, wo Forbes während ihrer Abwesenheit seine außerordentlichen Fähigkeiten praktizierte.
Aber offensichtlich konnten die andern ihr nicht das Wasser reichen, denn Forbes war jedesmal, wenn sie rief, zur Stelle.
Als sie nach Mont Royal zurückritten – Forbes begleitete sie bis knapp eine Meile vor das Herrenhaus – diskutierten sie wieder einmal wie besessen, auf welche Art und Weise sie Billy Hazard verletzen könnten. Forbes war immer wieder von Ashtons Phantasie fasziniert, und zwar nicht zuletzt darum, weil sie so stark auf Macht, sexuelle Abenteuer und Rache ausgerichtet war.
»Ich hab’ gelesen, daß du vor ein paar Tagen Mr. Yancey zu Gast hattest«, bemerkte Orry an diesem Abend beim Essen.
Ashton war stolz darauf, daß der Mercury dem Treffen eine halbe Spalte gewidmet hatte. »Ja, das stimmt. Er hatte einige gepfefferte Dinge über die Yankees zu sagen. James übrigens auch. Natürlich« – sie wandte sich Brett zu, die ihr gegenüber saß – »machen wir Ausnahmen für Freunde der Familie.«
»Das hab’ ich mich schon gefragt«, sagte Brett, ohne zu lächeln.
»Sicher tun wir das. Billy ist etwas Besonderes.« Ashton lächelte liebenswürdig und vollkommen aufrichtig, aber ihre Gefühle waren so heftig und giftig, daß sie Bauchschmerzen bekam. »Hat er schon etwas wegen einem Hochzeitstermin gesagt?«
Orry beantwortete die Frage. »Nein. Er wird ja erst im nächsten Juni abschließen. Und was verdient ein Leutnant heutzutage? Tausend Dollar pro Jahr? Davon kann eine Familie nicht leben. Ich bin der Ansicht, daß es viel zu früh ist, um über eine Heirat zu reden.«
Bretts Augen funkelten, als sie ihren Bruder anschaute. »Das haben wir auch noch nicht.«
Aber Ashton fühlte, daß es eines Tages so weit kommen würde. Das könnte der ideale Augenblick sein, um zuzuschlagen: genau dann, wenn sie am glücklichsten waren.
Nach dem Abendessen ging Ashton zum Familienfriedhof. Ein regelmäßiger, starker Wind war aufgekommen. Er wühlte in ihrem Haar, das wie eine dunkle Flagge flatterte. Sie kniete bei Tillets Grab nieder. Dies war der einzige Ort, wo sie sich über ihr Verhalten Männern gegenüber schämte. Ihre Stimme war sanft, aber voller Gefühl.
»Die Dinge entwickeln sich gut für James, Papa. Ich wünschte, du könntest hier sein und es sehen. Ich weiß, daß du dir einen dritten Sohn statt einer Tochter gewünscht hast, aber du wirst auf mich stolz sein können. Ich hab’ dir das ja schon früher versprochen. Ich werde eine berühmte Dame werden. Mein Name wird im ganzen Süden bekannt sein. Sie werden um meine Gunst werben, und auch um diejenige von James. Ich schwöre es dir, Papa, ich schwöre es dir.«
Als Ashton das Haus verließ, ging Orry in die Bibliothek und blies die schon brennende Lampe wieder aus. Er öffnete die Fensterläden und atmete die kühle Abendluft tief ein. Sie roch nach Herbst und nach dem Wasser vom Fluß. Sein Blick schweifte langsam im Zimmer herum und blieb in einer dunklen Ecke hängen. Er starrte seine Uniform an. Dann erinnerte er sich, daß die Ernte eingeholt werden sollte, aber er verspürte überhaupt keine Lust dazu.
Was war mit Madeline geschehen?
Die Frage quälte ihn schon seit Tagen. Madeline hatte sich zurückgezogen, verließ Resolute nur noch selten und dann auch nur in Begleitung ihres Gatten. Orry war der Kutsche der LaMottes vor ein paar Wochen auf der Flußstraße begegnet. Er hatte ihnen zugewinkt – vielleicht etwas zu heftig, wie er befürchtete, aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Madeline erwiderte seinen Gruß auf die genau gleiche Art wie Justin: ein lebloses Lächeln, ein starrer Blick und eine Handbewegung, die einen Gruß nur andeutete. Die Kutsche fuhr an ihm vorbei und war bald außer Sichtweite.
Orry nahm »Leaves of Grass« vom Büchergestell; das Buch war immer noch im braunen Einpackpapier. Er hatte noch keine Möglichkeit gehabt, es Madeline zu schenken. Sie besuchte Clarissa nicht mehr und antwortete nicht mehr auf seine Bitten, ihn zu treffen. Dreimal hatte er bei der Kapelle gewartet, nachdem er heimlich einen Brief nach Resolute geschickt hatte. Aber sie war nie erschienen.
Als er das letzte Mal gewartet hatte, waren überall geknickte Äste auf dem zertrampelten Gras herumgelegen; es erweckte den Anschein, als hätten andere Liebhaber die verfallene Kirche entdeckt. Er ging nicht mehr zur Kapelle. Völlig verzweifelt befahl er einem der Haussklaven, herauszufinden, ob seine Briefe vielleicht abgefangen worden waren. Nancy war vor Monaten weggerannt; vielleicht war deshalb ihre Kommunikation unterbrochen worden. Anscheinend traf dies jedoch nicht zu – wenigstens nicht so, wie er befürchtet hatte. Schon nach ein paar Tagen berichtete ihm der Sklave: »Ich habe Neues von Resolute erfahren, Mr. Orry. Sie bekommt die Briefe. Ein Mädchen namens Cassiopeia gibt sie ihr.«
»Liest sie Mrs. LaMotte?«
»Soviel ich weiß, ja. Aber dann zerreißt sie sie oder wirft sie in den Kamin.«
Als ihm dies wieder einfiel, schleuderte Orry das Buch in eine Ecke. Dabei traf er versehentlich den Uniformständer, der umfiel. Vom Lärm aufgeschreckt, eilten Brett und zwei Hausmädchen herbei. Ohne die Tür zu öffnen, schrie Orry, daß alles in Ordnung sei.
Dann kam ihm ein Gedanke, der seine Hoffnung wieder aufleben ließ. Am Samstag würde in der Nähe von Six Oaks ein Reitturnier stattfinden. Es war möglich, daß Madeline mit Justin hinginge. Normalerweise mied Orry solche Treffen, aber dieses Mal würde er hingehen. Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, mit ihr zu sprechen und herauszufinden, was los war.
Am Samstag war das Wetter schwül, regnerisch, und ab und zu grollte der Donner. Eine riesige, aufgeregte Menschenmenge war zum Turnier gekommen. Orry hatte jedoch keine Lust, den jungen Männern zuzuschauen, die sich selber Sir Gawain oder Sir Kay getauft hatten. Währenddem sie waghalsig auf dem Platz herumritten und versuchten, einander an den Lanzen zu packen, streifte er durch die Menge und suchte die LaMottes.
Schließlich erspähte er Justin, der sich lauthals mit seinem Bruder und einigen andern Männern unterhielt. Voll guten Muts setzte Orry seine Suche nach Madeline fort. Er erblickte sie von dem Ort aus, wo Charles damals auf Whitney Smiths Schuß gewartet hatte. Madeline saß auf einem Baumstamm und sah zu, wie kleine Regentropfen die glatte Oberfläche des Flusses leicht aufwirbelten.
Er näherte sich ihr und bemerkte, daß der Baumstamm ihr Kleid beschmutzt hatte. Sie mußte ihn gehört haben, aber sie drehte sich nicht um. Er fühlte sich linkisch, unreif, ängstlich – und räusperte sich.
»Madeline?«
Sie stand langsam auf. Als er ihr Gesicht sah, schrak er zurück. Es war weiß – leichenblaß. Sie hatte mindestens zehn oder fünfzehn Pfund abgenommen. Ihre Wangen waren hohl. Es schien ihr schwerzufallen, ihren Blick nicht von ihm abschweifen zu lassen.
»Orry, wie nett, dich zu sehen.«
Sie lächelte, aber es war dasselbe leblose Lächeln wie damals, als er sie in der Kutsche gesehen hatte. Er konnte ihren Blick kaum ertragen. Er war immer so lebendig und warm gewesen. Und jetzt …
»Madeline. Was ist los? Wieso hast du meine Botschaften nicht beantwortet?« Obwohl sich niemand in ihrer Nähe befand, flüsterte er. Sie stierte über seine Schulter. Dann trafen sich ihre Blicke wieder. Orry konnte Schmerz und einen Hilferuf darin lesen. Er ging auf sie zu.
»Ich sehe dir an, daß etwas nicht stimmt. Du mußt es mir sagen – «
»Madeline?« Die Stimme von Justin! Orry zuckte zusammen. »Komm bitte zu uns herüber, Liebes. Wir gehen bald.«
Orry wandte sich um, wobei er versuchte, sich so natürlich wie möglich zu bewegen und seine Spannung nicht zu zeigen. Madelines Gatte hatte sie von der andern Seite des Kampffeldes her gerufen. Um jeglichem Verdacht vorzubeugen, grüßte er Justin auf formelle Art, indem er seinen Hut leicht antippte. Justin erwiderte den Gruß auf die gleiche Weise. Orry lächelte breit und steif, als würde er nur Höflichkeiten mit einer Nachbarin austauschen.
In Tat und Wahrheit flüsterte er: »Ich muß wenigstens noch einmal mit dir allein sprechen, Madeline.«
Sie schaute ihn wieder an. Sehnsüchtig, dachte er. Aber sie seufzte und sagte: »Nein. Es tut mir leid, aber es ist zu schwierig.«
Mit langsamen, schlaffen Schritten ging sie weg, um sich zu ihrem Gatten zu gesellen. Orry schäumte vor Wut; am liebsten hätte er Justin an der Gurgel gepackt und ihn so lange geschüttelt, bis er gestand, was mit Madeline los war. Von ihr war ja offensichtlich nichts zu erfahren. Madeline war apathisch und verwirrt – wie in einem Fieberwahn.
Als er nach Hause ritt, war es jedoch die Erinnerung an ihre Augen, die ihn am stärksten peinigte. Sie hatte einen eigenartig unterwürfigen Blick, ohne eine Spur von Hoffnung, beinahe leblos. Der Blick eines geschlagenen Tieres.
41
Bei der Betrachtung seiner neuen Pionierkorpsabzeichen fand Billy, daß seine Welt eigentlich ganz in Ordnung sei.
Die Befürchtungen des Kadetten aus New Jersey, der von Ashton beglückt worden war, hatten sich nie bewahrheitet. Die Sieben hatten eisern geschwiegen, Charles war nie etwas zu Ohren gekommen. Einer der Gruppe hatte sich bei Billy darüber beklagt, daß Ashton in bezug auf ihren zweiten Besuch gelogen haben mußte – aber das hätte Billy ihm schon früher sagen können. Danach geriet der Zwischenfall wegen dem dauernden militärischen Drill und dem akademischen Druck langsam in Vergessenheit.
Billys Weltanschauung wurde hauptsächlich von den Begebenheiten des täglichen Lebens und nicht von anderweitigen Ereignissen geprägt. Hätte er seinen Blick etwas in die Ferne gerichtet und nicht ausschließlich in Gedanken an die Akademie und an Brett gelebt, so hätte er Zeichen von Aufruhr entdecken können.
Der blutige Krieg auf der Krim dauerte immer noch an. Einer der Klassenkameraden seines Bruders, George McClellan, war von Verteidigungsminister Davis als Beobachter auf die Halbinsel geschickt worden. In Amerika waren es andere Arten der Gewalttätigkeit, die Böses ahnen ließen. Die Männer bekämpften sich in Kansas – und in den Kongreßhallen. Während Senator Sumner aus Massachusetts eine politische Rede über Kansas hielt, griff er ungerechtfertigterweise plötzlich Senator Andrew Butler aus South Carolina persönlich an. Am 22. Mai 1856 betrat der Kongreßabgeordnete Preston Brooks aus South Carolina den Senat mit einem goldbeknauften Spazierstock, den er in der Folge dazu verwandte, seine Meinung über Sumners Rede und dessen Person kundzutun.
Sumner schrie um Gnade, als das Blut auf seinen Schreibtisch tropfte. Brooks schlug auf ihn ein, bis der Stock zerbrach. Andere Senatoren schauten zu, ohne einzugreifen. Darunter befand sich Douglas, dessen Gesetzesanträge die Kontroverse verursacht hatten, gegen die Sumner wetterte.
Einige Wochen später schrieb Brett Billy, daß Brooks in ganz South Carolina gefeiert worden sei. Ashton und ihr Gatte hatten ihn in ihrem Haus freundschaftlich bewirtet und ihm einen Spazierstock mit eingravierter Widmung geschenkt. Brooks hatte Dutzende davon erhalten. Weiter schrieb Brett:
Als James und Ashton letzte Woche hier waren, sagte Orry, daß Sumner sicher nicht vor einem Jahr genesen würde. James zog daraufhin eine Augenbraue hoch und sagte: »So schnell? Wie schade!« Billy, ich hasse diese Zeiten, in denen wir leben. Es scheint, als würden sie das Allerschlimmste im Menschen hervorrufen.
Aber nicht einmal das konnte Billy zu diesem Zeitpunkt entmutigen. In ein paar Tagen würde er die Akademie verlassen, und er hatte, besonders während des letzten Jahres, gute Arbeit geleistet. Mahan hatte seine Arbeit während des Kurses für Militärwissenschaft und Bauingenieurwesen öffentlich gelobt. Billy kannte nun den Unterschied zwischen Pinus mitis und Pinus strobus, er konnte eine Abhandlung über die Verwendung von Ton- und Kalkgestein als Baumaterial schreiben oder die Formel für Mörtel im Schlaf aufsagen. Er würde den sechstbesten Durchschnitt aller Absolventen der 1856er Klasse haben.
George, Constance, Maude und sogar Stanley und Isabel waren für diesen Anlaß nach West Point gekommen. Wenn nötig, brachten George und Isabel es fertig, ein paar Worte miteinander zu wechseln, das Gespräch war jedoch stets steif und kühl; das Besuchsverbot zwischen den beiden Häusern war immer noch in Kraft. Billy hörte Constance einmal sagen, es sei eine Schande, in diesem kurzen Leben so lange beleidigt zu sein, worauf George konterte, daß er alles, was ihn von Isabels Gesellschaft abhielt, als Geschenk Gottes betrachte – gerade weil das Leben so kurz sei.
Charles beglückwünschte Billy zu seinen guten Noten und erleichterte ihn dann um Wolldecken und andere persönliche Militäreffekten. In akademischer Hinsicht war Charles nie mit seinem Freund in einen Wettstreit getreten; er war und blieb einer der Unsterblichen und wurde für die berittene Truppe vorgesehen – genau das, was er wollte. Die Aussichten auf eine Beförderung bei der Kavallerie – das heißt, eigentlich bei allen Truppen – waren merklich besser geworden, seit Davis vor einem Jahr einen Ausbau der Armee durchgesetzt hatte. Es waren zwei neue Infanterie- und Kavallerieregimenter aufgestellt worden. Charles hoffte, daß er im nächsten Jahr in eine dieser neuen Einheiten versetzt würde.
Billy wußte bereits, wo sein erster Standort als Brevetleutnant sein würde. Im Anschluß an den auf den Akademieabschluß folgenden Urlaub würde er sich im Fort Hamilton im Hafen von New York melden, wo er Ausbesserungsarbeiten an den Küstenfestungen und der Hafenanlage vorzunehmen hatte.
Als er mit der Familie nach Hause reiste, fuhr Billy zum erstenmal mit der Lehigh-Eisenbahnlinie, die nun auch die flußaufwärts liegenden Ortschaften einschließlich Lehigh Station bediente. Als die Hazards den Zug verließen, machte der Bahnhofvorsteher George ein Kompliment über Billys Aussehen.
»Sie haben recht, er macht sich gut als Soldat. Er sieht so schneidig aus, daß ich richtig Sehnsucht nach der Armee kriege.«
»Beinahe«, fügte George lächelnd hinzu.
»Es wäre schön gewesen, wenn Brett im Juni für eine Woche hätte hierherkommen können«, sagte Billy.
George betrachtete prüfend seine Zigarrenspitze. »Habt ihr beide etwas zu besprechen?«
»Nein, noch nicht. Aber ich glaube demnächst. Eben darüber muß ich mit jemandem reden.«
»Täte es ein älterer Bruder auch?«
»Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest.«
»Na denn, heute abend«, sagte George, nicht ohne zu bemerken, wie ernst es Billy war.
Nach dem Abendessen ging Billy nach oben, um Zivilkleider anzuziehen. George küßte die Kinder und eilte dann zum Schreibtisch, wo er hastig einen Brief öffnete, der während seiner Abwesenheit eingetroffen war; er war in Eddyville, Kentucky, abgeschickt worden.
Vor einigen Monaten hatte er von einem Mann aus Pittsburgh namens William Kelly gehört, der in Eddyville einen Hochofen und eine Gießerei betrieb. Kelly behauptete, er habe eine rasche und wirksame Methode herausgefunden, um Silizium, Phosphor und andere Elemente aus Roheisen auszuscheiden und dabei den Kohlenstoffgehalt stark zu senken. Laut Kelly resultierte aus seinem ›pneumatischen Verfahren‹ eine gute, elastische Stahlqualität.
Während Kelly von Gläubigern bedrängt und von Konkurrenten, die sein Verfahren eine ›Luftverbrennungsanstalt‹ nannten, verhöhnt wurde, arbeitete er weiterhin an einem geheimen Ort in den Wäldern von Kentucky an der Verbesserung des Kernstücks seiner Anlage, dem Konverter. George hatte ihm in einem Brief angekündigt, er werde nach Eddyville reisen und den Konverter besichtigen. Falls ihm die Sache gefiele, wäre er nicht abgeneigt, Kellys Arbeit gegen eine Beteiligung zu finanzieren.
George machte ein langes Gesicht, als er den Antwortbrief las. Kelly hätte zwar das Geld brauchen können, um seine Gläubiger fernzuhalten, aber er wollte seinen Konverter geheimhalten, bis er mit dessen Form zufrieden war und sein Verfahren patentiert hatte. Kellys Mißtrauen war nicht aus der Luft gegriffen, denn im Eisengeschäft gab es Männer, die sich mit allen Mitteln Informationen über ein erfolgreiches Verfahren beschafften, um es sich dann, wenn es nicht patentiert war, ohne Skrupel anzueignen. Kellys Antwort enttäuschte George trotzdem, und in dieser Stimmung ging er auf die Veranda, um seinen Bruder zu treffen.
Billy war jedoch noch nicht dort. George ließ sich in einen Schaukelstuhl fallen. Unten am Fluß fuhr ein Güterzug talaufwärts; der Kamin spuckte Rauchwolken aus, die scharlachrot in der Abenddämmerung aufleuchteten und sich dann auflösten.
George war verblüfft über die zahlreichen Änderungen, die er in seinen einunddreißig Jahren erlebt hatte. Er war mit Kanalbooten aufgewachsen – es gab sie nicht mehr. Züge auf Gleisen waren die Symbole des neuen Zeitalters.
Auch in Washington spielte die Eisenbahn im Geschäftsleben eine wichtige Rolle. Die Sklaverei und das endgültige Schicksal von Kansas und Nebraska waren unauflösbar mit der bevorstehenden Entscheidung über die Route einer transkontinentalen Linie verflochten. Minister Davis wollte, daß die Route durch den Süden, durch die sklavenhaltenden Staaten, führe. Senator Douglas befürwortete eine nördliche Route mit einer Seitenlinie bis Chicago. Es war ein offenes Geheimnis, daß Douglas mit Land im Westen spekulierte. Seine Feinde warfen ihm öffentlich vor, er habe das Kansas-Nebraska-Gesetz eingeführt, um die Besiedlung voranzutreiben, die ihrerseits den Eisenbahnausbau fördern und den Wert seines Besitzes steigern würde.
In diesen Zeiten gab es offensichtlich keine lauteren Beweggründe mehr, dachte George, als er die sinkende Sonne betrachtete, die die tiefen Gipfel jenseits des Flusses in goldenes Licht tauchte. Es schien keinen Menschen mehr zu geben, der noch mit allen Problemen und Leidenschaften des komplizierten und zynischen neuen Zeitalters zurecht kam. Es gab keine Staatsmänner mehr, nur noch Politiker.
Oder überkamen ihn nur solche Gedanken, weil er älter wurde? Mit einunddreißig hatte man schon drei Viertel eines durchschnittlichen Lebensalters hinter sich. Dieses Wissen belastete ihn. Er sann darüber nach, daß die Hoffnungen und Träume, die ein Mensch hegte, und auch seine Zeit auf dieser Erde beinahe so schnell vergingen wie die Rauchwolken des Güterzugs.
Er hörte Billys Schritte auf der Treppe und riß sich zusammen. Sein jüngerer Bruder wollte einen Rat von ihm – einen weisen Rat – und merkte nicht, daß ältere Leute beinahe genauso unsicher waren wie er selbst – oder vielleicht noch unsicherer! George tat sein Bestes, um diese Tatsache zu verbergen. Als Billy kam, schaukelte er hin und her und paffte genüßlich an seiner Zigarre.
»Sollen wir einen Spaziergang auf den Hügel machen?« fragte George.
Billy nickte. Sie verließen die Veranda, schlenderten ums Haus, ließen bald darauf den Stall und den Holzschuppen hinter sich und gelangten dann auf eine offene Ebene, wo Berglorbeer aus Felsspalten herauswuchs. Auf dem Abhang über ihnen hatte sich der Lorbeer noch stärker ausgebreitet und stand nun in voller Blüte. Hunderte von weißen Blüten schaukelten sanft in der Abendbrise, und die spitzigen Blätter raschelten leise.
George begann den Hügel hinaufzugehen, der beträchtlich höher als Belvedere lag. Der Weg war nicht einfach zu finden, aber er konnte sich an den Ausgangspunkt erinnern und kämpfte sich bald darauf hinauf. Der Lorbeer umspielte seine Beine. Der Aufstieg ermüdete ihn stark, Billy nicht.
Einige wenige verkrüppelte Lorbeersträucher fristeten ihr Dasein auf der runden Hügelkuppe. Sie erinnerten ihn an das mystische Gefühl, das seine Mutter diesem widerstandsfähigen Busch gegenüber empfand und an die Art, wie sie ihn mit der Familie und der Liebe verglich.
Im Tal unter ihnen waren die Stadt, die Häuser und die Eisenwerke deutlich zu erkennen. Billy genoß die Aussicht für einen Augenblick, griff dann in die Tasche und reichte seinem Bruder etwas in einem billigen, weißen Metallrahmen.
»Ich wollte dir das zeigen.«
George drehte sich seitwärts, um das Bild in den letzten Sonnenstrahlen betrachten zu können. »Guter Gott, das bist ja du mit Charles! Ihr seht nicht gerade nüchtern aus.«
Billy grinste und steckte das Bild wieder in die Tasche. »Die Aufnahme wurde unmittelbar nach einem unserer Besuche bei Benny gemacht«, sagte er.
»Wann haben sie in West Point mit Photographieren begonnen?«
»Letztes Jahr wurden die ersten Klassenbilder gemacht. Charles und ich wollten eins, auf dem wir zusammen waren.«
George lachte glucksend und schüttelte dann den Kopf. »Cooper Main hat recht: Wir leben wirklich in einer wunderbaren Zeit.«
Billy wurde plötzlich ernst. »Ich möchte, ein paar Wunder würden nach South Carolina ziehen. Ich habe das Gefühl, Orry will nicht, daß ich Brett heirate.«
»Ist es das, worüber du reden wolltest?« Als Billy nickte, fuhr er fort: »Hast du mit Orry gesprochen oder ihm deine Absicht mitgeteilt?«
»Nein. Und ich werde es mindestens ein Jahr lang auch nicht tun. Ich muß zuerst sicher sein, daß ich eine Frau ernähren kann.«
Wie vorsichtig und überlegt er doch ist, dachte George. Aus ihm wird ein guter Ingenieur werden.
Billy fuhr fort: »Brett hat ihm gegenüber jedoch einige Andeutungen gemacht. Wir haben beide das Gefühl, daß er mit unserer Verbindung nicht einverstanden ist. Ich nehme an, er mag mich nicht.«
»Nein, das ist ganz sicher nicht der Grund. Brett und du, ihr kommt aus verschiedenen Welten. Ihr kommt aus Landesteilen, die einander mit jedem Tag feindlicher gesinnt sind. Ich bin sicher, daß sich Orry über die Zukunft, die euch erwartet, Sorgen macht. Und ich teile diese Sorge.«
»Was soll ich denn tun?«
»Befolge den Rat, den mir Mutter gab, als die Leute sagten, ich solle keine Katholikin heiraten und sie nach Lehigh Station bringen. Sie sagte mir, ich solle meinen eigenen Gefühlen trauen und mich nicht von den bigotten oder sonstigen Meinungen anderer Leute beirren lassen! Sie sagte, Liebe sei immer stärker als Haß. Und es müsse so sein, wenn die Menschen überleben wollten. Orry haßt dich nicht, aber vielleicht zweifelt er an deinen Absichten.« Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Stehen Sie stramm, Leutnant. Geben Sie Ihre Haltung nicht auf, dann wird Orry schließlich einlenken.«
»Und wenn das eine Weile dauert?«
»Na und? Willst du Brett heiraten oder nicht?« Plötzlich bückte sich George. Er riß einen Lorbeerzweig ab und hielt ihn in der Dämmerung hoch. »Du kennst Mutters Gefühle über diese Pflanze. Sie sagt, daß sie zu den wenigen Dingen gehört, die ihre natürlichen Feinde überleben.« Er gab Billy den grünweißen Zweig. »Nimm dir ein Beispiel daran. Sieh zu, daß deine Gefühle für Brett stärker sind als all die Zweifel der andern. Wenn du spürst, daß die Hoffnung schwächer wird, dann denke an den Lorbeer, der hier oben in der Sonne und im Sturm wächst. Nicht aufgeben! Das ist der beste Rat, den ich weiß.«
Billy betrachtete die Blätter und Blüten einen Augenblick. Er wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht. Zutiefst gerührt sagte er: »Vielen Dank. Ich kann ihn brauchen.« Er steckte den Zweig in die Tasche.
Die Nacht war hereingebrochen. Die beiden Brüder gingen plaudernd und lachend den Weg hinunter. Sie verschwanden in der Dunkelheit des Abhangs, wo der Lorbeer immer noch leise rauschte – wie die See.
42
In jenem Herbst zerbröckelten die alten politischen Loyalitäten mehr und mehr. Buck Buchanan hatte es nun endlich geschafft, sich als Kandidat der Demokraten für die Präsidentenwahl aufstellen zu lassen. Obwohl Cameron immer noch Streit mit seinem früheren Kollegen hatte, wollte er nicht – wie so viele West- und Nordstaatler – ins Lager der Republikaner überwechseln, denn er hatte das Gefühl, dies könnte seiner sorgfältig geplanten politischen Karriere schaden. So trieb er denn im Herbst des Jahres 1856 unter dem Banner einer sogenannten Unions-Partei Wahlpropaganda, während er im geheimen Vorschläge für ein Bündnis prüfte. Republikaner wie David Wilmot sicherten Cameron ihre Hilfe für einen Sitz im Senat zu für den Fall, daß er sich ihnen anschließen würde. Stanley leistete loyale Arbeit für seinen Boss Cameron, ohne zu wissen, wofür der Mann eigentlich eintrat.
In South Carolina proklamierte Huntoon weiterhin seine Ansichten in der Öffentlichkeit. Er fürchtete sich vor der wachsenden Macht der Republikaner, war aber auch von Buchanan kaum begeistert, denn dieser beabsichtigte zwar, sich nicht in die Sklaverei einzumischen, aber die Douglas-Doktrin in den Territorien zu bekräftigen. Wie sollte der Süden mit der einen oder andern Partei überleben? fragte Huntoon in seinen Reden. »Unmöglich – Sezession ist die einzige Antwort.« Mit diesen Worten schloß Huntoon all seine Ansprachen, indem er theatralisch den Arm erhob und in einen Hochruf ausbrach:
»Auf das Schwert! Den Schiedsrichter der nationalen Uneinigkeiten! Je früher es für den Kampf um die Rechte des Südens eingesetzt wird, desto besser!«
Der Hochruf löste jedesmal frenetischen Beifall aus, und die Presse von South Carolina berichtete ausführlich über Huntoon. Der Mercury taufte ihn ›Junger Hitzkopf‹. Ashton war hingerissen und betrachtete es als einen gewichtigen Schritt in der Laufbahn ihres Gatten. Ein Mann konnte von sich sagen, daß er zu Ruhm gelangt war, wenn ihn die Öffentlichkeit ›Jung Dies‹ oder ›Alt Das‹ nannte.
Im Norden hatten die Hazards in letzter Zeit immer mehr die Konkurrenz der britischen Eisenindustrie gespürt. George fand, die Demokraten mit ihrer Niedrig-Zoll-Politik seien daran schuld, und aus diesem Grund trat er der Republikanischen Partei bei. Seine Entscheidung hatte nichts damit zu tun, daß die Partei in bezug auf die Sklaverei einen härteren Kurs steuerte, obwohl er auch dies bejahte. Er stimmte für den republikanischen Kandidaten, Fremont, der ungefähr fünfhunderttausend Stimmen weniger erhielt als Buchanan. Für eine neue Partei, die das erste Mal an Präsidentenwahlen teilnahm, war dies ein außerordentlich gutes Ergebnis.
Einige Tage nach der Wahl tauchte Cooper mit einer technischen Zeichnung unter dem Arm in Mont Royal auf. Als er die Zeichnung aufrollte, sah Orry den Plan und Aufriß eines Frachtschiffes. Ein schmuckes Band umrahmte den Namen Star of Carolina am unteren Blattende.
»Wie groß ist das Schiff?« fragte Orry verblüfft.
»Hundertsechsundsiebzig Meter vom Bug bis zum Heck. Etwas weniger als der Dampfer, den mein Freund Brunei baut, um Kohle und Passagiere nach Trincomalee in Ceylon zu transportieren. Das Schiff trägt den Namen Leviathan. Es wird zur Zeit auf der Isle of Dogs auf der Themse gebaut. In zwei Wochen reise ich mit der Familie ab, um es mir anzuschauen.«
Orry spielte nachdenklich mit seinem Bart. »Es mag sein, daß du weitere Ferien in Großbritannien brauchst, aber ich bin nicht sicher, ob die Mains ein neues Schiff brauchen.« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Zeichnung. »Du willst dieses Monstrum doch nicht etwa bauen lassen…?«
»O doch. Ich schlage vor, daß die Main-Werft in Charleston errichtet wird – und zwar eigens für den Bau der Star of Carolina, damit es als amerikanisches Flaggschiff vom Stapel gelassen werden kann.«
Orry füllte zwei Gläser mit Whiskey und reichte eins seinem Bruder. »Hast du deshalb das Land auf James Island gekauft?«
Cooper lächelte. »Genau.«
Orry kippte die Hälfte seines Whiskeys hinunter und sagte dann in einem etwas sarkastischen Ton: »Es ehrt mich, daß du glaubst, unsere Familie könne ihren Wohlstand vermehren, während alle andern untergehen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu – George sagt, daß er eine Rezession, ja sogar einen wirtschaftlichen Zusammenbruch befürchtet – und du willst ein neues Frachtschiff bauen!«
»Das größte in Amerika«, stimmte Cooper nickend zu. Er trat ruhig und sicher auf. Er hatte gelernt, mit dem Widerstand anderer Leute umzugehen, auch mit demjenigen seiner Familie.
»Das Schiff wird in kurzer Zeit – durch den Transport von Baumwolle und vielen anderen Dingen – selbsttragend sein«, fuhr er fort. »Ich weiß, daß uns harte Zeiten bevorstehen, aber sie werden nicht ewig dauern, und wir sollten unsern Blick in die Zukunft richten. Betrachte nur einen Augenblick den Stand der einheimischen Schiffsindustrie. Die Klipper wurden ja nur der Geschwindigkeit wegen gebaut; jeder wollte der erste bei den Goldminen sein, und zum Teufel mit der Ladekapazität – das war doch die vorherrschende Haltung. Nun gibt es kein Gold mehr, und es werden auch keine Klipper mehr gebaut. Diejenigen, die immer noch gebraucht werden, sind in einem desolaten Zustand. Ihre Frachtkapazität ist für das, was unsere Farmer und Fabrikanten alles verschiffen wollen, viel zu gering. Ich sage dir, Orry, als seefahrende Nation sind wir in dieser Hinsicht hoffnungslos im Rückstand. Die Gesamttonnage Amerikas auf den Ozeanen beträgt neunzigtausend Registertonnen. Diejenige von Großbritannien ist beinahe sechsmal größer. Die Star of Carolina kann diesen Rückstand aufholen helfen. Und noch eins: Die Werft wird sowohl Charleston als auch dem ganzen Staat zugute kommen. Wir brauchen eine Industrie, die nicht von der Sklaverei abhängig ist.«
Lachend – wie hätte er sich angesichts eines solchen Feuereifers anders verhalten können? – hob Orry die Hand hoch. »Einverstanden. Du hast mich überzeugt.«
»Sicher?«
»Vielleicht nicht völlig, aber genug, um dich zu fragen, wieviel diese Schönheit denn kosten soll.«
Das Funkeln in Coopers Augen erlosch. »Wenn ich aus Großbritannien zurück bin, werde ich genauere Zahlen haben. Vorläufig kann ich mich bloß auf die Vorausberechnungen von Brunei stützen. Die Eastern Steam Navigation Company schätzt, daß die Leviathan umgerechnet – vier Millionen kosten wird.«
Während sich Orry vom Schreck zu erholen versuchte, holte Cooper tief Atem. »Oder mehr.«
»Bist du verrückt geworden, Cooper? Auch wenn wir unser ganzes Hab und Gut verpfändeten, könnten wir kaum die Hälfte davon zusammenbringen.«
Cooper entgegnete ruhig: »Ich habe vor, George wegen der andern Hälfte anzufragen.«
»Jetzt, da die Stahlindustrie in Schwierigkeiten steckt? Du bist von Sinnen.«
»George ist ein guter Geschäftsmann – wie du. Ich glaube, er wird die langfristigen guten Aussichten sehen und nicht nur die kurzfristigen Risiken.«
Orry war sich bewußt, daß dies eine Herausforderung war. Er fand die Idee seines Bruders phantastisch und aufregend und gar nicht so abwegig, wie dies seine anfängliche Reaktion hätte glauben machen können. Er war jedoch nicht gewillt, dem Vorhaben unverzüglich zuzustimmen.
»Ich brauche Zahlen. Realistische Voranschläge über Frachtkapazität, Kosten, zukünftige Erträge. Ich werde mit keinem einzigen Bankier Kontakt aufnehmen, bevor ich nicht über diese Informationen verfüge.«
Cooper war zufrieden. Strahlend sagte er: »Zwei Wochen nach meiner Rückkehr hast du sie. Vielleicht auch schon früher. Es hat mal eine Zeit gegeben, da wurden in Charleston kleine Schiffe gebaut. Eine neuerwachte Industrie könnte die Rettung für diesen Teil des Staates bedeuten.«
»Vom Ruin der Mains reden wir lieber nicht«, fügte Orry hinzu. Aber er lächelte.
Cooper kam mit seiner Familie in Bristol an und stieg dort in die Great Western Railway um. Der Zug verließ den Bahnsteig unter dem riesigen Balkendach des Temple-Meads-Bahnhof, den Brunei entworfen hatte. Die Breitspureisenbahnlinie war zweihundert Kilometer lang und führte über die Backsteinbögen der Maidenhead-Brücke, die von Brunei gebaut worden war und als Meisterwerk galt. Dann wurde der Paddington-Bahnhof angefahren, der vor zwei Jahren vom Prinzgemahl offiziell eröffnet worden war. Auch dieser Bahnhof mit dem angrenzenden Paddington-Hotel war Bruneis Werk. Da Brunei Mitglied des Verwaltungsrats des Hotels war, hatte sich Cooper entschlossen, dort abzusteigen. Er stellte fest, daß ihnen eine viel größere Suite zugewiesen wurde, als abgemacht worden war – und dies zum gleichen Preis.
Isambard Kingdom Brunei war nun in seinem fünfzigsten Altersjahr; ein rastloser, phantasievoller Mann, der nie ohne einen Zylinder ausging und dauernd eine Zigarre im Mundwinkel hatte. Nicht all seine Ideen waren gut. Er wurde heftig angegriffen, weil er für die G.W.R. ein Breitspurgleis gewählt hatte, so daß Züge von andern Eisenbahnlinien, die seine Gleise kreuzten, nicht darauf fahren konnten. Doch in seinen grandiosen Zukunftsvisionen war er den meisten anderen Ingenieuren weit voraus. Cooper fiel dies erneut auf, als ihn der kleine Ingenieur zur Werft seines Partners, Scott Russell, an die Themse mitnahm.
Die Leviathan war der Grund dafür, daß die Millwall Werft zur größten Touristenattraktion Europas geworden war. Rund um das Baugelände herum waren auf der sumpfigen Isle of Dogs Kaffeestände und aus Segeltuch und billigem Holz errichtete Souvenirbuden aus dem Boden geschossen. Jede nur erdenkliche Art von Kitsch wurde verkauft: Miniaturmodelle des fertigen Schiffs, Lithographien, ein Leviathan-ABC für Kinder. Doch jetzt – an einem Wochentag mit schlechtem Wetter – machten die Läden kein allzu großes Geschäft.
Der achtzehn Meter hohe doppelte Schiffsrumpf ragte in den regengrauen Himmel. Zwischen dem Innen- und Außenrumpf befand sich ein meterbreiter Zwischenraum. Die beiden Rümpfe waren fest verstärkt. Das Schiff würde mit sechs Masten, fünf Schornsteinen und zwei Motoranlagen, eine für das Schaufelrad und eine für die riesige Schraube, ausgerüstet werden. Es wurde so gebaut, daß es seitwärts in die Themse gelassen werden konnte, denn seine große Länge verunmöglichte einen normalen Stapellauf.
»Wir hoffen, daß es in einem Jahr fertig ist; vorausgesetzt, ich kann meinen Plan für die Helling ausführen und die Zusammenarbeit mit Mr. Russell wird wieder besser. Es ist nun völlig klar, daß sein ursprünglicher Kostenvoranschlag für den Rumpf und den Motor des Schaufelrads leichtsinnig und unverantwortlich war.«
Brunei kaute auf der kalten Zigarre herum. Trotz seiner augenfälligen Enttäuschung über seinen Partner war sein Stolz, als er den Blick über den riesigen Kiel wandern ließ, offenkundig. Er zeigte mit der Zigarre auf einen Teil des äußeren Rumpfs, der schon fertig war und zentimeterdicke Platten aufwies.
»Die Leviathan wird dreißigtausend solcher Platten brauchen, bevor sie fertig ist. Und drei Millionen Nieten. Zu Spitzenzeiten hämmern zweihundert Leute die Nieten ein.«
Cooper nahm seinen alten Kastorhut ab, damit er das Stahlmonstrum über ihm besser sehen konnte. Regentropfen fielen ihm ins Gesicht. »Ich will auch so eins bauen. Nur kleiner. In Charleston. Ich hab’ ja auch schon die Great Britain kopiert.«
»Und gar nicht schlecht. Ich kenne die Zeichnungen. Aber das, was Sie eben sagten, war wohl als Witz gemeint, Cooper. Ich hatte schon immer den Eindruck, daß Sie sehr intelligent sind, aber auch die Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen wissen. Sie wollen doch nicht Ihre Freunde, Ihre Familie und Ihr ganzes Vermögen für ein solches Abenteuer hingeben?«
»Ich weiß, daß Risiken damit verbunden sind. Enorme Risiken. Aber ich kann dem Drang einfach nicht widerstehen. Ich will das Schiff nicht nur aus eigennützigen Gründen bauen. Ich bin sicher, daß es für den Süden von großem Nutzen sein kann, und zwar zu einer Zeit, da der Süden diese Hilfe bitter nötig haben wird.«
»Ich bin mir der zunehmenden Isolation der Südstaaten in Handel und Politik bewußt«, sagte Brunei mit einem Kopfnicken. »Die Sklavereigegner sind sehr aktiv. Nun, wenn es Ihnen wirklich ernst ist, zeige ich Ihnen meine Zeichnungen und Berechnungen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß meine Pläne vielerorts auf Argwohn stoßen. Die Leviathan ist das erste Schiff der Geschichte, das keine Rippen aufweist, und meine Gegner behaupten, daß es sich in der Mitte krümmen und auseinanderbrechen wird – «
»Ich glaube Ihnen mehr als Ihren Kritikern.«
Der Ingenieur lächelte. Als er die großen, vierzylindrigen Schrauben, die er der James-Watt-Gesellschaft in Auftrag gegeben hatte, beschrieb, schienen seine eigenen negativen Gefühle diesem Unterfangen gegenüber kleiner zu werden. »Hier ist noch der Paddelschaft. Vierzig Tonnen schwer. Das größte einteilige Stück, das je von Menschenhand geschweißt wurde.«
Als sie durch den Nieselregel gingen, sprach er mit immer größerer Begeisterung. Ganze Scharen von Krähen hockten auf den verlassenen Souvenirbuden. Die Segeltuchstoffe flatterten im Wind. Arbeiter winkten Brunei von ihren Gerüsten aus zu, aber er bemerkte es meistens nicht, denn er redete viel und schnell; so schnell, daß Cooper kaum mehr in der Lage war, Notizen zu machen.
Am nächsten Tag hatten sich Cooper und Brunei über den Kostenvoranschlag der Leviathan unterhalten wollen. Cooper verschob jedoch das Treffen kurzfristig und jagte einer neuen Fährte nach – diesmal für George Hazard.
Die Jagd wurde von einer Schlagzeile im Mail ausgelöst. Die Zeitung war schon mehrere Wochen alt. Cooper hatte die Zeitung auf einem Tisch in der Vorhalle ihrer Hotelsuite entdeckt und wollte sie schon fortwerfen, als ihm die Schlagzeile in die Augen stach:
Bessemer fordert amerikanisches Patent an
Cooper, der sich mit Erfindern und Erfindungen auskannte, war der Name sofort ein Begriff. Henry Bessemer, ein erfolgreicher Erfinder, war vor allem durch die Entwicklung einer Methode zur genauen Berechnung der Flugbahn von Kugeln, die aus einem Gewehr mit glattem Lauf abgefeuert wurden, bekannt geworden. Er hatte diese Arbeit während des Krim-Kriegs mit der Unterstützung und Ermutigung des französischen Kaisers Napoleon III. ausgeführt.
Was wollte er in Amerika patentieren lassen? Zwei kurze Abschnitte gaben Auskunft darüber. »Guter Gott, wie phantastisch!« rief Cooper.
Judith kam aus dem Salon. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ganz im Gegenteil. Schau dir das an! Ein Kerl namens Bessemer behauptet, ein schnelleres Verfahren zur Stahlherstellung aus Roheisen gefunden zu haben. Er will das Patent in Amerika anmelden. Ich frage mich, ob George das weiß. Ich muß unbedingt Informationen für ihn sammeln!« Und das war auch der Grund, weshalb er das Treffen mit Brunei verschob. Cooper ließ Bessemer verschiedene Mitteilungen zukommen, in denen er um eine Unterredung bat. Der Erfinder antwortete nicht.
»Das ist nicht überraschend«, sagte Brunei einige Tage später. »Bessemer behauptet, er sei dazu gedrängt worden, seine Erfindung zu früh bekanntzugeben.«
»Auf welche Art hat er sie denn bekanntgemacht?«
»Er hielt einen recht langen Vortrag vor der ›Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft‹. Die Times druckte ihn in toto ab.«
»Wann?«
»Ich glaube, irgendwann im August.«
»So weit bin ich nicht zurückgegangen.«
Cooper schrieb dem Erfinder noch einmal, Brunei auch. Das gab den Ausschlag: Bessemer antwortete Cooper, meinte jedoch, er könne ihm nicht mehr als zehn Minuten seiner Zeit widmen.
Brunei hatte eine hervorragende Begabung für schöpferisches Denken, für Ideen, die nicht patentiert werden konnten und die er gern mit andern teilte. Henry Bessemers Erfindungsgabe fand ihren Niederschlag in speziellen Geräten oder Verfahren, die geschützt werden mußten – sollten sie ihm nicht gestohlen werden. Bessemer machte auf Cooper den Eindruck eines mißtrauischen, abweisenden Mannes.
»Ich habe die Sache zu früh angekündigt. Wie ein Rudel wilder Wölfe sind sie über mich hergefallen. Sie bekämpfen mich und gehen aufeinander los, um einen Teil meiner Entdeckung zu bekommen. Die Stahlhersteller von Sheffield verhöhnen mich, aber sie können ja gar nicht anders. Im Augenblick brauchen sie zwei Wochen, um ein wenig Tiegelgußstahl aus Roheisen zu gewinnen. Wenn ich in einer halben Stunde fünf Tonnen Stahl herstellen kann, sind sie erledigt.«
»Was können Sie mir über Ihr Verfahren sagen, Mr. Bessemer?«
»Nichts. Ich habe der Öffentlichkeit oder Ihnen bereits alles Nennenswerte mitgeteilt. Auf Wiedersehen, Mr. Main.«
Cooper war bereits einer der Gründe für Bessemers abweisende Haltung bekannt: Er hatte Probleme mit dem Verfahren. Als er sich wieder durch alte Zeitungen kämpfte, fand Cooper den Artikel in der Times und erfuhr mehr über die Kontroverse rund um den Erfinder. Er schrieb alles heraus, was seinen Freund in Lehigh Station interessieren könnte.
Bessemer war auf seine Entdeckung gestoßen, als er mit Minie, dem Rüstungsexperten von Napoleon III. am Problem der Kugeldrehung gearbeitet hatte. Als äußerst neugieriger Mensch wurde er von andern Aspekten der Feuerwaffe angezogen und sann darüber nach, wie das weiche Gußeisen, das damals zur Herstellung von Kanonenkugeln verwendet wurde, ersetzt werden könnte. Seine Nachforschungen auf diesem Gebiet gaben den Anstoß zum Verfahren, hochwertigen Stahl in großen Mengen herzustellen. Gleichzeitig entwickelte Bessemer die dazu notwendige Anlage: einen eiförmigen Konverter – ein hydraulischer Apparat, der aus sicherer Distanz bedient werden konnte und einen sauerstoffreichen Luftstrahl über das Roheisen blies.
Theoretisch war das Verfahren verblüffend einfach, aber das war bei vielen bahnbrechenden Erfindungen der Fall. Einen Monat, nachdem Bessemer seine sensationelle Entdeckung gemacht hatte, ließ er das Verfahren bei verschiedenen Firmen für Tausende von Pfund patentieren. Einen Monat später stempelte ihn die Presse als Scharlatan ab. »Ein brillanter Meteor, der über den metallurgischen Horizont sauste, um danach in der Finsternis zu verschwinden.«
Als Cooper in England angekommen war, hatte sich der Ärger der Öffentlichkeit schon gelegt. Bessemer glaubte immer noch an sein Verfahren und versuchte es in Amerika patentieren zu lassen, aber die englischen Stahlhersteller waren hinter ihm her, vor allem diejenigen, die ihn finanziell unterstützt hatten. Die Qualität des Stahls war nicht zufriedenstellend. Bessemer war besessen davon, die Ursache herauszufinden, und arbeitete nun Tag und Nacht in seinem Laboratorium. Der Grund für den Fehlschlag schien im hohen Phosphorgehalt des in Großbritannien geschürften Erzes zu liegen. Ohne es zu wissen, hatte der Erfinder bei seinen Experimenten schwedisches Erz verwendet; ein Erz, das praktisch frei von Phosphor war.
Hartnäckigen Gerüchten zufolge hatte ein unbekannter Stahlhersteller in Wales einen Weg gefunden, um das Verfahren doch noch nutzbar zu machen. Anscheinend beabsichtigte er, es als seine eigene Methode patentieren zu lassen. Es war also nicht verwunderlich, daß sich Bessemer bedrängt fühlte und in Panik war. In nur drei Monaten war er kometenhaft aufgestiegen, berühmt geworden und dann im Nichts verschwunden.
Cooper war dennoch von diesem Mann beeindruckt und glaubte an Bessemer, nicht zuletzt deshalb, weil die Hersteller aus Sheffield den Erfinder und die theoretische Grundlage seines Verfahrens weiterhin öffentlich verurteilten. Immer, wenn eine Idee derart vehement bekämpft wurde, war etwas Wahres daran.
Cooper hörte nicht damit auf, Artikel aus alten Zeitungen herauszuschneiden. Er sammelte alles in einer dicken Mappe und fügte seine eigenen Notizen hinzu. Er beabsichtigte, George die Mappe gleich nach seiner Rückkehr nach Amerika zu übergeben.
»Schließlich«, sagte er zu Judith, als sie auf dem Weg nach Southampton waren, um von dort aus nach Hause zu reisen, »ist es nicht schlecht, wenn ich ihm erst einen Gefallen erweise, bevor ich ihn um zwei Millionen für mein Schiff bitte.«
43
»Wie heißt eigentlich dieser mysteriöse Knabe, der Bessemers Retter ist?« fragte Stanley Hazard.
Der Tonfall, in dem die Frage gestellt worden war, drückte nicht nur Skepsis, sondern auch Hohn aus. Einen leichten Hohn, zugegeben – die gegenwärtige Situation gebot ja wohl Höflichkeit –, aber doch Hohn. Cooper empfand eine gleichermaßen starke Verachtung für Stanleys Engstirnigkeit wie für seine blasierte Miene; mit jedem Jahr wurde sein Gesicht einer Schüssel überlaufenden Haferbreis ähnlicher.
Er konnte seine Wut nur unter Kontrolle halten, weil er an den Hauptzweck seines Besuchs dachte. »Ich weiß es nicht, Stanley. Seine Gießerei befindet sich in Wales, aber sonst ist nichts bekannt.« Er schob die dicke Mappe über den Tisch. »Alles, was ich herausfinden konnte, steht hier drin.«
Cooper hatte Judith und die Kinder in New York auf einen Dampfer nach Charleston verfrachtet und war dann geradewegs nach Lehigh Station gekommen. Er war mitten in der Nacht eingetroffen und hatte ein Zimmer im Station House genommen. Das Hotel befand sich eine Häuserreihe vom Bahnhof entfernt und war kurz nach der Verlängerung der Eisenbahnlinie bis nach Lehigh Station gebaut worden. Es war klein, aber in jeder Hinsicht modern. Jedes Hotelzimmer verfügte über eine Badewanne in einem kleinen Nebenzimmer, und überall gab es Gaslampen.
Nach einem reichlichen Frühstück hatte Cooper George einen kurzen Brief geschrieben, ihm seine Ankunft mitgeteilt und George und seinen Bruder zum Abendessen eingeladen. Eigentlich wollte Cooper Stanley den Plan seines Schiffes nicht zeigen, aber er hatte das Gefühl, es tun zu müssen. Die Entscheidungsgewalt über alle Ausgaben, die direkt mit dem Hazard-Eisenwerk zusammenhingen, lag zwar bei George, aber das Schiff wäre ja eine Art Investition, die zudem so hoch war, daß es George mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wagen würde, seine Einwilligung zu geben, ohne zuvor seinen Bruder um Rat zu fragen.
George blätterte immer noch in den Zeitungsausschnitten und Notizen herum. »Das erinnert sehr stark an das Verfahren von Kelly!«
Cooper aß die letzten Krümel des Kuchens aus dem Teller, der vor ihm stand. »Wer ist Kelly?«
George informierte ihn über den Stahlhersteller aus Kentucky. »Aber wenn Bessemer schon einen Antrag für ein amerikanisches Patent gestellt hat – «
»Hab’ ich dir das nicht gesagt?« unterbrach ihn Cooper. »Er hat es schon bekommen, bevor ich aus London abgereist bin.«
»Dann ist es ziemlich sicher zu spät für Kelly. Auf jeden Fall«, George war die Zigarre ausgegangen; er zündete ein Streichholz an und paffte, »werde ich unverzüglich zwei Plätze auf einem Dampfer buchen. Constance kann sich die französischen Kathedralen ansehen, während ich mich um diese Angelegenheit kümmere.«
Stanley sagte: »Ich finde, du bist ein Narr, wenn du das Risiko – «
»Welches Risiko? Meine Zeit? Der Preis für eine Reise? Mein Gott, Stanley, wenn du im Geschäftsleben nicht ins Hintertreffen geraten willst, kommst du nicht um Risiken herum. Wieso begreifst du das nie? Stell dir mal vor, die Hazards würden das amerikanische Patent für das Bessemer-Verfahren bekommen! Stell dir mal den Gewinn vor, wenn wir die ersten auf dem Markt wären!«
»Gewinn – oder Verlust«, konterte Stanley. »Es ist doch eine Tatsache, daß der mit diesem Verfahren gewonnene Stahl qualitativ immer noch unbrauchbar ist.«
George schlug aufgebracht mit der Faust auf den Tisch. »Was zum Teufel geht dich das eigentlich an! Ich werde die Reise aus meiner eigenen Tasche bezahlen.«
Stanley lehnte sich zurück und lächelte. »Ich muß sagen, daß ich dagegen nichts einzuwenden habe.«
George preßte die Lippen zusammen, atmete tief ein und wandte sich dann Cooper zu. »Ich möchte Bessemer gern kennenlernen. Vielleicht ist er mir gegenüber weniger mißtrauisch, weil ich ja aus dem Eisengeschäft komme.«
Cooper lächelte etwas gezwungen. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Fast die gesamte Eisenindustrie Großbritanniens macht sich über ihn lustig.«
»Was glaubst du, wissen die, was wir nicht wissen?« fragte Stanley seufzend und stand auf.
George nahm die Zigarre aus dem Mund und starrte seinen Bruder durch eine Rauchwolke an. »Stanley, ich weiß, es ist schon Jahre her, seit du dich zum letztenmal anständig benommen hast. Versuche dich wenigstens an deine guten Manieren zu erinnern, die du mal hattest, bevor du dich mit den Politikern eingelassen hast. Cooper hat uns mit seinem Besuch einen großen Dienst erwiesen. Die Höflichkeit gebietet es, daß wir ihn zumindest anhören. Du wolltest doch noch etwas anderes besprechen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Cooper. Widerwillig setzte Stanley sich wieder.
Mit gemischten Gefühlen bückte sich Cooper nach seiner Tasche. Er haßte es, seine Zeichnung der Star of Carolina in dieser vergifteten Atmosphäre vorzuzeigen.
Er rückte Teller und Besteck zur Seite und rollte dann die schon ganz schmuddlige und zerknitterte Zeichnung auf. Ernst und langsam setzte er zum Sprechen an. Zuerst beschrieb er die Besonderheiten seines Projekts. Begeistert sprach er von der großen Kapazität und der vielseitigen Verwendbarkeit des Frachtraums. Schließlich gab er bekannt, daß er das Schiff in Charleston bauen wolle. Zum Schluß sagte er:
»Unsere Familie verfügt über etwas Kapital, aber es reicht nicht ganz für ein Vorhaben solchen Ausmaßes. Wenn sich die Hazards beteiligen würden, dann könnten wir sofort damit beginnen. Ich bin sicher, daß beide Familien gute Aussichten auf einen Gewinn hätten. Vielleicht sogar auf einen sehr großen.«
Stanley überflog die Zeichnung nochmals mit einem spöttischen Blick. »Was meinen die Banken dazu?«
»Ich habe noch keine Verbindung mit einer Bank aufgenommen. Ich wollte euch zuerst eine Chance geben.« Er wandte sich an George: »Natürlich gibt es gewisse Risiken – «
Stanley kicherte und ließ eine spöttische Bemerkung fallen. George konnte das Wort Untertreibung hören. Er warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. Stanley saß zurückgelehnt, mit verschränkten Armen und halbgeschlossenen Augen da.
George sagte: »Du hast alles schon genau erklärt, Cooper. Aber ich kenne mich auf diesem Gebiet zu wenig aus, um deinen Vorschlag beurteilen zu können. Ich verstehe überhaupt nichts vom Schiffbau.«
»Alles, was ich darüber weiß, habe ich mir selbst angeeignet«, erwiderte Cooper. »Ich habe vor, die besten Schiffsbauingenieure nach Charleston zu holen – «
Er redete noch weitere zehn Minuten, hätte sich die Zeit und den Atem jedoch sparen können. Die Arme immer noch verschränkt, sagte Stanley: »Ich bin dagegen. Ich würde nicht einen Pfennig da reinstecken.«
Cooper machte ein langes Gesicht. George spielte an einem Eselsohr der Zeichnung herum. Dann setzte er sich aufrecht hin, straffte die Schultern und fragte den Besucher:
»Wieviel brauchst du?«
»Für den Anfang? Etwa zwei Millionen.«
Der ältere Bruder schnaubte und stand abermals auf. George starrte ihn wutentbrannt an. »Um Himmels willen, Stanley, sei endlich ruhig. Es war ein Irrtum von mir, dich mitzunehmen. Ich werde mein eigenes Geld investieren. Ich werde meine Grundstücke verpfänden, und wenn das nicht geht, verkaufe ich sie eben. Niemand wird auch nur im geringsten dein kostbares Vermögen anrühren.«
Bestürzt fragte Stanley: »Woher hast du Grundstücke, die zwei Millionen wert sind?«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob sie wirklich so viel wert sind. Ich muß die Bankiers fragen. Aber ich habe eine Menge Geld, von dem du keine Ahnung hast. Ich hab’s erwirtschaftet, während du damit beschäftigt warst, dich bei Boss Cameron einzuschmeicheln. Jedem das Seine«, sagte er achselzuckend.
Sprachlos vor Erniedrigung ließ sich Stanley wieder auf den Stuhl fallen.
George streckte Cooper die Hand hin. »So sind wir denn also Geschäftspartner. Das heißt, wir fassen die Möglichkeit, Partner zu werden, ins Auge. Ich brauche ungefähr eine Woche Zeit, um herauszufinden, ob ich das Geld auch wirklich auftreiben kann.«
»Du bist leichtsinnig«, explodierte Stanley. »Du bist schon immer leichtsinnig gewesen.« Er beugte sich zu Cooper vor. »Wie lange dauert es denn, bis dein großartiges Schiff geplant und fertiggestellt sein wird? Fünf Jahre? Zehn?«
»Drei. 1860 wird es seetüchtig sein.«
»Fein«, sagte Stanley schnippisch, »dann kann es ja das Flaggschiff eurer neuen Nation im Süden werden. Der Staat, von dem all die Verräter deines Staats reden.«
Er griff nach Hut, Stock und Mantel. George sagte: »Sein Freund Cameron liebäugelt mit den Republikanern. Stanley bemüht sich nun, die Parteirhetorik in den Griff zu bekommen.«
Damit handelte sich George erneut einen haßerfüllten Blick von Stanley ein, der mit dem Stock auf die Zeichnung zeigte und sagte: »Das Ding ist ein Witz. Ihr werdet euch beide in den Ruin stürzen. Ihr werdet euch noch an meine Worte erinnern.«
Er stolzierte hinaus. George seufzte. »Er hat sich nicht einmal für das Abendessen bei dir bedankt. Wenn er nicht mein Bruder wäre, würde ich ihm den Hals umdrehen.«
Cooper grinste und hielt die zusammengerollte Zeichnung hoch. »Mach dir nichts draus. Wir schaffen es ohne ihn.«
In weniger als zwei Wochen hatte George Grundstücke im Wert von einer Million neunhunderttausend Dollar für den Bau der Star of Carolina verpfändet.
Fünfzigtausend Dollar in Form eines Wechsels und der gleiche Betrag der Mains würde genügen, um die ersten Ausgaben zu decken, wie zum Beispiel die Vermessung des Gebiets auf James Island, die Freilegung des Geländes und ein Depot auf einem Sperrkonto, das dem Dreijahreslohn eines Mannes entsprach, wegen dem Cooper extra nach Norden gefahren war, um ihn von der Black-Diamond-Gesellschaft abzuwerben. Der Mann hieß Levitt Van Roon; er war einer der bedeutendsten Schiffsbauingenieure des Landes. Es dauerte nicht lange, bis Cooper Van Roon und seine Familie nach Charleston gebracht hatte. Danach schickte er Van Roon nach England, um die Millstone Werft zu besuchen und sich mit Brunei zu unterhalten. Dann mußte ein Vertrag, welcher die Carolina Marine Company inkorporierte, sowie ein Abkommen über die Teilhaberschaft zwischen den Mains und George Hazard vorbereitet werden. Für diese Arbeit ging Cooper zu Ashtons Gatte; Huntoon war zwar teuer, dafür aber ein Fachmann. Cooper war mit dem siebenundzwanzig Seiten starken Dokument einverstanden und übergab es Orry, der es George schickte.
Einige Wochen später sagte Orry zu seinem Bruder: »George hat den Vertrag zerrissen.«
»Mein Gott, will er aussteigen?«
»Nein, nichts dergleichen. Er ist der Ansicht, daß ein Vertrag nicht nötig sei. Er sagte, der Handschlag zwischen euch beiden genüge.«
»Und auf dieser Basis vertraut er mir beinahe zwei Millionen Dollar an?«
Orry nickte und amüsierte sich über die Reaktion seines Bruders. Cooper verstand nun besser denn je, wieso Orry diesen kleinen, stämmigen Mann aus Pennsylvania so sehr schätzte und achtete.
Im Frühling des Jahres 1857 beendete Billy seinen kurzen Aufenthalt in Fort Hamilton. Er hatte dort dem dienstälteren Offizier geholfen, Reparaturen an einer mit dreiundzwanzig Kanonen bestückten Redoute auszuführen. Außerdem hatte er noch ein Projekt in eigener Regie durchgeführt.
Eigentlich konnte man es nicht gerade ein Projekt nennen – im Pulvermagazin der Battery Morton sollten zwei Stockwerke und eine Decke ausgebessert werden. Doch Billy hatte alle Berechnungen selbst durchgeführt, die Pläne angefertigt und sechs zivile Arbeiter beaufsichtigt, die alle mindestens zehn Jahre älter und oft sehr streitsüchtig waren. Sie kümmerten sich keinen Deut um seinen Rang, begannen ihn aber zu respektieren, nachdem er einen Streit geschlichtet und sich gegen den Anführer der Gruppe in einem zweiminütigen, brutalen Boxkampf behauptet hatte.
Billy liebte die Farbenpracht und die Geschäftigkeit von New York. Als Yankee fühlte er sich dort zu Hause. Aber er spürte, daß sein Herz nun für den Süden schlug, und hoffte, daß ihn sein nächster Auftrag dorthin bringen würde. Zum Beispiel auf Cockspur Island im Savannah-Fluß. Oder – was noch besser wäre – in die Festungen im Hafen von Charleston. Aber zu seiner Enttäuschung schickte ihn die mysteriöse Armeebürokratie ins Landesinnere, wo er in die Fußstapfen eines Riesen treten würde.
Ungefähr zwanzig Jahre zuvor hatte man Robert Lee, der mit großer Wahrscheinlichkeit General Scotts Nachfolger wurde, mit einem Gehilfen nach St. Louis geschickt, wo er sich um ein Problem im Zusammenhang mit dem Mississippi kümmern sollte. Das Westufer des Flusses versandete immer mehr und behinderte die Schiffahrt nach St. Louis.
Lee, damals bei den Pioniertruppen, war der Ansicht, daß lange Deiche gebaut werden müßten, um das Problem zu lösen. Er errichtete am oberen und unteren Ende von Bloody Island, einer langgestreckten Sandbank auf der Illinois-Seite, je einen Deich. Zweieinhalb Jahre seines Lebens widmete Lee dieser und andern Verbesserungen am Flußbett in der Nähe. Als er seine Arbeit beendet hatte, leiteten die Deiche die Strömung so um, daß sie den angehäuften Sand wegspülte und den Dampfschiffkanal auf der Seite der Stadt genügend vertiefte.
Die Stadt war Lee für seine Arbeit sehr dankbar, und zusammen mit seinen mutigen Taten im Mexikokrieg führte dies dazu, daß er beinahe zu einer legendären Figur emporgehoben wurde. Nun wurde Brevetleutnant Hazard, auch wieder mit einem Gehilfen, nach St. Louis versetzt, um die Deiche zu reparieren – ein wesentlich einfacherer, aber deswegen nicht weniger einsamer Auftrag als derjenige von Lee.
Billy schrieb Brett, daß er sich im Grenzland wie in der Verbannung fühle. Aber einen Vorteil hatte es: Er brachte immer noch einen Teil seines Soldes auf die Bank; ihren Heiratsschatz, wie sie dies in ihren häufigen und äußerst sentimentalen Briefen nannten. Brett versprach ihm, ihn in St. Louis zu besuchen, falls sie Orry davon überzeugen konnte, sie zu begleiten.
Charles schloß die Akademie als Drittletzter der Klasse von 1857 ab. Er bestellte Uniformen mit gelben Aufschlägen, steckte das Zeichen der Kavallerie daran und ging auf Urlaub nach Hause. Er war zum Zweiten Kavallerieregiment in Texas eingeteilt worden, eines der neugeschaffenen Regimenter. In dieser Einheit waren so viele Südstaatler von West Point, daß sie ›Jefferson Davis’ Eigenmarke‹ genannt wurde, was nicht immer als Kompliment aufzufassen war.
Als Ashton hörte, wo Charles einrücken mußte, reagierte sie ähnlich wie Billy: »Das ist ja am Ende der Welt. Dort gibt es ja nichts als Staub, Nigger und rote Wilde.«
»Unsinn, Ashton. Dort sind Texaner, Spanier – und das beste berittene Regiment der Armee, unter dem Kommando von Robert Lee. Lee hat Freunden in der Akademie einen Brief geschrieben und gesagt, Texas sei wunderschön. Er hat einen Garten und hält sich eine Klapperschlange als Haustier. Ich glaube, ich werde dasselbe tun.«
»Ich hab’ schon immer gewußt, daß du verrückt bist«, sagte sie, während ihr ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief.
44
Mit einem Dampfer aus New Orleans fuhr Charles nach Indianola an der Küste des Golfs von Texas. Von dort aus ging es mit der Postkutsche weiter nach San Antonio, dem Hauptquartier des Regiments und dem Sitz des texanischen Heeresministeriums, das vorübergehend ebenfalls unter dem Kommando von Lee stand.
Texas war ein für Charles völlig neues Erlebnis, weil es landschaftlich völlig anders war als alles, was er bisher gekannt hatte. Es gab weder Berge wie am Hudson noch üppig wuchernde, feuchte Landstreifen wie im Tiefland von South Carolina. Texas war flach oder von sanften Erdwellen durchzogen, der brennenden Sonne und wilden Winden ausgesetzt, tropisch heiß im Sommer und eiskalt im Winter. Etwas in seinem Innern fühlte sich unmittelbar von der Weite und dem damit verbundenen Gefühl der Freiheit angezogen. Ihn dünkte, ein Mensch könne sich hier voll entfalten, ohne durch Traditionen und die leeren Verhaltensregeln, die die dichter besiedelten Regionen des Landes beherrschten, eingeengt zu werden.
San Antonio lag am Fluß mit demselben Namen. Die Stadt bildete eine merkwürdige, aber dennoch faszinierende Mischung dreier verschiedener Kultureinflüsse, auf die Charles zuerst durch die Architektur aufmerksam wurde. Auf der holprigen Fahrt mit der Postkutsche durch die Vororte fielen ihm die adretten, einstöckigen Häuser aus quadratischen, weißen Kalksteinen auf, die alle ein Schildchen mit dem aufgemalten Namen des Eigentümers aufwiesen. Es handelte sich in der Mehrzahl um deutsche Namen. Später schlenderte er in der Commerce Street an Läden mit sowohl deutschen als auch englischen Namen vorbei. Die Amerikanersiedlung befand sich ganz in der Nähe; solide Backsteinbauten, zwei- oder dreistöckig und mit Holzzäunen umgeben. Und dann gab es natürlich noch die Häuser aus ungebrannten Ziegeln mit dem klaren quadratischen Grundriß und dem typischen Flachdach. Alles in allem mochte er die Stadt ebenso sehr wie den Staat. Die Leute wirkten freundlich und vermittelten den Eindruck, daß das Leben sie gut behandelt hatte und daß sie deshalb vertrauensvoll in die Zukunft blicken konnten. Charles begegnete einer Menge verwegen dreinblickender, schwer bewaffneter Gesellen, aber vor allem gefielen ihm die dunkelhäutigen Spanierinnen.
Bevor er sich bei Lee zur Stelle meldete, bürstete er sorgfältig den Staub von seiner blaßblauen Hose und der exakt sitzenden dunkelblauen Jacke. Er polierte sämtliche Messingknöpfe auf Hochglanz und zupfte die schwarzen Straußenfedern auf seinem Hardee-Hut zurecht – dem grauen breitkrempigen Filzhut der Kavallerie, der 1855 bei der Armee eingeführt worden war. Die linke Seite des Hardees war hochgekrempt und wurde von den Krallen eines Metalladlers festgehalten.
Nachdem Charles dem Gehilfen von Lee seine Papiere übergeben hatte, einem lustigen Polen namens Leutnant Radziminski, wurde er vom Regimentskommandanten empfangen. Lee bat ihn, Platz zu nehmen. Die Septembersonne durchflutete den weiß getünchten Raum. Durch die geöffneten Fenster strömte trockene, frische Luft herein.
Lee war formell und doch herzlich. »Schön, Sie wieder zu sehen, Leutnant. Sie sehen gut aus. Die Akademie scheint Ihnen also gut bekommen zu sein.«
»Jawohl, Sir. Ich bin gern dort gewesen, obwohl ich gestehen muß, daß ich im Studium nicht besonders gut abgeschnitten habe.«
»Hier draußen sind andere Eigenschaften mindestens so wichtig. Hier muß man reiten können und die Fähigkeit haben, Unbequemlichkeiten zu ertragen. Und hier müssen Sie in der Lage sein, Männer verschiedenster Herkunft zu führen.« Hinter Lee hing eine große Karte von Texas. Sämtliche Armeeposten waren mit Nadeln und Fähnchen gekennzeichnet. »Dort, wo man Sie hinschicken wird, setzen sich die Truppen hauptsächlich aus Männern aus Alabama und Ohio zusammen. Natürlich haben wir auch noch ein Einwandererkontingent im Regiment. Übrigens – «
Charles Neugier war nicht befriedigt: Er hatte seinen Bestimmungsort noch nicht erfahren. »Mein Neffe leistet im Regiment Dienst.«
»Ja, Sir, ich weiß.«
»Sie und Fitz waren Freunde – «
»Gute Freunde! Ich freue mich, ihn wiederzusehen.«
Lee nickte und überlegte kurz. »Ich muß Ihnen ferner mitteilen, daß General Twiggs demnächst eintreffen und das Kommando über den Bezirk übernehmen wird. Major George Thomas wird das Regiment übernehmen und das Hauptquartier wieder nach Fort Mason verlegen. Ich kehre nach Virginia zurück.«
Charles versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. »Ein neues Kommando, Sir?«
Ernst schüttelte Lee den Kopf. »Mein Schwiegervater ist gestorben, und ich muß Urlaub nehmen, um einige Familienangelegenheiten zu regeln.«
»Mein herzliches Beileid, Sir. Ich bedaure, daß Sie fortgehen.«
»Danke, Leutnant. Ich habe vor, sobald wie möglich zurückzukommen. Mittlerweile werden Sie mit Major Thomas einen fähigen Kommandanten haben. Er hat 1840 abgeschlossen.«
Er sagte das so, als wolle er Major Thomas mit einem Gütestempel versehen. Charles lernte nach und nach, daß die Offiziere, die die Akademie besucht hatten, zu einer Klasse gehörten, die sie von all jenen Offizieren, die nicht in West Point abgeschlossen hatten, trennte.
Lee entspannte sich, und sein Tonfall wurde etwas formell. »Wir haben hier nur wenige Pflichten zu erfüllen, aber eine jede hat ihre Bedeutung: das Überwachen der Postkutschen und der Auswandererzüge, Aufklärungsdienste und natürlich die Unterdrückung eines eventuellen Indianeraufstands. Die Bedrohung durch die Indianer ist nicht so überwältigend, wie unsere Stückeschreiber und Romanciers es die leichtgläubigen Oststaatler glauben machen möchten, aber sie ist auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ich vermute, daß Ihnen der Dienst hier gefallen und eine Herausforderung für Sie darstellen wird.«
»Das glaube ich auch, Oberst. Texas gefällt mir bereits ganz gut. Man kriegt hier ein Gefühl der Freiheit.«
»Mal sehn, ob Sie immer noch dieser Ansicht sind, wenn Sie mal einen Blizzard erlebt haben«, antwortete Lee mit einem Lächeln. »Aber ich kann verstehen, was Sie meinen. Letztes Jahr habe ich ein Buch von einem Mann namens Thoreau gelesen. Ein Satz ist in meinem Gedächtnis haften geblieben. ›Niemand ist glücklicher in der Welt als Menschen, die frei einen weiten Horizont genießen.‹ Dies trifft sicherlich auf den Siedler zu. Vielleicht können damit auch die vielen Unruhen und Konflikte in unserem Land erklärt werden? Oh, aber ich hab Ihnen ja noch gar nicht gesagt, wo Sie hinkommen werden.«
Er stand auf, trat vor die Landkarte hin und deutete auf eines der Fähnchen etwa vierhundert Kilometer nördlich von San Antonio.
»Camp Cooper am Brazos-Fluß. Zwei Meilen flußaufwärts vom Penateka-Reservat der Komantschen. Ihr Truppenkommandant ist ebenfalls ein West-Point-Absolvent, der jüngst aus Washington dorthin abkommandiert wurde. Sein Name ist Hauptmann Bent.«
Charles bezog für die Reise nach Camp Cooper seine Ausrüstung und ein gutes Pferd, einen Rotschimmel. Er würde mit dem Zahlmeister des Bezirks und dessen Verband nach Norden reiten. Als er am Vorabend der Abreise auf dem Weg zum Abendessen war, begegnete er Oberst Lee und Major Thomas auf der Straße. Lee lud ihn ein, sie zum Plaza Hotel zu begleiten. Charles dankte beiden älteren Offizieren für die Einladung und marschierte neben ihnen her.
Das heiße, feuchte Wetter hatte – sozusagen über Nacht – einen neuen Schwarm von Fliegen und Moskitos mit sich gebracht. Im Eßsaal des Hotels standen überall schwarze Jungen, die die Insekten mit Palmwedeln zu verscheuchen versuchten. Charles dachte mit einem etwas schlechten Gewissen an zu Hause. Obwohl er immer noch ein loyaler Südstaatler war, hatten die vier Jahre West Point ihn doch neuem Gedankengut ausgesetzt und seine Denkweise leicht verändert. Er neigte nun zur Ansicht, daß die Wirtschaft des Südens auf einem morschen Fundament ruhe, das, würde es nicht von äußeren Kräften hinweggefegt, eines Tages zusammenbrechen mußte.
Lee und Thomas unterhielten sich fröhlich über die verschiedensten Themen: das Indianerproblem; die neue Infanterietaktik von Major Bill Hardee, welche diejenige von General Scott ablöste; ein Pferderennen, das von einem Hauptmann aus South Carolina namens Nathan Evans aus Marion gewonnen worden war.
Schließlich kamen sie auf das Wetter zu sprechen. »Texas bringt das Temperament unsrer Männer voll zur Geltung«, sagte Lee. »Warten Sie mal, bis Sie in dieser Hitze zwanzig oder dreißig Tage hintereinander patrouillieren müssen!«
»Und dabei zehn diebische Komantschen auf Tausenden von Quadratkilometern suchen müssen«, fügte Thomas hinzu. Der Major war von einem etwas kräftigeren Körperbau als Lee, zurückhaltender in seiner Art und etwa vierzig Jahre alt. Sein stilles Auftreten und auch das gelegentliche Aufblitzen seiner stahlblauen Augen ließen auf einen starken Willen schließen. Er kam wie Lee aus Virginia.
»Wenn die meisten Komantschen in Reservaten leben, weshalb stehlen sie denn?« fragte Charles.
Lee gab eine etwas weitläufige Antwort. »Wir haben versucht, Farmer aus den Komantschen des Südens zu machen, aber ich glaube, daß sie sich temperamentmäßig nicht dafür eignen. Und abgesehen davon, hat sich das Wetter etwa ein Jahr lang gegen uns verbündet. Nichts als Dürre. Ihre Ernten sind also samt und sonders verdorrt, was bedeutet, daß sie kein Geld haben. Aber wie alle Menschen haben sie Bedürfnisse: Tabak, Messer, Wolldecken. Es gibt einige gewissenlose Leute, die mit ihnen Handel treiben. Sie stammen meist aus Indianerterritorien. Einige sind auch Comancheros aus Neu-Mexiko.«
Charles, der immer noch nicht ganz verstand, fragte: »Aber wenn die Komantschen kein Geld für ihre Ernten bekommen haben, womit handeln sie denn?«
»Mit Pferden.«
»Gestohlenen Pferden«, berichtigte Thomas. »Der Vorgänger von Oberst Lee war der Meinung, daß man den Indianern mit Härte begegnen müsse, mit Patrouillen, Verfolgungen und Bestrafungen. In letzter Zeit verfolgt Washington jedoch eine etwas passivere Politik. Wir haben Befehl, nichts zu unternehmen, bis es zu einem Aufruhr kommt, bis die Komantschen auf einen weißen Siedler losgehen, der unglücklicherweise über einige Pferde auf der Koppel verfügt. Erst dann treten wir in Aktion und senden Stoßgebete zum Himmel, in der Hoffnung, daß der Weiße noch nicht ermordet worden ist.«
Lee betrachtete nachdenklich sein Wildbretsteak. »Man kann die Schuld nicht nur bei den Komantschen suchen. Wir haben ihnen schließlich Land für die Besiedlung weggenommen, und dann haben wir das Wild vertrieben, von dem sie sich ernährten. Wir sind also zum Teil mitverantwortlich dafür, daß sie nichts haben und deshalb stehlen.«
»Sagen Sie das um Himmels willen nie zu Gouverneur Houston!« sagte Thomas mit einem traurigen Lächeln.
Aber Charles sah bloß die Abenteuerseite: eine Jagd zu Pferd mit rasselnden Säbeln. Er freute sich, daß man ihn zum Zweiten Kavallerieregiment und nicht zu irgendeiner langweiligen Einheit in einem sicheren Landesteil abkommandiert hatte.
Sechsmal pro Jahr machte der Zahlmeister sich auf den Weg nach sämtlichen Forts in Texas, den Sold jedes einzelnen Soldaten sorgfältig unter Verschluß. Er reiste in einem Eselsfuhrwerk, begleitet von einem Proviantwagen und sechs Kavalleristen unter dem Kommando eines Sergeants.
Die berittenen Männer waren Dragoner in der orangefarbenen Uniform. Charles, der mit ihnen ritt, fühlte sich der stillen Verachtung ausgesetzt, die man einem Anfänger entgegenbrachte. Die Dragoneruniformen und ihr Pferdegeschirr sahen bereits recht abgeschossen aus; bei Charles hingegen war noch alles brandneu.
Die Dragoner waren die ersten Reitertruppen Amerikas gewesen und wurden nun nach und nach durch die Kavallerie – die leichte Kavallerie ersetzt. Wie auch das andere berittene Regiment, verfügte das zweite nicht über schwerbewaffnete Soldaten wie dies zum Beispiel in Europa der Fall war. Überdies sollte das zweite Regiment zu Pferd kämpfen und nicht zu irgendeinem Schlachtfeld reiten und dann absteigen. Die Dragoner fühlten sich durch diesen neuen Stil des berittenen Kampfes, der offensichtlich die Zustimmung von Kriegsminister Davis fand, bedroht, und sie machten keinen Hehl aus ihrem Groll. Abgesehen von den militärischen Höflichkeitsfloskeln ließen sie Charles während der ganzen Reise links liegen.
In Fort Mason feierten er und Fitz Lee, der immer noch so sorglos und fröhlich und respektlos wie früher war, ihr Wiedersehen mit Jubel und Alkohol. Sie gingen die meisten West-Point-Männer des Regiments durch: Evans aus South Carolina; Earl Van Dorn aus Mississippi; Kirby Smith aus Florida; John Hood aus Kentucky; Bill Hardee aus Alabama, der seinen Namen während seiner Dienstzeit beim Zweiten Dragonerregiment für die neuen Hüte hergegeben hatte. Kein Wunder, warfen die Kritiker Davis vor, daß er ein Eliteregiment geschaffen habe, das ausschließlich aus Gentlemen des Südens bestehe.
Kurz bevor der Lohnzug sich wieder auf den Weg machte, sagte Fitz zu seinem Freund: »Nimm dich vor deinem Truppenkommandanten in acht! Er ist erst seit kurzem hier draußen, hat aber bereits einen schlechten Ruf.«
»Ist er unfähig?«
»Nicht unbedingt. Verlogen. Man kann ihm nicht über den Weg trauen. Sei vorsichtig!«
Charles sann über die Warnung nach, als er im Staub, den der Proviantwagen aufwirbelte, dahinritt und ab und zu seinen Rotschimmel tätschelte und ihm liebevolle Worte zuflüsterte; er hatte ihn zu Ehren seines Heimatstaates Palm getauft.
Der heiße Südwestwind trieb ihm Streusand in den Nacken. Innerhalb von zehn Minuten wechselte er die Richtung um genau 180 Grad, pechschwarze Wolken verdüsterten den Himmel, die Temperatur stürzte, und der gefürchtete Nordsturm ließ einen Regenguß mit Hagelstücken über ihn niedergehen, die so groß waren, daß sein Gesicht aufgeschürft wurde und zu bluten anfing.
Eine Stunde später schien die Sonne wieder. Die schlammige Straße vor ihnen wand sich bis zum zusehends klarer werdenden Horizont durch eine sanfte Hügellandschaft. Als die Reiter aus einem Tal mit regenglitzernden Nußbäumen auf eine Anhöhe mit schweren Eichen kamen, hoppelte ein Weißschwanzkaninchen vor den Schimmel. Lerchen trillerten in den Eichen.
Charles lächelte wieder; sein altes, keckes Lächeln. Seine Uniform war völlig durchnäßt, aber das machte ihm nichts aus. Das ungestüme, wechselhafte Wetter kam seinem Abenteuersinn entgegen, und von Minute zu Minute liebte er Texas mehr.
Von einer Anhöhe oberhalb der Flußgabelung stieg die Gesellschaft des Zahlmeisters in ein liebliches grünes Tal hinunter, das sich nordwärts erstreckte, bis es sich schließlich im gleißenden Dunst der Mittagshitze verlor. Charles hatte kaum je einen schöneren Ort gesehen. Die gewundenen Mesquitebäume und die verkrüppelten Feigenbäume trugen ihren Teil zur wilden Schönheit bei.
Doch das grüne Aussehen des Tals war eine optische und perspektivische Täuschung. Die von der Hitze verdorrten Blätter der riesigen Ulmen am Fluß bewegten sich kaum in der schwülen Luft. Die Gruppe ritt an Melonen- und Erbsenfeldern vorbei, die wie Pergamentpapier aussahen. Ab und zu begegneten sie Indianern, die von einer staubigen Furche aus die Soldaten traurig oder gelangweilt anblickten.
Hinter den ausgedörrten Feldern erblickte Charles die erste Indianersiedlung – etwa zweihundert mit roten und gelben Zeichen und Symbolen bemalte Hütten. Das Dorf erweckte einen Eindruck überwältigender Armut.
Von den Feuerstellen stiegen Rauchsäulen auf, und der Geruch von gebratenem Fleisch vermischte sich mit demjenigen von menschlichen Abfallprodukten. Kinder lachten und spielten, ausgemergelte Hunde streunten überall herum, und etwa ein halbes Dutzend Männer wirbelten eine riesige Staubwolke auf, als sie sattellos durch die Siedlung ritten. Sie achteten jedoch darauf, daß sie der Gruppe von Soldaten nicht zu nahe kamen, wie Charles bemerkte.
Noch etwa zwei Meilen, und er würde absteigen können. Er war schweißgebadet, und obwohl seine Hose auf der Innenseite vorschriftsmäßig durch ein Stück Leder verstärkt war, waren seine Oberschenkel wundgescheuert. Als er Camp Cooper schließlich sichtete, kam es ihm wie das Paradies vor, obwohl es sich lediglich aus vierzehn primitiven Gebäuden aus Stein, Baumstämmen, Schindeln und ungebrannten Ziegeln zusammensetzte.
Der Posten war in der Form eines losen, verkehrt stehenden L angelegt. Auf dem Exerzierplatz vor dem Flaggstock übten Infanteristen lustlos die Handhabung von Waffen. Charles erinnerte sich daran, daß zwei Kompanien der Ersten Infanterie wie auch eine Schwadron der Zweiten Kavallerie hier stationiert waren.
Die Abteilung des Zahlmeisters kam an einer kleinen Bäckerei mit einem Schindeldach vorbei. Zwei schwitzende Bäcker standen mit nacktem Oberkörper im Schatten einer Wand und bewegten bloß ihre Pfeife zum Gruß auf und nieder. Gerade als der Duft von frischgebackenem Brot in den Geruch von Stallmist überging, ritt der Dragonersergeant neben Charles.
»Dort sind die Ställe, Sir. Die beiden Holzgebäude.«
Charles erwiderte den militärischen Gruß und trabte weiter. Er lenkte sein Pferd in das nächstbeste Gebäude, das an beiden Enden offen und abgesehen von Pferden leer war. Einen Augenblick später tauchte ein hoch aufgeschossener Mann mit weit ausholenden Schritten am andern Eingang auf.
Er trug verblichene Kordhosen und ein gemustertes Flanellhemd. Von der linken Hüfte hing ein Messer und von der rechten eine Holster-Pistole – wie die 1848er Colts von den Kavalleristen genannt wurden. Charles besaß ein ähnliches Modell, ein .44-Kaliber mit einem herrlichen Griff aus Walnußholz und einem Abzug aus Messing. Er hatte sich noch zwei zusätzliche Annehmlichkeiten auf eigene Kosten geleistet: einen abnehmbaren Schulterschaft mit einem Tragriemen sowie einen Lauf mit einer dekorativen Gravierung, die Dragoner im Kampf mit Indianern darstellte. Der Revolver eines Kavalleristen war eine kostbare und höchst persönliche Waffe.
Der Mann blickte Charles prüfend an. Er war um die vierzig Jahre alt und hatte ein längliches, freundliches Gesicht mit einem kupferroten Bart. An beiden Ohrläppchen trug er Messingringe im Piratenstil. Offenbar ein Zivilist, der irgendwie zum Indianerreservat gehörte, vermutete Charles. Oder vielleicht der Marketender des Camps? Charles stieg vom Pferd und wandte sich brüsk an ihn:
»Führen Sie mich bitte zum Büro des Adjutanten!«
Der Mann zeigte ihm die Richtung. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fingen seine Augen plötzlich zu glühen an.
»Wo kann ich Hauptmann Bent finden?«
»In seinem Quartier. Er hat einen schweren Ruhranfall.«
Müde und irritiert schlug sich Charles mit Palms Zügeln gegen das Bein. »Wer ist dann für die K-Kompanie zuständig?«
»Ich, Sir.« Der Blick war vernichtend. »Oberleutnant Lafayette O’Dell.«
»Ober…?«
»Stehen Sie stramm, Sir!«
Auf diesen Tausende von Malen in West Point gehörten Befehl hin nahm Charles automatisch die korrekte Haltung ein. Er salutierte mit rotem Gesicht.
O’Dell ließ sich mit dem Gegengruß Zeit. Er betrachtete Charles mit einem – wie Charles das auffaßte – feindseligen Blick. »Bitte um Entschuldigung, Leutnant«, stotterte Charles. »Ich bin – «
»Der neue Unterleutnant«, unterbrach ihn O’Dell. »Hab’ Sie erwartet. Von der Akademie?«
»Ja, Sir. Ich hab’ im Juni abgeschlossen.«
»Nun, der Hauptmann war auch auf der Akademie. Wir haben einen richtigen Club von Akademieabsolventen hier im Regiment. Bedaure, ich bin nicht Mitglied dieses verdammten Clubs. Ich bin ein einfacher Farmerssohn aus Ohio, der von Ackergäulen zu Kavalleriemähren aufgestiegen ist. Der Hauptmann ist nicht sehr erpicht auf den Truppendienst, schon gar nicht hier. Aber ich hab’ nichts dagegen einzuwenden. Wenn Sie wollen, daß die Männer Sie respektieren, tun Sie besser daran, sich auch damit zufrieden zu geben.«
»Das werde ich, Sir.« Charles verschluckte die Worte beinahe und gab sich ebenso große Mühe, seinen Ärger und seine Verlegenheit hinunterzuschlucken.
»Etwas möchte ich Ihnen noch über den Dienst in Texas sagen: Sie tun gut daran, sich entsprechend zu kleiden. Dieser hübsche Mantel eignet sich nicht besonders für lange Patrouillen, und Ihr Säbel übrigens auch nicht. Die Feinde sitzen nicht wartend herum und lauern auf einen Fechtkampf. Bis Sie dieses Fleischermesser gezogen haben, haben sie Sie schon längst überwältigt und Ihren Skalp gekapert. Der Hauptmann freut sich auch nicht sonderlich über diesen Tatbestand, aber er muß sich damit abfinden.«
Das Temperament ging schließlich mit Charles durch, und mit blitzenden Augen flüsterte er: »Ich danke Ihnen für den Rat, Sir!«
Plötzlich hellte sich O’Dells finstere Miene auf, er kicherte und trat einen Schritt vor.
»Das gefällt mir besser. Ich hatte schon geglaubt, daß man uns einen völlig humorlosen Unterleutnant beschert habe. Warten Sie, ich helfe Ihnen, das Pferd abzusatteln. Dann können Sie sich zur Stelle melden und Hauptmann Bent die Ehre erweisen – vorausgesetzt, er kauert nicht mehr auf seinem Nachttopf. Lachen Sie nicht! Das Wasser hat diese Wirkung bei jedem Neuankömmling.«
Grinsend streckte Leutnant O’Dell Charles seine schwielige Hand hin.
»Willkommen im Norden von Texas oder im Süden der Hölle – ich bin mir da nicht ganz im klaren.«
Charles war dankbar dafür, daß der Oberleutnant nicht so grob war, wie es zuerst den Anschein erweckt hatte. Wie alle andern Truppen, verfügte die K-Kompanie bloß über drei Offiziere, und Charles konnte sich mühelos vorstellen, welche Probleme sich ergaben, falls sie einander nicht unbedingt mochten. Daß der Truppenkommandant nicht beliebt war, hatte sich ja bereits zur Genüge herausgestellt.
Bis Palm schließlich abgerieben und mit vollem Magen im Stall stand, hatte Charles eine ganze Menge über O’Dell erfahren. Er war in der Nähe von Dayton, Ohio, geboren und aufgewachsen und hatte mit vierzehn in bezug auf sein Alter geschummelt, um sich als Soldat anwerben zu lassen. Sein gegenwärtiger Dienstgrad war derjenige eines Brevetleutnants, was für einen Mann, der West Point nicht besucht hatte und in seinem Alter war, einen ganz hübschen Erfolg darstellte.
O’Dell geleitete Charles in die Nähe einer gelblich-braunen Lehmhütte und deutete auf das Quartier des Hauptmanns – eine Tür am andern Ende, von der die spärliche Farbe abbröckelte. Im selben Augenblick galoppierte ein weiterer Trupp mit flatternder rotweißer Standarte in das Camp. Nur drei der Reiter trugen die vorschriftsmäßige Uniform, der Rest sah eher wie O’Dell aus. Charles mußte feststellen, daß ihn niemand darauf vorbereitet hatte, daß man in Camp Cooper saloppe Kleidung trug.
»Was Sie brauchen«, sagte O’Dell, »sind Kleider, die dem Wetter angepaßt sind und in denen Sie sich frei bewegen können. Suchen Sie sich irgendwo etwas zusammen, stehlen Sie es, falls nötig, aber lassen Sie sich um Himmels willen vom Hauptmann nicht davon abbringen.«
»Vielen Dank, Sir. Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen.« Er war beinahe sicher, daß es nicht bei dem einzigen Rat bleiben würde – und täuschte sich nicht.
»Wenn ich Sie wäre, würde ich jetzt sofort zum Hauptmann gehen. Es ist zwar lästig, aber je schneller Sie es hinter sich bringen, desto eher können Sie sich wieder angenehmeren Dingen zuwenden.«
Eine Stunde später, nachdem Charles seine eigene winzige Unterkunft aufgesucht hatte, klopfte er an besagte Tür. Eine mürrische Stimme bat ihn einzutreten.
Das Quartier des Truppenkommandanten bestand aus einem einzigen großen Zimmer. Die der Tür gegenüberliegende Wand war zur Hälfte nichts weiter als ein offenes Fenster mit einem aufgerollten Segeltuch als Rolladen.
O’Dell hatte bereits nicht der typischen Vorstellung eines Kavalleristen entsprochen, aber Hauptmann Bent entsprach dem Bild noch wesentlich weniger. Er war von einer weichen, walroßähnlichen Statur und etwa in Orrys Alter. Er hatte kleine Augen mit einem unsteten Blick und eine rote, mit Blasen bedeckte Haut, die offensichtlich unter der Texassonne nicht braun werden wollte. Charles reagierte von Anfang an mit negativen Gefühlen.
Anstelle eines Uniformrocks trug Bent einen gesteppten Hausmantel, auf dem sich unter den Ärmeln und auf der Rückseite große Schweißflecken abzeichneten.
»Ich bin seit vier Monaten hier«, beklagte sich Bent, nachdem Charles ihn begrüßt hatte. »Und eigentlich sollte ich diese verfluchte Krankheit längst hinter mir haben, aber ich kriege immer wieder einen Rückfall.« Der Hauptmann deutete auf eine Truhe, die mit Büchern überladen war. »Setzen Sie sich doch.«
»Danke, Sir, aber ich möchte lieber stehen. Ich bin heute ziemlich lang im Sattel gesessen.«
»Wie Ihnen beliebt.«
Der Anblick der vielen Bücher hatte eine einschüchternde Wirkung auf Charles – wie auch der merkwürdige Ausdruck in Bents dunklen Augen. Der Hauptmann ließ sich mit einem schweren Seufzer auf den einzig vorhandenen Stuhl nieder. »Es tut mir leid, daß Sie mich in einer solch unangenehmen Situation vorfinden.«
»Der Oberleutnant hat mich schon darauf vorbereitet, Sir. Ich bedaure, daß Sie – «
»Oh, Sie haben O’Dell bereits getroffen«, unterbrach ihn Bent. »Wir stammen beide aus Ohio, aber sonst haben wir nichts gemeinsam. Er gibt ein schönes Vorbild ab, nicht wahr? Der liederlichste Offizier, der mir je über den Weg gelaufen ist. Aber das Schlimmste daran ist, daß ihn alle Männer nachahmen. Major Thomas hat mir mitgeteilt, ich hätte mit einer Meuterei zu rechnen, falls ich die Kleidervorschriften zu streng handhabte. Hauptmann Van Dorn teilte seine Ansicht, und ich wurde praktisch dazu gezwungen, unmilitärisches Aussehen gutzuheißen. Stellen Sie sich das einmal vor!«
Bent brummte einige unverständliche Worte. Unter den Augen hatte er dunkle Ringe, so als ob jemand seine rosarote Haut mit Schmiere bestrichen hätte. Charles räusperte sich.
»Auf jeden Fall, Sir, tut es mir leid, daß Sie krank sind.«
»An diesem gottverlassenen Ort ist sogar Krankheit eine Abwechslung.«
In einem verzweifelten Versuch, die Spannung etwas zu mildern, versuchte es Charles mit einem Witz: »Falls Dysenterie eine Abwechslung sein sollte, so werde ich bald alle Hände voll zu tun haben, wie man mir bereits sagte.«
Ernst entgegnete ihm Bent: »Beten Sie zu Gott, daß Sie nichts Schlimmeres bekommen. Einige der Neuen kriegen jeweils Magengeschwüre. Und es gibt solche, die sich nie davon erholen.«
Er schlenderte zum offenen Fenster, starrte hinaus und wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch vom Hals. »Wir haben die herrlichsten Unterhaltungsmöglichkeiten in Camp Cooper – der Name stammt übrigens vom General, unter dem ich diente, bevor ich das Unglück hatte, in dieses Drecknest zu kommen.« Er drehte sich abrupt um und blickte Charles an. »Wie gefällt Ihnen Texas?«
»Soweit ganz gut.«
»Sie müssen verrückt sein. Moment mal, Sie sind doch Südstaatler, nicht wahr? Nun, das kommt auf dasselbe heraus – « Bent zwinkerte ihm zu. »Na, na, gehen Sie nicht gleich in die Luft, ich hab’ mir ja bloß einen kleinen Scherz erlaubt.«
»Ja, Sir.« Die Antwort klang gezwungen, nicht sehr überzeugend, aber es ging nicht anders.
Bent kehrte zu seinem Stuhl zurück und ließ sich erneut mit einem Seufzer der Erschöpfung niederfallen. »Wie Sie vielleicht vermutet haben, habe ich den Posten hier nicht beantragt und hasse ihn. Der Dienst bei der Truppe ist nicht unbedingt meine Leidenschaft. Meine Stärke sind Militärwissenschaften.« Er deutete auf die Bücher. »Interessiert Sie das?«
Charles hatte langsam wieder etwas Gesichtsfarbe bekommen. »An der Akademie hatte ich mit dem Fach etwas Mühe, Sir.«
»Vielleicht würde uns beiden etwas Privatunterricht gut tun und Spaß machen.«
Wieder fühlte Charles den durchbohrenden Blick von Bent auf seinem Gesicht; es machte ihn nervös. Die Höflichkeit gebot eigentlich eine Antwort, aber er weigerte sich, mehr als »Ja, Sir, vielleicht«, zu sagen.
»Weiß der Himmel, ein gewisser intellektueller Anreiz ist auf diesem Posten wirklich vonnöten. Der Dienst hier in Camp Cooper setzt sich fast gleichermaßen aus schlechter Ernährung, scheußlichem Wetter, gelegentlichen Einsätzen gegen dumme Indianer und der Jagd auf Deserteure zusammen, die die Einsamkeit oder der Goldwahn davongetrieben haben. Was die Freizeitbeschäftigung anbelangt, so ist die Wahl nicht gerade attraktiv. Die meisten Männer trinken oder schließen Wetten für Hahnenkämpfe ab. Falls Sie sich temperamentmäßig vom Verkehr mit Squaws angezogen fühlen, können Sie sich auch die Syphilis holen.«
Der Hauptmann befeuchtete sich die Lippen. Charles hatte das eigenartige Gefühl, Bent wolle auf diese merkwürdige und umständliche Art erfahren, ob er Frauen mochte. Vorsichtig sagte er:
»Ich glaube nicht, daß ich Zeit dafür haben werde.«
»Schön.« Bent fixierte einen Punkt auf Charles’ Kinn. Der jüngere Offizier fand diese Art der Inspektion höchst lästig. »Gentlemen haben andere Mittel zur Verfügung, sich die Langeweile zu vertreiben.«
Wieder ein Seufzer. »Ich nehme an, man erwartet von uns, Langeweile und Mühsal ohne Klagen zu ertragen. Wir sind Berufssoldaten, und die Grenze muß verteidigt werden. Ich habe diesen Posten lediglich angenommen, weil eine Absage später unter Umständen gegen mich verwendet werden könnte. Ich könnte mir denken, daß es Oberst Lee nicht anders ergangen ist.«
Was für ein Prahlhans, dachte Charles im stillen. Er fand es überhaupt nicht komisch, sondern eher erschreckend, daß Bent sich mit dem besten Offizier der Armee verglich. Der Hauptmann räusperte sich.
»Ich danke für Ihren Besuch, Leutnant. Ich glaube, ich sollte jetzt ruhen. Ach, übrigens, wußten Sie, daß man die K-Kompanie in und um Cincinnati herum ausgehoben hat? Die Mehrheit der Männer stammt aus Ohio. Wir werden versuchen, Sie nicht zu sehr darunter leiden zu lassen, daß Sie aus einem weniger aufgeklärten Gebiet stammen.«
Charles hätte beinahe etwas Vorwitziges erwidert, konnte aber den Impuls gerade noch unterdrücken. Bent forderte ihn absichtlich heraus, wohl um herauszufinden, wie gut – oder wie schlecht – er sein Temperament unter Kontrolle zu halten vermochte. Was hatte Fitz Lee für einen Ausdruck verwendet? Verlogen. Das traf zu.
»Noch ein kleiner Scherz, Leutnant Main. Sie werden noch merken, daß ich Sinn für Humor habe. Es gibt nur eine Art von Klassenbewußtsein in dieser Truppe: diejenige, die bei der Armee üblich ist. Entweder Sie stellen die Wünsche und Bedürfnisse Ihrer Männer an die erste Stelle oder umgekehrt, diejenige Ihres Kommandanten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, welche Alternative Ihrer Laufbahn und Zukunft am ehesten förderlich ist. Entlassen.«
Charles salutierte und ging. Als er in das Sonnenlicht hinaustrat und die Tür hinter sich schloß, fröstelte er. Bents Warnung war unmißverständlich gewesen. Würde er bei Bent Speichelleckerei betreiben, ergäben sich nur Vorteile für ihn, wenn er sich hingegen auf die Seite der Männer schlagen würde – und das hieße natürlich auf O’Dells Seite –, würde er zu leiden haben.
Er erinnerte sich an den guten Eindruck, den O’Dell auf ihn gemacht hatte, und wunderte sich darüber, ob der Hauptmann seine Warnung aus einer Haltung der Stärke oder der Schwäche ausgesprochen hatte. Letzteres, vermutete Charles. Wahrscheinlich hatte Bent vor dem Oberleutnant Angst.
Nun, darauf kam es nicht an, denn Charles wußte bereits, wo er stand: nicht auf der Seite der fetten Mißgeburt hinter der schäbigen Tür.
Hübscher junger Mann, dieser Vetter von Orry Main, dachte Elkanah Bent, nachdem die Tür ins Schloß gefallen war. Beinahe zu hübsch. Sein gutes Aussehen könnte ihn, Bent, von seinem Vorhaben ablenken. Aber vielleicht gab es einen Weg, das Angenehme mit der Rache zu verbinden? Man konnte nie wissen.
Stöhnend eilte er hinter die billige Papiertrennwand, die eine Ecke des Raums abschirmte. Zehn Minuten später tauchte er wieder auf und sann darüber nach, wie sehr er Texas haßte. Seit seiner Ankunft in Camp Cooper hatte er fast zehn Kilo abgenommen. Sein Rückgrat und seine Oberschenkel schmerzten permanent von der ewigen Reiterei, obwohl es dank des Gewichtsverlusts langsam besser wurde. Und nun gesellten sich die Darmschmerzen wieder zu seinen sonstigen Plagen.
Und doch – eigentlich war der heutige Tag unter einem günstigen Vorzeichen gestanden. Sein Plan funktionierte.
Der überraschende Befehl, sich nach Texas zu begeben, war ein Schock für ihn gewesen. Er hätte zwar seine Beziehungen spielen lassen können, damit der Befehl geändert wurde, aber er hatte es unterlassen. Er wußte, daß er bei einigen seiner Vorgesetzten einen ungünstigen Eindruck hinterlassen hätte, wenn er dem Befehl nicht nachgekommen wäre. Und das konnte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt seiner nur langsam fortschreitenden Karriere nicht brauchen.
Aber der Befehl hatte ihn so stark aus dem Gleichgewicht geworfen, daß er seinem Schreibtisch im Kriegsministerium den Rücken zuwandte und sich kurzerhand auf eine dreitägige Sauftour begab. Er wachte zweimal neben einer Hure auf – eine davon war eine Schwarze. Das dritte Mal entdeckte er mit Überraschung einen Schiffer vom Potomac neben sich, fast noch ein Knabe, und erinnerte sich schwach daran, ihn bezahlt zu haben. Bereits vor langer Zeit hatte Bent heftige Triebe in sich entdeckt, die beinahe so stark waren wie sein Ehrgeiz. An und für sich zog er die Gesellschaft von Frauen vor, doch reizte ihn jeder Körper, der sich ihm anbot.
Nachdem er sich mit dem Gedanken an einen Dienst in Texas versöhnt hatte, machte er sich daran, Vorbereitungen zu treffen, damit der Aufenthalt sich doch noch für ihn lohnen würde. Aus der Liste der West-Point-Absolventen ersah er, daß Brevetleutnant Main zu den berittenen Truppen stoßen sollte. Da im Amt des Generaladjutanten die persönlichen Angelegenheiten aller Armeeoffiziere erledigt wurden, war es für Bent ein Leichtes, die Abkommandierung von Charles Main zur Zweiten Kavallerie zu veranlassen.
Bents Haß auf Orry Main und George Hazard hatte niemals nachgelassen. Und sollte es ihm nicht gelingen, die beiden Männer, die seine Laufbahn beeinträchtigt hatten, direkt zu treffen, so würde er sich eben damit zufriedengeben, Rache an ihren Verwandten zu nehmen – angefangen bei dem jetzt unter seinem Kommando stehenden jungen Offizier.
Er würde den günstigen Moment abwarten.
45
Wie Bent gesagt hatte, kamen etwa drei Viertel der angeworbenen Männer der K-Kompanie aus Ohio; die übrigen waren Immigranten. Deutsche, Ungarn, Iren – eine für die meisten Armee-Einheiten typische Mischung.
Die Soldaten behandelten O’Dell anders als Charles und den Hauptmann. Gehorsam brachten sie zwar den drei Offizieren entgegen, aber der Oberleutnant genoß zudem noch den Respekt und die Freundschaft seiner Männer. Charles war entschlossen, sich denselben Respekt zu verschaffen. Freundschaft würde sich ergeben, oder auch nicht.
Während der vierten Woche im Lager entdeckte er, daß einer seiner Männer beim Morgengrauen fehlte. Er fand den Soldaten voll wie eine Strandhaubitze im Stall. Charles erteilte ihm den Befehl, erst mal im Wachthaus den Rausch auszuschlafen, aber Halloran fluchte und zog das Messer.
Charles wich dem ungeschickten Hieb aus, entwaffnete Halloran und schubste ihn in den Wassertrog. Halloran kletterte sofort wieder heraus und ging zum nächsten Angriff über. Charles schlug viermal auf ihn ein – zweimal mehr, als wahrscheinlich nötig gewesen wäre. Daraufhin schleppte Charles den Mann höchstpersönlich ins Wachthaus.
Eine Stunde später rief er den ersten Sergeanten der Truppe, den stupsnasigen Zachariah Breedlove, der bereits seit achtzehn Jahren bei den berittenen Truppen im Dienst stand, zu sich.
»Wie geht es Halloran?« erkundigte sich Charles.
»Dr. Gaenslen sagte, er habe sich eine – Rippe gebrochen, Sir.« Das kurze Zögern vor dem Wort ›Rippe‹ war typisch für Breedloves standesgemäße Unverschämtheit. Der Veteran war älter und hatte wesentlich mehr Erfahrung als die meisten Offiziere – und darüber ließ er auch nie jemanden im unklaren.
Charles rieb sich das Kinn. »Ich hab’ wohl etwas zu hart zugeschlagen …«
»Nun, Sir, mit Verlaub, Sie haben es hier mit Soldaten und nicht mit Niggersklaven zu tun.«
»Danke für die Erklärung«, sagte Charles eisig und ging.
Später, als er sich beruhigt hatte, wurde ihm die Bedeutung des Zwischenfalls klar. Sergeant Breedlove und zweifellos auch die Mehrheit der andern Männer mißtrauten ihm, weil er ein Südstaatler war. Vielleicht würde es ihm nie gelingen, ihr Vertrauen zu gewinnen? Der Gedanke entmutigte ihn zwar, aber er würde noch nicht aufgeben.
Jeden Morgen um fünf vor sechs wurde die Reveille geblasen. Es machte Charles zur Abwechslung nichts aus, früh aufzustehen. Der Herbst in Texas war herrlich und kühl; der Himmel in der Morgendämmerung so klar und von einem solch reinen Blau, wie er es noch nirgends gesehen hatte. Er hatte auch das Gefühl, noch nie etwas Köstlicheres als das Standard-Frühstück des Kochs gegessen zu haben – heiße Brötchen, Beefsteak, Apfel- und Birnenkompott und der altvertraute Armeekaffee.
Die Truppe verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit mit Reit-, Fecht- und Schießübungen wie auch mit der Pflege der Pferde. Kriegsminister Davis, der das zweite Regiment zu einer Eliteeinheit fördern wollte, hatte verfügt, daß jede Kompanie einheitliche Pferde haben sollte. Die K-Kompanie war mit lauter Rotschimmeln ausgestattet, Van Doorns Kompanie mit den Männern aus Alabama mit Grauschimmeln – daher der Name ›die mobilen Grauen‹. Es dauerte nicht lange, bis den Männern der K-Kompanie auffiel, wie gut Charles im Sattel war, und sogar O’Dell ließ sich zu einem lakonischen Kompliment hinreißen. Er tat dies in Anwesenheit der ganzen Truppe – ein kleiner, aber wichtiger Fortschritt, wie Charles dachte.
Ab und zu mußte eine kleine Abteilung auf einen Hilferuf eines Siedlers einen Ausritt unternehmen, aber dabei stieß man nur selten auf plündernde Indianer. Trotzdem wurden weiterhin Pferde von Siedlern entwendet. Und die von der Armee eingestellten Delaware-Späher stießen immer wieder auf Spuren umherziehender Yamparikas – Komantschen aus dem Norden –, die ständig aus dem Indianerterritorium entwichen.
Der Hauptfeind des Camplebens war immer noch die Langeweile. Charles grub Erde um und legte sich einen Garten an, den er im nächsten Frühling anpflanzen wollte. Dann kaufte er sich noch ein Paar dürrer Hennen und baute ihnen einen kleinen Stall. Und schließlich setzte er sich widerwillig hin, um Orry endlich den längst fälligen Brief zu schreiben. Zu Beginn versuchte er es mit einer Schilderung der Landschaft von Texas, aber er wußte, daß seine Wortwahl und seine literarischen Fähigkeiten eigentlich nicht ausreichten. Er mußte sich über die ersten Absätze so intensiv den Kopf zerbrechen, daß er rasch zum Schluß überging und Orry versprach, im nächsten Brief eine Beschreibung von Camp Cooper und dem eigenartigen Kompaniekommandanten zu liefern.
Da er nicht wie ein Mönch leben wollte, schlief er ab und zu mit einem Indianermädchen. Er fand sie temperament- und liebevoll und blieb von der Syphilis verschont. Abgesehen davon, nahm er auch – wie es sich für ein Leben in der Armee wohl geziemte – am Lieblingssport der Offiziere teil: Diskussionen.
Sie diskutierten über alles mögliche. Eines der beliebtesten Themen, über das man sich stundenlang ereifern konnte, war der vor zehn Jahren eingeführte Grimsley-Sattel. Albert Sydney Johnston hatte sich dafür eingesetzt, aber die meisten Offiziere schlossen sich Van Doorns Meinung an, der immer wieder betonte, daß der Sattel schuld daran sei, daß so viele Pferde einen wundgescheuerten Rücken bekamen.
Auch das Thema Waffen wurde durchgenommen. Und natürlich das Essen, Trinken und die Frauen. Man unterhielt sich über die Motive der Indianer und den Charakter von Oberst Lee, über den Zweck und die Durchführung der Kampagne von Oberst Johnston gegen die Mormonen und ihren sogenannten ›State of Deseret‹. Am hitzigsten wurden die Debatten jedoch, sobald es um politische Fragen ging, wie um den sklavereifreundlichen Verfassungsentwurf von Kansas, der in Lecompton angenommen worden war.
Dieser Verfassungsentwurf gab den Bürgern von Kansas die freie Wahl zwischen einer begrenzten Form der Sklaverei und deren uneingeschränkter Handhabung. Präsident Buchanan unterstützte dieses Vorgehen, während Senator Douglas es scharf verurteilte. Die meisten Nordstaatler von Camp Cooper waren mit seiner Meinung einverstanden. Charles hielt sich aus den Auseinandersetzungen heraus, aber seine Zurückhaltung erwies sich für ihn nicht als von Vorteil. Alle gingen davon aus, daß er die Sklaverei befürwortete.
Es verhielt sich des öfteren so, daß Hauptmann Bent am Schluß der Debatten eine Erklärung abgab, die die vielleicht noch freundliche Atmosphäre endgültig vergiftete und die andern Offiziere dazu veranlaßte, in ihre Teller oder ihre Kaffeetasse zu stieren. Ab und zu bemerkte Charles, daß Bent ihn mit mehr als routinemäßigem Interesse beobachtete. Er fand keine Erklärung für dieses Verhalten, und es beunruhigte ihn.
Am 2. Dezember 1857 kehrte die Truppe bei kühlem Regen von Manövern aus dem nördlichen Teil des Tals zurück.
Charles hatte sich O’Dells Ratschlag zu Herzen genommen und die Dienstuniform im Falle von Felddienst gegen lockere Kleidung eingetauscht. Heute trug er einen tief ins Gesicht gezogenen Schlapphut, Hosen aus Büffelleder und einen Wildledermantel. Um den Hals trug er eine Kette aus Bärenklauen.
Bent ritt schlammaufwirbelnd neben ihn. Im allgemeinen verrieten die Blicke des Hauptmanns, daß er gar nicht mit Charles’ Kleidung einverstanden war, diesmal jedoch setzte er ein Lächeln auf.
»Ein Feuerchen würde uns gut tun, nicht wahr, Charles?«
Es war nicht üblich, einander mit Vornamen anzureden, und diese Vertrautheit machte Charles nervös.
»Ja, Sir, sehr gut.«
»Wenn Sie Ihr Pferd abgerieben und frische Kleider angezogen haben, könnten Sie ja auf einen Punsch bei mir vorbeikommen? Ich würde Ihnen gerne meine Ausgabe von Jominis Summary of the Art of War zeigen. Sie sind doch mit den Konzepten des Barons vertraut, oder nicht?«
»Natürlich, Sir; wir haben sie an der Akademie durchgenommen.« Einige der Kritiker von Professor Mahan waren in der Tat der Auffassung, daß er innerhalb seines Kurses über Kriegswissenschaften viel zu viel Zeit für die Ideen jenes Schweizer Militärtheoretikers aufgewendet habe.
»Na, dann erwarte ich Sie. Wir werden ein herrliches Gespräch haben.«
Charles warf einen kurzen, prüfenden Blick auf Bents nasses Gesicht. Etwas in den Augen des Hauptmanns mahnte ihn zur Vorsicht. Er wußte, daß er höflich bleiben mußte, aber er weigerte sich, auf das Angebot einzugehen.
»Ich danke Ihnen für Ihr liebenswürdiges Angebot, Sir, aber ich befürchte, bei mir ist eine Grippe im Anzug.« Es stimmte; nach der stundenlangen Reiterei in diesem schlechten Wetter fühlte er sich fiebrig.
»Na, dann später. Nächste Woche – «
»Sir – « Er wußte, daß er eigentlich nicht sagen sollte, was er sagen wollte, aber er weigerte sich, auf das Freundschaftsangebot des Hauptmanns einzugehen. »Wenn es Ihnen nicht zuviel ausmacht, möchte ich mich entschuldigen. Ich halte nicht viel von Theorie.«
Der schmeichlerische Glanz in Bents Augen erlosch. »Sehr schön, Leutnant. Sie haben Ihre Meinung klar zum Ausdruck gebracht.«
Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt an die Spitze der Kolonne. Ein Blitz erhellte für einen Augenblick den Horizont. Charles fröstelte, als Lafayette O’Dell neben ihn ritt.
»Was wollte er?«
Charles erklärte es ihm.
»Haben Sie seine Einladung abgelehnt?«
»Rundweg. Er hat sich nicht besonders darüber gefreut.«
O’Dell lehnte sich über seinen Sattelknopf, an dem zwei teure Pistolenhalfter befestigt waren. Charles verfügte über ein ähnliches Paar. In dem einen Halfter befand sich sein Colt, im andern ein Reservehufeisen, einige Nägel, eine kleine Bürste und ein Striegel.
»Sie sind klug, daß Sie sich nicht mit dem Hauptmann einlassen«, sagte O’Dell. »Ich nehme an, ich sollte Ihnen etwas über ihn sagen.«
»Was sollten Sie mir sagen?«
»Daß er gewisse Gelüste hat. Starke Gelüste.«
»Haben wir die nicht alle?«
»Nein, nicht von derselben Art – zumindest vermute ich das. Der Hauptmann gibt vor, die Indianer zu hassen, nicht aber die Squaws. Es heißt, er schlafe mit jeder Frau, die sich ihm zur Verfügung stellt. Wenn keine Frau in der Nähe ist, gibt er sich auch mit einem Knaben zufrieden, oder auch mit einem gemeinen Soldaten, der zu dumm oder zu ängstlich ist, um nein zu sagen. Es gibt einige davon im Lager, falls Sie es nicht bemerkt haben sollten.«
»Nein, hatte ich nicht«, sagte Charles und stieß einen Fluch aus.
»Der Hauptmann haßt es, abgewiesen zu werden. Ich vermute, daß harte Zeiten auf Sie zukommen werden.«
Plötzlich warf O’Dell den Kopf zurück, und über sein Gesicht huschte blitzartig ein Ausdruck der Verblüffung. Keiner der beiden Leutnants hatte gemerkt, daß Bent sein Pferd an den Rand des schlammigen Wegs gelenkt hatte und sie von dort aus beobachtete; der Regen tropfte von seiner Schirmmütze und durchnäßte den knielangen Mantel. Sekunden später stand Bent in seinen Steigbügeln und rief: »Trab – vorwärts!« Die Straße war in viel zu schlechtem Zustand dafür, aber Charles verstand das Motiv für den Befehl. Weil er Bent abgewiesen hatte, sollten alle darunter leiden.
Als Charles einen Tag später auf der Straße von Camp Cooper nach dem Indianerreservat der Komantschen dahinritt, stieß er auf einen Ochsenkarren, der mit einem seiner riesigen Räder im Schlamm steckengeblieben war. Ein alter Indianer, dessen edle Züge unter dem fortschreitenden Alter und der schweren Arbeit gelitten hatten, versuchte vergebens, den Karren zu befreien. Ohne Zögern stieg Charles von seinem Pferd.
»Hallo, kann ich helfen?« Da Charles nicht sicher war, wie gut der Indianer Englisch verstand – wenn überhaupt –, unterstrich er seine Worte mit deutlichen Gesten.
»Geben Sie dem Ochsen ein paarmal die Peitsche, während ich stoße.«
Gleich darauf war das Rad mit einem starken Ruck frei; ein halbes Dutzend Melonen purzelten dabei vom Karren. Gerade als Charles sich wieder zu seinem Pferd begeben wollte, hörte er Reiter hinter sich herankommen. Er bemerkte den Hauptmann, Sergeant Breedlove und sechs Soldaten. Bent und die andern zügelten ihre Pferde.
»Was zum Teufel tun Sie da, Leutnant?« wollte Bent wissen.
»Ich hab’ dem Mann geholfen, den Karren aus dem Schlamm zu ziehen.« In seiner Stimme schwang Groll mit; die Situation war offensichtlich.
Sergeant Breedlove warf Charles einen beinahe sympathischen Blick zu. Bent sagte: »Erkennen Sie den Burschen nicht? Katumse ist der Häuptling der Indianer des Reservats! Wir leisten dem Feind keinerlei Hilfe.«
Mit diesen Worten ritt er weiter; die übrigen hinter ihm her. Charles erinnerte sich an O’Dells Prophezeiung. Bents Tadel sowie der Blick, den er Charles zugeworfen hatte, waren Vorboten übler Zeiten.
Von jenem Zeitpunkt an hatte der Hauptmann an allem, was Charles tat, etwas auszusetzen. Er kritisierte ihn vor der ganzen Truppe und erteilte ihm zusätzliche Pflichten. Charles konnte sein Temperament nur mit den größten Schwierigkeiten unter Kontrolle halten; aber er ging davon aus, daß die Schikaniererei gelegentlich aufhören würde, wenn er sich den Befehlen nicht widersetzte und sich nichts anmerken ließe.
Aber es ging weiter, ja, es wurde sogar noch schlimmer. Als er im Januar von einer Patrouille zurückkam, fand er den Hauptmann wartend im Stall vor. Bent stellte sich neben Palm, fuhr mit dem Zeigefinger unter das wollene, blaue Gurtband und zerrte.
»Der Sattelgurt ist viel zu eng.«
Charles war müde, fror und hatte keine Lust, sich von Bent aufhalten zu lassen. »Er sitzt vollkommen richtig, Sir.«
Ein hämisches Grinsen. »Was? Ungehorsam? Das können wir nicht zulassen. Bevor Sie sich in Ihr Quartier begeben, werden Sie absatteln und dann wieder satteln, sagen wir – zehnmal.«
»Verdammt noch mal, Sir, was soll…?«
Charles biß sich auf die Zunge. Er wußte wohl, was der Zweck der Übung war, aber das konnte er seinem Vorgesetzten unmöglich sagen.
Der Hauptmann schien sich über seinen Ausbruch zu freuen. »Noch mehr Auflehnung? Tun Sie es fünfzehnmal. Ich werde einen Mann zur Beobachtung schicken, der mir anschließend Bericht erstatten kann. Ich denke, Sergeant Breedlove könnte das machen.« Bent war bestens über die Beziehungen der Männer innerhalb der Truppe informiert. Breedlove war bekannt dafür, daß er nicht besonders viel vom Unterleutnant hielt.
Kurz darauf traf der Sergeant im kalten Stall ein, wo Charles eben zwei Laternen angezündet hatte. Zum erstenmal zeigte sich in seinen Augen eine Spur von Mitgefühl.
»Tut mir wirklich leid, Leutnant.«
»Halten Sie den Mund, dann sind wir beide um so schneller fertig«, entgegnete Charles.
Breedlove bemerkte ein kleines Faß, kehrte es um und setzte sich. Seine Miene hatte sich wieder verfinstert. Charles führte seine Strafarbeit mit wütenden Bewegungen aus. Als er über zwei Stunden später fertig war – gegen Ende waren seine Bewegungen vor Erschöpfung langsamer geworden –, zitterten seine Arme und Schultern. Als er den Stall verließ, strauchelte er und fiel hin.
Sergeant Breedlove bot ihm keinerlei Hilfe an.
»Die Butterfield-Kutsche ist schon seit vier Stunden fällig«, sagte Bent und versuchte den heulenden Wind zu übertönen.
Im Kamin des Aufenthaltsraumes flackerte ein gemütliches Feuer aus dem aromatischen Holz des Mesquitebaums. O’Dell stand vor dem Feuer und wärmte sich die Hände. Er hatte immer noch seinen Pelzmantel an, jenes zottige Kleidungsstück, das die Komantschen dazu bewogen hatte, die Kavalleristen Büffelsoldaten zu nennen.
Der Oberleutnant konnte nicht auf den Mantel verzichten. Das Feuer gab praktisch keine Wärme ab, und es war eiskalt im Raum. Wie kalt mochte es wohl draußen sein? Minus fünfundzwanzig? Gegen Ende des Winters fiel die Temperatur bei diesen Stürmen manchmal sogar noch tiefer.
Bent war aufgestanden. Seine schmalen Augen, in denen sich das Licht mehrerer Öllampen spiegelte, blickten nachdenklich, als er die an die Wand geheftete Landkarte betrachtete. Die jüngst eröffnete Postkutschenlinie stellte eine Verbindung zwischen dem Fort Smith mit El Paso und Kalifornien her. Ein Teil der Linie führte an der Militärstraße südwestlich von Camp Cooper vorbei. Dort irgendwo mußte sich die Kutsche befinden.
»Ich nehme an, daß sie einfach einen Halt eingelegt haben, bis der Sturm vorbei ist«, sagte O’Dell.
»Das ist natürlich die naheliegendste Annahme. Aber wir dürfen uns deshalb nicht in falscher Sicherheit wiegen. Es könnte sich ein Unfall ereignet haben! Die Reisenden sind vielleicht verletzt und brauchen Hilfe? Wir müssen einen Suchtrupp losschicken. Ich habe bereits mit dem Kommandanten gesprochen, und er ist einverstanden.«
»Sir, draußen tobt ein Blizzard! Überall liegt zentimeterdickes Eis. Wir sollten zumindest bis morgen früh warten, bevor – «
Bent unterbrach: »Der Kommandant hat es ganz mir überlassen, den richtigen Zeitpunkt festzusetzen. Der Suchtrupp geht in einer Stunde los.« Er vermied es, O’Dell in die Augen zu blicken, als er hinzufügte: »Zehn Mann. Mit Extrarationen und Whiskey. Leutnant Main führt das Kommando.«
O’Dell war derart verblüfft, daß er es nicht einmal fertigbrachte, einen Soldaten zu Charles zu schicken, um ihn aufzuwecken. Er ging selbst und brauchte volle zehn Minuten, um sich durch den Sturm bis zur Kaserne durchzukämpfen. Charles setzte sich fröstelnd auf und auf seinem Gesicht spiegelte sich völlige Verwirrung.
»Heute nacht? Um Gottes willen, ist er verrückt?«
»Das würde ich meinen. Aber die Umstände sind natürlich wieder mal sehr günstig für ihn. Die Kutsche ist längst überfällig, und es besteht wirklich die Möglichkeit, daß die Reisenden Hilfe brauchen.«
»Wahrscheinlicher ist, daß sie festsitzen. Oder tot sind. Ich glaube, der Schweinehund will mich umbringen.«
»Bloß weil Sie ihn damals abgewiesen haben?« O’Dell war skeptisch.
»Ich weiß, daß es unsinnig erscheint, aber weshalb sonst wohl?«
Charles schleuderte die Decken und Bettücher beiseite, unter denen er etwas Wärme gesucht hatte. »Es ist mir nicht klar, weshalb er mich unbedingt aus dem Weg schaffen will, aber ich werde ihm, verdammt noch mal, den Triumph nicht gönnen. Und ich werde es auch nicht zulassen, daß er das Leben guter Soldaten aufs Spiel setzt. Ich werde mit dem ganzen Trupp zurückkehren, verlassen Sie sich darauf!«
Seine Stimme klang sicherer, als er sich fühlte. Er zog sämtliche Hemden und Kordhosen übereinander an, die er besaß. Draußen tobte und brüllte der Texas-Blizzard wie ein Irrer.
Um ein Uhr morgens verließen die elf berittenen Soldaten Camp Cooper. Der Eisregen hatte die Pfade trügerisch gemacht, und nach vier Stunden waren sie kaum mehr als zwei Meilen weit gekommen. Sergeant Breedlove bedachte Bent mit allen ihm bekannten Schimpfnamen, und als er sie durch hatte, erfand er neue.
Charles hatte sich einen langen Wollschal um die Ohren und die untere Gesichtshälfte gewickelt. Er hätte genausogut Gaze verwenden können: Sein Gesicht fühlte sich wie ein Holzklotz an. Er konnte kaum die Lippen bewegen, um Befehle zu erteilen.
Seine Männer fluchten und beklagten sich, aber sie hielten durch. Sie folgten einer hinter dem andern hinter Charles, und es war ihnen klar, daß Charles, der an der Spitze ritt, dem Wind und dem trügerischen Terrain noch stärker ausgesetzt war.
Bei Tagesanbruch wechselte der Wind plötzlich nach Südwesten und ließ etwas nach. Die Wolkendecke riß auf und ließ die Strahlen der aufgehenden Sonne durchschimmern. Als sie sich eine halbe Stunde später durch eine Landschaft kämpften, die immer noch wie Glas aussah, krächzte Breedlove: »Schauen Sie mal, Sir, dort auf der Straße!«
Eine dünne Rauchsäule stieg in den sich klärenden Himmel auf. »Ich mache jede Wette, daß es die Kutsche ist«, sagte Charles mit einer nicht minder heiseren Stimme. »Wahrscheinlich haben sie sie in Stücke geschlagen und angezündet, um sich zu wärmen. Sieht so aus, als ob es etwa anderthalb Kilometer von hier wäre.«
Das traf denn auch zu. Sie benötigten mehr als drei Stunden, um zur Rauchsäule zu gelangen. Die Kutsche lag auf der Seite; zwei Räder und die Türen fehlten. Überreste davon waren noch im Feuer zu erkennen. Als der Trupp beinahe bei der Kutsche angelangt war, rutschte Breedloves Pferd aus und lahmte am linken Vorderlauf.
Die andern Soldaten kümmerten sich um die Überlebenden des Unfalls – den Kutscher, die Wache und drei männliche Passagiere, die reglos auf dem Boden lagen. Charles hörte den Kutscher stockend erklären, daß das Gefährt auf der glatten Eisfläche umgekippt sei. Drei der Pferde lagen erfroren in der Nähe, die andern drei waren in den Sturm hinausgaloppiert und wohl ebenfalls umgekommen.
Charles sah, wie Breedlove sein verletztes Pferd untersuchte. Zögernd bot er dem Sergeanten seinen Revolver an.
»Erschießen Sie ihn. Ich kann es tun, wenn Sie es nicht fertigbringen.«
»Und wie komme ich zum Camp zurück?«
»Genau wie die Passagiere. Sie werden bei jemandem hinten aufsitzen. Bei mir.«
»Leutnant, ich weiß – ich weiß, daß Sie genauso sehr an Palm hängen wie ich an Old Randy. Ein Pferd, das bei diesem Wetter für eine längere Strecke die doppelte Last zu tragen hat, wird so gut wie tot sein – lange bevor wir Camp Cooper wieder erreichen. Wenn Sie mich aufsitzen lassen, dann werden Sie Palm ebenfalls erschießen müssen. Ich reite mit einem der Männer.«
»Verdammt noch mal, ich will keine langen Diskussionen. Ein Mann ist mehr wert als ein Pferd. Sie reiten mit mir.«
Sie stritten sich wie Kinder. Zwei der Soldaten halfen der halb erfrorenen Wache auf ein Pferd. Breedlove starrte den Revolver, dann sein verletztes Pferd an. Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann es nicht tun. Wenn Sie es mir abnehmen wollen, werde ich für immer in Ihrer Schuld stehen.«
»Drehen Sie sich um.«
Breedlove kam der Aufforderung sofort nach und blinzelte auf die sonnenglänzende Eisfläche. Charles hob die Waffe und hoffte, daß der Mechanismus nicht eingefroren war. Jegliche Verzögerung wäre eine Folter für den Sergeanten. Entschlossen drückte er ab. Das Echo verlor sich in der Ferne; Old Randy wieherte schrill auf. Fleischstücke fielen rauchend auf das Eis.
Sergeant Breedlove stand mit gesenktem Kopf da und weinte still.
Eine halbe Meile vor dem Camp brach Palm zusammen, unfähig, auch noch einen Schritt weiterzugehen. Charles blutete das Herz, als er zwei Schüsse abfeuerte. Er und Breedlove gingen den Rest des Wegs zu Fuß; in ihren Stiefeln sammelte sich Blut. Der Arzt teilte Charles mit, daß ihm drei Zehen beinahe erfroren wären.
Er schlief achtzehn Stunden lang. Kurz nachdem er aufgewacht war, kam Breedlove auf einen kurzen Besuch vorbei und entschuldigte sich verlegen.
»Ich hatte Sie völlig falsch eingeschätzt, Leutnant, und es tut mir hundertprozentig leid. Sie haben verdammt viel Schneid an den Tag gelegt, als es darauf ankam. So was hab’ ich noch bei keinem der Südstaatler in diesem Regiment erlebt.«
»Und bei Oberst Lee oder Van Doorn?«
»Nein.«
»Nun, glauben Sie mir, es ist bei ihnen in genau demselben Maß vorhanden wie bei andern Männern. Wie bei Yankees, zum Beispiel«, fügte Charles mit einem trockenen Lächeln hinzu. »Vielleicht haben Sie nie danach Ausschau gehalten, Sergeant?«
»Ja«, murmelte Breedlove mit puterrotem Gesicht. »Das könnte stimmen.«
An jenem Abend schrieb Charles Orry den schon lange versprochenen Brief. Die Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, schien in dem harten Kratzen der Feder auf dem Papier ein Ventil gefunden zu haben. Nach der Anrede kam er unmittelbar zum Thema.
Ich habe Glück, daß ich überhaupt noch am Leben bin und Dir diesen Brief schreiben kann. Ich will Dir den Grund dafür kurz erklären. Du wirst dies alles recht eigenartig finden, aber glaube mir, ich lüge nicht, wenn ich Dir sage, daß ich beinahe sicher bin, daß mein Kompaniekommandant mir Schaden zufügen möchte. Er ist der unumstößlichen Meinung, ich bringe ihm nicht die nötige Achtung entgegen und sei ungehorsam. Orry, irgendwie bin ich in die Hände eines verdammten Irren geraten, und da er etwa in Deinem Alter und Akademieabsolvent ist, möchte ich Dich fragen, ob Du ihn zufällig kennst.
Charles hielt inne und tauchte seinen Federkiel erneut in die Tinte. Das flackernde Licht seiner Schreibtischlampe warf unruhige Schatten auf sein blasses Gesicht. In seinen Augen zeigten sich Verwirrung und Zorn, als er hinzufügte: Sein Name ist Elkanah Bent.
46
Bents Plan war mißlungen. Hoffnungslos. Charles Main hatte nicht nur die Rettungsaktion überlebt, die ihn sein Leben hätte kosten oder ihn zumindest zum Krüppel hätte machen können, sondern war überdies vom Hauptquartier des Department of Texas offiziell gelobt worden. Für die ›Durchführung eines humanitären Auftrages unter lebensgefährlichen Bedingungen‹ hatte der Kommandant ein Ehrenbankett veranstaltet und einen Trinkspruch auf Mains Tapferkeit ausgegeben.
Inoffiziell hatte der Kommandant Bents Beurteilung der Lage und Mut in Frage gestellt.
»Als ich Ihnen die Verantwortung für den Notfall übertrug, Hauptmann, habe ich mir nicht eine Sekunde lang vorgestellt, daß Sie Männer losschicken würden, bevor der Sturm wenigstens etwas nachgelassen hatte. Zudem muß ich festhalten, daß Sie den Suchtrupp nicht selbst anführten, sondern zurückblieben und dies Leutnant Main überließen, der sich somit einer großen Gefahr ausgesetzt hat. Aus einem einzigen Grund will ich keine Staatsaffäre aus diesen Vergehen machen: Dank Main hat sich alles zum Guten gewendet, und es sind keine Verluste von Menschenleben zu verzeichnen. Diesmal stand der Himmel auf Ihrer Seite!«
Die Kritik traf ihn hart, und Bent hörte unverzüglich damit auf, Orry Mains Vetter zu quälen; ja, er gab sich sogar Mühe, ihn – wenn möglich im Beisein von anderen – zu loben. Aber es fiel ihm immer schwer. Eine unmittelbare Folge des Ritts im Sturm war, daß Sergeant Breedlove nun unerschütterlich zu Charles hielt. Da O’Dell Charles ebenfalls unterstützte, stand Bent nun völlig isoliert da. Natürlich machte Bent Charles dafür verantwortlich. Er sah in ihm nicht mehr bloß einen Vertreter der Mains: Er haßte ihn nun ganz persönlich.
Aber etwas hatte Bent bei der ganzen Angelegenheit gelernt: Er würde den Unterleutnant niemals mehr einer Gefahr aussetzen, ohne selber dabeizusein. Er würde mitgehen und irgendeinen Weg finden, Charles persönlich zu erledigen, vielleicht während eines Gefechts. Diese Methode hatte er bereits früher mit Erfolg angewandt.
Doch in den folgenden Wochen sollte sich ihm keine Gelegenheit bieten. An der Grenze zu Texas blieb alles ruhig. Bent mußte sich bald mit einer neuen Sorge herumschlagen. Es fing damit an, daß er eine leichte, aber doch deutliche Änderung in Charles’ Verhalten bemerkte. Charles verhielt sich seinem Kompaniekommandanten gegenüber zwar weiterhin höflich, aber er hatte es aufgegeben, auch nur den geringsten Anschein von Herzlichkeit zu erwecken.
Hatte Charles herausgefunden, daß Bent sein Feind war? Hatte er Bents Namen in einem Brief an Orry Main erwähnt? Und hatte vielleicht Orry seinem Vetter bereits geraten, auf der Hut zu sein? Es dauerte zwar meistens recht lange, bis die Postsendungen die einzelnen Forts in Texas erreichten, denn der Zustelldienst wurde oft wochen- und sogar monatelang durch schlechtes Wetter im Golf von Mexiko, durch die Aktivitäten feindlich gesinnter Indianer oder schlicht und einfach durch unsachgemäßes Behandeln der Postsäcke hinausgezögert.
Die Tage zogen sich dahin. Bent wartete auf eine Gelegenheit, die sich ihm jedoch nicht bieten wollte, und wurde zusehends frustrierter. Ab und zu hörte man etwas von Indianerüberfällen, aber das Zweite Regiment gab nicht einen Schuß ab, weil man der Plünderer nie habhaft werden konnte. Häuptling Katumse wiederholte immer wieder, seine Leute seien so schmählich behandelt worden, daß nur ein gnadenloser Krieg die einzig mögliche Antwort sein könne. Aber es blieb vorderhand bei den Drohungen.
Im Osten dauerten die Wortgefechte über die Sklaverei an. Senator Douglas wetterte über die Lecompton-Verfassung, welche die Souveränität der Siedler verletze. Senator Hammond aus South Carolina entgegnete, Douglas’ Meinung sei bedeutungslos, die Südstaaten könnten auf eine Zustimmung oder eine Allianz mit dem Norden verzichten. »Die Baumwolle ist unser König!« erklärte Hammond.
In Illinois bereitete sich ein Rechtsanwalt und früherer Kongreßabgeordneter namens Abraham Lincoln darauf vor, Douglas den Senatssitz streitig zu machen. Anläßlich einer Ansprache, die er in Springfield vor den versammelten Republikanern hielt, griff Lincoln die Sklaverei, nicht aber die Sklavenbesitzer an und warnte mit einem Zitat aus Matthäus 12: »… kein Haus, das in sich selbst entzweit ist, kann Bestand haben.«
Bent hatte eine Zeitung, die bereits einen Monat alt war, vor sich und las das Zitat immer wieder. Er faßte es nicht als Warnung, sondern als Tatbestand auf. Erst die Sezession und dann der Krieg. Immer wieder schloß er die Augen und stellte sich als siegreichen General auf einem leichenübersäten Schlachtfeld vor. Die Leichen waren eigentlich nur Requisiten, denn er war der von allen bewunderte Protagonist.
Vom ersten Mai bis Mitte Juni traf in Camp Cooper keine allgemeine Postsendung ein, sondern nur offizielle, von Kurieren überbrachte Meldungen. Schließlich wurden mit einigen Proviantwagen doch noch zwei dicke Postsäcke abgegeben. Der eine Postsack war versehentlich erst nach Fort Leavenworth geschickt worden und nun, da er in Texas eintraf, bereits einige Monate alt. In beiden Sendungen befand sich ein Brief von Orry. Charles riß die beiden Briefe ungeduldig auf und mußte dann enttäuscht feststellen, daß der erste Brief im Januar und der zweite Anfang März geschrieben worden war, zwei Wochen bevor Bent die Rettungstruppe in den Sturm hinausgeschickt hatte. Seine Frage in bezug auf den Kommandanten der K-Kompanie blieb folglich noch unbeantwortet.
Im August, mitten in einer neuen Dürreperiode, kam für Bent endlich eine Chance, gegen Charles vorzugehen. Ein Farmer kam voller Angst auf einem Maulesel ins Lager geritten. Der Kommandant ließ Bent zu sich holen und sagte zu ihm:
»Es handelt sich um die Lantzman-Farm, zwei Meilen hinter Phantom Hill.«
Phantom Hill war ein verlassenes Fort, dessen rußige Schornsteine von weitem sichtbar waren. »Ich lebe in der Nähe der Lantzman-Farm«, erklärte der grauhaarige Farmer. »Sie haben Penateka-Komantschen in der Nachbarschaft gesehen und sich eingeschlossen und mich losgeschickt, um Hilfe zu holen.«
»Penatekas, sagen Sie?« Bent runzelte die Stirn. »Indianer aus dem Reservat?«
»Wahrscheinlich gehören sie zu Sanacos Kriegern«, sagte der Kommandant. Sanaco war ebenfalls ein Häuptling, ein Widersacher von Katumse. Er hatte sich geweigert, mit seinem Stamm in das Reservat zu ziehen.
»Haben die Indianer jemanden verletzt?« fragte Bent.
Der Farmer schüttelte den Kopf. »Lantzman vermutet, daß sie sich eine Weile – ein oder zwei Tage – vergnügen wollen, bevor sie seine Pferde stehlen.«
»Ich kann nicht begreifen, weshalb nicht die ganze Familie hierhergekommen ist.«
»Der älteste Sohn der Lantzmans ist ein Krüppel und kann nicht gut reiten. Und der alte Lantzman ist ein Dickschädel. Er glaubt, daß er mit seinen Jungen ein halbes Dutzend Feinde abhalten kann, bis Hilfe kommt. Wenn er fliehen würde, würden die Indianer das Haus wahrscheinlich aus lauter Gemeinheit abbrennen.«
Der Kommandant überließ Bent die Angelegenheit. Nach dem Fiasko mit der Postkutsche gab sich Bent Mühe, sowohl kompetent als auch vorsichtig zu sein. Er täuschte zehn Sekunden lang vor, ernsthaft nachzudenken, und sagte dann:
»Ein halbes Dutzend. Sind Sie sicher, daß Lantzman nicht mehr gesehen hat?«
»Ich bin sicher, Hauptmann.«
Bent hatte keinerlei Grund, die Aussage zu bezweifeln. Die Komantschen tauchten selten in größeren Gruppen auf. Wieder dachte er nach und sagte dann: »Ich werde zwanzig Mann mitnehmen, einschließlich beider Leutnants und des Aufspürers, Doss.«
Der Kommandant blickte skeptisch. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht die ganze Kompanie mitnehmen wollen?«
Für einen Augenblick spürte Bent einen Kloß von Panik im Hals. Wieder einmal wurde seine Beurteilung der Lage in Zweifel gezogen. Er ergriff die Flucht nach vorn.
»Vierundzwanzig gegen sechs sollte eigentlich ein sicheres Verhältnis sein, Sir. Besonders wenn es sich um Männer wie die meinigen handelt.«
Der leichte Stolz, mit dem das gesagt wurde, gefiel dem Vorgesetzten. Bent ging rasch weg. Er war zwar nicht sonderlich auf einen Kampf erpicht, aber die Tatsache, daß er eine Truppe, wenn auch eine kleine, gegen Komantschen anführte, würde sich in seiner Akte gut ausnehmen. Vielleicht konnte er damit das Postkutschenfiasko wettmachen.
Er sandte seine Ordonnanz auf die Suche nach O’Dell und Main. Er schilderte ihnen die Lage auf der Lantzman-Farm und erteilte ihnen Befehl, in einer Stunde zwanzig Mann mit Proviant für zwei Tage bereitzuhalten. Ein Proviantwagen würde ihnen nachfolgen.
Die beiden Leutnants salutierten und eilten zur Tür. Gerade als Charles hinausging, warf er Bent einen flüchtigen Blick zu. Wie haßte Bent seine stolze Art, sein Verhältnis zu seinen Männern – alles, was ihn betraf. Doch mit ein bißchen Glück würde Main demnächst ins Gras beißen. Bent öffnete die Truhe in seiner Kammer und entnahm ihr seinen brandneuen Wheelock-Armeerevolver. Er hielt den achteckigen Lauf behutsam in der Hand und streichelte ihn, als er an das Gesicht seines Unterleutnants dachte. Wenn die Komantschen unterdessen nicht von der Lantzman-Farm verschwunden sein sollten, würde sich bestimmt die Gelegenheit zu einem gut gezielten, aber scheinbar verirrten Schuß ergeben.
Bent zitterte vor Vorfreude.
Die Zweierkolonne raste in südwestlicher Richtung auf der Straße dahin. Die Landschaft war ausgetrocknet. Seit drei Wochen war nicht ein Tropfen Regen gefallen. Charles beschlich bei dem Gedanken an die Expedition ein ungutes Gefühl. Das Wetter trug noch dazu bei. Wie auch die Abwesenheit von Sergeant Breedlove, der vor einer Woche auf Urlaub gegangen war. Charles war noch nicht mit seinem neuen Rotschimmel vertraut, und das Pferd scheute etwas. Aber der Hauptgrund für sein Mißbehagen ritt an der Spitze der Kolonne.
Hauptmann Bent war das einzige Mitglied der Abteilung, das die vorschriftsmäßige Uniform trug. Alle andern hatten sich dem Klima und der Landschaft gemäß gekleidet. Charles trug sein leichtestes blaues Flanellhemd sowie weiße – im Augenblick noch saubere – Hosen. An seinem Gürtel hingen Colt und Jagdmesser, am Sattel seine zwei Jahre alte Harpers-Ferry-Muskete. Mit einem Schlapphut schützte er sich vor der Sonne.
Charles zweifelte an Bents Fähigkeiten, diese Expedition zu führen. Die Armee hatte noch keine große Erfahrung im Kampf mit Indianern. Professor Mahan hatte im Lauf seines ganzen Kurses nur eine Stunde auf dieses Thema verwendet. Aber es war nicht bloß Bents Unerfahrenheit, die bei Charles Mißtrauen auslöste, sondern seine Bösartigkeit und Verlogenheit, sein maßloser Geltungstrieb. Aus Gründen, die nur der Himmel kennen mochte, war er offensichtlich Bents Zielscheibe.
Die Landschaft, durch die sie ritten, war monoton; flache, ausgedörrte Hügel, Schluchten, ausgetrocknete Flußbetten. Die Sonne hing wie eine dunstige Scheibe am Himmel.
Doss stieß mehrmals auf Spuren von Indianern. Kleine Gruppen, wie er sagte. Die Spuren waren ein oder zwei Tage alt. Charles fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, daß sich die Leere der Landschaft als Illusion erweisen könnte.
Nachdem sie am späten Nachmittag einen Halt eingelegt hatten, um die Pferde auszuruhen, ritten sie weiter. Bent hoffte, bis Sonnenuntergang in die Nähe der Lantzman-Farm zu gelangen. Charles schwitzte und hatte genug vom Reiten, aber er wußte, daß Geschwindigkeit eine Notwendigkeit war. Die meisten Männer wußten es, denn es handelte sich hier nicht um Drill, sondern um einen Hilfeauftrag. Es gab kaum jemanden, der gemeckert hätte.
Eine Weile ritt O’Dell neben Charles her. Irgendwann sagte er plötzlich: »Verdammt langweilig, nicht wahr? Wenn ich mein Buch mitgenommen hätte, könnte ich eine Weile lesen.«
»Jenes Werk von Mr. Helper?«
Der Oberleutnant versuchte auf gutmütige Art, ihn zu provozieren. Charles hatte von dem Buch gehört: The Impending Crisis of the South – How to Meet It (Die bevorstehende Krise des Südens – wie ihr zu begegnen ist), aber er hatte es noch nicht gelesen. Er wußte, daß Hinton Helper in seinem Buch eine Jeremiade auf die Sklaverei losgelassen hatte, die seiner Meinung nach den Süden ruiniert hatte. Bemerkenswert am ganzen war, daß der Verfasser in North Carolina saß.
»Ich schwöre dir, Charles, der Mann haßt die Schwarzen ebenso sehr wie die Sklaverei. Allerdings wirft er in seinem Buch einige interessante Fragen auf. Wie zum Beispiel, warum ihr Südstaatler euch weigert, eure Sklaven aufzugeben.«
»Die Antwort ist heutzutage einfach: In England und Frankreich erleben die Spinnereien einen rasanten Aufschwung. Das bedeutet, daß die Baumwollpflanzer ihre Ernten nach Europa verkaufen und über Nacht reich werden können. Niemand tötet die Gans, die goldene Eier legt.«
»Glaubst du, das ist der Grund? Ich frage mich?«
»Was sonst könnte es sein?«
»Nun, die Nigger können mit der Sklaverei einfach und elegant unter Kontrolle gehalten werden. Ich mache jede Wette, daß ihr Südstaatler im Grunde eine Höllenangst vor den Niggern habt. Sie sind dunkel und anders. Die Menschen mögen etwas, das zu andersartig ist, nicht. Ich zum Beispiel auch nicht. Ich bin ziemlich sicher, daß ihr nicht nur des Geldes wegen am System hängt, sondern vor allem wegen der Tatsache, daß es Schwarze und Weiße gibt.«
»Und wenn es nach dir ginge, würdest du dann alle Sklaven befreien?«
»Ja, in der Tat.«
»Was würdest du mit ihnen tun?«
»Nun, das, was die meisten Republikaner vorschlagen.«
»Schwarze Republikaner nennt man sie im Süden.«
»Wie auch immer. Ich würde die Nigger wieder exportieren. Sie wieder nach Liberia oder Zentralamerika schicken. Weiß der Himmel, sie sollten wirklich frei sein, aber wir wollen sie nicht hier haben.«
Charles warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du hast recht, Lafayette. Schwarz und weiß, das ist es. Auch bei dir.«
Leutnant O’Dell freute sich nicht gerade über dieses Kompliment und brummte. Charles hatte sich mittlerweile an die unbewußte Heuchelei der Yankees gewöhnt, die sich jedesmal in Wut verwandelte, wenn man sie ans Tageslicht zerrte.
O’Dell hatte jedoch einen wunden Punkt getroffen. Sowohl im Süden wie auch in andern Landesteilen wußte niemand so genau, wie die Sklaverei abzuschaffen wäre, ohne eine wirtschaftliche und soziale Krise heraufzubeschwören. Dem Kommentar von O’Dell nach zu schließen, schienen sich eine Menge Leute auf beiden Seiten mit diesem Problem herum …
»Kolonne – Halt!«
Charles erblickte jenseits des Mesquitewäldchens zerbröckelnde Schornsteine aus ungebrannten Ziegeln, die in die Abenddämmerung hineinragten. Er und O’Dell trabten weiter. Bent befahl den Späher aus Delaware mit dem runden Gesicht zu sich. Kurz darauf galoppierten O’Dell und der Späher zu den Ruinen von Phantom Hill und über einen dahinterliegenden Hügel.
Die Männer stiegen von ihren Pferden, kramten ihre Feldflaschen hervor und unterhielten sich ruhig. Charles hatte Bent nichts zu sagen, der abrupt etwa fünfzig Meter weiterritt und sich dann aus dem Sattel hievte. Charles trank einige Schlucke brackiges Wasser aus seiner Feldflasche und beobachtete den Hauptmann. Der einsame Kommandant, dachte er. Doch die Ironie vermochte die nagende Angst, die er vor Bent empfand, nicht zu bannen. Was sie noch bedrohlicher machte, war die Tatsache, daß er sich den Grund dafür immer noch nicht erklären konnte. Alles, was ihm zu diesem Thema in den Sinn kam, schien entweder zu banal oder zu unwahrscheinlich.
»Dort kommen sie!«
Auf diesen Ausruf eines Korporals hin wandte Charles sich dem Hügel zu. Doss und Lafayette O’Dell kamen langsam den Hügel hinunter; sie führten ihre Pferde am Zügel, um keinen Staub aufzuwirbeln. Sie gingen geradewegs zu Bent. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen war Charles klar, daß ihr Bericht nicht besonders ermutigend sein konnte. Charles und die Soldaten pirschten sich langsam auf Hörweite heran. Alle konnten hören, wie Doss sagte:
»Eine ganze Menge von Panateka. Anhänger von Sanaco. Auch einige von Häuptling Buffalo Hump. Ziemlich schlecht.«
Schweiß glitzerte auf Bents Wangen. »Wie viele sind es?«
O’Dell sagte: »Ich habe etwa vierzig gezählt.«
»Vierzig!« Der Hauptmann hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. »Beschreiben Sie – « Er schluckte. »Beschreiben Sie die Lage!«
O’Dell zog sein Messer aus der Scheide, kauerte sich nieder und zeichnete ein großes U in den Staub. »Das ist die Flußbiegung. Die Feinde sitzen hier.« Mit der Messerspitze deutete er auf das Gebiet außerhalb des U-Bogens. In das U hinein zeichnete er ein Rechteck mit einem daran angrenzenden Quadrat. Er deutete auf das Rechteck. »Das ist das Haus der Lantzmans.« Dann zeigte er auf das Quadrat. »Ihre Pferdekoppel.«
Er zeichnete zwei kleine Kreise in der Nähe der Koppel in den Sand. »Hier liegt je ein Junge mit einem Gewehr hinter einem Heuballen. Vermutlich die Söhne des Farmers. Sie beschützen etwa ein Dutzend Pferde.«
»Was ist hinter dem Haus?« wollte Charles wissen.
O’Dell kratzte drei parallele Linien am offenen Ende des U hin. »Eine Ebene. Getreide, das von der Sonne so ausgedörrt ist, daß man die Ernte für dieses Jahr vergessen kann. Das Getreide ist niedrig und sehr dünn. Zwei Gewehre reichen aus, um jeden abzuknallen, der sich durch dieses Feld heranschleichen will.«
Bent atmete geräuschvoll. »Was tun die Indianer gerade?«
Langsam erhob sich O’Dell; die untergehende Sonne ließ kleine Feuerpunkte in seinen Augen aufleuchten. »Abendessen. Trinken. Sie lassen ihre Opfer noch eine Weile schmoren.«
»Vierzig«, sagte der Hauptmann erneut. Er schüttelte den Kopf. »Das sind zu viele. Wir sollten umkehren.«
»Umkehren?« explodierte Charles. O’Dell tat seine Verachtung kund, indem er sich räusperte und genau zwischen seine staubigen Stiefel spuckte.
Hastig hob Bent die Hand. »Nur bis wir eine Verstärkung bekommen.«
Stirnrunzeln und Murmeln unter den Soldaten machte den Hauptmann darauf aufmerksam, daß er etwas Falsches gesagt hatte. Die raschen Blicke, die die Männer untereinander austauschten, verrieten ihm, was sie von ihm dachten:
Feigling.
Er schob die Schuld dafür den andern Offizieren zu: Sie hatten mit ihrem Verhalten diese Reaktion provoziert. Main hatte sie dazu ermutigt, dieser verdammte Schuft. Und er ließ nicht locker:
»Wenn wir Verstärkung anforderten, so würde das einen weiteren Tag in Anspruch nehmen. Bis dahin hat man die Lantzmans vielleicht skalpiert und ihre Farm ausgeräuchert.«
Bent schob den Unterkiefer vor: »Und was würden Sie vorschlagen, Leutnant?«
»Daß wir die Familie befreien.«
»Das heißt, daß wir uns dorthinbegeben müssen.«
»Genau. Doss, gibt es eine Möglichkeit?«
Die leichte Brise spielte mit den Fransen am Fellhemd des Burschen aus Delaware. Er deutete mit dem Finger und sagte: »Zwei Meilen, vielleicht knappe drei. Über die Hügel, dann ein Umweg, und wir können durch das Getreidefeld an das Haus herankommen. Wird zwar ‘ne ganze Zeit dauern, aber bis dahin sind die Komantschen betrunken und schlafen. Einige werden zwar das Feld beobachten, aber vielleicht schlafen sie auch.«
Charles wischte sich die feuchten Hände an seinen schmutzigen weißen Hosen ab. Der Wind trug Gesang und schwache Trommelschläge vom Fluß herüber.
Dränge den Hauptmann nicht zu sehr, sagte er zu sich selbst. Sonst würde Bent scheuen, den Rückzug befehlen und den Farmer und seine Familie den Komantschen ausliefern.
Mit ruhiger Stimme sagte Charles: »Ich stelle mich freiwillig zur Verfügung, um einige Männer zur Farm zu führen, Hauptmann. Wir sollten heute abend losziehen, falls die Komantschen bei Tagesanbruch angreifen.«
Bent gab sich große Mühe, um ebenso ruhig wie sein Untergebener zu bleiben. »Sie haben natürlich recht. Was ich sagte, war nicht als letztes Wort gemeint. Ich habe mir die verschiedenen Möglichkeiten bloß laut überlegt.«
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er die andern. Sie schienen nicht überzeugt zu sein. Aber was konnten sie schon tun? Innerlich meckern, beschloß er schließlich. »Wir werden zwei Mann losschicken, um Verstärkung zu holen. Der Rest wird bei Anbruch der Dunkelheit losziehen.«
»Alle?« erkundigte sich Charles.
Einen Augenblick lang verriet Bents Blick seinen rasenden Zorn. Ich schwöre, daß er noch vor Tagesanbruch tot sein wird.
»Alle.« gab er zurück.
»Schön«, sagte O’Dell und schob endlich sein Messer in die Scheide zurück. Von den Hügeln, die rot in der Abendsonne schimmerten, war das Geschrei der Indianer zu vernehmen.
47
Das verkümmerte Getreide raschelte, als die Reiter hindurchgingen. Es bot überhaupt keine Deckung. Die höchsten Halme reichten gerade bis zur Hüfte von Charles’ Schimmel. Er hatte vorgeschlagen, die Soldaten absteigen zu lassen, um das bißchen Schutz, den das Feld bot, auszunützen. Aber Bent hatte Einspruch erhoben.
»Muß ich Sie daran erinnern, daß die neue Kavallerie zu Pferde kämpfen soll, Leutnant?«
Charles fand Bents Konsequenz in dieser Situation völlig fehl am Platz, aber er hielt den Mund. Es mußte ungefähr vier Uhr oder etwas später sein. Der Mond war untergegangen, noch funkelten die Sterne am Himmel, aber am Horizont verschwanden sie bereits im Dunst. Die durch das Kornfeld trottenden Reiter sahen gespenstisch aus. Sie bildeten einen Halbkreis, der sich langsam vorwärtsbewegte; zwischen den einzelnen Reitern war ein Abstand von etwa einem Meter. Bent hielt sich im Zentrum, seine Ordonnanz unmittelbar hinter ihm. Charles ritt ungefähr in der Mitte der rechten Flanke. O’Dell in derselben Position links.
Bent hatte während des langen Umwegs nur ganz wenig Wasser getrunken, aber seine Blase war so voll, daß sie ihn schmerzte. Wahrscheinlich die Angst. Die Angst vor dem Feind; die Angst vor dem Sterben. Angst auch, daß seiner Akte ein weiterer Bericht wegen Fehlbeurteilung der Lage hinzugefügt werden könnte. Er war davon überzeugt, daß jeder einzelne Mann der Abteilung ihm einen Mißerfolg wünschte, allen voran Main.
Vorsichtig, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, blickte Bent nach rechts. Im dunstigen Zwielicht merkte er sich die Position des Unterleutnants. Ein Käuzchen schrie. Bent umfaßte seinen Revolver noch fester und hoffte, daß seine Kugel im richtigen Augenblick ihr Ziel nicht verfehlen würde.
Charles spähte in das Zwielicht hinaus. Wie weit war es noch bis zur Farm? Etwa vierhundert Meter. Es war alles dunkel, aber sicher standen Lantzman und seine Familie Wache.
Würden sie, sobald sie Reiter im Getreidefeld entdeckten, wild drauflos schießen? Bent sollte eigentlich an diese Möglichkeit denken und seiner Ordonnanz den Befehl erteilen, das Signalhorn zu blasen, damit man wußte, daß es sich um Soldaten handelte. War er überhaupt zu einer solchen Überlegung fähig?
Furcht quälte Charles. Er schob seinen Colt in die Sattelhalfter. Den Karabiner in der linken Armbeuge haltend, versuchte er mit der rechten, einen Moskito zu zerquetschen. Zweimal schlug er sich aufs Ohr; das Summen ließ nach, kehrte aber nach einer Weile wieder. Fluchend langte er wieder nach seinem Revolver.
Am äußeren Ende der Farm wieherte ein Pferd. Aus dem Lager der Komantschen war kein Laut zu vernehmen. Falls sie einen Angriff beim Morgengrauen planten, so hatten sie noch nicht mit den Vorbereitungen angefangen.
Plötzlich tauchte eine Schattengestalt etwa zehn Meter vor dem Haus im Getreidefeld auf. Charles sah undeutlich langes Haar und ein Gewehr mit langem Lauf in Schießstellung. Einer der Soldaten stieß einen Warnruf aus. Das Gewehr des Indianers spuckte Feuer.
Ein Soldat, der zwischen Charles und der Mitte geritten war, kippte aus dem Sattel. Plötzlich tauchten weitere Wachen der Komantschen auf, etwa fünf oder sechs, und feuerten. Charles stützte seinen Karabiner gegen die Hüfte und schoß, aber die Kugel flog hoch über das Ziel hinaus. Er steckte den Karabiner in die Halfter zurück, legte den Colt über den linken Ellenbogen und lenkte sein Pferd mit den Knien.
Er zielte auf den nächstbesten Komantschen. Die Pferde scheuten, die Soldaten fingen an zu schreien. Er drückte ab, der Komantsche verschwand aus dem Blickfeld.
Auf der Farm schlug ein Mann Alarm. Von der andern Seite des Flusses waren weitere Schreie zu vernehmen, vermischt mit Gewehr-Schüssen. Ein Schuß aus einem Mauerschlitz des Hauses fällte einen Soldaten. Weshalb um Himmels willen gab der Hauptmann sie nicht als Soldaten zu erkennen, bevor die Lantzmans sie alle abknallten?
Bent versuchte es. Zum drittenmal rief er: »Ordonnanz – blasen! Trott, marsch!«
Die Ordonnanz schwankte im Sattel hin und her, als ob sie zuviel getrunken hätte. Wutentbrannt zog Bent den Säbel und brachte das sich aufbäumende Pferd unter Kontrolle. Er streckte die Hand nach dem Hemd des Signalbläsers aus; es fühlte sich klebrig an. Ohne zu überlegen, gab er dem Mann einen Stoß; er fiel mit einer merkwürdigen Kopfbewegung vom Pferd, und Bent erkannte im schwachen Lichtschein, daß das rechte Auge des Mannes von einer Musketenkugel durchbohrt worden war.
Zwischen den Soldaten und der Farm befanden sich noch zwei oder drei Indianer. Die Kugeln sausten rechts und links an Bent vorbei, als er vom Pferd sprang. Verwirrt und verängstigt konnte er nur eines denken, nämlich daß es unbedingt nötig war, ein Hornsignal abzugeben.
»Aufschließen. Aufschließen und vorwärts!«
Wessen Stimme war das, fragte er sich, als er auf den Bläser zustolperte und das Horn packte. Main! Hinterher würde man sagen, daß Main die Initiative ergriffen habe. Verdammt sollte er sein! Verdammt!
Mit dem blutigen Horn in der Hand schwang er sich wieder in den Sattel und sah Charles von rechts nach links an sich vorbeisausen. Bent schmiß das Horn beiseite, packte seinen Revolver und warf einen raschen prüfenden Blick auf seine Umgebung.
Niemand befand sich in der Nähe, niemand beobachtete ihn. Die Männer hatten die Formation aufgelöst, und jeder einzelne Soldat verteidigte sich selbst, so gut es eben ging. Bent zielte auf Charles, die Lippen zusammengepreßt, den Finger am Abzug gespannt.
Die Kugel eines Indianers streifte sein Pferd an der Flanke. Der Schimmel wieherte und ging hoch, eben als Bent abdrückte. Im allgemeinen Durcheinander war der Schuß kaum zu hören. Charles ritt unverletzt weiter.
Wutentbrannt wollte Bent einen zweiten Schuß abgeben – er hatte jegliche Vorsicht vergessen. Ein Rascheln im Kornfeld erregte jedoch seine Aufmerksamkeit. Sein Kopf flog herum. Keine drei Meter hinter ihm stand ein Reiter.
»O’Dell! Ich hab’ Sie nicht bemerkt – « Entsetzt fühlte Bent, wie seine Blase nachgab.
»Was zum Teufel tun Sie, Sir? Weshalb haben Sie auf einen Ihrer eigenen Männer geschossen?«
Die in ruhigem Tonfall vorgebrachte Anklage hatte eine unerwartete Wirkung. Bent war schlagartig beruhigt und wurde sich der Tragweite der Gefahr bewußt, in die ihn sein Haß geführt hatte. Jetzt halfen ihm keine Worte. Er antwortete O’Dell, indem er seinen Revolver hob.
O’Dell öffnete den Mund, hatte aber nicht mehr genügend Zeit, um einen Schrei auszustoßen. Die Kugel zerfetzte sein Gesicht, und er fiel seitwärts vom Pferd, wobei der linke Stiefel aus dem Steigbügel glitt, nicht aber der rechte. Der Schimmel trabte mit O’Dell, der kopfüber herunterhing, davon. Sein Schädel wurde durch das fortwährende Aufprallen auf dem harten Boden schnell zu einer blutigen Masse geschlagen.
Bent versuchte seiner Panik Herr zu werden und blickte hastig umher. Keiner hatte etwas bemerkt; es war immer noch zu dunkel, abgesehen vom Pulverrauch und Nebel. Bent steckte seinen Revolver in die Halfter zurück und zog wieder seinen Säbel. Mit lauter Stimme befahl er seinen Männern, vorwärtszutraben.
Doch Charles hatte bereits denselben Befehl erteilt. Drei der Soldaten hatten den letzten Indianer eingekreist. Von mehreren Kugeln durchbohrt, sank der Krieger in die Knie. Einer der Männer schlug ihm mit dem Säbel den Kopf ab.
Charles ritt ganz nahe an das Farmhaus heran, damit die Lantzmans ihn wirklich hören würden:
»Dies ist die Zweite Kavallerie. Stellen Sie das Feuer ein!«
Schweigen folgte, und der Rauch verzog sich im Nebel. Bent trabte vorwärts. »Absteigen! Absteigen!«
Die Soldaten kamen seinem Befehl nur langsam nach. Keuchend ließ sich Bent inmitten der unruhigen Pferde aus dem Sattel gleiten. Er hoffte, daß seine feuchte Hose nicht allzusehr auffallen würde.
»Ihr habt gute Arbeit geleistet, Männer! Wir haben’s geschafft.«
»Wir haben drei Männer verloren«, sagte Charles, der immer noch im Sattel saß. Bent hätte am liebsten den Revolver gezogen und Charles vom Pferd geschossen, aber er konnte sich nicht noch einmal eine waghalsige Tat leisten.
»Moment mal«, rief Charles. »Wo ist O’Dell?«
Zweimal rief er laut den Namen des Offiziers. Dann sagte Bent endlich: »Das hilft nicht, Leutnant. Einer der Wilden hat ihn getroffen. Ich hab’ gesehen, wie er vom Pferd gefallen ist. Das Pferd schleifte ihn hinter sich her.«
Bent klopfte das Herz bis zum Hals. Wenn jemand seine Lüge nicht glauben würde, dann würde es jetzt geschehen, jetzt…
»O Gott!« sagte Charles leise flüsternd und stieg vom Pferd. Niemand sagte ein Wort.
Bent atmete aus. Er fühlte sich wieder in Sicherheit und zog die Schultern stramm. »Ich bedaure den Verlust nicht weniger als Sie, aber wir müssen unsern Sieg konsolidieren und unsern nächsten Schritt planen. Wir brauchen einen Wachdienst auf dieser Seite des Hauses, Leutnant. Kümmern Sie sich darum, und ich sehe mal drinnen nach.« Er wandte sich abrupt um, die Hand auf dem Heft seines Säbels. Als er auf das Haus zuschlenderte, fühlte er sich wie ein siegreicher General. »Lantzman?«
Charles kommandierte vier Soldaten dazu ab, die Toten einzusammeln; Bent hatte offensichtlich nicht daran gedacht.
Er wies einen der Soldaten an, vor der Hauswand Zeltleinwand auszubreiten. Langsam stieg die Morgendämmerung am östlichen Himmel auf, und der Nebel löste sich auf. Aus dem Haus drangen Stimmen, Bent unterhielt sich offenbar mit den Lantzmans. Der barsche Tonfall Bents ärgerte ihn. Der Mann mochte als Stabsoffizier vielleicht passabel sein, aber als Frontkommandant war er unbrauchbar. Er hatte den Vormarsch zur Farm verpatzt. Sie hätten sich in Erwartung der Wachen in einer Doppelreihe vorwärtsbewegen sollen, um eine kleinere Zielscheibe abzugeben. Oder noch besser, sie hätten zu Fuß gehen sollen, wie Charles vorgeschlagen hatte.
Die Weigerung des Hauptmanns hatte sie vier Tote gekostet. Ein weiterer Soldat war kampfunfähig, weil er eine Kugel im Fuß hatte. Dazu kamen die beiden Soldaten, die in Camp Cooper Verstärkung anfordern sollten. Es blieben siebzehn Mann – gegen dreißig oder mehr Komantschen.
Zwei der Männer, die Charles abkommandiert hatte, kehrten eben mit einer Last zurück. »Wir haben alle mit Ausnahme von Leutnant O’Dell gefunden, Sir. Keine Spur von ihm.«
Charles nickte abwesend und betrachtete die Hügel auf der andern Seite des unglückseligen Feldes. Der Mann, der sein Freund geworden war, lag dort draußen, ohne daß jemand bei ihm Totenwache hielt. Tränen traten Charles in die Augen. Dann kam der Schock. Seine Beine zitterten, und er mußte sich an die Hauswand lehnen, um nicht hinzufallen. Die Männer wandten ihre Blicke ab, bis das Schlimmste vorbei war.
Plötzlich waren Schreie von der Flußseite des Hauses her zu vernehmen. Charles eilte zur Hausecke und spähte hinaus. Drüben, im Lager der Komantschen, führten die Krieger ihre Pferde im Kreis herum, schwangen ihre Lanzen und stießen ihr Kriegsgeschrei aus. Es waren fast alles junge Männer, die ihr glänzendes Haar in der Mitte gescheitelt und in langen Zöpfen trugen. Ihre Gesichter waren rot bemalt, die Augenbrauen weiß oder gelb. Einer der Krieger hatte sich rund um den Mund riesige schwarze Zähne gemalt.
Ein Wagen holperte den Hügel hinunter ins Indianercamp. Charles erstarrte vor Schreck. Es war der Proviantwagen, der hinter den Soldaten hätte herfahren sollen, jetzt aber von drei Indianerkriegern angeführt wurde. Das Segeltuch auf der linken Seite des Wagens wies einen riesigen Blutfleck auf.
Hinter Charles drängten sich Soldaten heran und zeigten flüsternd auf den Wagen. »Die roten Hurensöhne«, knurrte ein Mann. »Was glauben Sie wohl, was die mit unsern Jungs gemacht haben?«
Charles sagte: »Ich möchte es lieber nicht wissen.«
Er eilte zur Hintertür der Farm. Mit dem Tod von Lafayette O’Dell lastete nun plötzlich eine nicht gewollte Verantwortung auf seinen Schultern. Dazu kam, daß der Hauptmann nicht zugeben wollte, daß er überfordert war. Würde man auch nur eine von Bents Ideen in Frage stellen, so bekäme er todsicher einen Wutanfall. Gott sei Dank mußten nicht sofort Entscheidungen getroffen werden. Es gab nichts zu tun als die Verstärkung abzuwarten. In der vergangenen Stunde hatte Charles seine Vorstellungen über den Krieg geändert. Krieg, das hieß nicht eine fröhliche Parade der strikt geordneten Dienstränge mit auf Hochglanz polierten Uniformknöpfen, flatternden Fahnen und Trommelwirbel. Nein, Krieg, das hieß Unordnung, Dreck, Tod, zermürbender Schrecken.
Seine Beine zitterten immer noch ein wenig, als er die Farm betrat. Sie bestand aus einem länglichen Raum mit einer flachen Decke und Alkoven sowie einem weiteren Zimmer, in dem ein eiserner Herd stand. Daneben lagen zwei Leichen, die bis zum Hals mit Leintüchern zugedeckt waren. Der eine, ein älterer grauhaariger Mann, war vermutlich Lantzman. Der andere wohl sein ältester Sohn Karl, dessen Beinverletzung die Familie an der Flucht gehindert hatte. Er nahm an, daß die beiden Männer draußen umgekommen waren.
Es blieben noch vier Familienmitglieder. Mrs. Lantzman war eine kleine verhärmte Frau mit Leberflecken auf dem Kinn. Zwei blonde Burschen unter zwanzig bewegten sich wie Schlafwandler mit glasigem Blick. Die vierte Überlebende, ein Mädchen, schien weniger unter der Belagerung zu leiden, vielleicht weil sie jünger war. Sie mußte etwa zwölf sein, vermutete Charles. Auf ihrem Gesicht spiegelte noch der Liebreiz eines Kindes, aber sie hatte bereits den Körper einer Frau. Charles bemerkte, wie Bents Blicke immer wieder über den Busen des jungen Mädchens glitten. Das Mädchen war sich der Aufmerksamkeit nicht bewußt. Es war damit beschäftigt, Gewehrkugeln aus einem Lederbeutel herauszuklauben. Das lange Gewehr hatte es gegen die Hüfte gelehnt.
Den Tränen nahe, sagte Mrs. Lantzman: »Wie können wir hierbleiben, Hauptmann? Wir haben keine Lebensmittel mehr. Mein Mann ist getötet worden, als er versuchte, Wasser vom Fluß zu holen.«
»Wir haben Rationen, die wir mit Ihnen teilen können. Und auch Wasser.« Bents Stimme klang sanft und vertrauenerweckend. »Meine Männer können sich um das Haus herum postieren« – Charles hatte den Raum durchquert und blickte jetzt durch eine Mauerritze auf die Flußseite hinaus. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust –, »während wir auf die Verstärkung warten. Falls sie nicht durch schlechtes Wetter aufgehalten wird, sollten sie noch vor Einbruch der Nacht hier sein.«
Ohne sich umzudrehen, sagte Charles: »Ich glaube nicht, Sir.«
»Was ist?«
»Schauen Sie sich das hier einmal an! Eben sind etwa sechs Indianerkrieger eingetroffen. Schauen Sie sich diejenigen mit den Lanzen an!«
Bent watschelte zur Mauerritze und spähte hinaus. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Vier der Neuankömmlinge hielten ihre Lanzen hoch und schüttelten sie. Auf zwei Lanzen waren Trophäen aufgespießt.
Es waren die Köpfe der beiden Soldaten, die man nach Camp Cooper geschickt hatte.
Charles dachte, der Hauptmann würde zusammenbrechen. Bent schritt auf und ab, murmelte vor sich hin, blieb mehrere Male abrupt stehen, als wolle er einen Gedanken äußern, tat es dann aber doch nicht. Seine Augen glimmten bald eindringlich, bald starrten sie ins Leere. Die beiden betäubten Lantzman-Jungen wußten, daß etwas nicht stimmte. Sogar das Mädchen starrte den Hauptmann ängstlich an.
Jetzt zählte jede Sekunde. Charles räusperte sich. »Sir – «
Bent wirbelte herum und schrie: »Was ist?«
»Ich bitte um Erlaubnis, einen Spähtrupp zurück durch das Getreidefeld zu schicken. Das ist unsere einzige Rückzugsmöglichkeit.«
Der Hauptmann machte eine schlaffe Handbewegung und sank auf einen Stuhl. »Einverstanden.« Als Charles hinausstürmte, starrte er in die Ferne.
Zwanzig Minuten später war Charles mit grimmigem Gesichtsausdruck zurück. »Sie haben bereits Männer in den Abzugsgräben hinter dem Feld postiert. Mindestens fünfzehn, sagte Korporal Ostrander. Wir sind abgeschnitten. Eingekreist.«
Weshalb waren sie nicht früher gegangen, fragte sich Charles in einem stummen Wutanfall. Aber er konnte Bent nicht dafür verantwortlich machen; sie hatten ja alle auf die Verstärkung gewartet. Aber offensichtlich waren die beiden Soldaten in die Hände von jenen umherstreunenden Banden geraten, auf deren Fährten Doss gestoßen war. Charles hatte das Gefühl, daß die ganze Expedition von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war.
Bent wischte sich mit dem Handrücken über die schweißglänzende Stirn. »Eingekreist? Dann müssen wir uns verstecken und auf Hilfe warten.«
»Hilfe woher?« schrie Charles.
»Ich weiß nicht! Irgend jemand wird – « Der Satz blieb unbeendet.
»Aber Hauptmann«, sagte das Mädchen, »haben wir denn genug zu essen?«
Mrs. Lantzman schüttelte den Kopf. »Still, Martha. Stell den Soldaten keine Fragen. Sie wissen besser, was es zu tun gilt, als wir.«
»Ja, genau«, sagte Bent mit abwesendem Blick. Er machte innerlich schon wieder schlapp. Charles konnte es nicht weiterhin zulassen. »Augenblick mal«, sagte er.
Bent warf den Kopf herum; in seinen feuchten Augen schimmerte Groll. Charles wandte sich eher an die andern als an seinen Vorgesetzten: »Wir müssen uns eingestehen, daß wir uns in einer mißlichen Lage befinden. Wir sind in der Minderheit, und es wird uns niemand von Camp Cooper aus zu Hilfe eilen. Die Komantschen können noch mehr Krieger auftreiben und nach Lust und Laune angreifen. Ich glaube nicht, daß irgend jemand von uns hier sitzen bleiben möchte, um darauf zu warten, daß er umgebracht wird. Oder gefangengenommen wird«, fügte er mit einem Blick auf Martha hinzu. Mrs. Lantzman verstand, was er sagen wollte.
»Und was ist Ihr Vorschlag?« fuhr ihn Bent an.
»Abwarten bis es dunkel wird und dann einen Ausbruch versuchen. Ich habe mir etwas ausgedacht, wie wir die Indianer ablenken – «
Bent sprang auf; der Stuhl kippte um; seine Stimme überschlug sich beinahe, als er schrie: »Nein!«
Als der Schrei verklungen war, wurde Charles von einem merkwürdigen Gefühl erfaßt. Das Gefühl, als hätte er eben beschlossen, in einen Abgrund zu stürzen – und irgendwie hatte er das bereits getan. Aber blieb ihm denn eine andere Wahl? Bent hatte die Kontrolle verloren und war außerstande, mit der Situation fertig zu werden.
»Tut mir leid, Sir, aber Flucht ist das einzige, was uns bleibt.«
Die Farbe kehrte wieder in Bents Gesicht zurück. Er packte einen kleinen Tisch, der ihm im Weg stand, schleuderte ihn beiseite und stürzte sich auf Charles. »Stellen Sie mich in Frage? Bezweifeln Sie meine Autorität?«
»Wenn Sie hierbleiben wollen, Hauptmann, so befürchte ich, ja.«
»Leutnant«, Bent holte tief Atem, aber es gelang ihm nicht ganz, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen, »Sie werden kein Wort mehr sagen. Das ist ein Befehl. Gehen Sie hinaus, bis ich Sie wieder rufen lasse.«
Charles bedauerte, daß es soweit gekommen war – zu einer Machtprobe. Sie hätten beide am selben Strick ziehen sollen, um die andern zu retten. Aber wie konnte man einen Wahnsinnigen davon überzeugen, fragte er sich müde.
»Ich gehe, Sir«, sagte er, »aber dem Rest des Befehls kann ich nicht Folge leisten. Wenn wir hierbleiben, sind wir erledigt.«
Bent blickte ihn einen Augenblick lang an und sagte dann mit ruhiger Stimme: »Leutnant Main, Sie befolgen meinen Befehl – oder Sie landen vor dem Kriegsgericht.«
»Hauptmann, wir gehen.«
Bent packte Charles am Kragen und zerrte. »Verdammt noch mal! Ich werde dafür besorgt sein, daß man Sie entläßt!«
Charles wischte Bents Hand beiseite. Am liebsten hätte er dem fetten Offizier eine runtergehauen, aber er bewahrte mit großer Mühe die Fassung und sagte mit leiser Stimme: »Wenn wir lebend hier herauskommen, können Sie es gern versuchen.«
Er blickte Mrs. Lantzman an, ihre beiden Söhne und schließlich das Mädchen, das seine Muskete mit beiden Händen festhielt. »Sobald es dunkel wird, gehen wir. Jeder der will, kann mitkommen. Wenn Sie mitkommen möchten, tun Sie besser daran, die beiden dort zu begraben. Wir können sie nicht mitnehmen.«
Mrs. Lantzman kniete neben der Leiche ihres Mannes nieder, fegte die Fliegen mit dem Schuh fort und strich das Leintuch glatt. Plötzlich brach sie in Tränen aus. Charles blickte weg.
Marthas entschlossener Gesichtsausdruck zeigte, daß sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. Charles wandte sich dem Hauptmann zu und sagte: »Ich werde den Männern dasselbe Angebot machen. Niemand wird zum Gehen gezwungen.«
Bent flüsterte: »Verschwinden Sie mir aus den Augen!«
Wenige Minuten später raste Charles zum Rand des Getreidefeldes. Von den Gräben auf der andern Seite her ertönte ein Schuß. Die Kugel zischte durch die Ähren über seinem Kopf. Er kniete hin, riß einige ab und rollte sie zwischen den Handflächen hin und her. Völlig verdorrt.
Wenn es ihm gelingen würde. Mrs. Lantzman davon zu überzeugen, ihre Pferde davonzujagen – die Komantschen würden sie ja ohnehin bekommen –, hätten sie vielleicht eine kleine Chance.
48
Von Westen fielen die letzten Sonnenstrahlen über die Hügel. Dunkle Schatten breiteten sich über Erde und Himmel aus. Charles hatte sich den Fluchtplan in allen Einzelheiten ein halbes dutzendmal durch den Kopf gehen lassen.
Vor einer Stunde hatten Kavalleristen auf seine Instruktionen hin ein Lagerfeuer zwischen dem Haus und dem Feld angezündet, damit es von den Indianern auch sicher gesehen werden konnte. Mrs. Lantzman und ihre Tochter hatten im Haus Lumpen in Lampenöl getaucht und sie dann um das Ende von Baumwollstaudenästen gewickelt. Die Lantzman-Jungen hatten die Pferde für die ganze Familie gesattelt und lagen nun startbereit hinter den Heuballen, um den gefährlichen Angriff auf die Koppel durchzuführen.
Korporal Ostrander schlich sich an Charles’ Seite: »Sir, es ist alles bereit.«
»Gut, es ist Zeit. Wir – «
Er hielt inne, als er bemerkte, daß Ostrander verwirrt auf etwas hinter ihm blickte. Charles wandte sich um. Bent stand in der Tür der Farm und sagte: »Ich komme mit.«
Der Hauptmann war das einzige Hindernis gewesen. Charles versuchte, ihm einen Friedenszweig hinzuhalten, indem er mit sanfter Stimme sagte: »Fein, Sir.«
Aber es half nichts. »Ich komme hauptsächlich, um dabeisein zu können, wenn Sie mit Schimpf und Schande aus der Armee entlassen werden.«
Charles’ Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Wie Sie meinen, Sir. Aber darf ich Sie höflich daran erinnern, daß ich vorübergehend das Kommando übernommen habe.«
Täuschte er sich oder hatte Bent mit den Augen gezwinkert? Ein Schauer lief Charles über den Rücken. Bent lächelte beinahe, als er sich die mit Fransen besetzten Reithandschuhe überzog.
»Darüber haben Sie mich keineswegs im Zweifel gelassen, Leutnant. Ich habe beobachtet, wie Sie sich alle erdenkliche Mühe gegeben haben, meine Autorität zu untergraben und die Männer gegen mich aufzuhetzen. Genießen Sie Ihr Kommando! Es wird Ihr letztes sein.«
Unverwandten Blickes sah er Charles an. Von der andern Seite des Flusses hörte man die Felltrommeln und das Kriegsgeschrei der Belagerer.
Martha Lantzman tauchte mit den noch nicht angezündeten Fackeln auf. Sie hielt sie gegen den Boden gerichtet, damit die Wachen auf der andern Seite des Feldes sie nicht sehen konnten, und überreichte eine nach der andern Ostrander, der sie wiederum den Männern weitergab, die um das Lagerfeuer standen. Pferde wieherten zu beiden Seiten des Hauses in der Dunkelheit. Die übrigen Kavalleristen saßen im Sattel und hielten die Pferde der Männer, die die Fackeln anzünden sollten.
»Gehen Sie zu Ihren Pferden!« sagte er zu Mrs. Lantzman und deren Tochter. Sie eilten davon. Er blickte kurz auf den Hauptmann, der – es war kaum zu fassen – zu lachen schien und ihnen dann folgte.
Charles wandte sich um und betrachtete das Kornfeld. Würde er, würden sie alle dort umkommen? Unvermutet, wie ein gewaltig anschwellender Fluß im Frühling, stieg ein unbändiger Lebenswille in ihm auf. Die Lage war ohnehin beinahe hoffnungslos, er hatte nichts mehr zu verlieren und konnte deshalb kühn handeln. Die Dreckkruste auf seinem bärtigen Gesicht zerbarst, als er plötzlich grinste.
Einige der Männer sahen dies und fingen ihrerseits an zu lächeln. Charles wurde bewußt, daß er eben das Geheimnis eines guten Offiziers in einer aussichtslosen Lage entdeckt hatte. Vielleicht würde er überleben und es wieder anwenden können?
Er blickte jeden einzelnen der Männer an, um ihnen zu zeigen, daß nun der Moment gekommen war. Dann schwang er seinen Revolver über den Kopf und feuerte.
Als der Schuß losging, ließen die Komantschen alles stehen und liegen. Charles hörte, wie die Pferde auf der Koppel in Bewegung gerieten und kurz darauf einer der Lantzman-Jungen »Hü!« schrie.
Die Pferde galoppierten davon. Einige landeten im Fluß, gerade bevor der erste Schuß der Komantschen fiel. Die Indianer hatten zwar kein klares Ziel, aber es war ihnen offensichtlich klar, daß etwas nicht stimmte.
Charles gab nochmals zwei Schüsse ab. Als Antwort auf das Signal tauchten die Kavalleristen die Fackeln in die glimmende Asche. Die Lumpen fingen langsam Feuer. Jeder der Männer eilte zu einem vorher bestimmten Ort nach rechts oder nach links und zündete das Kornfeld an. In der Mitte sollte ein etwa fünfzehn Meter breiter Streifen frei bleiben. Charles hoffte, es würde lange genug windstill bleiben, damit sie alle auf diesem Streifen fliehen könnten.
Er sprang auf sein Pferd. Die Flammen schossen bereits in den Himmel; das Feuer breitete sich rascher aus, als er vermutet hatte. Er ritt zur Stelle, wo der Fluchtstreifen anfing, und erteilte den Befehl: »Zweierkolonne, traben, los!«
Von jeder Seite des Hauses her ritten die Männer herbei und bildeten rasch die Zweierkolonne. Charles hatte die erfahrensten Reiter an die Spitze und die Lantzmans in die Mitte des Zuges befohlen.
Männer und Pferde trabten auf den Streifen los, dessen Öffnung bereits durch das sich rasch ausbreitende Feuer gefährdet schien. Das leichte Geräusch von plätscherndem Wasser teilte Charles mit, daß die Komantschen dabei waren, den Fluß zu überqueren. »Beeilt Euch, verdammt noch mal!« schrie er den Männern mit den Fackeln zu. Sie bestiegen ihre Pferde und trabten auf den Streifen los. Charles fühlte die Hitze des Feuers im Rücken. Bents Pferd scheute, aber er zwang es vorwärts.
Zu beiden Seiten des Wegs schlugen die Flammen empor und züngelten immer näher aufeinander zu. An einer Ecke des Hauses tauchte ein Indianer in Kriegsbemalung auf. Charles schoß ihn nieder. Dann gab er seinem Rotschimmel die Sporen und lenkte ihn zwischen den beiden Feuern durch. Sich tief über den Hals seines Pferdes beugend, erkannte er Bent, der etwa zwanzig Meter vor ihm ritt. Über den Hauptmann hinaus vermochte Charles nur noch schemenhafte Gestalten zu erkennen.
Eine Flamme züngelte an Bents Ärmel. Rauch stieg auf. Der Hauptmann ließ einen Schrei los und schlug sich auf den Ärmel, um das Feuer zu ersticken. Sein Pferd trabte aus dem brennenden Kornfeld in die Dunkelheit hinein, wo Ostrander die Kolonne zusammenhalten und im Galopp davonführen sollte. Charles hoffte, daß der Korporal noch am Leben war.
Beißender Rauch stieg ihm nun von allen Seiten her in die Nase. Das Kornfeld brannte jetzt lichterloh, und schon züngelten Flammen auf dem Weg vor ihm. Charles beugte sich so tief über sein Pferd, daß er glaubte, die Rippen müßten ihm zerspringen. Er flüsterte seinem Rotschimmel kurz vor der Feuerwand ermutigende Worte zu. Das Pferd setzte furchtlos zum Sprung an. Das Feuer blendete Charles, und die Hitze schürfte ihm die Wangen auf. Doch dann waren sie bereits hindurch und in der kühlen Dunkelheit.
Der Schimmel setzte sicher, aber hart auf. Charles wankte im Sattel, konnte sich aber halten. Keine Sekunde später tauchte ein Schreckgespenst vor ihm auf – das gelbverschmierte Gesicht eines Komantschen, der mit hoch erhobenem Kriegsbeil auf Charles losstürmte. Charles gab dem Rotschimmel die Sporen. Der Indianer warf sein Beil mit einem schnellen Armschwung. Es verfehlte Charles’ Bein, traf aber die Flanke des Rotschimmels, der schrill wieherte und scheute. Charles flog aus dem Sattel.
Noch im Fallen richtete er den Revolver auf die Brust des Angreifers und drückte ab. Der Indianer flog rücklings in das Kornfeld. Binnen Sekunden brannte er von Kopf bis Fuß.
Charles lag unter dem keuchenden, wiehernden Pferd. Er befreite ein Bein und gab die beiden noch verbleibenden Schüsse in den Kopf des sterbenden Tieres ab.
Charles sah sich um, konnte jedoch keinen seiner Männer sehen. Er wurde von Panik erfaßt. Dann rannte er los. Er erinnerte sich, daß der letzte Reiter der Kolonne der Hauptmann gewesen war. »Bent!« schrie er, »Bent, helfen Sie mir!«
Er keuchte weiter. Hatte der Hauptmann ihn hören können? Hatte ihn irgend jemand gehört?
Er wandte sich nach dem Feuer um. Es hatte sich ausgebreitet und bildete auf einer Breite von etwa achthundert Metern eine Lichtwand. Die Flammen hatten gerade den letzten Rest von Lantzmans Feld verschlungen und griffen nun auf das trockene Präriegras über.
Ein bitteres Lächeln umspielte seine rußigen Mundwinkel. Er hatte erwartet, daß das Feuer den Komantschen, die über den Fluß kommen würden, den Weg abschneiden würde. Jetzt hörte er sie hinter der Feuerwand wüten und toben. Die Wachposten auf der andern Seite hatten das kleinere Risiko dargestellt. Einen davon hatte er erledigt, aber es mußten wohl noch mehr …
»Leutnant! Achtung!«
Der Schrei kam von einem Kavalleristen, der seinen Hilferuf gehört hatte und umgekehrt war. Als Charles sich nach der verschwommenen Reitergestalt umdrehte, stieß er einen schweren Seufzer aus: Ein Komantsche lief mit einer Lanze auf ihn zu.
Charles wirbelte herum. Sein Revolver war leer. Er konnte den Stoß der Lanze nur gerade so weit abwenden, daß er nicht durchbohrt wurde. Die eiserne Spitze traf ihn an der Schulter.
Der Indianer war dicht an Charles herangekommen. Charles zog mit der linken Hand das Messer. Der bemalte Mund verzerrte sich; der Indianer konnte nicht mehr schnell genug ausweichen. Charles rammte ihm das Messer bis an das Heft in die Magengrube und zog es dann mit einem Ruck heraus.
Der Komantsche taumelte seitwärts. Mit einem Wutschrei versuchte er nochmals, mit der Lanze zuzustoßen. Charles sprang jedoch zur Seite und wartete auf den Zusammenbruch des Kriegers. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Komantsche schließlich hinfiel.
Dann setzte bei Charles die Reaktion ein: Schwindel, Zittern, Augentrübung. Er konnte den Soldaten, der auf seinen Hilferuf zurückgeritten war, nicht erkennen. »Bent?«
»Nein, Sir, ich bin Gefreiter Tannen. Hauptmann Bent ist weitergeritten.«
Nachdem er mich um Hilfe rufen hörte.
»Steigen Sie auf, Sir«, sagte der Gefreite. »Wir schaffen es – wir werden es alle schaffen.«
Sie folgten der flüchtenden Kolonne. Charles hielt sich am Leibgurt des Gefreiten fest und ritt mit geschlossenen Augen. Schock und Erleichterung mischten sich in sein Schweigen.
Die Komantschen verfolgten sie beinahe eine Stunde lang durch die Dunkelheit, kamen jedoch nie auf Schußweite heran. Schließlich war ihr Kriegsgeschrei kaum noch zu hören, sie hatten offensichtlich die hoffnungslose Jagd aufgegeben.
Die Kolonne ritt noch eine Stunde lang weiter und legte dann einen Halt ein, um sich etwas auszuruhen. Wunderbarerweise war es nur zu einigen wenigen Verletzungen gekommen, leichte Fleischwunden, wie diejenige von Charles. Trotz ihres schrecklichen Erlebnisses freuten sich die Lantzmans, und auch die Kavalleristen lachten und lärmten. Einige beglückwünschten Charles zum Erfolg seines wagemutigen Plans.
Charles kommandierte einige Späher ab, und ein Kavallerist bot ihm einen kräftigen Schluck Whiskey an. Charles stellte keine Fragen nach Besitzer oder Herkunft des verbotenen Getränks. Er nahm dankend an und goß dann etwas Schnaps in seine Schulterwunde, die Mrs. Lantzman ihm anschließend mit einem Taschentuch verband. Bent hielt sich abseits von allen.
Bald ging es Charles schon wieder wesentlich besser. Er fühlte sich zwar müde, aber wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Er ließ die Kolonne neu formieren und fand nach kurzer Zeit einen idealen Lagerplatz in einer Schlucht, deren offenes Ende gut bewacht werden konnte.
Zum erstenmal, seitdem sie Camp Cooper verlassen hatten, kramten sie ihre Wolldecken hervor. Einige Soldaten hatten Mesquiteholz gesammelt und Feuer angezündet, um die Insekten fernzuhalten. Charles kauerte bei einem der kleinen Feuer und knabberte an einem Zwieback. Er kam ihm ungemein köstlich vor.
Plötzlich fiel ein unförmiger Schatten über das Feuer. Charles blickte auf und zog scharf den Atem ein. Bents Gesichtsausdruck war angespannt, maskengleich. Der Hauptmann hatte das Kommando wieder übernommen, was Charles nur recht sein konnte, denn er verspürte nicht den geringsten Wunsch, Bent noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Er hatte den Männern nichts von Bents Verhalten im Farmhaus erzählt und sich sogar bemüht, den Eindruck zu vermitteln, der Hauptmann habe ihm die Verantwortung für die Flucht übertragen.
»Ich möchte Ihnen ein Lob aussprechen für Ihre Haltung während des Ausbruchs, Leutnant. Sie haben einen außergewöhnlichen Mut an den Tag gelegt.«
»Vielen Dank, Sir.«
Charles wunderte sich über das unerwartete Kompliment, und der Grund dafür wurde ihm erst klar, als er fünf Soldaten beim Feuer nebenan bemerkte. Gerade vorhin hatten sie sich über den Kampf auf der Lantzman-Farm unterhalten, doch jetzt hörten sie schweigend zu. Bent hatte darauf geachtet, daß er nicht zu überhören war.
Der Hauptmann warf den Zuhörern einen raschen Blick zu und machte dann ein paar Schritte in die andere Richtung. Er bedeutete Charles, ihm zu folgen. Widerwillig kam Charles der Aufforderung nach.
Bent griff den Faden wieder auf: »Vielleicht sind wir beide auf der Farm etwas zu sehr in Harnisch geraten. Wenn Gefahr droht, kann man schließlich von keinem Menschen erwarten, daß er immer den Überblick über die Situation behält.«
Ich würde meinen, daß man genau das von einem guten Führer erwarten darf, dachte Charles im stillen, aber er schwieg. Es hatte keinen Sinn, Bent gerade jetzt zu provozieren, wo er auf seine tolpatschige Art versuchte, einen Waffenstillstand herzustellen.
Sie traten langsam aus dem Feuerschein heraus und gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Zum erstenmal roch Charles die Whiskeyfahne. Es wunderte ihn nicht, daß Bent über eine Geheimration verfügte.
Als sie sich in sicherer Entfernung von den fünf Soldaten befanden, blieb Bent stehen und blickte Charles an.
»Der Erfolg der ganzen Rettungsaktion tilgt natürlich Ihre Schuld nicht. Sie haben sich einem direkten Befehl widersetzt.«
Charles stieg die Galle hoch. Jetzt verstand er das Manöver des Hauptmanns. Bent hatte absichtlich gewollt, daß die Männer ihn seinen Untergebenen loben hörten. Nachdem das einmal erledigt war, konnte er jetzt, bei einem Gespräch unter vier Augen, mit seiner wirklichen Botschaft herausrücken. Bents Stimme wurde um einige Grad härter, als er sagte:
»Es muß und wird eine Anklage gegen Sie vorgebracht werden.«
Charles ahnte dumpf, was dem Hauptmann schon lange klar war, und begriff dann plötzlich mit einem Schlag. Nur die Lantzmans waren Zeugen des heftigen Wortwechsels zwischen Charles und dem Hauptmann und Bents Nervenkrise gewesen. Sie würden nicht als Zeugen vor das Militärgericht geholt, es sei denn, Charles würde darauf bestehen. Aber auch in diesem Fall wäre es für den Staatsanwalt ein leichtes, ihre Eignung als Zeugen in Frage zu stellen, denn erstens handelte es sich um Zivilpersonen, die von militärischen Angelegenheiten keine Ahnung hatten, und zweitens könnte er geltend machen, daß durch den schweren Schicksalsschlag des Verlustes zweier Familienmitglieder ihre Wahrnehmung getrübt gewesen sei.
Charles fühlte die Falle hinter sich zuschnappen. Niemand würde ihn unterstützen und aussagen, daß er das Kommando in einer absoluten Notsituation übernommen hatte. Niedergeschlagen mußte er feststellen, daß seine eigene Gutmütigkeit ihn in diese Lage gebracht hatte. Beim Versuch, den Hauptmann zu schonen, hatte er nichts über dessen Verhalten bei den Soldaten verlauten lassen. Bent konnte ohne weiteres übertreiben und seine Zeugenaussage nach Belieben modifizieren. Zudem war er Charles’ Vorgesetzter, und das Gericht würde eher einem erfahrenen Hauptmann als einem Brevetunterleutnant Glauben schenken.
Bents Profil leuchtete im Schein des Feuers auf, als er sich abwandte und genüßlich vor sich hinlächelte.
»Ich glaube, Sie – nicht ich – werden das Hauptopfer dieser Expedition gewesen sein, Leutnant! Guten Abend.«
Schlaflos und angespannt lag Charles später da, den Kopf auf dem Sattel. Das Feuer brannte nicht mehr, und seine Knochen waren steif vor Kälte. Seine verletzte Schulter schmerzte ihn.
Was für ein Dummkopf war er doch gewesen, auch nur einen Augenblick lang zu glauben, daß Bent hatte Frieden schließen wollen.
Charles war die Zielscheibe eines Hasses, der so unbegründet und unversöhnlich war, daß er jeder Erklärung spottete. Mit einer Ausnahme: Bent mußte verrückt sein. Er hatte diesen Verdacht schon früher gehabt; die tragischen Ereignisse auf der Lantzman-Farm bestätigten lediglich seinen Eindruck.
Er schüttelte sich und zog sich den Hut über die Augen, um einschlafen zu können. Aber es half nichts. Während Stunden lag er wach und hörte immer wieder die Stimme des Hauptmanns, sah immer wieder dessen Gesicht.
49
Bent hatte vor, den Weg bis zum Camp Cooper in einem Tagesritt zurückzulegen, aber gegen drei Uhr nachmittags wurde der jüngere der Lantzman-Knaben von akuten Magenkrämpfen befallen. Seine Mutter bat den Hauptmann, für eine Weile einen Halt einzulegen, damit der Junge sich etwas ausruhen könne. Aus einigen Minuten wurde schließlich eine Stunde. Im Norden braute sich ein Gewittersturm zusammen. Bent erteilte Befehl, den Lantzmans ein Halbzelt aufzurichten, und beschloß, da keine Gefahr drohte, dort zu übernachten und den Rest des Wegs am folgenden Tag zurückzulegen. Die Männer murrten über den Entscheid, aber Bent kümmerte sich nicht darum, denn er hatte ein wundes Gesäß vom Reiten und war froh um die Gelegenheit, seine Autorität wieder zu festigen.
Der Wind peitschte das Gras, und eine halbe Stunde lang flogen Staub und Äste durch die Luft. Aber es fiel nicht ein Tropfen Regen. Der Sturm entfernte sich, und die Soldaten waren mürrischer denn je. Sie hätten weiterreiten und noch vor dem Zapfenstreich im Camp sein können.
Das Lager wurde auf einer Ebene neben einem ausgetrockneten Flußbett aufgeschlagen. Am Ufer entlang wuchsen einige Baumwollsträucher, und dort hatte Bent seine Decken ausgebreitet und ein Feuer angefacht. Normalerweise hätten sich andere Offiziere ebenfalls um das Feuer geschart, aber Charles ging Bent bewußt aus dem Weg.
Das Halbzelt befand sich in etwa sechs Meter Entfernung von den Baumwollsträuchern, wo Bent im Schatten saß und trank. Nachdem er sich zweimal ausgiebig aus der Feldflasche bedient hatte, fühlte er sich wesentlich ruhiger. Er genoß den Duft des Feuers, das Summen der Insekten und die gedämpften Stimmen der Männer. Wieder griff er zur Flasche. Seine Phantasie gaukelte ihm farbenprächtige Visionen von Alexander dem Großen, Dschingis Khan und Napoleon vor.
Er hatte bereits eine Entschuldigung für sein Benehmen auf der Farm gefunden und andere Faktoren dafür verantwortlich gemacht: der Mangel an Soldaten; der unglückselige Umstand, daß die beiden Männer, die Verstärkung holen sollten, umgekommen waren; die Feindseligkeit der Leutnants.
Nun, den einen der beiden Verräter hatte er ja bereits aus dem Weg geräumt und den andern würde er auch demnächst loswerden. Er stellte sich das Gesicht von Orry Main vor, wenn er vom unehrenhaften Abgang seines Verwandten hörte.
Kichernd stand er auf und setzte die Flasche wieder an. Stimmen, die vom Zelt der Lantzmans herkamen, erweckten seine Aufmerksamkeit. Regungslos verbarg er sich hinter den Sträuchern und hörte zu.
»Weshalb soll ich da liegen, wenn ich nicht schlafen kann, Mama? Laß mich doch einen kleinen Spaziergang machen!«
Mrs. Lantzman folgte ihrer Tochter, die Muskete in den Händen, aus dem Zelt. »Na, einverstanden, aber geh nicht zu weit weg, und nimm das hier mit.«
»Brauch’ ich nicht«, entgegnete Martha. »Es besteht keine Gefahr mehr. Der Delaware-Späher hat es gesagt.«
Ihr älterer Bruder, der im Schneidersitz beim erlöschenden Feuer saß, lachte und breitete die Arme aus. »Bei all den Soldaten, die hier herumsitzen, will Martha unbedingt ohne Schutz ausgehen.«
»Nimm das zurück«, rief sie ihm mit geballter Faust zu.
»Geh, wenn du nicht anders kannst, aber lassen wir diese Art Gespräch«, sagte Mrs. Lantzman ernst. Sie stützte sich auf den Lauf ihrer Waffe und sah ihrer Tochter nach, unter deren Füßen Gras raschelte. Sie ließ Martha einige Meter weit gehen und rief ihr dann mit sanfter Stimme zu:
»Nicht in die Richtung! Du wirst den Hauptmann stören.«
»Ach ja, stimmt. Hab’ ich vergessen.«
Sie änderte die Richtung und schlug einen Bogen um die Baumwollsträucher. Sie war dankbar für die Warnung ihrer Mutter. Sie verabscheute den Hauptmann mit seinem groben, fetten Gesicht und den kleinen Augen, die sie so genau beobachtet hatten. Sie wußte wohl, weshalb er sie so angestarrt hatte. Sie war alt genug, um von seinen Blicken eine vage Erregung zu spüren, aber noch jung genug, um Angst davor zu haben.
Sie kam an einem zweiten kleinen Feuer vorbei. Der junge Leutnant saß dort mit nacktem Oberkörper und versuchte, seine lästige Schulterwunde neu zu verbinden. Martha anerbot sich, ihm zu helfen. Er dankte ihr auf seine galante Art, und sie ging aufgeregt weiter.
Charles stützte sich auf seine Ellbogen und blickte ihr fast wie ein besorgter Vater nach, bis sie in der Dunkelheit verschwand.
Elkanah Bent hatte die Hand zwischen die Oberschenkel gepreßt und wunderte sich über seine unerwartet heftige Reaktion. Das Lantzman-Mädchen, das er von seinem Versteck aus beobachtet hatte, war noch ein Kind. Aber nicht von der Taille an aufwärts, dachte er und fuhr mit der Zunge über die Lippen.
Es war schon lange her, seit er mit einer Frau geschlafen oder auch nur eine berührt hatte. Natürlich würde es kein Offizier wagen, Hand an ein so junges Mädchen zu legen. Aber er hatte dennoch das Bedürfnis, mit ihr zu reden, und mit ein wenig Glück konnte er sie vielleicht berühren.
Nur schon die Tatsache, daß ein solcher Impuls in ihm vorhanden war, schien ihm ein Zeichen dafür, daß das Glück wieder auf seiner Seite stand. Er hob die Feldflasche hoch, schüttelte sie und leerte sie in einem Zug. Immer noch etwas schüchtern, stand er langsam auf und ging geräuschlos durch das Baumwollgestrüpp, weg vom Lichtschein des Lagerfeuers.
Martha hatte die Anweisungen ihrer Mutter befolgt, sich nicht allzu weit zu entfernen, und war am Flußufer auf der andern Seite des Baumwollgestrüpps stehengeblieben. Sie war überrascht, wieviel sie im milden Licht des aufgehenden Mondes zu sehen vermochte. Sie kreuzte die Arme über der Brust, warf den Kopf in den Nacken und seufzte erleichtert.
Die nächtliche Brise hatte eine beruhigende Wirkung auf sie; das Gras raschelte leise. Mit sanfter Stimme begann sie ›Old Folks at Home‹ vor sich hin zu summen, als sie plötzlich durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde.
»Ist da jemand?«
»Nur Hauptmann Bent, kleines Fräulein.«
Er schälte sich aus dem Schatten der Bäume hervor, hutlos und etwas wacklig auf den Beinen. Ihr Herz begann zu rasen, doch sie schalt sich selbst einen Angsthasen. Sicherlich hatte sie nichts von einem Armeeoffizier zu befürchten.
»Ich habe ein Geräusch gehört«, sagte er und trat näher. »Es freut mich, daß es kein Feind ist.«
Sein Tonfall falscher Herzlichkeit beunruhigte sie. Er roch nach Whiskey und Schweiß und sah wie ein grotesker, zweibeiniger Elefant aus.
»Eine herrliche Nacht, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, das heißt, ja. Ich muß zurück – «
»So schnell? Ach bitte nicht! Noch nicht.«
Wie sanft und liebenswürdig er doch klang. Mit seiner tiefen Stimme erinnerte er sie eigentlich an einen vertrauenswürdigen Onkel. Und doch schwang etwas in der Stimme mit, das sie verwirrte und für einen Augenblick lähmte.
Er faßte es als Zustimmung auf. »Na, das ist besser. Ich wollte Ihnen bloß meine Hochachtung ausdrücken.«
Betrunken, dachte sie. Er ist betrunken. Sie hatte ihren armen Vater des öfteren betrunken erlebt und kannte die Anzeichen.
»Sie sind ein charmantes Mädchen. Außerordentlich hübsch und noch so jung.«
Sein großer runder Schädel verdeckte den Mond. Er war ja inzwischen dicht an sie herangetreten. »Ich möchte, daß wir Freunde sind.«
Er streckte seine Hand nach ihrem Haar aus und ließ einige ihrer langen glänzenden Strähnen durch seine Finger gleiten. Sie stand reglos vor Schreck.
Er tätschelte ihren Kopf und rieb ihr Haar zwischen Daumen und Fingern. Nach und nach zog er etwas stärker daran, bis er zerrte. Er zerrte sie. Sein Atem ging keuchend wie eine Dampfmaschine.
»Lassen Sie mich los! Bitte!«
Jegliche Freundlichkeit wich aus seinem Tonfall: »Reden Sie leise. Wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen.« Und mit diesen Worten packte er sie am Unterarm. Sie stieß einen gedämpften Schrei aus.
»Verdammt noch mal, lassen Sie das!« rief Bent in Panik. »Ich warne Sie.« Diesmal schrie sie lauter. Er ebenfalls. »Aufhören! Aufhören, hab’ ich gesagt!«
Er schüttelte sie, bis er plötzlich einen Ausdruck der Erleichterung in ihren Augen bemerkte. Er wirbelte herum, wie ein Mann, der sich plötzlich einem Schießkommando gegenübersieht. Als er Charles Main erkannte, wich er einige Schritte zurück.
Von der andern Seite her näherten sich der ältere der Lantzman-Söhne, gefolgt von seiner Mutter. Die Muskete, die sie in der Hand trug, blitzte im Mondlicht auf.
Als Charles Bents Gesichtsausdruck und dann denjenigen des Mädchens sah, war ihm die Lage vollkommen klar. Mrs. Lantzman eilte auf ihre Tochter zu, und es folgte ein Durcheinander von Stimmen.
»Martha, hat er dir wehgetan?« fragte der Bruder.
»Ich wußte ja, daß es gefährlich für dich sein würde, spazierenzugehen«, sagte die Mutter.
Dazwischen Bents heisere und aufgeregte Stimme: »Ich hab’ ihr nichts getan! Nichts!«
Und das Mädchen: »O doch. Er hat seine Hände auf mich gelegt und mit meinem Haar gespielt. Er wollte nicht aufhören – «
»Ruhe«, befahl Charles. »Seid mal alle ruhig!«
Sie gehorchten. Inzwischen waren mehrere Soldaten herbeigeeilt. Charles machte eine abwehrende Handbewegung.
»Geht ins Lager zurück! Es ist alles in Ordnung.«
Die Männer machten kehrt und gingen zurück. Charles wartete, bis sie hinter den Baumwollsträuchern verschwunden waren, und warf Bent dann einen eindringlichen Blick zu. Der Hauptmann schwitzte heftig und schwankte auf seinen Füßen hin und her. Er wich Charles’ Blick aus.
»Martha, sind Sie verletzt?« fragte Charles.
»N-nein.«
»Bringen Sie sie zurück ins Zelt, Mrs. Lantzman, und behalten Sie sie für den Rest der Nacht dort.«
Die Muskete umklammernd, fixierte die Frau den Hauptmann mit wildem Blick und sagte entschlossen: »Was sind das für Männer, die sie uns nach Texas schicken? Kerle ohne jegliche Moral?«
»Mrs. Lantzman, bitte unterlassen Sie das«, unterbrach sie Charles. »Ihrer Tochter ist nichts geschehen. Der Zwischenfall ist höchst unangenehm, aber wir waren alle einer großen Anspannung ausgesetzt. Ich bin sicher, daß der Hauptmann seine versehentliche Indiskretion bedauert und – «
»Versehentlich?« rief der Bruder des Mädchens verächtlich. »Er ist betrunken. Schnuppern Sie mal!«
»Verdammt noch mal, du unverschämter – «, platzte Bent heraus, aber Charles hatte bereits seinen erhobenen Arm gepackt und hinuntergedrückt. Bent keuchte, öffnete die Faust und ließ den Arm fallen.
Charles packte Martha und ihren Bruder sanft an der Schulter, drehte sie zu den Bäumen herum und sagte: »Bleibt im Zelt und versucht, den Zwischenfall zu vergessen. Ich bin sicher, daß Hauptmann Bent sich bei euch allen entschuldigen wird.«
»Entschuldigen? Unter keinen Umständen werde ich – «
Doch dann hielt er inne und flüsterte: »Doch. Betrachten Sie es bitte als getan.«
Mrs. Lantzman sah aus, als hätte sie ihn am liebsten erschossen. Charles redete sanft auf sie ein. »Bitte, gehen Sie jetzt.«
Die Frau reichte ihrem Sohn die Muskete, legte den Arm um Martha und führte sie weg. Bent preßte beide Handflächen auf sein Gesicht.
»Danke«, sagte er zu Charles.
Charles entgegnete nichts.
»Ich verstehe nicht, weshalb Sie mir geholfen haben, aber ich bin – Ihnen dankbar.«
»Es hätte nichts an der Situation geändert, wenn sie Sie erschossen hätte. Sie hätte es höchstens später bereut. Wenn es eine Strafe für das gibt, was sich vorhin zugetragen hat, dann muß sie von einer andern Instanz kommen.«
»Strafe? Was meinen Sie genau?«
Wiederum schwieg Charles. Er drehte sich um und marschierte durch das windgekrümmte Gras davon.
Wenige Meilen vor Camp Cooper galoppierte Bent an die Spitze der Kolonne neben Charles. Sie waren kurz nach dem Frühstück aufgebrochen und seither durch den Nieselregen geritten. Charles fühlte sich in einer etwa gleich dreckigen Stimmung, wie seine Männer aussahen.
Bent räusperte sich. Charles ahnte, was nun kommen würde.
»Ich schätze das, was Sie gestern abend für mich getan haben. Ich hätte Ihnen gern meine Gefühle mitgeteilt, aber Sie waren nicht in der richtigen Stimmung, um zuzuhören, und so dachte ich mir, es nochmals zu versuchen.«
Charles starrte Bent unter seiner tropfenden Hutkrempe an. Es fiel ihm schwer, seinen Ekel zu verbergen. »Hauptmann, verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe es nicht getan, um Ihnen persönlich zu helfen. Ich tat es um der Uniform willen, die Sie tragen. Ich tat es für das Regiment. Verstehen Sie?«
»Ja natürlich. Ich – ich erwarte nicht, daß Sie mir freundschaftliche Gefühle entgegenbringen. Was ich Sie fragen möchte – ich meine – wir werden ja bald wieder im Camp sein – was glauben Sie, wird Mrs. Lantzman sagen?«
»Nichts.«
»Was?«
Wie ekelerregend hoffnungsvoll Bent doch aussah! Charles lehnte sich auf die andere Seite und spuckte.
»Sie wird nichts sagen. Ich habe mich beim Frühstück mit ihr unterhalten, und sie hat begriffen, daß eine Anklage nichts bringen würde. Vielleicht hat Martha sogar aus der ganzen Angelegenheit eine Lehre gezogen. Mrs. Lantzman ist eine einfache und anständige Frau. Es ist niemandem ein schweres Leid zugefügt worden, und weshalb sollte sie dann Ihr Leben ruinieren?«
Nun kam der schwierigere Teil. Obgleich Charles’ Methode auch nicht ganz makellos war, verfolgte er trotzdem einen lauteren Zweck. Ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von Bent abzuwenden, fuhr er fort:
»Aber ich weiß, daß sie jederzeit bereit wäre, nach Camp Cooper oder sogar nach Fort Mason zu kommen, wenn ich sie darum bitten würde. Sie würde es tun, wenn ich ihre Hilfe vor dem Militärgericht brauchte, um eine Aussage über meinen Charakter und den Charakter von andern zu machen.«
Bent zog die Augenbrauen hoch. Er verstand. Es wurde ihm bewußt, daß er zwar der einen Falle entkommen war, nun aber in einer andern saß, die noch erniedrigender war. Schlagartig verwandelte sich sein Gesicht in eine wutverzerrte Maske.
»Ihre Taktik steht derjenigen eines Verbrechers in nichts nach!«
»Quatsch, Hauptmann. Ich rette meine Karriere und gebe Ihnen eine Chance, Ihre zu retten. Es ist ganz einfach: Sie halten den Mund. Sollten Sie sich nicht mit diesem Gedanken anfreunden können, dann bringen wir die ganze Angelegenheit vor Major Thomas. Er hat Erfahrung mit Militärgerichten, und ich werde gerne seinem Urteilsvermögen vertrauen.«
»Nein, nein – « Bent hob beschwichtigend seine Arme. »Ich bin mit Ihren Bedingungen einverstanden. Es wird keine Klage erhoben werden.«
Charles konnte sich ein kühles Lächeln nicht verkneifen.
»Ich war sicher, daß Ihre Entscheidung so ausfallen würde.«
Er tippte an die Hutkrempe, schwenkte nach links ab und galoppierte an der Kolonne vorbei zurück; Schlamm wirbelte hinter ihm auf. Ein dicker Klumpen klatschte auf Bents Schulter.
50
Die Lantzmans übernachteten in Camp Cooper und machten sich dann mit einer Begleitmannschaft auf den Weg zurück zur Farm. Bent verschwand in seinem Quartier; erneut hatte ihn ein heftiger Ruhranfall gepackt. Charles verstand wenig von Medizin, aber er vermutete, daß die Aufregung der letzten Tage an Bents Krankheit schuld war.
Charles und der Hauptmann wurden vom Hauptquartier in Washington für ihre Rettungsaktion gelobt. Lafayette O’Dell wurde posthum geehrt. Seine Leiche wurde nie gefunden.
Bent beantragte einen Urlaub aus gesundheitlichen Gründen, der ihm auch gewährt wurde. Somit fiel Charles die Aufgabe zu, die Familienangehörigen von O’Dell und den drei andern Männern, die bei der Expedition ums Leben gekommen waren, zu benachrichtigen. Es mangelte ihm an Talent für derartige Pflichten, und er machte sich mit Widerwillen daran, erledigte dann aber doch alles an einem Abend.
Als er mit dem letzten Brief zu Ende war, konnte er endlich im stillen über Gefühle nachdenken, die ihn in den letzten Tagen immer wieder bedrängt hatten. Er war nicht mehr derselbe Offizier, nicht mehr derselbe Mensch, der sich mit der Rettungstruppe zur Lantzman-Farm aufgemacht hatte.
Oberflächlich schien sich nichts verändert zu haben. Er war immer noch voller Tatendrang und lachte genauso viel wie früher, aber in seinem tiefsten Innern hatte sich eine große Änderung vollzogen, eine Wandlung auf Grund all dessen, was er während der Expedition erlebt und getan hatte. Die Kadettenzeit in West Point war zu einer angenehmen Erinnerung verblaßt. Der romantische Abenteurer hatte sich in einen abgehärteten Berufssoldaten verwandelt.
Der junge Charles war gestorben, und wie der Phönix aus der Asche war ein Mann geboren worden.
»Ich habe gehört, daß heute morgen eine Postsendung eingetroffen ist«, sagte Charles am vierten Tag nach seiner Rückkehr ins Camp.
»Ja, Sir. Das ist für Sie gekommen.« Der Unteroffizier überreichte ihm ein Bündel von drei Briefen und fügte entschuldigend hinzu: »Der Postsack lag sechs Wochen in einem Camp in San Antonio.«
»Weshalb?« fragte Charles ärgerlich und sah das Päckchen rasch durch. Der oberste Brief war mehr als zentimeterdick; Charles erkannte Orrys Handschrift auf allen dreien. »Weiß ich nicht, Sir. Das ist wohl so bei der Armee.«
»Bei der Armee in Texas zumindest.«
Charles begab sich in sein Quartier zurück und riß schon unterwegs den dicken Brief auf. Der Brief war im April abgeschickt worden: Deine Frage in bezug auf Deinen Kommandanten veranlaßt mich zu einer unverzüglichen und besorgten Antwort. Falls es sich um denselben Elkanah Bent handeln sollte, den ich von der Akademie und von Mexiko her kenne, muß ich Dich dringend vor ihm warnen: Du könntest Dich in großer Gefahr befinden.
Charles hielt abrupt inne. Obwohl es brennend heiß war, fror er plötzlich:
Ich will versuchen, es Dir zu erklären – obwohl, wie Du zweifellos selbst durch Deine Zusammenkünfte mit dem fraglichen Herrn festgestellt haben wirst, sein Verhalten weder logisch noch sonstwie zu erklären ist. Dies war auch schon so, als George Hazard und ich das Unglück hatten, ihm zum erstenmal zu begegnen. – Hastig faltete Charles den Brief wieder zusammen, warf einen prüfenden Blick nach allen Seiten und ging auf sein Zimmer, wo er sich hinsetzte und die eng beschriebenen Seiten las, die ihm die merkwürdige Geschichte von zwei West-Point-Kadetten erzählten, die sich die ewige Feindschaft eines dritten zugezogen hatten. Als er mit dem Brief zu Ende war, legte er ihn auf seinen Schoß und starrte durch das Rechteck des geöffneten Fensters in die sonnenhelle Ferne. Orry hatte recht: Es war schlichtweg unmöglich, einen Haß zu verstehen, der so tief und verzehrend war, daß Bent sich weitere Mitglieder der Hazard- und Main-Familie als Opfer suchte. Aber der Haß war Wirklichkeit und hatte ihn in den vergangenen Wochen immer wieder auf eine harte Probe gestellt.
Er las den Brief mehrmals durch und schenkte Orrys Bericht über die Ereignisse in Mexiko besondere Aufmerksamkeit. Doch der Schock ließ kaum nach, ganz im Gegenteil.
Er war dankbar dafür, daß sein Vetter ihn gewarnt hatte. Und doch kam ihm das, was er nun wußte, irgendwie schlimmer vor als seine frühere Unwissenheit. Bent hatte seine Haßgefühle während mehr als fünfzehn Jahren genährt, was Charles zeigte, wie verrückt der Mann tatsächlich sein mußte. Ein völlig neues Gefühl, das ihn beschämte, dessen er sich aber nicht erwehren konnte, beschlich ihn: Todesangst.
Wenn er in der Folge mit Bent zusammentraf oder mit ihm reden mußte, hatte er die größten Schwierigkeiten. Immer wieder wurde er sich der Wahrheit bewußt, die er nun kannte und die hinter dem listigen Blick des Hauptmanns verborgen lag.
Bent seinerseits wirkte beträchtlich lockerer. Er redete kaum mit seinem Unterleutnant, außer wenn es der Dienst verlangte. Das war eine Erleichterung. Vielleicht hatte sich die Gefahr verringert, weil Charles immer noch die Trumpfkarte Mrs. Lantzman gegen Bent ausspielen konnte. Im Lauf der Wochen ließ Charles’ Furcht etwas nach, und er wartete gespannt auf den Tag, an dem er und Bent zu anderen Einheiten versetzt und getrennte Wege gehen würden.
Bis dahin mußte er wachsam bleiben.
Während der Zeit des Nichtstuns, die auf die Rettungsaktion auf der Lantzman-Farm folgte, diskutierten die Männer aus Ohio der K-Kompanie heftig über die Ereignisse im Osten. Der um seine Wiederwahl in den Senat kämpfende Stephen Douglas hatte mit dem Republikaner Lincoln in verschiedenen Städten in Illinois öffentlich debattiert. Experten waren der Meinung, Douglas werde wahrscheinlich im Januar nach Washington zurückkehren, seinen Sieg jedoch teuer erkaufen. Bei ihrem Treffen in Freeport hatte Lincoln seinem Gegner während einer hitzigen Debatte über den Missouri-Kompromiß von 1820 und den Fall Dred Scott ein schwerwiegendes Zugeständnis abgerungen. Das Oberste Bundesgericht war bei seiner Dred-Scott-Entscheidung für die Unverletzbarkeit der Eigentumsrechte der Sklavenbesitzer eingetreten und hatte den Missouri-Kompromiß, der ein Sklavereiverbot nördlich einer Demarkationslinie vorgesehen hatte, für ungesetzlich erklärt. Die Theorie der Volkssouveränität war somit wirksam negiert worden. In seiner Antwort auf Lincolns scharfsinnige Fragen meinte Douglas, daß es – Bundesgericht hin oder her – für die Territorien immer noch einen einfachen, verfassungsmäßigen und äußerst praktischen Weg gebe, die Sklaverei zu verhindern, und zwar indem die Regierung sich weigere, Gesetze zum Schutz der Rechte der Sklavenbesitzer zu erlassen. Kein vernünftiger Mann würde sich Neger leisten, wenn er Gefahr lief, sie wieder zu verlieren. »Die Sklaverei kann nirgends für einen Tag oder für eine Stunde bestehen«, meinte Douglas, »es sei denn, sie wird durch lokale polizeiliche Maßnahmen unterstützt.«
Douglas’ Ansicht fand ihren Niederschlag in der sogenannten Freeport-Doktrin. Ein Offizier aus dem Süden, der der Ersten Infanterie angehörte, sagte in Camp Cooper zu Charles:
»Der Mann hat sich selbst zu Fall gebracht. Die Demokraten in unserm Landesteil werden ihm nie wieder ihre Stimme geben.«
Im Oktober hielt Senator Seward im Norden des Staats New York eine Ansprache, die allgemeinen Anklang fand. Er sagte, daß der Norden und der Süden in bezug auf die Sklaverei in einem ›offenen Konflikt‹ zueinander stünden, eine Aussage, die den Süden erneut in Harnisch brachte. Sogar eifrige Verfechter der Republikaner im Camp waren der Ansicht, daß Seward mit seinen Worten das Land einen Schritt weiter in Richtung Bürgerkrieg getrieben habe.
Und doch konnten es sich nur wenige vorstellen, daß eines Tages Amerikaner gegen andere Amerikaner die Waffen erheben würden. Es blieb vorderhand bei Wortgefechten.
Bei all diesen Diskussionen gab auch Elkanah Bent gelegentlich seinen Kommentar zum besten. Er war von seinem langen Urlaub zurückgekehrt, hatte gut vier Kilo abgenommen, seine höchst eigenartigen Ansichten aber nicht geändert. Seiner Meinung nach war ein bewaffneter Konflikt durchaus vorstellbar, und er ließ keinen Zweifel daran, daß er dies genießen würde.
»Mit einem Krieg könnten wir endlich die Theorie in die Praxis umsetzen. Wozu werden wir schließlich ausgebildet? Was ist denn Ziel und Zweck unseres Berufs? Wir sind nicht zur Erhaltung des Friedens da, sondern um den Krieg zu gewinnen, wenn das Blut einmal fließt. Das ist unsere einzige Berufung. Ein heiliger Auftrag, meine Herren.«
Mehreren Offizieren einschließlich Charles fiel Bents überschwenglicher Gesichtsausdruck auf. Einige schüttelten den Kopf; Charles nicht. Nichts von alledem, was der Mann sagte, konnte ihn noch überraschen.
Während des Winters redete Charles nur mit Bent, wenn es die Pflicht gebot, und war deshalb eines Abends im April 1859 ziemlich überrascht, als es an seiner Tür klopfte und der Hauptmann in der milden Dämmerung stand.
Bent lächelte. »Guten Abend, Leutnant. Sind Sie bereit, einen Gast zu empfangen?«
»Natürlich, Sir. Treten Sie ein.«
Er trat zurück; die Anwesenheit des Hauptmanns spannte seine Nerven aufs äußerste. Bent stolzierte herein, und Charles schloß die Tür. Es roch nach Whiskey.
Bents Erscheinen verblüffte ihn. Der Hauptmann hatte sich in volle Uniform gestürzt, mit Säbel und allem, was dazugehörte. Er nahm den Hut ab. Er trug einen Mittelscheitel, sein pomadisiertes Haar glänzte. Er warf einen flüchtigen Blick auf einige große braune Fotos, die auf einem Stuhl lagen.
»Bilder von zu Hause?«
»Ja, Sir. Sie wurden bei einem Fest zum Jahrestag der Hochzeit meiner Kusine Ashton aufgenommen. Die meisten Leute stammen von benachbarten Plantagen.«
Er reichte Bent eine der Fotografien, um ihn auf die Probe zu stellen, deutete auf ein finsteres, bärtiges Gesicht und sagte vorsichtig: »Das ist mein Vetter, Orry Main. Er hat mich dazu ermutigt, die Akademie zu besuchen. Er selbst hat auch dort abgeschlossen. Ich glaube, etwa zu Ihrer Zeit.«
Bent preßte die Lippen zusammen, betrachtete das bärtige Gesicht, aber Charles bemerkte nicht die geringste Reaktion. Der Mann war ein guter Schauspieler; auch das machte ihn gefährlich.
»Ich erinnere mich vage an einen Kadetten namens Orry«, sagte Bent. »Ich habe ihn kaum gekannt. Sogar in jenen Tagen haben sich Yankees und Südstaatler nicht viel miteinander abgegeben.«
Der Hauptmann wollte das Bild eben zurückreichen, als etwas seine Aufmerksamkeit erneut erregte. Er klopfte mit dem Zeigefinger auf eine dunkelhaarige Frau, die am Rand der Gruppe stand. Ihrem starren Blick haftete etwas Lebloses an, und doch fand er sie atemberaubend schön.
»Welch schönes Geschöpf. Sie sieht irgendwie exotisch aus.«
Weshalb zum Teufel war der Hauptmann an Madeline LaMotte interessiert? Weshalb kam er überhaupt hierher?
»Sie ist Kreolin und stammt aus New Orleans.«
»Aha, deswegen.«
Bent fragte sich, in welchem Zusammenhang die Frau wohl mit den Mains stehen könnte. War sie durch Heirat mit ihnen verwandt oder handelte es sich lediglich um eine Nachbarin? Aber er mußte seine Neugier zügeln, denn wenn er Charles weiter Fragen stellte, könnten am Ende seine wahren Gefühle für Orry Main zutage treten. Er starrte noch einige Sekunden auf das hübsche Gesicht und gab Charles das Bild zurück.
Charles nahm die andern Fotografien vom Stuhl, und Bent setzte sich. Sein Blick ruhte auf dem jungen Mann. »Ich wollte Sie schon seit einiger Zeit besuchen, Leutnant, um Ihnen meinen Dank für Ihre Diskretion in den vergangenen Monaten abzustatten.«
Charles zuckte die Achseln, wie um zu sagen, daß der Hauptmann nichts anderes zu erwarten hatte.
»Aber Schweigen ist im wesentlichen negativ«, fuhr Bent fort. »Ich habe mich bemüht, unser Verhältnis auf ein Niveau der Freundschaft zu heben. Ich möchte in Zukunft mit Ihrer Freundschaft rechnen können.«
Mein Schweigen, dachte Charles; er macht sich also Sorgen. Er möchte eine Zusicherung, daß ich ihn weiterhin decke. Aber Charles fragte sich, ob damit alles erklärt sei.
Bent blickte ihn merkwürdig eindringlich an. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe und fügte hinzu: »Selbstverständlich können Sie auch auf meine Freundschaft zählen.«
Charles fühlte bei diesen Worten ein Unbehagen in sich aufsteigen, und auch der Tonfall kam ihm höchst befremdlich vor. Welche Falle verbarg sich hinter Bents schmeichlerischer Herzlichkeit? Er wußte es nicht, und diese Ungewißheit machte ihn nervös, als er entgegnete:
»Die Vergangenheit existiert nicht mehr, Hauptmann, und ich habe nicht die Absicht, sie wieder hervorzukramen.«
»Na sehr schön! Dann können wir wirklich Freunde werden. Ich habe einflußreiche Bekannte im Kriegsministerium, ja, eigentlich in ganz Washington. Sie waren meiner Laufbahn förderlich und könnten auch etwas für Ihre Karriere tun.«
Orry hatte Charles erklärt, weshalb Bent trotz seines schlechten Rufs immer wieder erfolgreich gewesen war. Charles nahm dem Hauptmann diesen plumpen Annäherungsversuch übel.
»Vielen Dank, Sir. Aber ich ziehe es vor, selbständig weiterzukommen.«
Bent sprang auf. Farbflecke traten auf seine Wangen. »Ein Mann kann immer Hilfe gebrauchen, Charles – « Er riß sich zusammen: Das war ihm eine Spur zu wütend herausgerutscht, aber er konnte nichts dafür. Einerseits stieß ihn der große, schlanke junge Offizier ab, weil er ein Main und ein Südstaatler war, andererseits fühlte er sich stark von ihm angezogen. So stark, daß er nach Wochen der Unentschlossenheit schließlich genügend Whiskey getrunken hatte, um den Mut für diesen Vorstoß aufzubringen.
Hatte Charles etwas davon bemerkt? Er hoffte es nicht und versuchte zu lächeln.
»Ich würde meinen, daß Sie weniger Hilfe nötig haben als die meisten. Sie sind wirklich ein Soldat, wie er im Buch steht.« Plötzlich ließ er trunken vor Erregung seinen Gefühlen freien Lauf und berührte Charles’ Unterarm. »Sie sind ein außerordentlich gut aussehender junger Mann.«
Sanft aber bestimmt zog Charles seinen Arm zurück.
»Sir, ich glaube, es ist besser, wenn Sie gehen.«
»Bitte, schlagen Sie nicht diesen Tonfall an! Waffenbrüder sollten einander helfen und Trost spenden, besonders an einem so einsamen und gottverlassenen Ort wie – «
»Hauptmann, gehen Sie, bevor ich Sie rausschmeiße!«
Leichenblaß setzte Bent seinen Hut auf und knallte die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht brannte.
Ein Koyote jaulte, als er in die Dunkelheit davonhastete, zum Mord entschlossen. Eines Tages würde er es tun, bei Gott.
Charles hatte geglaubt, daß Bent ihn nicht mehr schockieren könne. Welch fataler Irrtum!
Dieser Zwischenfall war mehr als eine bloße Bestätigung der Gerüchte über die sexuellen Neigungen des Hauptmanns. Es war ein Beweis dafür, daß Bents eigenartige Triebe mit seinen Haßgefühlen koexistierten, und je nach Stimmung und Alkoholmenge überwog der eine oder der andere Aspekt. Mit dieser Erkenntnis setzte Charles dem Bild, das er sich von Bents Wahnsinn machte, einen letzten widerlichen Klecks hinzu.
Sein Zimmer kam ihm plötzlich eng vor. Er zog sein bestes Hemd über, stopfte es in die Hose und stapfte zum Stall, um nach seinem Pferd zu sehen. Die nächtlichen Geräusche des Camps – die Rufe der Wachposten, ein Käuzchen im Frühlingswind – beruhigten seine Nerven wieder.
Vor dem Stall blieb er stehen und betrachtete den Sternenhimmel. Dabei atmete er den kräftigen Geruch von Heu, Stallmist und Pferden ein und fühlte sich wie gereinigt. Immer wieder würde ihn dieser Geruch an Texas und an die Armee erinnern; er liebte beide.
Er dachte wieder an Bent und wurde von einem unerwarteten Gefühl des Mitleids gepackt. Was mußte das für ein Gefühl sein, in diesem elefantösen Körper gefangen zu sein mit Würmern, die dauernd an der geistigen Gesundheit nagten? Das Mitleid verstärkte sich, doch dann gewann eine klare und stille Warnung die Oberhand:
Besser nicht zuviel Mitleid mit einem Mann, der dich im nüchternen Zustand liebend gerne ermorden würde.
Damit rückten die Dinge wieder in die richtige Perspektive. Charles war sich darüber im klaren, daß er weiterhin wachsam sein mußte, bis zum Tag, da sich ihre Wege trennen würden. Und dieser Tag mußte kommen! Er holte erneut tief Atem und erfreute sich an den süßen Düften dieser Nacht in Texas. Pfeifend betrat er den Stall.
51
In jenem Sommer und Herbst 1859 konnte Orry beobachten, wie sich das Sezessionsfieber seuchenartig ausbreitete. Huntoon bereiste ganz Südkarolina sowie einige Nachbarstaaten und hielt Ansprachen in Kirchen, bei Privatfesten und in öffentlichen Gebäuden. Er bewarb sich um die Mitgliedschaft bei der ›African Labor Supply Association‹, die sich für die Wiederherstellung des Sklavenhandels einsetzte. Huntoon befürwortete weiterhin eine eigene Regierung für den Süden, wobei er alle möglichen Begründungen vorbrachte, angefangen bei Sewards ›offenem Konflikt‹ bis zu Argumenten, die er Hinton Helpers Buch entnahm, ohne natürlich jemals seine Quelle zu verraten.
Orry bewunderte die unermüdliche Energie seines Schwagers, wenn auch nicht unbedingt dessen Ansichten. Er bewunderte auch Ashton, die ihren Gatten überallhin begleitete.
Im Herbst fiel Orry eine interessante und vielleicht nicht unbedeutende Entwicklung auf. In Columbia wandte sich Senator Wade Hampton in einer Ansprache an den Staat und plädierte für die Erhaltung der Union und gegen die Wiederaufnahme des Sklavenhandels. Seine Äußerungen wurden überall bekanntgemacht und beinahe einmütig von der Pflanzeraristokratie verworfen. Er fiel sozusagen über Nacht in Ungnade, während Huntoon immer beliebter wurde.
Cooper, der die eine Hälfte seiner Zeit in seiner Werft auf James Island und die andere in den Räumlichkeiten der Demokratischen Partei verbrachte, übermittelte die Frohbotschaft, daß zu Beginn des nächsten Jahres mit dem Bau der riesigen Star of Carolina begonnen würde. Orry beschloß, George diese Nachricht persönlich zu überbringen. Er vermißte seinen besten Freund und freute sich unbändig darauf, ihn wiederzusehen.
Als Brett von seiner Reise hörte, bat sie ihn, mitkommen zu dürfen. Sie hatte vor, von Pennsylvania aus nach St. Louis weiterzufahren, wo sie Billy – in Begleitung ihres Bruders – einen Besuch abstatten könnte. Orry war über die Aussicht einer solch langen Reise nicht gerade begeistert, aber er konnte verstehen, daß Brett Sehnsucht nach ihrem Billy hatte, und gab deshalb ohne lange Diskussion nach.
Sie waren noch nicht sehr weit gekommen, als er seine Entscheidung, eine Reise zu unternehmen, bereits bedauerte. In North Carolina, wo sie zum erstenmal umsteigen mußten, bat er den Bahnhofsvorstand um einen Fahrplan.
»Haben wir nicht«, sagte der Mann mit dem für den Staat typischen Nasalakzent.
»Können Sie mir dann bitte sagen, wann unser Zug in…?« Er brauchte den Satz nicht mehr zu beenden, denn der Mann hatte einfach kehrtgemacht und war weggegangen.
Mißmutig schlenderte Orry zur Bank zurück, wo Brett sich niedergelassen hatte. »Man scheint hier etwas gegen Fragen zu haben. Oder gegen Leute aus South Carolina.« In North Carolina waren viele gegen die Sklaverei, und wahrscheinlich hatte der Mann Orrys Akzent erkannt.
Auf der nächsten Etappe ihrer Reise schaffte es ein schwarzer Gepäckträger – ein befreiter Sklave –, einen von Bretts Koffern fallenzulassen, es war genau jener, bei dem sie ihn um besondere Sorgfalt gebeten hatte. Er enthielt nämlich einige zerbrechliche Geschenke für Lehigh Station. Das Mißgeschick ereignete sich, als der Neger das Gepäckstück vom Gepäcknetz herunternahm. Den Tränen nahe, wickelte Brett einen gläsernen Pelikan aus, den sie für Constance gekauft hatte. Das dekorative Stück war in drei Teile zerbrochen.
»Es tut mir wirklich leid, Ma’am«, sagte der Gepäckträger, aber Orry bemerkte ein böswilliges Funkeln in den Augen des Mannes.
In Petersburg, Virginia, kam ein neuer Schaffner an Bord. Orry zeigte die Fahrkarten vor, die den Stempel der Ausgabestation in Charleston trugen. Der Schaffner schlug plötzlich einen sehr amtlichen Ton an. »In Washington und dann in Baltimore umsteigen«, sagte er mit einem Akzent, der auf Neu-England schließen ließ.
»Danke«, sagte Orry. »Wir haben sieben Gepäckstücke. Werde ich in Washington einen Gepäckträger auftreiben können?«
»Tut mir leid, das weiß ich nicht. Ich habe nichts mit Gepäckträgern zu tun. Vielleicht hätten Sie einen Ihrer Niggersklaven mitnehmen sollen.«
Orry stand langsam auf; er war gut einen halben Kopf größer als der Schaffner, der sofort eine etwas manierlichere Haltung einnahm. »Ich bin empört über Ihre Unverschämtheit«, sagte Orry. »Meines Erachtens habe ich nichts getan, das eine solche Unhöflichkeit rechtfertigen könnte«, er schwenkte die Fahrkarten, »es sei denn, daß Sie es als Ärgernis betrachten, wenn man aus dem Süden kommt.«
»Bitte Orry«, flüsterte Brett, »wir wollen kein Aufsehen.«
Der Schaffner benützte die Gelegenheit und verschwand. »Ich schicke Ihnen den für diesen Wagen zuständigen Dienstmann«, rief er ihnen zu, als er in der Tür am Ende des Erstklaßwagens verschwand.
Sie sahen ihn nicht wieder. Den Dienstmann natürlich auch nicht.
Der Zug ratterte in der herbstlichen Abendsonne in Richtung Richmond. Orry starrte durch das schmutzige Fenster hinaus. »Weshalb zum Teufel haben wir soviel Schwierigkeiten? Liegt es an mir? Fordere ich sie heraus?«
Brett klappte ihr Buch zu. Mit einem traurigen Blick auf ihren Bruder sagte sie: »Nein – es sei denn, dein Carolina-Akzent.«
»Bist du sicher, daß ich nicht an irgendeinem Verfolgungswahn leide?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist mir aufgefallen, daß man uns ganz anders behandelt als früher. Ganz anders als zum Beispiel in Newport. Damals waren die Leute freundlich. Jetzt nicht mehr.«
»Aber in Virginia und North Carolina sind wir doch noch im Süden!«
»Nicht im tiefen Süden; nicht im Baumwoll-Süden. In beiden Staaten gibt es viele Männer und Frauen, die eher Yankees als Südstaatler sind. Das ist der Unterschied.«
Dann widmete sie sich wieder ihrer Lektüre. Orry reagierte auf die feindselige Haltung, die ihnen entgegenschlug. Als sie in Baltimore ankamen, hatte sich seine düstere Stimmung mitnichten gelegt.
Von der Camden Street mußten sie sich zum Bahnhof der Philadelphia-Wilmington-Baltimore-Linie begeben. Brett freute sich über die Fahrt mit der Pferdekutsche, aber Orry war viel zu hungrig. Er mußte unbedingt etwas essen, bevor ihr nächster Zug ging.
Die Eisenbahnverwaltungen ließen zwar immer wieder verlauten, daß demnächst alle Züge mit Speisewagen ausgerüstet sein würden, aber bis dahin war dies nur bei wenigen Zügen der Fall. Die Alternative war nicht sonderlich attraktiv. Man konnte entweder etwas von den fliegenden Händlern kaufen, die den Zug entlang liefen und ihre Ware feilboten, oder mit stoischer Gelassenheit in eines der schäbigen Bahnhofrestaurants eintreten und sich mit einer schlechten Mahlzeit zufriedengeben. Orry entschied sich in Baltimore für die letztere Variante.
Er hielt Brett die Tür zum Eßsaal offen. Sie hob ihre Röcke hoch, wollte über die Schwelle treten und warf rasch einen Blick auf die Theke und die darum herum stehenden Tische. Lauter Männer, die ihr kühne, fast beleidigende Blicke zuwarfen. In Orry stieg bereits Zorn hoch. Brett schüttelte den Kopf.
»Ich hab’ eigentlich keinen Hunger, Orry. Ich werde hier draußen auf der Bank auf dich warten. Mach dir keine Sorgen.«
Er half ihr, sich auf der Bank niederzulassen, und betrat dann das Restaurant. Überall unterhielt man sich lärmend. Er spähte durch den Saal, bemerkte einen leeren Tisch und setzte sich hin.
Er bestellte geräuchertes Schweinefleisch mit weißen Rüben und Maiskuchen. Dann zog er die kleine Bibel aus der Tasche, die er in letzter Zeit fast immer bei sich trug; wieder und wieder las er das Hohelied von Salomo, weil ihn so viele Verse an Madeline erinnerten. Seit dem Fest zum Jahrestag der Hochzeit von Ashton hatte er nicht mehr mit ihr reden können. Sie hatten sich damals kurz und förmlich unterhalten; sie war nicht sie selbst und wirkte irgendwie der Realität entrückt. Er hatte sich bei Justin erkundigt, ob sie krank gewesen sei, aber Justin hatte bloß gelächelt.
Orry beugte sich über die offene Bibel. Wenige Minuten später knallte der Kellner ihm einen Teller auf den Tisch. Er brachte es ebenfalls fertig, etwas von dem Kaffee, den Orry bestellt hatte, zu verschütten. Orry hielt sich unter Kontrolle.
Er versuchte während des Essens zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren; die Stimmen am Nachbartisch waren zu laut. Schließlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und hörte dem Gespräch zu.
»Das ist alles, worüber die verdammten Südstaatler reden können, eine eigene Regierung.« Der Redner war der älteste Mann einer Dreiergruppe, ein hohlwangiger Typ mit Kinnbart. »Von mir aus, sollen sie sie haben! Sollen sie doch in das Boot mit dem Leck einsteigen und untergehen.«
»Verdammt noch mal, nein!« schrie ein Mann mit einer Hakennase, der tölpelhafte Typ des Handlungsreisenden. »Jeder, der so etwas sagt oder sich damit einverstanden erklärt, sollte gehängt werden, und zwar hoch genug, damit alle sehen können, wie ein Verräter aussieht.«
»Das stimmt«, sagte ein unscheinbarer Mann in mittleren Jahren.
Orry war klar, daß es sich bei den drei Männern um Grobiane handelte, die untereinander Bestätigung suchten. Er wußte, daß er sich ruhig verhalten und keinen Ärger erregen sollte. Doch all die Böswilligkeiten, denen er im Lauf des Tages ausgesetzt gewesen war, ließen ihn seine Vorsicht über Bord werfen. Er setzte seine Kaffeetasse gerade laut genug auf dem Tisch auf, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Aber meine Herren«, sagte er mit einem kühlen Lächeln, »das klingt ja so, als ob Sie persönlich durch eine friedliche Regierung des Südens bedroht wären. Ich habe zwar auch nicht viel für die Idee übrig, aber ich würde es doch nicht Verrat nennen. Es ist bloß Blödheit – die man zwar begreifen kann. Der Süden hat während einer ganzen Generation unter Beleidigungen und Verleumdungen gelitten.«
Wenn jemand mit Orry einverstanden war, ließ er sich nichts anmerken. Der Kerl mit dem Kinnbart fragte: »Aus welchem Staat kommen Sie, Sir?«
»South Carolina.«
Der Mann lehnte sich auf den Silberknauf seines Spazierstocks und lächelte selbstgefällig. »Das hab’ ich mir gedacht.«
Der Mann mit der Hakennase fügte scharf hinzu: »Lesen Sie die Verfassung – und dann werden Sie wissen, daß Sezession Verrat ist. Ihr Burschen aus den Baumwollstaaten bedroht uns ja schon seit Jahren damit! Macht nur weiter so. Nur weiter! Aber wenn Ihr nicht aufhören könnt, steht es Buck Buchanan rechtmäßig zu, Euch in Ketten zu legen. Oder aufzuhängen!«
Ein Mann in der Nähe sagte: »Amen.«
Orry fielen die feindseligen Gesichter an der Theke auf. Zwei stämmige Burschen in schmutzigen Überkleidern. Offensichtlich Weichensteller, den dicken Knüppeln nach zu schließen, die auf ihren Knien lagen.
»Hol’s der Teufel«, kicherte einer der beiden, »das würde Old Buck nie tun, dieser Gimpel.«
Der Mann, der Amen gesagt hatte, pflichtete ihm bei. »Dann soll sie die Armee hängen«, schlug ein anderer vor. Draußen wurden die Passagiere für den Zug nach Philadelphia aufgerufen.
»Das funktioniert nicht«, sagte die Hakennase. »Die Armee wird ja vom West-Point-Pöbel regiert. Die meisten sind Südstaatler. Und wenn sie vor die Wahl gestellt werden, ihrem Eid, das Land zu verteidigen, treu zu bleiben oder eine Regierung zum Schutz ihrer Nigger aufzustellen, dann ist ja klar, wofür sie sich entscheiden werden.«
Orry hämmerte das Blut in den Schläfen. Sein Hemd fühlte sich unter seinem Mantel schweißdurchnäßt an. Er legte die Hand auf die Bibel.
»Passen Sie auf, was Sie sagen, Sir.«
»He, was soll das?« rief die Hakennase und sprang derart heftig auf, daß der Stuhl umkippte. Die beiden Weichensteller traten mit ihren Knüppeln in der Hand hinter ihn. Zwei Kunden schmissen ihr Geld auf den Tisch und verschwanden eilends.
Orry stand ganz langsam auf. Als die Hakennase sah, wie groß er war und wie wild er dreinblickte, trat er zurück.
»Ich habe gesagt, daß Sie aufpassen sollten, was Sie über die Militärakademie sagen. Ich habe in West Point abgeschlossen, und ich habe in Mexiko gekämpft.« Er neigte den Kopf zu seinem leeren linken Ärmel hinunter. »Ich habe für das ganze Land gekämpft. Auch für die Yankees.«
»Stimmt das wirklich?« sagte der Hakennasige aufgebracht. »Nun, Sir, ich behaupte immer noch, daß Ihr West-Point-Aristokraten eine sezessionistische Ader habt, die mindestens einen Kilometer lang ist.«
Zwischenrufe und Beifall. Einer der Weichensteller spähte über die Schulter des Hakennasigen. »Vielleicht verpaßt dieser Gentleman aus dem Süden seinen Zug? Vielleicht muß er sich in Baltimore einen neuen Mantel kaufen!«
Die Hakennase fing an zu grinsen. Orry warf einen hastigen Blick auf die ihn umringenden Gesichter. Alle feindselig. Sein Magen schmerzte. Die Weichensteller kamen langsam auf ihn zu.
Ein Geräusch, das hinter der Theke herkam, gebot ihnen Einhalt. An der Küchentür stand ein Mann mit einem Gewehr im Anschlag.
»Falls hier jemand neue Mäntel austeilen will, muß er mich auch mit einem versehen.« Er wandte sich an Orry. »Ich stamme aus Baltimore. Bin hier geboren und aufgewachsen. Es tut mir leid, daß man Sie in unsrer Stadt so schlecht empfangen hat.«
»Orry?«
Bretts Stimme kam von der Tür her. Sie rannte auf ihn zu. Der Bahnhof Vorsteher rief erneut die Passagiere für den Philadelphia-Expreß auf.
»Orry, ich möchte den Zug nicht verpassen. Komm!«
Der Hakennasige brüllte: »Aha, das kleine Fräulein kämpft wohl für Sie? Wie kommen Sie überhaupt zu ihr? Ich hab’ immer geglaubt, daß Ihr Jungs aus den Baumwollstaaten eine Vorliebe für schwarze Haut habt!«
Da schlug Orry zu. Ein heftiger, aber ungezielter Schlag direkt in die Magengrube des Hakennasigen. Einer der Weichensteller hielt ihn, damit er nicht zusammenklappte, der andere hob seinen Knüppel, aber der Mann mit dem Gewehr rief ihm eine Warnung zu.
Der Mann mit der Hakennase gab einige stöhnende Laute von sich, krümmte sich zusammen, torkelte rückwärts und fiel dann über seinen umgekippten Stuhl. Orry hielt die Faust so fest geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Er warf dem Pöbel einen zornentbrannten Blick zu.
»Orry, so komm doch!« Brett zupfte ihn am Ärmel.
»Der Philadelphia-Expreß – letzter Aufruf!« Die Stentorstimme hallte durch den ganzen Bahnhof.
Damit war die Spannung gebrochen, und alles eilte zur Tür. Orry nickte dem Mann mit dem Gewehr dankend zu, drehte sich um und ging dann widerwillig auf den Bahnsteig hinaus.
Der Expreß ratterte in Richtung Wilmington. Orry sagte mit einer Mischung aus Wut und Traurigkeit:
»Ich wußte nicht, daß die Feindschaft schon solche Ausmaße angenommen hat. Männer sind bereit, in der Öffentlichkeit aufeinander loszugehen. Unglaublich.«
Er war bestürzt über seine frühere Naivität. Die Situation im ganzen Land war weitaus schlimmer, als er es sich je vorgestellt hatte. Nur Idioten konnten behaupten, eine friedliche Trennung der Staaten sei möglich.
»Ich bin froh, daß wir rechtzeitig gegangen sind«, sagte Brett. »Du hättest schwer verletzt werden können. Und das für nichts und wieder nichts.«
Seine Hand fühlte sich immer noch etwas flau an von dem Schlag, den er dem Mann im karierten Anzug versetzt hatte. Er betrachtete seine Knöchel. »Ja, vermutlich hast du recht. Aber ich renne nicht gern vor einem Kampf davon.«
Sie versuchte, seine düstere Stimmung etwas zu heben, indem sie sagte: »Ja, aber du ranntest, um den Zug zu erwischen.«
Mißmutig brummte er vor sich hin: »Verdammtes Yankee-Pack.«
»Orry, wenn du so redest, bist du keinen Deut besser als diese Esel im Restaurant.«
»Ich weiß. Aber komisch – es ist mir eigentlich egal.« Er holte tief Atem. »Ich hab’ etwas dagegen, mich wie ein Gentleman benehmen zu müssen. Ich hasse es, Fersengeld geben zu müssen. Ich werde es nie wieder tun.«
In Belvedere wurden die Gäste aus dem Süden herzlich empfangen. Sie überreichten ihre Geschenke – Brett versprach Constance einen Ersatz für den zerbrochenen Pelikan –, wunderten sich darüber, wie sehr die Kinder gewachsen waren, und gingen schließlich nach einem herrlichen Entenschmaus dankbar zu Bett. Orry schlief während neun Stunden, fühlte sich aber nicht ausgeruht, als er aufwachte.
»Ich kann es kaum erwarten, dir den Bessemer-Konverter zu zeigen«, sagte George beim Frühstück. Er war voller Energie und Begeisterung, was merkwürdigerweise Orrys trübe Stimmung nur verstärkte. Aber George hatte nichts Falsches getan. Der ganze Norden hatte Orry beleidigt. Er hoffte, daß die Stimmung verfliegen würde und nicht das ganze Treffen verderben würde.
George zündete sich seine zweite Vormittagszigarre an. »Sobald du fertig bist, sehen wir uns das Ding an. Ich zahle zwar eine recht hohe Lizenzgebühr, aber ich vermute, daß sich die Investition, langfristig gesehen, lohnen wird.«
»Das klingt nicht sehr überzeugend«, sagte Orry.
»O doch – bis zu einem gewissen Grad. Die Zeiteinsparung ist enorm, aber wir haben noch ein Problem mit dem ganzen Verfahren. Ich werd’s dir zeigen.«
Orry hatte keine Lust, durch das ganze rauchende und stinkende Hazard-Werk zu fahren, sich in eine Fabrikhalle zu begeben und dort ein eiförmiges, sich um eine Achse drehendes Gebilde zu betrachten. Aber er tat es seinem Freund zuliebe.
Die Arbeiter waren eben mit einem Guß fertig geworden und ließen den Konverter in eine Rinne im Boden hinunter. Der Stahl floß wie ein Lichtband dahin.
Wie ein stolzer Vater sagte George: »Ein Kerl in Wales hat das schwierigste Problem von Bessemer gelöst. Hat Cooper dir schon davon erzählt?«
»Ja, aber ich habe das meiste nicht begriffen.« Dem Tonfall nach war es ihm offensichtlich egal.
George reagierte erst enttäuscht, dann leicht verärgert, aber nur während wenigen Sekunden. »Bessemer stellte Roheisen her, das er entkohlte. Somit war aber kein Kohlenstoff mehr für die Umwandlung in Stahl vorhanden, und er wußte nicht, wie er den Kohlenstoff wieder zusetzen könnte. Der Waliser experimentierte mit Kohle und Manganoxid. Dann versuchte er es mit einer Mischung, die die Deutschen Spiegeleisen nennen – Eisen, Kohlenstoff und etwas Mangan. Damit klappte es. Während nun Bessemer und der Waliser sich darüber in den Haaren liegen, wer wem was schuldet, experimentiere ich mit dem Spiegeleisen und zahle gleichzeitig eine Gebühr an Bessemer, obwohl er sein amerikanisches Patent immer noch nicht hat. Ich bin aber noch nicht ganz davon überzeugt, daß das Verfahren wirklich zweckmäßig ist.«
»Warum nicht?«
»Man muß zuviel dabei spekulieren. Der Kohlenstoffgehalt kann nur anhand der Farbe der Konverterflamme beurteilt werden. Aber mit dieser Methode kann man sich nicht auf eine bestimmte, fortgesetzte Güte des Stahls verlassen. Es gibt da noch jemanden, der eine vielleicht bessere Methode als diejenige von Bessemer entwickelt hat, ein in Deutschland geborener Engländer namens Karl Siemens. Ich habe ihm geschrieben – aber nicht wahr, Orry, das interessiert dich sicher alles überhaupt nicht?«
»Doch, natürlich.«
George schüttelte den Kopf. »Komm, laß uns nach draußen gehen, wo es kühler ist.«
Als sie draußen waren, blickte er seinen Freund besorgt an. »Du scheinst verändert, seit du hier bist. Was ist los?«
»Ich weiß nicht.«
Er wußte es, aber er konnte es nicht aussprechen. Er war wütend auf seinen Freund, aus dem einfachen Grund, weil dieser ein Yankee war.
Um zwei Uhr nahmen die Hazards das Mittagessen ein. Orry war angespannt und verärgert. Er informierte George zwar über den Stand der Arbeiten an der Star of Carolina, aber er kam ihm dabei immer wieder wie ein Fremder vor. Es schien unvorstellbar, daß sie einander früher einmal mit solch lächerlichen Namen wie Stumpf und Stiel betitelt hatten. In diesen grimmigen Zeiten gab es keinen Raum mehr für Spitznamen oder Gelächter. Vielleicht auch nicht mehr für eine Freundschaft?
»Das klingt alles ausgezeichnet«, sagte George, als Orry mit seinem Bericht zu Ende war. »Ich freue mich über den Fortschritt.« Er zündete sich eine Zigarre an.
Orry mußte husten und fuchtelte mit der Hand in der Rauchwolke herum. George runzelte die Stirn und murmelte eine Entschuldigung. Aber er löschte die Zigarre nicht aus, sondern nahm sie bloß in die andere Hand.
Nach einem verlegenen Schweigen fragte Orry: »Du hast mir nie geschrieben, wie du auf die Nachricht, daß Elkanah Bent in Texas ist, reagiert hast.«
»Ich war wie vom Donner gerührt, als du es in jenem Brief erwähntest. Ich hatte ihn vollkommen vergessen.«
»Tja, aber er hat uns nicht vergessen. Wenn Bent mich immer noch haßt und diesen Haß sogar auf meinen Vetter überträgt, könnte es dir ähnlich ergehen.«
Sein Freund lachte kurz und trocken. »Er soll ruhig nach Lehigh Station kommen! Ich werde ihm einen unvergeßlichen Empfang bereiten.«
»Ich habe eher an deinen Bruder Billy gedacht. Er ist ja immer noch in der Armee.«
George machte eine abwehrende Handbewegung mit der Zigarre.
»Oh, ich habe ihm davon erzählt, gleich nachdem ich deinen Brief bekommen hatte. Aber ich habe ihm geraten, seine Zeit nicht mit Sorgen wegen irgendeines Wahnsinnigen zu vergeuden, zumindest so lange nicht, bis seine Wege diejenigen des niederträchtigen Hauptmanns Bent kreuzen. Auch du solltest dir keine Sorgen machen. Gott, ich kann es nicht fassen, daß die Armee ihm immer noch nicht auf die Schliche gekommen ist«, fügte er mit einem Kopfschütteln hinzu.
Die nonchalante Art und Weise, mit der George das Thema vom Tisch fegte, ärgerte Orry noch mehr. Glücklicherweise wurden sie abgelenkt. William, ein hübscher Knabe, der eine starke Ähnlichkeit mit seinem Vater aufwies, war in den letzten paar Minuten ganz aufgeregt geworden. Schließlich platzte er mit der Frage heraus:
»Erzähl mir, wie Charles mit den Indianern kämpft!«
»Das war letztes Jahr«, gab Orry etwas heftig zurück. »Er ist jetzt am Rio Grande und jagt dort einen mexikanischen Banditen namens Cortinas. Ich habe deinem Vater alles im letzten Brief darüber geschrieben – frag ihn.«
Der junge William merkte, daß Orry verärgert war, und Orry merkte, daß er den Knaben verwirrt hatte. Um es wiedergutzumachen, erzählte er dem Knaben alles, was er über die Verfolgungsjagd der Zweiten Kavallerie wußte. Die ein Jahr jüngere Patricia war nicht an diesem Thema interessiert. Sie, Brett und Constance fingen an, über Mode zu reden, insbesondere über das Kleid von Charles Worth in Paris, das Constance für einen Wohltätigkeitsball bestellt hatte. Mit dem ersten Ball dieser Art in Lehigh Station sollten Gelder für ein Schulhaus zusammengebracht werden.
»Das Kleid ist viel zu elegant für einen solchen Anlaß.« Constance lachte. »Aber es gefällt mir außerordentlich gut, und George bestand darauf, daß ich es kaufe. Aber ich befürchte, daß die Damen dieser Gegend hinter meinem Rücken tuscheln werden.«
»Eifersüchtig«, fügte George hinzu. Orry war neidisch auf die liebevollen Blicke, die die beiden austauschten.
»Besonders Tante Isabel«, sagte Patricia.
»Wie geht es Stanley und seiner Frau?« fragte Orry.
Patricia antwortete, indem sie die Zunge herausstreckte und eine Grimasse schnitt. Constance gab ihrer Tochter einen leichten Klaps auf den Handrücken und schüttelte den Kopf.
George meinte: »Wir sehen sie kaum noch. Stanley ist dick mit Boß Cameron befreundet, und Isabel hat ihre eigenen Bekannten. Dem Himmel sei’s gedankt: Um der Bibel und Lincoln zu widersprechen – unser Haus ist in sich selbst entzweit, aber es hat trotzdem noch Bestand.«
Constance lächelte traurig. »Aber da gibt es einen Unterschied, Liebster. Stanley und Isabel haben sich nicht freiwillig von uns zurückgezogen: Du hast sie rausgeschmissen.«
»Das stimmt, aber – « George und die andern wurden von einem Geräusch aus dem Eßzimmer abgelenkt. »Oh, Virgilia.«
Hastig schob Orry seinen Stuhl zurück und stand auf. »Guten Abend, Virgilia.«
»Guten Abend, Orry«, entgegnete sie und rauschte auf einen leeren Stuhl zu. Sie benahm sich, als hätte sie einen Pestkranken begrüßt.
»Ich wußte nicht, daß Sie zu Besuch weilen«, sagte Orry und setzte sich wieder. Er war über Virgilias Aussehen schockiert. Sie schien seit ihrer letzten Begegnung um über zehn Jahre gealtert. Ihre Haut war gelblich verfärbt, ihr Kleid schmutzig und zerknittert, ihr Haar wirr und ihre tiefliegenden Augen, um die sich Schattenringe abzeichneten, glimmten intensiv.
»Ich bin heute morgen angekommen.« Wie immer, wenn sie sich äußerte, wurde daraus eine Art Deklaration. Orry fragte sich, was ihr Nigger-Liebhaber wohl machte, Grady, der entlaufene Sklave. Gerüchte ihrer Liaison, die mit der Zeit immer sensationslüsterner geworden waren, waren bis nach Charleston vorgedrungen. Natürlich war jedermann skandalisiert. Ob sie noch immer mit ihm zusammenlebte? Aber Orry hatte nicht die Absicht, sie danach zu fragen.
»Morgen werde ich nach Chambersburg reisen«, fuhr sie fort. Irritiert machte sie einer der Dienerinnen, die an der Wand standen, ein Zeichen. Das Mädchen eilte dienstfertig herbei, um Virgilia die Suppe aufzutragen.
Virgilias Blick ruhte auf Orry. Laß dich nicht von ihr provozieren, sagte er sich. Aber es war schwierig, die Warnung zu beachten, denn Virgilia hatte ihn schon zu oft zur Weißglut gebracht. In Anbetracht seiner gegenwärtigen Gemütsverfassung wäre es leicht möglich.
Brett beobachtete die beiden aufmerksam, als Virgilia hinzufügte: »Ich helfe einem Abolitionisten bei seiner Arbeit. Er heißt Brown. John Brown aus Osawatomie.«
Orry hatte natürlich schon von Brown gehört. Wer nicht? In der Wochenzeitschrift Harper’s Weekly war der Mann mit dem hageren Gesicht und dem langen weißen Bart abgebildet worden. Er stammte aus Connecticut und war schon seit längerer Zeit als Abolitionist tätig. Aber berühmt war er erst in Kansas geworden, wo er mit fünf seiner Söhne mehrere blutige Kämpfe für den ›Freien Boden‹ geführt hatte. 1856 hatten Männer unter Browns Kommando fünf sklavenhaltende Siedler umgebracht – die Aktion war als Pottawatomie-Massaker in die Geschichte eingegangen. Vor kurzem hatte er im Nordosten Vorträge gehalten, um Gelder für irgendeines seiner verrückten Vorhaben zusammenzubringen – eine provisorische Regierung, die er in Kanada proklamiert hatte. Browns Sündenregister und Virgilias herausfordernder Blick veranlaßten Orry zu einer barschen Antwort:
»Ich kann nicht begreifen, wie jemand einem Mörder helfen kann.«
Brett und Constance tauschten ängstliche Blicke aus. Virgilia schürzte die Lippen.
»Es war zu erwarten, daß Sie so was sagen würden. Leute, die die Wahrheit über die Sklaverei im Süden sagen, werden meistens beschimpft und in Mißkredit gebracht. Nun, Sie und Ihre ganze Sippe im Süden sollten sich die Warnungen zu Herzen nehmen, denn Ihren Grausamkeiten und geheimen Zuchtfarmen wird bald ein Ende gesetzt werden.«
»Was zum Teufel soll das heißen?«
»Es wird nicht mehr lange dauern, und dann wird ein Messias Ihre Sklaven in eine große Revolution führen. Jeder weiße Mann, der sich dagegenstellt, wird umkommen.«
Alle schwiegen völlig schockiert. Sogar Brett war aufgebracht. Orrys Wut, die schon seit Tagen schwelte, kam nun offen zum Ausbruch. Er stieß den Stuhl vom Tisch weg und sagte steif zu George: »Bitte, entschuldigt mich.«
Constance warf ihrer Schwägerin einen vernichtenden Blick zu. Dann wandte sie sich an Orry. »Nicht du solltest gehen.«
Virgilia lächelte. »Aber natürlich. Die Südstaatler können die Wahrheit nicht ertragen.«
Orry ballte hinter dem Stuhl seine Hand zur Faust. »Welche Wahrheit? Ich habe noch nichts davon an diesem Tisch gehört. Ich habe es mehr als satt, mich so behandeln zu lassen, als wäre ich persönlich für jeden Fehler verantwortlich, den der Süden begangen hat – ob es sich nun um echte Fehler handelt oder um solche, die Sie sich mit Ihrer kranken Phantasie einbilden.«
Georges Gesicht wechselte die Farbe. »Orry, das ist etwas stark!«
Orry hörte ihn kaum. »Zuchtfarmen! Wie kommen Sie auf solche Ideen? Von Ihren Groschenromanen?« George zuckte bei dieser Anspielung auf Pornographie erneut zusammen, aber Orry erhob die Stimme. »Finden Sie Gefallen daran? Erregen sie Sie? Reden Sie deshalb immer wieder davon?«
Er nahm noch knapp wahr, daß Constance die Kinder aus dem Zimmer bugsierte. Virgilia setzte ein cherubinisches Lächeln auf. »Es ist völlig klar, daß diejenigen, die das Böse immer wieder unterstützen, es leugnen müssen.«
Das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Er konnte und wollte ihre selbstgefällige Stimme nicht länger hören. Ohne sich länger zu beherrschen, schleuderte er ihr wütend ins Gesicht: »Frau, Sie sind verrückt!«
»Und Sie und Ihre Sippe, Ihr seid erledigt.«
»Halten Sie den Mund!« schrie er. »Halten Sie den Mund und gehen Sie zurück zu Ihrem Nigger-Liebhaber, wo Sie hingehören!«
Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als ihn die Scham überwältigte. Er hatte das Gefühl, im Boden versinken zu müssen. Hatte er eben noch alles verschwommen gesehen, so sah er die Gesichter um ihn herum jetzt klar und deutlich. Es waren wütende Gesichter. Am wütendsten war wohl George, der mit einer heftigen Bewegung die Zigarre aus dem Mund genommen hatte und sie nun derart kräftig drückte, daß das dunkelgrüne Papier riß.
Virgilia rang um ihre Fassung und gab sich große Mühe, ihr falsches Lächeln beizubehalten, und Brett starrte finster vor sich hin. Wieder einmal war es Constance, die versuchte, den Frieden wiederherzustellen:
»Ich glaube, Virgilia, du bist zu heftig gewesen.«
Sie starrte Georges Frau mit einem kalten Blick an. »Findest du?«
»Wäre es so schwierig, dich zu entschuldigen?«
»Schwierig nicht – aber unnötig.«
Orry hätte am liebsten sein Weinglas gepackt und ihr den Inhalt ins Gesicht geleert. Trotz der Scham überwog sein verletzter Stolz. Diese Leute provozierten, urteilten und verurteilten ein ganzes soziales System und warfen dabei Gut und Böse unterschiedslos in einen Topf. Es war unerträglich.
Er bemerkte den grollenden Blick von George und brauste auf: »Du zumindest könntest gegen ihr Verhalten Einspruch erheben!«
George warf seine zerbrochene Zigarre auf den Tisch. »Ich erhebe Einspruch gegen ihre Wortwahl, aber sie steht auf der richtigen Seite.«
Georges Feindseligkeit fuhr wie ein Speer durch Orry hindurch. Die so lange gefürchtete Spaltung schien nun unvermeidbar. Er riß sich zusammen, straffte die Schultern und sagte mit betonter Eindringlichkeit:
»Ich glaube nicht, Sir, daß es dem noch irgend etwas hinzuzufügen gibt.«
»Nein«, sagte George, »ich glaube nicht.«
Orry sah ihn an. Es war unmöglich, die Wut, die er auf dem Gesicht von George sah – und die er in sich selbst verspürte –, zu leugnen. Niemals zuvor waren George Hazard und er Feinde gewesen – jetzt waren sie es.
»Ich hole meinen Hut«, sagte er zu seiner Schwester. »Wir gehen.«
Brett war überhaupt nicht darauf gefaßt gewesen und hatte die Sprache verloren. Er trat neben sie, faßte sie am Ellbogen und schob sie in die Halle.
»Darf ich darum bitten, daß man unser Gepäck ins Hotel bringen läßt«, sagte er, ohne sich umzuwenden. Sekunden später fiel die Tür ins Schloß.
Nur Virgilia lächelte.
An jenem Nachmittag ging George nicht ins Werk zurück. Er irrte ziellos durchs Haus, in der einen Hand eine Zigarre, in der andern ein Glas Whiskey. Er war wütend auf Orry, wütend auf sich selbst, und er hatte keine Ahnung, was als nächstes zu tun war.
Virgilia verschwand auf ihrem Zimmer. Constance hatte sich um die Kinder gekümmert und kam wieder nach unten. Sie hatte William in den Garten und Patricia ins Musikzimmer geschickt. George stieß dort eine halbe Stunde später auf seine Tochter, die auf dem Klavier an einem Menuett herumübte.
Patricia bemerkte, wie ihr Vater mit düsterer Miene in der Tür stand.
»Papa, seid ihr, Orry und du, nun keine Freunde mehr?«
Mit dieser einfachen Frage war er plötzlich wieder bei Sinnen und sah alles in der richtigen Perspektive.
»Natürlich sind wir noch Freunde. Orry wird noch vor dem Abendessen wieder zurück sein. Ich werde dafür sorgen.«
Er setzte sich an seinen Schreibtisch in der Bibliothek, schob den Meteoriten beiseite und tauchte seine Feder in die Tinte. Seine Mitteilung fing an mit den Worten: Stiel – wirst du meine Entschuldigung akzeptieren?
»Sie möchten Mr. Main sprechen?« Der Mann am Empfang des Station House blätterte in seinem Buch. »Er hat für seine Schwester ein Zimmer für heute gemietet, aber ihn werden Sie, glaube ich, in der Saloon-Bar finden.«
Der Diener aus Belvedere betrat die leere Bar durch die Drehtür und ging zu einem Tisch am Fenster, wo ein hagerer, bärtiger Mann in sein leeres Glas starrte.
»Mr. Main? Von Mr. Hazard, Sir.«
Orry las die Mitteilung und überlegte sich noch einmal kurz, ob er wirklich mit dem Nachtzug abreisen wollte. Doch dann erinnerte er sich an die Atmosphäre, die in Belvedere herrschte, und an all die Worte, die gefallen waren. Er konnte Georges Entschuldigung oder seine Bitte nach einer Rückkehr nicht einfach akzeptieren, als ob nichts geschehen wäre. Wenn damit die Star of Carolina unterging, so würde das Coopers Problem sein.
Der Diener räusperte sich. »Kann ich eine Antwort überbringen, Sir?«
»Nur dies.«
Orry zerriß die Mitteilung und ließ die Papierfetzen in einen Messing-Spucknapf fallen.
»Der Teufel soll ihn holen!« rief George. »Kannst du dir vorstellen, was er getan hat?«
»Ja«, sagte Constance. »Du hast es bereits zehn oder zwölf mal geschildert.«
Aber der Scherz half nicht. Sie fand das ganze ohnehin nicht amüsant, obwohl ihr die Situationskomik unter weniger ernsten Umständen nicht entgangen wäre: Ihr Mann rannte barfuß im Schlafzimmer hin und her, die kalte Zigarre zwischen die Lippen gepreßt. Unter den leinenen Unterhosen – dem einzigen Kleidungsstück, das er im Augenblick trug –, begann sich bereits ein Fettbäuchlein abzuzeichnen.
»Das weiß ich auch«, entgegnete George. »Ich schreibe ihm eine aufrichtig gemeinte Entschuldigung, und dafür muß ich mich von dem gemeinen Hund beleidigen lassen!«
Die Fenster von Belvedere standen offen und ließen die frische Herbstbrise herein. Bei kühlem Wetter kuschelte sich George gerne an seine Frau. Doch sie zweifelte daran, daß sie beide heute nacht viel schlafen würden. Seit der Diener vom Station House zurückgekehrt war, hatte er nur noch geflucht und getobt.
»Du bist auch nicht zimperlich mit Orry umgesprungen, Liebling.« Sie stützte sich gegen das Kopfende des Bettes; ihr loses Haar fiel in seiner ganzen Fülle über ihr Musselinnachthemd. »Beide Seiten haben sich schuldig gemacht – und eigentlich hat Virgilia das ganze ausgelöst. Ich werde es nicht mehr zulassen, daß sie weiterhin Zwietracht in diesem Haus sät.«
Er fuhr sich wild mit der Hand durchs Haar. »Mach dir keine Sorgen, sie sitzt bereits im Zug nach Chambersburg.«
»Auf ihre eigene Initiative hin?«
»Nein, ich hab’ darauf bestanden, daß sie geht.«
»Nun, das ist schon mal etwas.« Constance rückte ein Kissen in ihrem Rücken zurecht. Das Nachthemd spannte sich über ihren Brüsten. Mit langsamen, trägen Bewegungen begann sie ihr Haar zu bürsten. Sie hatte sich widerwillig zur Überzeugung durchgerungen, daß das schmähliche Benehmen von Virgilia offensichtlich nicht mehr zu korrigieren war und die Grenze dessen, was man noch hätte tolerieren können, überschritten hatte. Sie hätte George eigentlich gerne gesagt, daß er das Problem nicht gelöst hatte, sondern daß es erst dann aus dem Weg geräumt wäre, wenn er seiner Schwester für immer die Tür wies, aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf ein solch heikles Thema zu sprechen zu kommen.
»Und Orry? Hat er Lehigh Station bereits verlassen?«
»Ich habe keine Ahnung, und es ist mir auch vollkommen egal. Ich habe das Gefühl, daß ich Cooper einen Brief schreiben und mein Darlehen zurückverlangen sollte. Ich weiß Gescheiteres mit zwei Millionen Dollar anzufangen. Die Schufte! Die wollen wahrscheinlich das Flaggschiff einer sezessionistischen Marine vom Stapel lassen!«
»Würdest du Cooper Main das wirklich vorwerfen?« Sie lächelte sanft. »Jetzt klingst du aber genauso unvernünftig wie deine Schwester.«
George schmiß die kalte Zigarre zum Fenster hinaus. Vom Bahnhof her kam das Pfeifen einer Lokomotive – düster und traurig. »Er hat sich nicht einmal die Mühe genommen, eine Antwort zu schreiben.« Seine Stimme klang eher traurig als wütend.
»Liebling, komm hierher.«
Er wandte sich um; sein Gesicht sah hilflos, fast knabenhaft aus. Er kam langsam zum Bett herüber und setzte sich, den Rücken an ihre Hüfte gelehnt. Seine Beine hingen über dem Bettrand in der Luft.
Sie sah, wie verletzt er war, und begann seine Schläfe zu streicheln. »Wir alle haben uns heute erbärmlich benommen. Gib Orry eine Woche Zeit, um sich etwas zu beruhigen. Auch du brauchst etwas Zeit. Bis dahin wollt ihr beide bestimmt wieder Frieden schließen. Ihr seid zu lange miteinander befreundet gewesen, als daß jetzt alles zu Ende sein könnte.«
»Ich weiß, aber er – «
Sie legte ihm ihre Finger auf die Lippen, und sein Protest verstummte. »Heute nachmittag hast du dich mit deinem allerbesten Freund wegen einer politischen Frage zerstritten. Kannst du nicht sehen, wie unsinnig das ist? Wie schrecklich? Wie soll die Nation überleben, wenn Freunde sich nicht über einen Streit hinwegsetzen können? Wenn Männer wie du und Orry – gute, vernünftige Männer – ein solches Problem nicht lösen können, wie stellst du dir dann die Alternative vor? Die Zukunft wird in die Hände der südstaatlichen Extremisten und der John Browns geraten.«
Der sanfte liebevolle Druck ihrer Finger schien ihn schließlich zu beruhigen. »Du hast recht. Bis zu einem gewissen Grad. Ich bin mir nicht ganz sicher, daß Worte wie Streit und Problem das beschreiben, was in diesem Land geschieht.«
»Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstehe?«
»Diese Worte klingen für mich – na ja, irgendwie trivial. Sie erwecken bei mir den Eindruck, daß die Menschen wegen, wegen – « er suchte mit der Hand in der Luft nach dem Rest – »einer bestimmten Haartracht oder dem Schnitt von Rockaufschlägen übereinander herfallen. Aber die Auseinandersetzung geht doch sehr viel tiefer. Der Konflikt reicht bis zu den Anfängen unserer Nation zurück. Hat man ein Recht, einen Menschen in Knechtschaft zu halten, bloß weil er schwarze Haut hat? Kann man die Union nach Belieben spalten? Ich weiß, wie ich persönlich diese beiden Fragen beantworte, aber ich weiß keine Antwort auf die nächste Frage: Wie kann man in Anbetracht solcher Umstände gleichzeitig für seine Überzeugungen geradestehen und einen Freund nicht verlieren?«
Constance blickte ihn liebevoll an. »Mit Geduld«, sagte sie. »Geduld, Vernunft und gutem Willen.«
Er seufzte. »Ich hoffe, du hast recht. Aber sicher bin ich nicht.«
Aber er war dankbar für ihren Rat und ihre Hilfe. Zum Zeichen dafür lehnte er sich zu ihr hinüber und küßte sie lange und zärtlich.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Druck ihrer Lippen verstärkte. Er ließ seine Hand zwischen das Kissen und ihren Rücken gleiten. Sie hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen und küßte ihn leidenschaftlich. Der Herbstwind blähte die Vorhänge auf, während sie einander liebten, Trost spendeten und für eine Weile ihre Sorgen vergaßen.
Als sie später mit verschlungenen Armen entspannt beisammen lagen, ging ihnen beiden derselbe unausgesprochene Gedanke durch den Kopf: Geduld, Vernunft und guter Wille – alles schön und gut, aber würde es genügen? Vielleicht hatte die Nation ihre Angelegenheiten schon nicht mehr unter Kontrolle? Vielleicht lag das Schicksal bereits in den Händen der Extremisten und der John Browns?
Ja, und auch der Virgilias?
52
Der Landauer von Simon Cameron krachte durch die Pennsylvania Avenue. Stanley, der mit seinem Mentor eine kleine Ausfahrt machte, räkelte sich im angenehmen Sonnenschein.
Langsam verklang hinter ihnen die Musik der Marinekapelle, die eben das Lied ›Listen to the Mocking Bird‹ gespielt hatte. Der Komponist hatte es Harriet Lane, Präsident Buchanans Nichte und Gastgeberin im Präsidentenhaus, gewidmet. Zweifellos befanden sich die beiden – der Präsident war schon beinahe siebzig und ein eingefleischter Junggeselle – eben auf dem Rasen hinter dem Haus und begrüßten das beim Konzert anwesende Publikum. Der Präsident zeigte sich überall in Washington herum. Erst gestern war Stanley nach einem opulenten Diner mit Austern, Schildkrötensuppe und französischem Weißwein auf dieser Avenue spazierengegangen und dem Präsidenten begegnet, der seinen täglichen, einstündigen Spaziergang absolvierte.
Dank dem Weingenuß war Stanley kühn genug gewesen, um auf den Präsidenten loszugehen und sich mit ihm zu unterhalten. Die beiden waren einander natürlich bereits früher in Pennsylvania begegnet. Der Präsident hatte Stanley nicht nur wiedererkannt, sondern er hatte mit seiner leicht frostigen Stimme auch durchblicken lassen, daß er über Stanleys Koalition mit Boss Cameron auf dem laufenden war. In Erinnerung an die Begegnung bemerkte Stanley:
»Ich weiß, daß der Präsident nicht zu Ihren Freunden gehört, Simon, aber er kommt immerhin aus unserem Staat. Und als ich ihm gestern wieder begegnet bin, hat er mich wirklich beeindruckt.«
»Ja, aber Sie haben mir auch gesagt, daß Washington Sie beeindruckt.«
Der Sarkasmus brachte Stanley zum Erröten. Er hatte offensichtlich etwas Falsches gesagt.
»Aber das kann Sie doch nicht wirklich beeindrucken«, sagte Cameron mit einer verächtlichen Bewegung Richtung Kapitol, dessen unfertige Kuppel immer noch mit einem Gerüst umgeben war. Cameron seufzte und schüttelte den Kopf. »Wie kann ich Sie zu meinem vertrauenswürdigen Partner machen, wenn Sie weiterhin solchen Fehleinschätzungen unterliegen? Wann endlich begreifen Sie, daß es in dieser Stadt nichts gibt, was auch nur einen Penny wert ist – außer Macht?«
Stanley wurde puterrot. Er wußte, daß Cameron sich nicht seines Verstandes wegen mit ihm abgab, sondern weil er über andere Aktiva verfügte. Aber er haßte es, wenn man sich so offen oder so sarkastisch über seine Schwächen äußerte.
Doch er durfte seinen Mentor nicht verärgern. Es lagen gewaltige Veränderungen in der Luft, Veränderungen, die ihn und Isabel in diese Stadt und auf einen Posten im Schoß der nationalen Regierung bringen könnten.
Aber Cameron ließ nicht locker. »Ich will von Ihnen nicht wieder hören, daß Sie vom alten Buck beeindruckt sind. Wir sind jetzt Republikaner – und der Präsident ist unser Feind.«
Stanley nickte, versuchte es unbeholfen mit einem Lächeln und wollte dann dem Gespräch eine andere Wende geben. »Und wie steht es nächstes Jahr? Glauben Sie, daß die Demokraten Steve Douglas als Kandidat aufstellen werden?«
»Schwer zu sagen. Die Partei ist ziemlich uneins. Douglas hat den ganzen Süden mit seiner Freeport-Doktrin vor den Kopf gestoßen.«
»Dann besteht ja eine echte Chance, daß Seward gewählt wird.«
An jenem Abend waren Stanley und Cameron zu einem Privatempfang für den Senator im Kirkwood-Hotel eingeladen. Die beiden Männer waren extra aus Pennsylvania angereist, um sich mit Seward und General Scott zu treffen, der, genau wie der Senator, große Ambitionen auf den Präsidentenstuhl hatte. Gestern abend hatten sie sich eine Stunde lang mit Scott unterhalten; er war extra aus New York angereist, nur um Cameron zu sehen, was zeigte, wie wichtig der Pennsylvanier für die Angelegenheiten der Republikaner war. Alle diese Treffen mit jenen Berühmtheiten hatten eine berauschende Wirkung auf Stanley. Er wollte um jeden Preis nach Washington zurückkehren – als Angehöriger einer bestimmten Gesellschaftsschicht.
Cameron reagierte negativ auf den Namen Seward. »Nach jener Bemerkung über einen ›offenen Konflikt‹ wird er unmöglich gewinnen können. Natürlich dürfen wir ihm das heute abend nicht sagen, aber Tatsache ist, daß sich die Partei einen etwas weniger kämpferisch veranlagten Mann auswählen muß. Einer, der möglichst wenig Leute beleidigt.«
Stanley zog die Augenbrauen hoch. »Wen?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber etwas sage ich Ihnen«, lächelte er triumphierend, »ich werde als erster seinen Namen kennen. Er wird nicht nominiert werden, bevor ich es erlaube.«
Stanley wußte, daß sein Boss nicht scherzte. Es gab nur wenige republikanische Politiker, die so viel wie er zu bieten hatten – eine praktisch absolute Kontrolle eines riesigen Apparates in einem bedeutenden Staat.
Cameron fuhr weiter: »Ich habe die Absicht, nach dem Treffen der Partei einen Posten auf Kabinettsebene zu bekommen. Jeder Kandidat, der nicht mindestens das zu bieten hat, wird von mir nicht unterstützt werden. Und wenn ich schon in diese erbärmliche Stadt ziehe, dann werden meine Freunde mitkommen.«
Das Sonnenlicht funkelte in seinen Augen, als er Stanley anblickte. »Ich meine jene Freunde, die ihre Loyalität einwandfrei bewiesen haben.«
Die Botschaft war vollkommen klar und vertraut. Stanley fragte: »Wieviel brauchen Sie diesmal?«
»Zehntausend wären ausreichend. Zwanzig ideal.«
»Geht in Ordnung.«
Strahlend lehnte sich Cameron in die Plüschkissen zurück. »Wußte ich’s doch, daß ich auf Sie zählen kann, Stanley. Ich bin sicher, daß es hier einen Posten für einen Mann Ihrer Intelligenz geben wird.«
Billy ruderte in der Dämmerung nach Bloody Island. Brett saß am Bug mit einem Sonnenschirm über der Schulter. Er mußte sie unablässig ansehen und konnte eine körperliche Reaktion beinahe nicht mehr unterdrücken.
Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, daß ihr Bruder von ihm erwartete, daß er sich wie ein Gentleman benähme. Eine nicht einfache Aufgabe in Anbetracht der vielen einsamen Monate, die er hier verbrachte, und der atemberaubenden Schönheit von Bretts Gesicht und Körper.
Nach einer Reise, die beinahe eine Woche gedauert hatte, waren Brett und Orry vorgestern in St. Louis eingetroffen. Brett hatte Billy sofort vom Streit in Lehigh Station berichtet. Sie sagte, daß Virgilia das ganze ausgelöst habe, was Billy zwar anwiderte, aber keineswegs überraschte. Er und seine Schwester waren einander nie besonders nahegestanden. Oft konnte er es kaum glauben, daß sie Blutsverwandte waren.
Orry hatte bis jetzt seine Pflicht als ›Anstandsdame‹ mit einer gewissen Lässigkeit wahrgenommen. Er hatte die beiden jungen Leute bereits zweimal während mehr als einer Stunde alleingelassen, und sie hatten somit Gelegenheit gehabt, frei in der derben Stadt am Fluß herumzuspazieren. Heute war Orry wegen einer leichten Magenverstimmung im Hotel geblieben, und Billy hatte Brett mit der Fähre über den Mississippi mitgenommen und dann das Ruderboot gemietet. Er wollte ihr zeigen, womit er sich in all den Monaten beschäftigt hatte.
Orry benahm sich ihm gegenüber höflich und rücksichtsvoll, dachte Billy, als das Boot durch das seichte Gewässer zu der langen Sandbank glitt. Hieß das nun, daß er seine Meinung über ihre Heirat geändert hatte? Billy hoffte es sehr.
Das Boot knirschte, als es auf dem Kies auflief. Billy sprang an Land. Er stand knöcheltief im Wasser und streckte seine Arme gegen Brett aus.
»Komm! Spring! Du wirst nicht naß werden.« Aber das Boot stak nicht so fest, wie er das gehofft hatte, und als sie aufstand, wurde es durch die Bewegung etwas abgetrieben. »Warte, ich will versuchen, das Tau zu erwischen!« rief er.
Doch zu spät. Sie sprang. Er versuchte, sie aufzufangen, verlor jedoch das Gleichgewicht. Sie landeten beide im fußtiefen Wasser und wirbelten Dutzende von kleinen, silbrigen Fischen auf.
Er half ihr aufzustehen. Ihr Kleid klebte an ihrem Körper, und die Brustwarzen zeichneten sich unter der nassen Stoffschicht ab. Sie schüttelte ihren Sonnenschirm und betrachtete kichernd den Sprühregen, den sie dabei verursachte.
»Nein, wie deine Uniform aussieht! Aber wahrscheinlich sehe ich nicht besser aus.«
»Nun«, entgegnete er todernst, »wenigstens wirst du dich jetzt an deinen Besuch in St. Louis erinnern.«
»Wie könnte ich St. Louis vergessen, wenn du hier bist?«
Sie sagte es zwar leichthin, aber es war ernst gemeint. Ihre Blicke trafen sich. Er watete durch das seichte Wasser zu ihr hin, legte ihr die Hände um die Taille und zog sie an sich. Ihre süßen feuchten Lippen erregten ihn noch mehr. Sie öffnete den Mund und drückte sich an ihn.
»Für ein anständiges Mädchen aus dem Süden kümmerst du dich aber nicht allzusehr um Konventionen«, flüsterte er. »Wir küssen uns am hellichten Tag – «
»Und wenn der ganze Staat Illinois uns sieht, was soll’s. Ich liebe dich, Billy. Ich werde nie einen andern lie…« Über seine Schulter hinweg erblickte sie etwas, das jegliche Romantik zerstörte. »Das Boot!«
Er mußte in tiefes Wasser waten, um es zurückzuholen. Er zog es an den Strand und vertäute es fest unter einem schweren Stein. Als er wieder zu ihr ging, klopfte er die nasse Mütze an der Hose ab und war dankbar für die Ablenkung durch das Boot. Er hatte sich somit etwas beruhigen können.
Sie hielten sich an den Händen und gingen auf die Baumwollsträucher zu. Der Druck in seiner Leistengegend nahm wieder zu. Das auferzwungene Zölibat war einfach zuviel für ihn. Er warf Brett einen verschämten Blick zu und bemerkte, daß es ihr offenbar ähnlich erging.
Er zeigte ihr die beiden Pfahlreihen am oberen Ende der Sandbank. Der zwölf Meter breite Zwischenraum zwischen den Reihen war mit Sand und Steinen aufgefüllt, und die Außenseite des Damms war mit Strauchwerk bepflanzt worden.
Es war harte, schmutzige Arbeit gewesen. Billy hatte den ganzen Sommer damit zugebracht, die Pfähle zu richten, neue Pfähle zu verankern, Steine aufzuschütten, die Insekten zu vertreiben und die Querelen unter den Arbeitern zu schlichten. Die meiste Zeit über hatte er ohne Hemd gearbeitet und immer wieder einen Sonnenbrand und Blasen auf dem Rücken bekommen. Doch jetzt war er dunkelbraun gebrannt, die Arbeiten waren fertiggestellt, und er konnte alles mit Stolz vorzeigen.
»Am Südende der Sandbank war der Deich durch Eis beschädigt worden, und wir haben auch dort Ausbesserungen vornehmen müssen. Noch zwei oder drei Wochen, und wir sind fertig damit.«
»Und dann?«
»Werde ich versetzt.«
»Wohin?«
»Wo auch immer Ingenieure gebraucht werden. Einer meiner Männer hat mich gefragt, weshalb ich vier Jahre lang in West Point habe lernen müssen, wie man Steine auflädt, und ich konnte ihm bei Gott keine vernünftige Antwort geben. Aber die Arbeit ist sinnvoll und nützlich, sie hat mir Spaß gemacht. Ich würde gerne etwas Ähnliches anderswo wieder tun.«
Sie nickte. Arm in Arm schlenderten sie durch die raschelnden Baumwollsträucher. Der Himmel war nun tiefblau, oktoberfarben, wie Billy das nannte. Über ihren Köpfen zogen einige Kumuluswolken gemächlich dahin. Die untergehende Sonne tauchte sie in ein flammendes Orange. Der Gegensatz war kraß und romantisch, dachte Billy.
»Es ist mir egal, wohin sie mich versetzen«, fuhr er fort, »wenn ich nur in deiner Nähe sein kann.« Er blieb stehen, drehte sie sanft zu sich hin und hielt sie an den Unterarmen. »Brett, ich möchte dich heiraten. Bald.«
»Mir geht es nicht anders, Billy. Ich habe das Gefühl, daß wir schon seit Jahrhunderten aufeinander warten. Weißt du, daß ich bereits einundzwanzig bin?«
»Das hatte ich vergessen. Dann bist du ja schon fast steinalt.«
Trotz des Witzes war auch er sich in letzter Zeit seines Alters bewußt geworden. Mit vierundzwanzig war ein Mann so weit, daß er Verantwortung übernehmen konnte. »Ich kann jetzt wirklich für dich sorgen. Ich habe jeden Monat die Hälfte meines Lohns gespart und so – « Er räusperte sich. »Was würdest du davon halten, wenn ich mich, solange ihr beiden noch hier seid, mit Orry unterhalten würde?«
Sie umarmte ihn stürmisch. »O ja, bitte tu das.«
»Ich möchte sichergehen, daß ich ihn zum richtigen Zeitpunkt anspreche – «
Sie lächelte liebevoll. »Du bist immer so vorsichtig und sorgfältig. Ich glaube nicht, daß es jemals wieder einen richtigen Zeitpunkt geben wird. Die Welt befindet sich in solchem Aufruhr – «
»Aber ich bin nicht sicher, daß Orry mich mag. Wenn ich jetzt mit ihm rede und er immer noch auf George wütend ist?«
»Da ist er drüber hinweg.« Sie preßte sich wieder an ihn und flüsterte. »Ich verliere den Verstand, wenn wir noch lange warten müssen.«
»Ich auch.«
»Rede morgen mit ihm. Oder heute abend.«
»Gut. Sobald ich kann. Versprochen.«
Es klang entschlossen und sollte seine letzten Zweifel bannen. Er fühlte sich wie ein General, der endlich seine Männer in die Schlacht schickt.
Sie küßten sich wieder. Die orangefarbenen Wolken schwebten über dem Mississippi in einem so lieblichen Himmel, daß es schien, als gäbe es überhaupt keine Probleme mehr auf der Welt.
Orry fand St. Louis zwar lebhaft und voller Dynamik, aber die Leute hatten keine Manieren und benahmen sich aufgeblasen. Die Stadt war derb wie das rohe Holz der meisten Gebäude. Als er mit Billy am nächsten Morgen den Fluß entlangschlenderte, fühlte er sich sehr als eleganter Südstaatler.
Er trug einen teuren Walnußspazierstock bei sich, den er als Andenken gekauft hatte, und schwang ihn bei jedem Schritt in einem Halbkreis vor- und rückwärts. Sie gingen an einem Dutzend lärmender Neger vorbei, die Kisten auf ein Schiff luden. In der Mitte des Kanals tuckerte ein Schaufelraddampfer nach Norden in Richtung Des Moines. Die Passagiere lehnten winkend an der Reling. Orry betrachtete das Schiff mit großer Bewunderung; er hatte sich in die Mississippi-Dampfer verliebt, die ihm wie elegante schwimmende Paläste vorkamen.
Billy räusperte sich. Seine hellblaue Hose wies immer noch Spuren vom gestrigen unfreiwilligen Bad auf. Orry wußte, was nun kommen würde, und wünschte, er könnte der Situation ausweichen.
»Orry, ich schätze es sehr, daß du bereit bist, mich anzuhören.«
Der größere Mann wirbelte seinen Stock herum und sagte scherzhaft: »Das ist nichts Neues. Wir reden ja schon seit Jahren miteinander.«
»Ja, aber es geht diesmal um etwas sehr Wichtiges. Es betrifft Brett.«
Orry nickte ernst. »Das habe ich vermutet.«
Ein mit Baumwollballen beladener Karren fuhr vorbei; die Hufe des Esels dröhnten über das Pflaster. Die beiden Männer gingen während zehn Sekunden schweigend nebeneinander her. Manchmal fand Orry Billy zu vorsichtig – ein ironischer Gegensatz zu seinem älteren Bruder. Er bedauerte es, daß das Gespräch gerade jetzt stattfinden mußte, obwohl sein Zorn auf George eigentlich nichts damit zu tun hatte. Im Grunde hatte er sogar das Gefühl, daß er selber zu einem großen Teil für den Streit in Lehigh Station verantwortlich war. Er würde George nach einiger Zeit einen Brief schreiben und den Streit wiedergutmachen.
Der aromatische Duft von frischem Kaffee strömte ihnen aus einem Kaffeehaus an der linken Straßenseite entgegen; lautes Stimmengewirr und der Geruch von Sägemehl kamen aus einem Saloon. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Orry Billys besorgte Miene. Um ihm die Sache zu erleichtern, sprach er als erster.
»Du möchtest um die Erlaubnis bitten, Brett zu heiraten?«
Billy explodierte beinahe vor Erleichterung. »Ja! Ich kann jetzt für sie sorgen. Wir werden zwar nicht in Saus und Braus leben, aber sie wird nie Not leiden müssen, das verspreche ich dir. Ich glaube, daß ich bei der Armee ausgezeichnete Chancen habe. Ich werde St. Louis demnächst verlassen – «
»Weißt du, wohin du versetzt wirst?«
»Ich habe darum gebeten, daß man mich auf eines der Bundesforts im Süden schickt. Fort Pulaski in Savannah. Fort Monroe. Charleston wäre natürlich ideal. Ich habe gehört, daß man die Absicht hat, die Hafenanlagen zu befestigen.«
»Nun, Brett würde sich darüber freuen, wenn du in der Nähe von Mont Royal wärest.«
»Orry, wir möchten einander nicht nur gegenseitige Besuche abstatten – wir möchten heiraten!«
Die Worte klangen mehr als nur etwas brüsk. Orry blieb auf dem Pier stehen und sah den jungen Mann stirnrunzelnd an.
»Das kann ich verstehen, Billy, aber ich kann dir meine Erlaubnis leider nicht geben.«
In Billys Augen blitzte Zorn auf. »Warum nicht? Glaubst du, daß ich kein guter Ehemann für Brett wäre?«
»Ganz im Gegenteil. Es hat nichts mit deinem Charakter zu tun.«
»Was ist es denn? Hast du deine Meinung über die Armee geändert? Glaubst du, daß es keine gute Laufbahn ist?«
»Nein, und ich bin sicher, daß du vieles leisten wirst. Auf jeden Fall in normalen Zeiten. Aber wir haben ja keine normalen Zeiten mehr. Das Land wird von Unruhen geschüttelt, und die Zukunft ist ungewiß, wenn nicht total finster.« Er seufzte schwer und rückte dann mit dem Rest der Wahrheit heraus. »Besonders für zwei junge Menschen, die aus zwei völlig verschiedenen Teilen des Landes kommen.«
»Du meinst, weil ich aus Pennsylvania komme und Brett aus dem Süden, könnten wir uns nicht vertragen?« Ruhig und bestimmt fügte er hinzu: »Beurteile uns nicht im Lichte dessen, was zwischen dir und George vorgefallen ist.«
Orry gelang es, die Fassung zu bewahren, und mit ruhiger Stimme zu fragen: »Brett hat dich also informiert?«
»Ja.«
»Nun, ich kann nicht behaupten, daß mein Entschluß gar nichts mit dem Streit zu tun hätte, aber nicht so, wie du dir das vorstellst. Dein Bruder und ich, wir haben uns nicht auf ewig verkracht. Er ist immer noch mein bester Freund. Das hoffe ich zumindest. Aber eins steht fest: Wir haben uns über Probleme gestritten, denen man heutzutage nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Dieselben Probleme könnten dich und meine Schwester einer starken Belastung aussetzen. Nimm einmal an, daß dieses absurde Gerede von Sezession zu einer konkreten feindlichen Handlung führt. Was wären die Auswirkungen auf die Armee? Oder genauer, auf einen Offizier, der sich sowohl der Regierung als auch seiner Frau, die aus dem Süden stammt, verpflichtet hat?«
»Ich habe das Gefühl, daß du ziemlich weit gehst, um Einwände zu finden.« Billys Stimme klang jetzt etwas scharf.
Orry entgegnete nicht minder unwirsch: »Ich erkläre dir den Grund für mein Nein.«
»Ist es endgültig oder nur vorübergehend gemeint?«
»Vorübergehend. Glaube mir, ich würde mich freuen, wenn Brett einen Hazard heiraten würde. Aber erst, wenn die Zukunft etwas klarer aussieht.«
Billy starrte ihn an. »Und wenn wir beide beschließen würden, ohne deinen Segen zu heiraten?«
Orrys Miene verfinsterte sich. »Ich glaube nicht, daß Brett so was tun würde. Aber es steht dir natürlich frei, sie zu fragen.«
»Ja, Sir«, sagte Billy und nickte. »Ich glaube, das werde ich tun. Darf ich mich entschuldigen? Ich habe noch etwas mit meinem Sekretär zu besprechen.«
Mit traurigem Blick sah Orry dem jungen Mann zu, wie er steif davoneilte.
An jenem Abend sagte Brett im Salon ihrer Hotelsuite zu Orry: »Ich bin über die Antwort, die du Billy gegeben hast, enttäuscht.«
»Wann hast du ihn gesehen?«
»Vorhin, als ich unten war. Er ist davon überzeugt, daß du ihn nicht magst.«
Orry hieb mit der Faust auf die Stuhllehne. »Das ist nicht wahr! Offenbar habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich möchte mir das ganze bloß noch eine Weile überlegen. Du weißt doch selbst, daß die Leute in diesem Land Partei ergreifen. Die Umstände könnten euch in zwei entgegengesetzte Lager zwingen, und ich möchte nicht, daß du eine Ehe eingehst, die dich einer solchen Belastung aussetzen würde.«
»Ich heirate ja schließlich.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich glaube, ich bin diejenige, die zu entscheiden hat.«
»Jetzt redest du wie Ashton«, gab er erbost zurück und ging ans Fenster. »Wenn du dich mir widersetzen willst, dann sag es geradeheraus.«
»Ich habe Billy gesagt, daß ich das nicht tun kann. Zumindest nicht, solange noch eine Chance besteht, daß du deine Meinung änderst.«
Die Drohung war zwar leise, aber unmißverständlich. Ihre Entschlossenheit ließ ihn unvermutet melancholisch werden – vielleicht weil er immer wieder vergaß, daß sie bereits erwachsen war und selbst über ihr Schicksal entscheiden konnte? Und auch, weil er wieder einmal daran erinnert worden war, daß seine Führung jetzt nicht mehr nötig und auch nicht mehr erwünscht war. Abgesehen davon merkte er erneut, wie schnell die Zeit verging und wie rasch sich alles veränderte.
Er starrte zum Fenster hinaus und betrachtete einen Dampfer auf dem Mississippi. Funken sprühten und leuchteten kurz im Rauch auf, aber sie erloschen schnell. Wie die Begierden eines Mannes. Wie seine Träume.
Er wollte sich nicht schuldig machen und den andern das Glück verwehren, bloß weil man es ihm verwehrt hatte. Nein, das wäre gemein und egoistisch. Diese Gedanken ließen ihn die Dinge wieder etwas klarer sehen und den Wunsch in ihm aufsteigen, Frieden zu schließen. Frieden mit ihr und mit Billy.
Er ging auf Brett zu und ergriff ihre Hand.
»Ich habe Billy gern. Ich weiß, daß er dir ein guter Ehemann wäre. Aber eine Heirat ist eine Verpflichtung auf Lebenszeiten« – ach, wie stolz Madeline jetzt auf dich wäre, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus, »und deshalb solltest du deiner Gefühle sehr sicher sein.«
»Orry, das bin ich! Ich kenne Billy nun seit Jahren. Ich warte seit Jahren auf ihn!«
»Wäre es schlimm, noch etwas länger zu warten?«
Der Salon war in der Dunkelheit versunken. Sie konnten einander nicht mehr klar sehen. Brett stieß einen leisen, müden Seufzer aus.
»Ach, ich glaube nicht.«
Er hatte gewonnen. Es war kein Sieg. Eher eine Frist.
Billy verbrachte eine noch unglücklichere Nacht als Brett. Der Schlaf wollte nicht kommen, und er wurde von deprimierenden Gedanken über Orrys Ablehnung heimgesucht, von Gedanken auch über die Feindseligkeiten zwischen dem Norden und dem Süden und einem möglichen Krieg. Er erinnerte sich an eine ihm nicht verständliche Warnung von George. Es ging um einen verrückten Offizier, der aus unerklärlichen Gründen alle Hazards haßte. Sein Bruder hatte ihn sogar davor gewarnt, daß besagter Offizier irgendwie eine Gefahr für ihn sein könnte.
Nun, er hatte weder die Zeit noch die Absicht, das ganze ernst zu nehmen – oder sich auch bloß daran zu erinnern, es sei denn, er fühlte sich so deprimiert wie eben jetzt. Nein, da war doch Brett, von der er träumen konnte.
Drei Tage später, an einem Donnerstag, begleitete Billy die beiden zu ihrem Zug nach Osten.
Orry hatte sich im Anschluß an ihre Diskussion kaum mit dem jungen Offizier unterhalten. Als er nun vor der Kutsche stand, wurde ihm klar, daß dies die letzte Gelegenheit war, um über die förmlichen, leeren Plaudereien hinauszukommen und Billy einen Schritt entgegenzugehen.
Er ergriff Billys Hand und schüttelte sie. Billy war entwaffnet und blickte Orry, der ihm zulächelte, überrascht an.
»Ich glaube, daß ihr beide, du und Brett, zusammen beinahe jedem Sturm die Stirn bieten könntet. Aber laßt mir bitte einen Monat oder so Zeit, um mich selbst davon zu überzeugen, ja?«
»Du meinst, wir können – «
Orry hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Keine Versprechen, Billy. Ich habe die Tür nicht zugeschlagen, und es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck bei dir erweckt habe. Wie du, bin auch ich immer vorsichtig im Leben. Frag mal deinen Bruder.«
»Danke, Sir.« Strahlend ergriff Billy Orrys Hand und drückte sie fest. Brett umarmte ihren Bruder.
Orry ließ die beiden jungen Leute allein; sie standen so dicht beieinander, daß sich ihre Stirnen fast berührten, und sie flüsterten. Er hatte jetzt zwar sein Gewissen erleichtert, aber er fühlte sich mitnichten besser, als er in den Zug stieg.
53
Orry wurde durch Schreie aufgeweckt, besonders durch eine schrille Frauenstimme. Er rieb sich die Augen. Der Zug hatte angehalten, und Menschen rannten durch den Gang des Eisenbahnwagens. Ein hochgewachsener Mann prallte mit dem Kopf gegen die von der Decke baumelnde Ölfunzel, die heftig hin und her schaukelte und verzerrte Schatten auf die Wände warf.
Brett saß hellwach auf ihrem Sitz. Orry stand und versuchte, dem Durcheinander einen Sinn abzugewinnen. Die Frau draußen schrie immer noch. Eine höfliche Männerstimme besänftigte sie. Vom Verbindungsgang her hörte Orry den Schaffner rufen:
»Alles aussteigen! Ich weiß nicht, was los ist, aber ich bin sicher, niemandem wird ein Leid geschehen. Bitte beeilen Sie sich! Achten Sie auf die Stufen!«
Der Schaffner kämpfte sich durch die gegen ihn anstürmende Menschenmenge. Er rief Orry, Brett und noch ein paar andern Reisenden, die versucht hatten, so gut wie möglich sitzend zu schlafen, zu: »Bitte, beeilen Sie sich! Alle müssen aussteigen.«
Orry, der immer noch nicht ganz wach war, fragte sich, ob wohl diese ganze Aufregung nötig sei. Sicher handelte es sich bloß um einen kleinen Unfall. Er zog gemächlich seine silberne Uhr aus der Westentasche und schlug mit dem Daumen den Deckel zurück. Brett stand auf, ging zum Fenster, stieß den Laden hoch und starrte in die Dunkelheit hinaus.
Die Uhr zeigte eine halbe Stunde nach Mitternacht. Es war also bereits Montag morgen, Montag, 17. Oktober 1859. Sie hatten Wheeling am frühen Sonntag mit diesem B&O-Eilzug Richtung Baltimore verlassen, wo Orry für mehrere tausend Dollar Schiffsbestandteile für Cooper kaufen sollte. Er führte eine lange Liste der einzelnen Teile in seinem Gepäck mit.
Brett lehnte am Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Plötzlich zuckte sie zurück; ihr Gesicht war schneeweiß.
»Ich habe eben einen Mann vorbeigehen sehen. Er trug ein Gewehr.«
»Glaub’ ich nicht.«
Er stellte sich neben sie und blickte hinaus. In der Ferne war undeutlich der schwache Lichtschein einiger Lampen zu erkennen. Der Anblick von Zeichen der Zivilisation erleichterte Orry. Plötzlich umschloß eine kräftige Hand von hinten seine Schulter.
Er wirbelte herum, bereit zuzuschlagen. Es war bloß der Schaffner.
»Bitte, Sir, steigen Sie aus.« Der Mann war in Panik und bettelte Orry förmlich an. »Ich bin der Vertreter dieser Eisenbahn. Meine Name ist Phelps. Ich bin für die Passagiere verantwortlich. Bitte tun Sie, was ich sage, bis wir die Erlaubnis zur Weiterfahrt bekommen.«
»Erlaubnis? Von wem?« Orrys Stimme klang nun hellwach.
»Von den bewaffneten Männern draußen. Die Station ist unter ihrer Kontrolle. Sie sagen, sie hätten auch das Bundesarsenal und Hall’s Gewehrfabrik besetzt. Ich habe den Eindruck, daß sie zum äußersten entschlossen sind.«
Von irgendwoher knallte ein Gewehrschuß. Brett stieß entsetzt einen leisen Schrei aus und blickte sich dann im Wagen um. »Alle andern sind ausgestiegen. Wir sollten tun, was der Herr sagt.«
Orrys Mund fühlte sich trocken an. Er war angespannt und instinktiv in Alarmbereitschaft, wie dies oft in Mexiko der Fall gewesen war. Er folgte Phelps bis zum Kopfende des Wagens und stellte erst dann die naheliegende Frage:
»Wo sind wir?«
»In Harpers Ferry. Der letzte Halt in Virginia, bevor wir den Fluß an der Grenze zu Maryland überqueren.«
Es war grotesk. Ein Melodrama wie aus einem Groschenheft, das mitten in der Nacht, aus bis jetzt noch unverständlichen Gründen, inszeniert wurde. Und doch hing Angst in der Luft. Brett ging hinter Orry her und umklammerte seine Hand, als er Phelps in die feuchte, kühle Dunkelheit hinaus folgte.
Als er die Eisenstufen hinunterkletterte, schaute er sich um. Vom Holzdach des Bahnsteigs baumelten Lampen. In ihrem Lichtkegel standen fünf bewaffnete Männer, vier Weiße und ein Schwarzer. Auf der rechten Seite des Bahnsteigs trieben weitere Männer mit Revolvern und Gewehren die Reisenden wie eine Viehherde in ein kleines, schäbiges Gebäude ganz in der Nähe des Bahnsteigs.
Zu seiner Linken konnte Orry eine weitere Gestalt erspähen. Sie lag rücklings auf einem leeren Karren. Ein Gepäckträger, vermutete Orry. Seine Uniform war blutbefleckt.
Orry half seiner Schwester über die letzten Stufen und ging dann vor. Phelps wandte sich an die bewaffneten Männer.
»Ich will wissen, wann Sie diesem Zug die Weiterfahrt erlauben.«
Trotz der entschlossenen Worte war die Stimme des Schaffners brüchig. Der Schwarze klemmte das Gewehr unter den Arm, ging auf Phelps zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht.
»Du hast überhaupt nichts zu wollen, Mister.«
Der Schaffner rieb sich die Backe. »Ist Ihnen bewußt, welche Strafe auf die Beeinträchtigung der Bundespost aussteht? Wenn wir eine Nachricht dieser Brutalität nach Baltimore telegrafieren – «
Einer der Weißen unterbrach ihn. »Alle Verbindungen sind unterbrochen. Gehen Sie, löschen Sie das Licht in sämtlichen Eisenbahnwagen und bleiben Sie dann mit allen andern dort. Sie haben die Wahl zwischen dem Bahnhof und dem Hotel nebenan.« Bei dem Hotel handelte es sich offensichtlich um das kleine, schäbige Gebäude.
»Was zum Teufel geht hier vor sich?« sagte Orry.
Der Mann mit dem Gewehr blickte ihn scharf an.
»Südstaatler, was? Du hältst besser den Mund, sonst laß ich meine Niggerjungen los. Sie hätten sicherlich nichts dagegen, mit dir ein Hühnchen zu rupfen.«
Orry legte den Arm um Bretts Schultern und führte sie über den Bahnsteig zum Hotel. Auf einem kleinen Schild war ›Wager House‹ zu lesen.
Bretts Gesichtszüge waren angespannt, ihre Augen schienen riesengroß. »Was ist los, Orry? Ist dies ein Raubüberfall?«
»Wahrscheinlich.« Er hatte keine andere Erklärung.
Beim Hoteleingang stand ein junger Mann mit einem Gewehr Wache. In der Halle schluchzte eine Frau, und ein Mann versuchte ihr mit nervöser, aber eindringlicher Stimme klarzumachen, daß sie ihr Korsett lockern und sich beruhigen solle. Brett stolperte an der Tür, und die erschrockene Wache, die offensichtlich einen Angriff befürchtete, versetzte ihr einen Stoß.
Brett taumelte gegen eine Fensternische. Orry fluchte und ging auf die Wache los. Der Mann trat zurück und hob das Gewehr.
»Noch einen Schritt und Sie werden Baltimore nie sehen.«
Orry stand mit geballter Faust still.
»Laß das Gewehr, Oliver. Wir haben keinen Streit mit diesen Menschen.«
Die tiefe, klangvolle Stimme gehörte einem großen Mann mittleren Alters, der aus der Dunkelheit des Bahnsteigs aufgetaucht war. Er trug ein Farmerhemd, alte Kordhosen und schmutzige Stiefel. Sein weißer Bart war kurz geschnitten. Sein schroffes Gesicht kam Orry bekannt vor, und doch wußte er nicht sofort, wer der Mann war.
Der junge Mann hielt das Gewehr immer noch schußbereit.
»Oliver«, sagte der Bärtige.
»Schon gut, Pa.« Er senkte das Gewehr. Der Kolben schlug sanft auf dem Boden auf.
Orry starrte den Mann mit dem Bart an. »Sind Sie für diese Raufbolde verantwortlich?«
Mit übertriebener Höflichkeit antwortete der Mann: »Seien Sie sorgfältig mit Ihren Worten, Sir. Vor Ihnen steht der Oberbefehlshaber der Provisorischen Regierung der Vereinigten Staaten. Mein Name ist Brown.«
Natürlich. Brown aus Osawatomie. Orry erinnerte sich daran, das Gesicht in Zeitschriften gesehen zu haben, aber der Bart war auf den Bildern viel länger gewesen. Hatte er ihn gestutzt, in der Hoffnung, nicht so leicht erkannt zu werden?
Browns blaue Augen blickten eiskalt. »Mein Sohn hatte nicht die Absicht, der jungen Dame etwas zu tun; er hat sich bloß selbst schützen wollen. Es ist klar, daß die Wellen bei einem Unterfangen dieser Tragweite manchmal etwas hochschlagen.«
»Unterfangen?« gab Orry hämisch zurück. »Verdammt komischer Name für einen Zugüberfall!«
»Sie beleidigen mich, Sir. Wir sind keine Diebe. Ich bin aus Kansas gekommen, um alle Neger dieses Staats zu befreien.«
Obwohl Brown mit ruhiger Stimme sprach, glaubte Orry in dem durchdringenden Glimmen seines Blickes eine Spur von Wahnsinn zu entdecken. Er mußte an Virgilia denken. War dies ihr revolutionärer Messias?
»Sie sind also der Anführer einer Revolte?« fragte er Brown.
»In der Tat. Ich bin bereits im Besitz des Arsenals der Vereinigten Staaten. Und hier wird kein Zug mehr durchgelassen. Gehen Sie hinein und verhalten Sie sich ruhig, bis ich beschlossen habe, was hier geschehen soll. Sollte sich irgend jemand einmischen, werde ich die Stadt niederbrennen lassen, und es wird zu Blutvergießen kommen. Haben Sie mich verstanden?«
Orry nickte grimmig. Dann hielt er Brett den Arm hin und führte sie in die Hotelhalle, wo er ihr einen Platz anbot.
Ein kleiner Junge fing an zu weinen und wurde von seiner Mutter auf den Schoß genommen. Ein Mann rieb seiner schniefenden Ehefrau die Hände. Orry zählte die Passagiere, die in der Hotelhalle herumsaßen oder -standen: Er kam auf achtzehn.
Gegenüber der Tür, durch die sie hereingekommen waren, befand sich eine weitere, die auf die Straße hinausging. Sie stand halb offen, und ein weiterer von Browns Männern war zu erblicken, ein Neger, der langsam mit einem Marinerevolver in der Hand auf und ab marschierte. Orry sah, daß er Farmerschuhe und eine abgewetzte, viel zu kurze Hose trug.
Orry setzte sich neben Brett und rieb sich das Knie. John Brown hatte offensichtlich Sklaven oder ehemalige Sklaven um sich geschart. Alte Kindheitsängste stiegen in Orry auf.
Phelps streckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Ich versuche mit Captain Brown darüber zu verhandeln, ob der Zug mit den Postsendungen weiterfahren kann. Bitte bewahren Sie Geduld und Ruhe!« Daraufhin entfernte er sich.
Eine Uhr tickte laut hinter dem Empfangsschalter. Der Knabe weinte immer noch. Orry gähnte. Er dachte an die Augen von John Brown, und zum erstenmal glaubte er Senator Seward, der von einem nicht zu unterdrückenden Konflikt gesprochen hatte.
Er schrak auf, als Brett ihm etwas zuflüsterte: »Orry, der Mann dort beobachtet uns.«
»Welcher Mann?«
»Der Wachtposten, draußen.«
»Der Sohn von Brown?«
»Nein, der andere; der Neger. Da ist er wieder.«
Orry blickte auf. Eine Katastrophe war offensichtlich noch nicht genug!
Draußen huschte ein schwarzes Gesicht vorbei; es war ein schönes, aber von Sorge und Hunger gezeichnetes Gesicht. Orry hatte es unten am Ashley schon gesehen und hätte es überall wiedererkannt.
»Grady«, flüsterte er und ging raschen Schrittes zur Tür.
Grady trat zurück, als Orry herauskam und die Tür hinter sich schloß. Auf den Hügeln waren einige schwache Lichter im Dunst zu erkennen, aber die Stadt war beinahe nicht zu sehen.
»Grady, erinnerst du dich nicht an mich?«
»Natürlich erinnere ich mich, Mr. Main.« Er spannte den Revolver. »Bleiben Sie lieber dort stehen. Captain Brown hat gesagt, wir sollen schießen, falls jemand Schwierigkeiten macht.« Es hörte sich an, als wünschte er nichts sehnlicher als das.
»Wie viele seid Ihr?« Orrys Atem bildete in der kühlen Nachtluft kleine Nebelwölkchen.
»Achtzehn« antwortete Grady rasch. »Dreizehn weiße Männer, und der Rest Neger.«
»Wie um Himmels willen habt Ihr einen solchen Plan ausarbeiten können?«
»Captain Brown; er hat es schon seit langem geplant. Wir leben nun schon seit einer Weile auf der andern Seite des Flusses in einem gemieteten Farmhaus. Wir werden von Chambersburg aus mit Nahrungsmitteln und Gewehren versorgt.«
Noch ein weiterer Schock; Virgilia hatte doch gesagt, daß sie nach Chambersburg ginge!
»Ist deine – « Er konnte sich nicht dazu bringen, Frau zu sagen. »Ist die Schwester von George Hazard auch dabei?«
»Ja, sie ist mit den andern Frauen auf der Farm.«
»Gott«, flüsterte Orry.
»Gehen Sie wieder hinein, Mr. Main. Verhalten Sie sich ruhig, provozieren Sie uns nicht, und vielleicht erlaubt der Captain die Weiterfahrt des Zuges. Wir werden mit den Gewehren und der Munition des Arsenals unseren Triumph feiern. Wenn uns jemand den Weg versperrt, wird Blut fließen.«
»Ihr könnt nicht gewinnen, Grady. Euer Blut wird fließen.«
Gradys Stolz machte sich in Wut Luft. Er streckte den rechten Arm aus. Seine Hand zitterte – ob vor Aufregung oder vor Unsicherheit, war nicht auszumachen.
Die Mündung des Revolvers zitterte zwei Fingerbreit vor Orrys Nase. Er stand regungslos, schreckensstarr da. Fünf Sekunden vergingen. Weitere fünf Sekunden…
Plötzlich flog die Hoteltüre auf. »Orry?«
Grady senkte rasch den Revolver; Ekel zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Dort hinein!« Er schob Orry zu seiner Schwester hin. Orry folgte ihr in die Halle. Grady gab der Tür mit seinen schweren Schuhen einen Stoß.
Es war still in der Halle. Die Reisenden waren eingenickt oder starrten ins Leere. Stunden waren verstrichen. Es gab auch keine Emotionen mehr. Es hatte schon lange niemand mehr etwas gesagt.
Brett schlief mit dem Kopf auf der Schulter ihres Bruders. Orry betrachtete das hin und her schwingende Pendel der Uhr. Es schien zu schweben. Er rieb sich die Augen. Die Müdigkeit und die ganze Anspannung forderten ihren Tribut.
Phelps kam wieder herein; er sah verstört aus. »Bitte alle zurück an Bord. Wir können gehen.« Er flüsterte ihnen die Nachricht förmlich zu, wohl aus Angst, Captain Brown könnte seine Meinung sonst wieder ändern.
Männer und Frauen atmeten auf und stürzten zur Tür. Orry weckte Brett und führte sie über den Bahnsteig an den Gewehren von vier Wachtposten vorbei. Sie stiegen in den dunklen Zug ein, und nach wenigen Minuten puffte der Zug langsam über die überdachte Brücke des Shenandoah.
Phelps kontrollierte den ganzen Zug auf irgendwelche Beschädigungen hin. Langsam rollten die Wagen einer nach dem andern aus dem Schatten der Brücke. Es dämmerte. Orry saß mit der Stirn ans Fenster gelehnt da und blickte auf das über den Bergspitzen des Blue Ridge auftauchende Sonnenlicht.
Im Mittelgang des Zugs tanzte ein Mann mit seiner weinenden Frau. Phelps betrat den Waggon. Eine Frau rannte auf ihn zu und hielt ihm einen Papierfetzen vors Gesicht. »Ich werde das hinauswerfen. Wir müssen die Leute warnen.«
»Aber wir werden demnächst in Baltimore – «
Die Frau nahm keine Notiz davon. Als sie davonrannte, nahm Phelps seine Kappe ab und kratzte sich am Schädel.
Orry fühlte sich wie ausgepumpt, und zum erstenmal war er davon überzeugt, daß einer Bedrohung durch Yankees von John Browns Sorte nur mit Waffengewalt begegnet werden konnte. Angenommen, man würde zusichern, daß die Sklaverei ein Ende nehmen sollte – und im geheimsten Winkel seiner Gedanken tat er dies manchmal –, wäre eine gewaltsame Revolution dann der richtige Weg? Nein, dazu durfte es nicht kommen, dachte er, als er Papierfetzen an seinem Fenster vorbeiwirbeln sah. Es waren Botschaften von Reisenden, die die Nacht überlebt hatten.
Botschaften, die der Welt mitteilten, was in Harpers Ferry geschehen war.
Drei Tage später kaufte Orry im Hotel in Baltimore eine Zeitung. Überall in Hotelhallen, Restaurants und auf den Straßen sprachen die Leute von nichts anderem als von dem Überfall; nur zwei der Aufrührer hatten überlebt. Browns Männer hatten vier Menschen aus der Stadt getötet. Einer davon war der schwarze Gepäckträger, den Orry auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Eine Weile lang war auch ein Neffe dritten Grades von Präsident Washington als Geisel gefangengehalten worden.
Ein eilends aus Washington abgeordneter Marinetrupp hatte dem Aufstand schließlich ein Ende gesetzt. Das Kommando hatte Lee geführt; er war von einem alten Freund von Charles, Stuart, begleitet gewesen. Brown war verwundet worden, als er einen Lokomotivschuppen verteidigte, in dem er Unterschlupf gesucht hatte. Er befand sich nun in Charles Town, Virginia, im Gefängnis.
Orry las weiter in der Zeitung. »Hier sind Browns Männer, die getötet wurden, aufgeführt«, sagte er zu Brett. »Einer davon ist Grady Garrison, Neger.«
»Garrison?« wiederholte sie.
Orry zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hat er den Namen von jenem Aufwiegler aus Boston übernommen.«
Brett hatte einen fast ebenso melancholischen Gesichtsausdruck wie Orry. »Wird Virgilia irgendwo erwähnt?«
»Nein, nicht mit einem Wort. Man nimmt an, daß alle Verschwörer, die nicht direkt am Überfall beteiligt waren, geflohen sind, als die Schießerei losging. Die Farm ist ja nicht so weit von Harper’s Ferry entfernt, daß sie die Schüsse nicht hätten hören können.«
»Nun, sosehr ich Virgilia auch verabscheue, so hoffe ich doch, daß sie hat flüchten können.«
»Ich hoffe es auch. George zuliebe.«
So schreckenerregend der Überfall auch ausgesehen hatte, als Orry mitten drin steckte, so war jetzt doch klar, daß die pathetische Sache von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Eine von Verrückten organisierte und von sozialen Außenseitern durchgeführte Verschwörung. Dennoch wurde das Land von einer Schockwelle erfaßt. Waren der Norden und der Süden durch die Ereignisse der letzten Jahre noch nicht unwiderruflich auseinandergetrieben worden, so würde die Spaltung jetzt vollzogen werden, dachte Orry.
Die folgenden Tage schienen dies zu bestätigen. Nicht einmal die blutigen Auseinandersetzungen in Kansas hatten das Land so vollständig in zwei Lager zu teilen vermocht. Ende Oktober kam Brown wegen Anstiftung zu einem Sklavenaufstand und Verrat gegen den Staat Virginia vor Gericht.
Einflußreiche Nordstaatler rühmten ihn und traten zu seiner Verteidigung auf. Emerson nannte ihn einen neuen Heiligen. Im Süden reagierte Huntoon mit typischer Heftigkeit. Er nannte Brown einen fanatischen Mörder und malte gräßliche Bilder von Komplotten, welche ›die schrecklichsten Ängste unseres Heimatlandes bestätigen‹. Orry erklärte sich traurig mit letzterem einverstanden. Obwohl der Überfall von Brown Orry nicht dazu bewegen konnte, ins Lager der Extremisten überzuwechseln, stand er ihnen nun doch wesentlich näher.
Die Angst vor weiteren Aufständen breitete sich seuchenartig aus. Dem Ashley entlang redeten die Plantagenbesitzer und ihre Frauen kaum noch von etwas anderem. Die Brüder LaMotte gründeten eine milizähnliche Organisation gleichgesinnter Männer, die Ashley-Garde. Huntoon wurde zum Ehrenhauptmann ernannt.
George schrieb Orry einen Brief, um sich für sein Benehmen in Lehigh Station zu entschuldigen. Er erwähnte Virgilia mit keinem Wort. Er äußerte Bedauern darüber, daß einige Südstaatler die sogenannten Schwarzen Republikaner für Browns Aufstand verantwortlich machten. Er sagte, daß Brown eindeutig im Unrecht gewesen sei – mit Ausnahme vielleicht seiner ursprünglichen Motivation. Der Wunsch nach einer Befreiung aller Sklaven war Georges Meinung nach lobenswert.
»Lobenswert!« Orry zerknüllte den Brief und schmiß ihn in eine Ecke.
In der Nacht des 1. Dezember 1859 widerhallten im Norden von Maine bis nach Wisconsin die Kirchenglocken. Man trauerte um John Brown. Am folgenden Tag stieg er in Charles Town aufs Schafott, und als ihm der Henker den Strick um den Hals knotete, blickte er friedlich in den klaren Winterhimmel.
An jenem Abend war Cooper in Mont Royal zum Abendessen. Er sprach sein Bedauern zu den Ereignissen des Tages aus. »Brown hätte nicht gehängt werden sollen. Zeit seines Lebens war er bloß ein armer Verrückter. Jetzt haben sie ihn zu einem Märtyrer gemacht.«
Einige Tage vor Weihnachten erhielt Orry einen weiteren Brief von George, der Coopers Aussage bestätigte. Am Schluß des Briefes war zu lesen:
Die Leute reden immer noch voller Emotionen über den Überfall. Weißt du, daß Grady auch daran beteiligt war und in Harper’s Ferry gestorben ist? Man hat mir gesagt, daß Virgilia auch für kurze Zeit auf der Farm gewesen ist. Sie ist verschwunden; seit dem Abend unseres Streits habe ich sie weder gesehen noch etwas von ihr gehört. Ich möchte mich für den Streit noch einmal aufrichtig bei dir entschuldigen. Möchtest du dein Schweigen nicht brechen, alter Freund, und mir schreiben, daß du meine Entschuldigung annimmst?
Widerwillig setzte Orry sich hin und schrieb einen Brief, den er eine Stunde später wieder zerriß.
Seine Gedanken kreisten unablässig um die Ereignisse von Harper’s Ferry. Sie waren maßgebend für seine Entscheidung, die er Ende Dezember in bezug auf Brett traf.
54
Clarissa war über den mit Kerzen geschmückten Weihnachtsbaum entzückt gewesen, und deshalb hatte Orry ihren Zeichentisch heruntergeholt und in einer Ecke in der Nähe des Baumes aufgestellt. Jetzt saß sie am Tisch und starrte abwechselnd während fünf bis zehn Minuten in eine Kerzenflamme oder murmelte vor sich hin, während sie an der neuesten Fassung des Familienbaumes arbeitete.
Ihr Haar war nun schneeweiß und ihr Lächeln treuherzig, wie dasjenige eines Kleinkindes. Manchmal beneidete Orry seine Mutter um ihre Entfremdung von der Wirklichkeit. Er war in letzter Zeit mit fast allem auf dieser Welt unzufrieden. Insbesondere haßte er die Verantwortung, die auf ihm lastete und von der er sich gern befreit hätte.
Brett kam herein und schloß behutsam die Tür.
»Eines der Hausmädchen sagte mir, daß du mit mir sprechen möchtest.«
Er nickte; er stand breitbeinig vor dem Kamin. Brett runzelte die Stirn; sie konnte die Spannung spüren und versuchte, sie mit einem Scherz zu mindern.
»Die weißen Strähnen in deinem Bart stehen dir gut zu Gesicht. In ein oder zwei Jahren wirst du einen herrlichen Sankt Nikolaus abgeben.«
Er lächelte nicht. »Ich muß im Augenblick eine andere Rolle spielen – diejenige deines Beschützers. Ich bin der Meinung, daß wir über dich und Billy miteinander reden sollten.«
»Sein Brief war eines der herrlichsten Geschenke für mich!« Billy hatte ihr mitgeteilt, daß er höchstwahrscheinlich einer Gruppe von Ingenieuren zugeteilt werden würde, die demnächst Ausbesserungsarbeiten am Fort Moultrie auf der Sullivan-Insel in der Nähe vom Hafen von Charleston vornehmen würde.
Brett blickte ihren Bruder prüfend an. »Ich hoffe, daß du mir das zweite Weihnachtsgeschenk, das ich mir sehnlichst wünsche, wirst geben können.«
»Ich kann dir die Erlaubnis für die Heirat nicht erteilen. Auf jeden Fall nicht jetzt.«
Er sagte das so direkt, daß sie am liebsten geweint hätte. Aber ein solches Benehmen schickte sich wohl nicht für eine Dame, und sie bewahrte die Fassung. Clarissa summte in ihrer Ecke ›Stille Nacht‹ vor sich hin.
»Darf ich dich bitten, mir die Gründe für deine Entscheidung mitzuteilen.«
Ihr ironischer Tonfall verstimmte ihn. »Es sind immer noch dieselben. Wir steuern auf Kollisionskurs mit den Yankees. Es gibt zwar noch einige vernünftige Männer, die sich für eine Kompromißlösung einsetzen, aber es passiert nichts. Und wenn jemand dafür verantwortlich ist, daß der Süden in die Unabhängigkeit getrieben wird – «
»Möchtest du damit sagen, daß du dir das wünschst?«
»Nein. Ich sage bloß, daß es kommen wird. Laß mich bitte ausreden. Wenn jemand die Sezession gefördert hat, dann ist es John Brown gewesen. Im Norden teilt man diese Ansicht. Am letzten Samstag stand etwas von Professor Longfellow zu diesem Thema im Mercury. Er war natürlich gegen die Todesstrafe für Brown. Weißt du, was dieser große Dichter, dieser Philanthrop gesagt hat? ›Dies ist, als würde man Wind säen, um den Sturm zu ernten, und das wird demnächst der Fall sein.‹« Orry hob den Zeigefinger wie ein Prediger. »Demnächst. Das war das Wort, das er gebrauchte.«
»Orry, verstehst du denn nicht? Billy und ich sind uns der traurigen Situation, in der sich unser Land befindet, bewußt. Aber das spielt keine Rolle. Wir lieben uns. Wir werden das Schlimmste überleben.«
»Das glaubst du, aber ich bin weiterhin der Meinung, daß der Druck, dem eure Ehe ausgesetzt sein wird, sie zerstören könnte.«
Orry war insgeheim nicht nur von Browns Überfall und dessen Folgen beeinflußt, sondern auch von Madelines unglücklicher Ehe und dem Tribut, den sie dafür entrichten mußte. Er fürchtete, daß seine Schwester ebenso unglücklich werden könnte, wenn auch aus andern Gründen.
»Tut mir leid, Brett. Ich kann es dir nicht erlauben. Bitte sag Billy, daß es mir leid tut.«
Sie antwortete ruhig: »Nein, das werde ich nicht tun.«
»Würdest du mir das bitte erklären?«
»Es ist ganz einfach: Wenn du mir deinen Segen zur Heirat verweigerst, dann werde ich eben ohne ihn heiraten.«
Mit harscher Stimme sagte er: »Die Zustimmung deiner Familie ist also nicht mehr von Belang?«
»O doch, eure Zustimmung wäre mir lieber. Ich möchte lieber keinen Unfrieden zwischen uns. Doch wenn ich, um den Frieden zu erhalten, Billy nicht heiraten darf, dann zum Teufel mit dem Frieden.«
»Paß auf, was du sagst! Du hast kein Recht, Äußerungen wie diese – zu sagen, was du willst und was du nicht willst. Du bist ja noch ein Mädchen! Und ein dummes dazu!«
Orry schrie so laut, daß Clarissa mit einem leichten Stirnrunzeln aufblickte. Sie starrte auf den bärtigen Mann und die junge Frau, die einander gegenüberstanden, schüttelte dann aber den Kopf, weil sie sie nicht erkannte.
Brett flüsterte mit brüchiger Stimme: »Besser dumm, als das, was aus dir geworden ist.«
»Was soll das heißen?«
»Ich meine, daß es dir nicht ansteht, andern Verhaltensmaßregeln vorzuschreiben. Du lachst nie. Du bist mit allen und allem unzufrieden. Es tut mir leid, daß du allein leben mußt, und es tut mir leid, daß du darunter leidest. Aber ich weigere mich, so zu leben wie du.«
Orry war überrascht, daß er den Wunsch verspürte, sie zu schlagen. Es gelang ihm jedoch, die Fassung zu bewahren.
»Geh auf dein Zimmer!«
Mit einem letzten, giftigen Blick hob sie ihre Röcke und lief hinaus.
Eine Stunde später torkelte Orry in seinem Schlafzimmer vor den Ankleidespiegel. Die leere Malzbierflasche fiel ihm aus der Hand und kollerte über den Boden.
Er spähte nach etwas im Spiegel, das die Anklage seiner Schwester widerlegt hätte, aber er fand nichts. Er gab dem Spiegel einen leichten Schubs mit der Hand. Er fiel nicht auf den Teppich, sondern auf den glänzend gebohnerten Boden und zerbrach in tausend Stücke. Orry stolperte zur Tür; sein Hemdkragen und seine Weste standen offen und der rechte Ärmel war nicht zugeknöpft. Er lallte vor sich hin.
»Es ist lange – es ist lange her, da lebte am Meer, da lebte am…«
Er kam nicht weiter. Sein vom Alkohol getrübtes Gedächtnis ließ ihn im Stich. Er packte einen zierlichen Stuhl und schleuderte ihn gegen die Wand, wo das schöne Möbel mit einem dumpfen Knall in seine Einzelteile zerbrach. Draußen in der Halle erblickte er einen kleinen Messingspiegel, den er mit einer unwirschen Handbewegung zu Boden fegte und mit den Füßen zertrat. Dann stolperte er auf das Treppenhaus zu.
Aus dem unteren Stockwerk blickten einige Haussklaven beunruhigt und verstohlen zu ihm hinauf. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest, und irgendwie gelang es ihm, heil nach unten zu kommen. Zu seiner Linken prangte ein weiterer Spiegel, ein schönes Stück, das Ashton vor langer Zeit einmal in Charleston erstanden hatte. Noch nie war ihm bewußt geworden, daß es so viele Spiegel im Haus gab. Die Spiegel zeigten ihm, was er eigentlich war: ein Versager als Mann, ein Versager in allem, was er je unternommen hatte.
Er riß den Spiegel von der Wand, trug ihn in die frostige Nacht hinaus und schleuderte ihn gegen den nächstbesten Baum; die herunterfallenden Glassplitter sahen wie Silberregen aus.
Orry rannte zurück ins Haus, trieb eine weitere Flasche Malzbier auf und wankte, vor sich hinfluchend, in sein Zimmer.
Clarissa blickte bestürzt von ihrem Zeichentisch auf, seufzte und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
»Nach Charleston? Mitten in der Nacht?« Es war am folgenden Morgen, und Orrys schwere Augenlider mußten hart gegen das stechend helle Tageslicht ankämpfen. »Wo ist sie hingegangen? In ein Hotel?«
»Nein, Sir«, antwortete der nervöse Haussklave. »Zu Mr. Cooper. Sie hatte vier Koffer bei sich. Sie sagte, sie wolle eine Weile dort bleiben.«
»Gott«, flüsterte er.
Sein Magen rumorte, sein Kopf hämmerte. Während er in seinem ruinierten Schlafzimmer vor sich hingedämmert hatte, war Brett davongerannt. Noch nie hatte er sich so benommen. Sein Leben lang nicht. Die Scham war noch stärker als die Übelkeit, und sein Stolz war vernichtet. Er war von seiner eigenen Schwester geschlagen worden. Es wäre möglich gewesen, sie aus dem Mills House oder irgendeinem andern Hotel zurückzuschleppen, aber sie hatte sich klugerweise für das Haus an der Tradd Street entschieden. Sie und auch Orry wußten, daß Cooper ihr so lange wie nötig Obdach gewähren würde.
Mit der Stiefelspitze kickte er einige Spiegelscherben. »Los, schafft das weg!« Krank und völlig niedergeschlagen schleppte er sich wieder die Treppe hinauf.
Am Neujahrstag 1860 schrieb Orry seiner Schwester einen Brief. Der Tonfall war leicht drohend, und es kamen Worte wie Trotz, Pflicht und Autorität darin vor. Orry forderte Brett auf, unverzüglich nach Mont Royal zurückzukehren.
Er ließ den Brief von einem Sklaven nach Charleston überbringen. Doch bereits als er den Passierschein ausstellte, hatte er ein Gefühl der Niederlage. Es sollte ihn nicht täuschen – er erhielt keine Antwort.
Einige Tage später kam Cooper vorbei. Orry machte ihm Vorwürfe:
»Du leistest einem Familienstreit Vorschub, indem du ihr erlaubst, bei euch zu bleiben.«
»Sei nicht blöd«, gab Cooper zurück. »Es ist besser, sie wohnt bei uns, als in einem öffentlichen Haus. Brett hat vollkommen recht – und ich bin eigentlich hierhergekommen, um dir das zu sagen. Im übrigen unterstütze ich gar nichts, es sei denn ihren überfälligen Versuch, unabhängig zu werden. Schließlich ist es ihr Leben. Sie ist nicht irgendein Niggermädchen, das du mit demjenigen verheiratet kannst, der die beste Nachkommenschaft verspricht.«
»Du Hurensohn!«
Cooper langte nach seinem Hut. »Ich habe bereits gehört, daß du dich wie ein besoffener Matrose benommen hast. Jetzt muß ich feststellen, daß es stimmt. Auf Wiedersehen.«
»Cooper, Augenblick! Entschuldige! Ich bin außer mir –«
Doch sein Bruder hatte das Zimmer bereits verlassen.
55
Das politische Klima wurde von Monat zu Monat rauher. Gegen Ende des Frühlings trat die Demokratische Partei in Charleston zur Aufstellung ihrer Wahlkandidaten zusammen. Die Kandidatur von Douglas – auf die Cooper stark setzte – schien von Anfang an gefährdet.
Cooper und andere vertraten in den Versammlungsräumen der Institute Hall in der Meeting Street die Meinung, die Partei müsse einen Mann wählen, der den Stimmbürgern in andern Regionen ebenfalls genehm wäre, weil sonst der Süden leiden würde. Cooper betonte, daß die Republikaner eine noch schlimmere Medizin als Douglas sein könnten, aber es gab nur wenige, die ihm zuhörten, und Douglas’ Anhänger wurden schnell zu einer kleinen Minderheit.
Es kam zu einer heiklen Grundsatzdebatte. Die Anhänger von Douglas weigerten sich, eine Bestimmung zu befürworten, wonach die Sklaverei in den Territorien geschützt werden sollte. Wutentbrannt verließen Delegierte, darunter Huntoon mit den andern Männern aus South Carolina, den Saal, um unter sich zu diskutieren. Cooper erblickte Ashton auf der Galerie; sie war ganz aufgeregt und spendete eifrig Beifall.
Es war alles aus. Nach siebenundfünfzig Wahlgängen wurde die Versammlung vertagt, ohne daß ein Kandidat aufgestellt worden wäre. Die Partei hatte endgültig Schiffbruch erlitten.
Zu Beginn des Sommers traten die Nationalen Demokraten in Baltimore zusammen und nominierten Douglas. Die Abtrünnigen, die sich selbst den Namen Konstitutionelle Demokraten gaben, versammelten sich in Richmond, um die uneingeschränkte Sklaverei in den Territorien zu befürworten und John Breckinridge aus Kentucky zu nominieren. Eine dritte Splittergruppe versuchte, besorgte Bürger für ein bedingungsloses Eintreten für die Verfassung zu gewinnen, doch das ganze war nicht mehr als ein Strohfeuer.
Am Parteitag der Republikaner in Chicago wurde Seward von Lincoln geschlagen. Das Parteiprogramm enthielt eine Erklärung, die zu heftigen Kontroversen Anlaß gab. Es hieß, daß der Kongreß nicht ermächtigt sei, die Sklaverei gutzuheißen oder zu fördern, indem er es zulasse, daß sie in den Territorien Fuß fasse. Die Sklaverei konnte überall dort toleriert werden, wo sie bereits früher existiert hatte, aber die Republikaner waren einmütig dagegen, daß sie sich weiter verbreitete.
»Das republikanische Parteiprogramm ist ein Greuel«, sagte Huntoon zu Cooper. »Es ist wirklich eine Gewähr dafür, daß der Süden in den Kampf ziehen wird, wenn dieser Affe gewählt werden sollte.«
»Da Sie ja offensichtlich den Kampf wollen, überrascht es mich, daß Sie keine Propaganda für Lincoln machen.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, Cooper«, entgegnete Huntoon mit unbewegtem Gesicht.
Doch seine Augen hinter den Brillengläsern blitzten amüsiert.
Mitte August machte Ashton einen Besuch in der Tradd Street.
»Um Himmels willen, Brett, ich habe wirklich geglaubt, daß dein Zukünftiger jetzt in Charleston sein müsse!«
»Ich auch«, entgegnete Brett. »Es hat Monate gedauert, bis sie seinen Befehl ausgearbeitet hatten.«
»Die Armee hat sich schon seit jeher wie eine Schnecke bewegt«, bemerkte Cooper. Er war in letzter Zeit mager geworden, und die Müdigkeit hatte tiefe Furchen unter seinen Augen gegraben. Der Bau der Star of Carolina lief schlecht, und Cooper fühlte sich natürlich in Anbetracht des Unglücks, das Bruneis Frachter Trincomalee im Vorjahr ereilt hatte, keineswegs ermutigt. Das Schiff hatte im September die Themsemündung gerade verlassen, als sein riesiger Frachtraum durch eine Explosion zerstört wurde. Das Schiff war zwar nicht gesunken, aber Brunei hatte das nie mehr erfahren: Der Bericht über die Katastrophe war das letzte, was er vernommen hatte, bevor er am fünfzehnten September 1859 gestorben war.
Ashton kümmerte sich natürlich überhaupt nicht um solche Dinge. Mit vorgeschobener Unterlippe ergriff sie Bretts Hand, tätschelte sie und sagte: »Es tut mir wirklich leid für dich. Weiß man denn schon etwas Genaues über Billys Ankunft?«
»Ja, Gott sei Dank«, warf Judith ein. »Vorgestern kam eine Nachricht.«
Ashtons Augen funkelten. »Ach, erzähle!«
Brett sagte: »Billy muß sich in der ersten Septemberwoche bei Hauptmann Foster melden. Foster ist Ingenieur und soeben in der Stadt eingetroffen. Er soll Fort Moultrie ausbessern.«
»Ach, das ist ja eine herrliche Nachricht. Es wird sehr angenehm sein, Billy hier in Charleston zu haben.«
Cooper wunderte sich über den eigenartigen Gesichtsausdruck seiner Schwester und über ihre merkwürdige Aussage. Weshalb sollte die Tatsache, daß Billy in Charleston sein würde, für irgend jemanden außer für Brett angenehm sein? Ashton mußte wohl Bretts Situation im Auge gehabt haben.
Und doch befremdete ihn das eigenartige Glimmen in Ashtons Augen. Er konnte sich nicht vorstellen, was es zu bedeuten hatte, aber schließlich verstand er Ashton noch weniger, als er Orry in letzter Zeit verstand.
Hoch oben auf der Galerie der überfüllten Institute Hall hörte Cooper sich Huntoons Rede an. Es war die letzte einer Serie von Ansprachen, in denen er die Wahl von Breckinridge zum Präsidenten befürwortet hatte. Im Grunde redete er eine halbe Stunde lang gegen Lincoln.
»Ein vulgärer Mann des Pöbels!« Huntoon schlug mit der Faust aufs Rednerpult. Das Publikum spendete donnernden Beifall. »Ein ungebildeter Raufbold, ein Bauerntölpel, der dazu angeheuert wurde, den Haß gegen den Süden zu schüren und für die Gleichheit der Nigger einzutreten!«
Gebrüll und »Nein! Nein!« aus allen Ecken der Halle. Cooper konnte und wollte es nicht mehr ertragen und stand auf; man warf ihm wütende Blicke zu, die er ignorierte. Als er die Halle verließ, erwähnte Huntoon erneut Lincolns Namen, was zu weiteren Buhrufen und Zischen Anlaß gab, bis jemand aus voller Kehle schrie: »Tötet den Affen!«
Tosender Beifall. Sie wollten den Kampf. Sie weigerten sich, Lincolns Worten Beachtung zu schenken, wonach er sich an das Programm seiner Partei halten und sich nicht in die Angelegenheiten jener Staaten, in denen Sklaverei bereits bestand, einmischen würde. Sie hörten nur ihre eigenen Stimmen, die von Verrat und der Notwendigkeit des Widerstands faselten. Cooper fühlte sich mutloser, als dies seit Jahren der Fall gewesen war.
Als Billy in Fort Moultrie ankam, erlebte er nicht nur einen Schock, sondern gleich mehrere.
Er hatte Charleston als eine ruhige und gastfreundliche Stadt in Erinnerung, als einen Ort, wo die Menschen ohne Hast und Aufregung lebten. Jetzt herrschten Mißtrauen und Gereiztheit. Die Leute redeten aufgeregt von Sezession und verfluchten Lincoln und Douglas. Billy erntete in seiner Uniform bloß unfreundliche Blicke.
Der zweite Schock kam, als ihm klarwurde, welcher Art die bevorstehenden Arbeiten am Fort auf der Sullivan-Insel sein würden. Die Sandhügel vor den Wällen mußten beseitigt werden, weil das Fort sonst zu leicht hätte gestürmt werden können. Im übrigen mußten die ungefähr fünfundfünfzig Kanonen des Forts neu plaziert werden, damit Castle Pinckney und Fort Sumter im Hafen besser geschützt waren. Kriegsvorbereitungen.
Jedermann, ob Zivilist oder Soldat, wußte, daß die Bundesgarnison einem organisierten militärischen Angriff wahrscheinlich nicht würde standhalten können. Die Sullivan-Insel war ein langer, sandiger Landstreifen am Meer. Rund um das Fort waren zahlreiche Sommerhäuser errichtet worden, und das Innere des Forts war von den Dächern jener Häuser aus leicht einzusehen.
Überdies war die Moultrie-Garnison nicht besonders stark: Sie umfaßte vierundsechzig Mann und elf Offiziere. Das Kommando führte Oberst John Gardner, ein schroffer Yankee aus Massachusetts, der keinerlei Hehl daraus machte, daß er die Südstaatler nicht mochte.
Der ältere Hauptmann, Abner Doubleday, war ein zäher und kompetenter Offizier, der im selben Sommer, als George nach West Point gekommen war, abgeschlossen hatte. Er war in Charleston besonders deswegen nicht beliebt, weil er offen zeigte, daß er gegen die Sklaverei war.
Vier Offiziere der Pioniertruppen waren in Fort Moultrie stationiert: Hauptmann John Foster sowie die Leutnants Meade, Snyder und Hazard.
Während der ersten Woche wurde Billy zweimal von Hauptmann Foster nach Charleston geschickt. Wiederum fiel ihm die unverhohlene Feindseligkeit auf, die man jedem Vertreter der Bundesregierung entgegenbrachte. Billy erzählte am Abend Hauptmann Doubleday bestürzt über seinen Empfang in der Stadt. Sie standen im Abendwind neben einer auf den Atlantik gerichteten Haubitze.
»Was haben Sie denn erwartet?« sagte Doubleday aufgebracht, nachdem er sich Billys Kommentar angehört hatte. »Die Leute in South Carolina bereiten sich auf den Krieg vor. Wenn Sie mir das nicht glauben wollen, so warten Sie bloß das Ergebnis der nächsten Wahlen ab.«
Er blickte sich verstohlen um. »Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb wir jeden Tag mit diesem Ding hier feuern! Damit die Leute nicht denken, wir könnten uns nicht verteidigen – obwohl das natürlich in gewisser Hinsicht stimmt.«
An einem warmen Samstagabend Ende Oktober erhielt Billy von Hauptmann Foster die Erlaubnis, auswärts zu essen. Billy war dankbar für die Gelegenheit. Er hatte Brett bereits einige Male getroffen und war über den Streit mit ihrem Bruder auf dem laufenden. Doch jedesmal, wenn er auf das Thema der Heirat zu sprechen kam, redete sie sofort von etwas anderem. Hatte sie sich umstimmen lassen? Er mußte wissen, was los war. An jenem Samstag abend nahmen sie das Abendessen im eleganten Moultrie House ein. Das Hotel befand sich in Moultrieville, einem Dorf am Ende der Insel, ganz in der Nähe des Hafens. Nach dem Essen gingen die beiden Arm in Arm am Strand spazieren. Das Licht, das durch die tiefhängenden Wolken schien, verlieh dem Meer einen schneeweißen Schimmer. Zehn Pelikane flogen einer hinter dem andern dicht über die Wellen, die leise murmelnd am Strand verebbten.
»Brett, weshalb heiraten wir nicht?«
»Weil du so sehr damit beschäftigt bist, das Fort vom Sand zu befreien, und keine einzige freie Minute hast.«
»Sei bitte ernst! Du hast doch Orry gesagt, daß du auch ohne seine Einwilligung – «
»Nicht ganz. Ich habe ihm gesagt, daß ich sie nicht brauche, aber es wäre mir lieber, wenn er seinen Segen geben würde. An dem Abend, als ich Mont Royal verließ, war ich wütend auf Orry, und ich habe einiges gesagt, das ich jetzt bereue.«
Sie streichelte sanft den Ärmel seiner Uniform. »Natürlich liebe ich dich. Und ich werde dich heiraten, komme was wolle. Aber ich möchte meine Familie nicht vor den Kopf stoßen. Ich liebe sie genauso sehr wie du die deinige. Kannst du das verstehen?«
»Ja, natürlich. Aber wir haben nun schon so lange gewartet – «
Seine Stimme verlor sich. Er blickte über den Strand und sah Hauptmann Doubleday mit einer Frau auf dem Wall Spazierengehen. Sogar im Gespräch mit seiner Ehefrau machte der Hauptmann ein ernstes Gesicht.
»Ich möchte diese Chance nicht verpassen«, sagte Billy. »In Charleston herrscht eine gespannte Stimmung. Alles ist möglich.«
»Billy, das klingt, als ob du mir böse wärst.«
»Ich bin verärgert über die Verzögerung. Ich verstehe sehr wohl, daß du dich nicht mit deinem Bruder entzweien möchtest, aber wird er die Dinge jemals so sehen können wie wir? Vielleicht nicht.«
Sie antwortete nicht. Ein harter Zug zeichnete sich um seinen Mund ab.
»Ich liebe dich, Brett, aber ich kann nicht ewig warten.«
»Ich auch nicht, Liebster. Cooper hat versprochen, daß er nochmals mit Orry reden wird. Gib beiden doch noch ein bißchen Zeit.«
Er blickte auf das Meer hinaus. »Es scheint, als ob die Zeit immer knapper würde. Komm, laß uns zum Hotel zurückkehren und nachschauen, ob dein Fährmann sich unterdessen nicht hoffnungslos betrunken hat.«
Er klang so verärgert, daß Brett kein Wort mehr sagte, als sie in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Moultrieville eilten.
Am Wahltag schickte Oberst Gardner Billy nach Charleston. Wegen der Stimmung, die in der Stadt herrschte, hatte der Oberst Humphreys, dem für das Bundesarsenal zuständigen Offizier, eine Botschaft zukommen lassen. Humphreys sollte sich bereithalten, am folgenden Tag eine größere Menge von Waffen und Munition auf ein Leichterschiff von Fort Moultrie zu verladen. Die in Charleston gelagerten Geschütze waren für den Pöbel zu leicht zugänglich.
Billy ruderte eigenhändig zur Battery hinüber, ein hartes und zeitaufwendiges Unterfangen. Gardner hatte ihm erlaubt, in der Tradd Street zu Abend zu essen, und Billy wollte nicht, daß ein Soldat vor dem Haus auf ihn warten mußte. Er bemerkte, wie Arbeiter auf der Battery einen Freiheitspfahl errichteten. Von vielen Häusern wehte die dunkelblaue Flagge mit dem Palmettobaum, dem Wahrzeichen des Staats. Nachdem Billy das Boot vertäut hatte, mußte er an einigen bei der Treppe herumlungernden Gestalten vorbeigehen. Einer der Burschen, ein stämmiger, kleiner Kerl mit einer schmierigen ledernen Augenklappe, schnippte mit dem Daumen in Richtung Boot.
»Was wollen Sie denn darin zum Fort transportieren, Sir?«
Billy erklomm gerade die oberste Stufe und legte die Hand auf sein Pistolenhalfter. »Mich selbst. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, Sir?«
»Laß ihn, Cam«, sagte ein anderer der Rowdies zu dem Burschen mit der Augenklappe. »Es dauert noch ein paar Stunden, bis Nigger Abe gewählt worden ist. Danach können wir uns, schätze ich, um diesen Fatzke kümmern.«
Billy hatte Herzklopfen und einen verkrampften Magen, als er auf die Kerle losmarschierte. Im letzten Augenblick traten sie jedoch zur Seite und ließen ihn durch. Er beschleunigte seine Schritte. Sein Griff nach der Pistole war nur Bluff gewesen. Er durfte die Waffe nicht einmal zur Selbstverteidigung benutzen, denn eine solche Reaktion könnte einem Angriff auf das Fort Vorschub leisten.
Er richtete dem nervösen Kommandanten des Arsenals die Botschaft von Oberst Gardner aus. »Ich werde alles bereithalten«, versprach Humphreys. »Aber ich mache jede Wette, daß wir die Waffen nicht weiter als bis zum Dock bringen werden. Die Hitzköpfe werden es uns nicht gestatten.«
Auf dem Weg zu Cooper ging Billy am Mills House vorbei. Er ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte jedoch keine Mühe, Huntoon und Ashton zu erkennen, die gerade aus dem Hotel kamen. Huntoon grüßte, indem er leicht an den Hut tippte, aber Ashton nickte bloß abschätzig.
In der Tradd Street herrschte eine melancholische Stimmung. Cooper war noch nicht zu Hause. Judith versuchte die Gäste zu unterhalten, indem sie die Kinder um das Klavier scharte und zum Singen ermutigte, aber sie gaben bald auf; irgendwie fehlte es an Begeisterung. Schließlich traf Cooper ein und entschuldigte sich für sein Zuspätkommen. Er kam von der James-Insel, wo es Schwierigkeiten mit der Kiellegung der Star of Carolina gegeben hatte.
Judith hatte zum Abendessen ein vorzügliches Austerngericht zubereitet, aber Billy war nicht hungrig. Brett wirkte zerstreut, geistesabwesend. Das Tischgespräch erlahmte. Gerade als Judith Erdbeereis in silbernen Schalen auftrug, begannen die Glocken zu läuten.
Cooper runzelte die Stirn. »Sankt Michael. Wahrscheinlich sind die ersten Wahlergebnisse aus dem Norden eben telegrafisch durchgegeben worden.«
»Stimmt es, daß morgen ein offizieller Feiertag ist?« fragte Judith.
»Ja. Ich bin Bob Rhett auf dem Nachhauseweg begegnet. Er triumphierte. Er sagte, daß der heutige Tag den Beginn der Amerikanischen Revolution von 1860 markiere.« Cooper zog eine Grimasse.
Sie hörten Musik von draußen. »Ich würde gern sehen, was los ist«, sagte Billy. »Vielleicht ist das Armeeblau in ein oder zwei Wochen nicht mehr gefragt. Würdest du dich draußen nicht wohl fühlen, Brett?«
Sie nickte, und bald darauf schlenderte sie mit Billy durch die Meeting Street in Richtung Battery. Cooper und Judith waren zu Hause geblieben.
Es war noch recht früh am Abend, und doch war die Straße außerordentlich belebt; es herrschte eine laute, aber durchaus friedfertige Stimmung. Billy merkte, daß er mehrmals finstere Blicke einheimste – wahrscheinlich war die Uniform schuld daran. Brett hielt überrascht den Atem an.
»Sie spielen ja die ›Marseillaise‹!«
»Verrückt«, antwortete er bloß. Ein dumpfer Knall und ein greller Lichtstrahl – beides kam von der Battery her –, und Billy blieb jäh stehen. Kanonen?
Dann entspannte er sich wieder. Es war bloß ein Salutschuß gewesen, nichts Feindliches. Gott im Himmel, er war schon so nervös wie ein Frosch auf einem heißen Herd.
Als sie die Water Street hinuntergingen, fragte Brett: »Kennst du die Männer dort? Sie beobachten uns.«
»Nein«, entgegnete Billy, »ich glaube nicht. Moment mal! Einen davon erkenne ich; es ist einer der Raufbolde, denen ich heute nachmittag auf der Battery begegnet bin.«
Der Mann, der stämmige Kerl mit der Augenklappe, gab den andern ein Zeichen und rief Billy und Brett laut und vernehmlich zu: »He, wir wollen uns mit der jungen Dame unterhalten. Ich möchte gern wissen, weshalb sie mit einem dieser verdammten Yankees herumzieht.«
»Wir sollten ihr sagen, daß das unpatriotisch ist«, sagte ein andrer.
»Na, dann überzeug sie mal«, rief ein dritter und hob einen Stein auf.
Billy zählte insgesamt sieben Mann. Vier oder fünf hatten sich mit Steinen bewaffnet. »Stell dich hinter mich«, sagte er mit ruhiger Stimme zu Brett.
»Aber wir sind ja mitten in der Stadt – «
Die Raufbolde betraten den Gehsteig. Menschen strömten in Richtung Battery an Billy und Brett vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Der Mann mit der Augenklappe nahm seine schmutzige Kappe vom Kopf, straffte die Schultern und stellte sich in Positur.
»Entschuldigen Sie, Miss, aber die patriotischen Bürger von Charleston ersuchen Sie untertänigst, sich selbst nicht zu besudeln, indem Sie mit dem Abschaum des Forts verkehren.«
Wieder wurde ein Salutschuß abgegeben. Die Gebäude auf der Straße leuchteten kurz rot auf.
»Sie können zum Teufel gehen«, sagte Brett. »Ich verkehre, mit wem ich will.«
»Ah ja? Da bin ich aber nicht so sicher.«
Der Mann mit der Augenklappe kam näher heran. Billy zog seine Pistole. Auch diesmal war es reiner Bluff; es waren so viele Menschen um sie herum, daß er es nicht gewagt hätte zu schießen. Eine Frau hinter ihm erspähte die Pistole und stieß einen Schrei aus. Mehrere Fußgänger drängten sich auf die Straße, um etwaigen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen.
Der Rowdy täuschte einen Angriff auf Billys Pistole vor. Billy sprang zur Seite. Ein andrer Mann warf einen Stein. Er flog an Billy vorbei und traf Brett an der Schulter; sie stieß einen Schrei aus. Billy fluchte, sprang vor und riß dem Steinwerfer mit dem Pistolenknauf die Wange auf. Dieser heulte auf und fiel rückwärts zu Boden; er blutete.
Billy blickte sich vorsichtig um. Die Männer bildeten einen Halbkreis, der sich langsam schloß. Er wollte es nicht riskieren, daß Brett in ein Handgemenge geriet. Widerstrebend rief er Brett ein Wort zu, das seinem Charakter und seiner ganzen Erziehung zuwiderlief:
»Lauf!«
Brett zögerte. Er packte sie am Arm und schleppte sie praktisch zur Tradd Street. Der Mann mit der Augenklappe und seine Kumpane waren wie die Aasgeier hinter ihnen her. Steine flogen. Einer erwischte Billy am Hals und riß ihm die Haut auf.
An der Ecke Meeting und Tradd Street machten die Verfolger halt. Billy geleitete Brett bereits durch Coopers Gartentor. Keuchend schlossen sie das Tor hinter sich und lehnten sich an die Wand. Auf der Battery wurde eben ein zweiter Kanonenschuß abgefeuert.
»Ich bin noch nie vor jemandem oder etwas davongerannt«, keuchte Billy.
»Es ist – «, auch Brett war völlig außer Atem, »das einzige, was du tun konntest. Ich begreife nicht, wie Menschen aus South Carolina sich so benehmen können.«
Er ergriff ihre Hand und führte sie zur Treppe. Es war ihm nicht bewußt gewesen, wie tief der Haß eigentlich saß. Kein Wunder war der alte Gardner nicht besonders von seinem Posten angetan und feuerte Doubleday seine Haubitze als Warnung. Charleston war nicht mehr unter Kontrolle.
Als am folgenden Tag Lincolns Sieg feststand, nahmen die Festivitäten zu. Als der Leichter aus Fort Moultrie eintraf, ließ es die aufgeregte Menge nicht zu, daß die Waffen und die Munition verladen wurden – genau wie es der Offizier aus dem Arsenal prophezeit hatte.
Am Abend feierte die ganze Stadt: Musikkapellen spielten, Lampen und Kerzen brannten in fast jedem Fenster, und Gruppen nächtlicher Spaziergänger, teils nüchtern, teils nicht, lärmten an Huntoons Haus auf der East Battery vorbei.
Huntoon und Ashton waren eben dabei, sich für das Feuerwerk auf der Battery umzuziehen. Huntoon hatte eine alte, blaue Satinkokarde aufgetrieben, die er an seinem besten Kastorhut befestigte. Ashton stand vor dem Spiegel und rückte ihre Mütze mit den schwarzen und weißen Federn zurecht. Sezessionsmützen wurden sie von den Damen genannt. Sie waren hochmodisch.
»Plant man wirklich einen Sonderkongreß?« fragte sie.
»Klar. Er wurde von der Legislative für den siebzehnten Dezember einberufen, damit die zukünftige Beziehung des Staats mit dem Norden festgelegt werden kann. Sie kommt, Liebling.« Er umfaßte ihre Taille und wirbelte sie herum. »Die Unabhängigkeit. Senator Chestnut ist heute in Washington zurückgetreten. Senator Hammond auch.«
Ihre Ad-hoc-Feier wurde von einem Haussklaven unterbrochen.
»Da ist ein Herr, der Sie sehen möchte, Mist’ Huntoon.«
»Verflucht, Rex, ich hab’ jetzt für niemanden Zeit.«
»Er sagt, es sei wichtig.«
»Wie heißt er?«
»Mist’ Cam’ron Plummer.«
»Oh.« Huntoons Wichtigtuerei war wie weggeblasen. »Schick ihn zum Nebeneingang.«
Der Sklave ging hinaus. Huntoon und Ashton tauschten ernüchterte Blicke aus. Dann verließ Huntoon das Zimmer.
Im Schatten des Nebeneingangs flüsterte ihm ein Mann zu: »Ich habe mein Möglichstes getan, Mr. Huntoon. Genau, was Sie mir sagten. Bin auf der Lauer gelegen, bis sie auf der Straße auftauchten, und dann hinterher. Doch bevor wir sie richtig schnappen konnten, machten sie kehrt und rannten zum Haus an der Tradd Street. Ich muß meine Jungs aber noch zahlen. Wir haben alle unser Bestes getan.«
»Ich weiß, ich weiß – seien Sie leise.«
Es überraschte Huntoon nicht, daß der Plan mißlungen war. Es war Ashtons Idee gewesen, und er hatte sich ihr widersetzt. Doch sie hatte so lange geheult und gewütet, bis er ihr nachgab. Sie hatte ihm auch damit gedroht, daß sie einen Monat lang in einem andern Zimmer schlafen würde, und das hatte ihn in nicht geringem Maß bei seiner Entscheidung beeinflußt.
Doch kaum hatte er nachgegeben, als er es auch schon bereute. Ein Mann mit seinen Ambitionen konnte sich keine solch gefährlichen Späße leisten. Ashton sollte in Zukunft ihren Rachegelüsten allein frönen, er würde sich nicht mehr hineinziehen lassen. Dies war sein Beschluß, als er langsam einige Geldstücke in die Hand des Mannes mit der Augenklappe fallen ließ.
56
Orry schob seinen Teller beiseite. Cuffey sprang eilfertig vor. »Stimmt etwas nicht, Mist’ Orry?«
»Sag dem Küchenpersonal, daß das Rindfleisch schlecht ist.«
Cuffey nahm den Teller, schnupperte und verzog das Gesicht. »Klarer Fall. Möchten Sie etwas anderes?«
Er schüttelte den Kopf. »Ist deins auch schlecht, Cooper?«
»Ja. Ich wollte nichts sagen. Ich hätte es einfach stehengelassen.«
Cuffey verschwand mit den Tellern. Orry hing schlaff in seinem Stuhl, Herbstregen prasselte gegen die Fensterläden des Eßzimmers.
»Etwas stimmt wieder nicht in der Räucherkammer«, sagte Orry seufzend. »Sie ist feucht. Ich sage dir, erst seit Brett weg ist, bin ich mir darüber klargeworden, wie sehr ich von ihr abhängig war.«
Cooper wußte sehr wohl, was sein Bruder sagen wollte. Es gab einige nicht zu übersehende Zeichen. Die Fensterläden von Mont Royal waren völlig verwittert und hatten einen neuen Anstrich bitter nötig. Im Gästezimmer löste sich die teure geflockte Tapete. Überall in den Zimmerecken häufte sich der Staub. Bei seinem letzten Besuch in Mont Royal hatte Cooper erfahren, daß Cuffeys Frau, Anne, Zwillingen das Leben geschenkt hatte, daß aber eines der Mädchen gestorben war, weil es Komplikationen gegeben hatte. Niemand hatte Aunt Belle Nin holen lassen.
Cooper versuchte, die düstere Stimmung etwas anzuheben: »Nun, du mußt eben eine der Damen aus deinem Bekanntenkreis heiraten und ihr als Hochzeitsgeschenk einen Besen und einen Pinsel in die Hand drücken.«
»Nicht eine von ihnen wäre für diese Plantage geeignet.«
Cooper war von der kurzangebundenen Antwort überrascht; sie bestätigte ihm jedoch, was er schon von Brett wußte: Orry lächelte nicht mehr, und sein Verstand bewegte sich in düsteren Welten, die nur er allein kannte. Cooper glaubte es. Er befand, daß es wohl besser sei, auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu sprechen zu kommen. »Nun ja, ich wünschte, du wärst an jemandem interessiert, denn Brett wird wohl kaum zurückkommen.«
»Wegen Billy.«
»Ja, das stimmt.«
»Du willst mir doch nicht etwa mitteilen, daß die beiden schon geheiratet haben?«
Cooper schüttelte den Kopf. »Sie schieben es immer noch hinaus, obwohl Billy sich deswegen ärgert. Brett wartet immer noch aus Rücksicht auf dich.«
Orry brummte verächtlich und langte nach der Whiskeyflasche aus geschliffenem Glas. Sie gehörte neuerdings zum festen Zubehör auf dem Tisch, wie Cooper feststellte.
»Meinetwegen braucht sie nicht zu warten.« Orry schenkte sich einen Whiskey in den Weinkelch ein, aus dem er schon eine beträchtliche Menge weißen Bordeaux getrunken hatte. »Ich habe nicht die Absicht, meine Meinung in absehbarer Zukunft zu ändern.«
Cooper lehnte sich vor. »Glaubst du nicht, daß du das eigentlich solltest?«
»Hat sie dich deswegen von Charleston hierhergeschickt?«
»Nein. Verflucht noch mal. Orry«, er klopfte auf den Tisch, »trotz dem Benehmen der LaMottes und einiger unserer Nachbarn leben wir nicht mehr im Mittelalter. Die Frauen haben ein Recht darauf, ihr eigenes Leben zu führen. Bitte, erlaube Brett ihr eigenes Leben, unabhängig von den Gefahren, die du dir vorstellst oder einbildest. Sie versucht, den Familienfrieden zu erhalten – was mehr ist, als ich an ihrer Stelle tun würde.«
»Meine Antwort ist immer noch ein Nein.«
Aber seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Er hatte in letzter Zeit viel über Bretts Situation nachgedacht und wußte, daß Cooper recht hatte und er die Erlaubnis geben sollte. Aber irgendwie konnte er es nicht. Die Ereignisse in Washington, in Charleston, ja überall, waren zu bedrohlich …
Cooper faltete seine Serviette zusammen und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Na schön. Cuffey, würdest du bitte meinem Kutscher sagen, daß er sofort vorfährt?«
»Ich dachte, du würdest über Nacht bleiben?« sagte Orry.
»Wozu? Ich bin ebenso pessimistisch, was die Zukunft anbelangt, wie du, aber an diesem Punkt gehen unsere Meinungen auseinander. Das Leben ist mühselig, und das war schon immer so. Brett verdient es, das Leben zu genießen, solange sie das noch kann. Du stehst ihr im Weg und hast offensichtlich die Absicht, dort zu bleiben. Ich bedaure es zwar, aber ich befürchte, ich kann nichts dagegen tun. Ich werde noch bei Mutter hereinschauen und dann gehen. Entschuldige mich.«
Steif und ohne Lächeln verließ er das Zimmer.
Orry blieb sitzen und hörte dem Regen zu. Nun hatte auch Cooper sich gegen ihn gewandt. Vor einer Weile war er noch in bezug auf Bretts Heirat ins Wanken geraten, aber diese neuerliche Zurückweisung schürte seine Wut und festigte seine Entschlossenheit.
Er bemerkte, daß sein Glas leer war. Wann hatte er den ganzen Whiskey getrunken? Er konnte sich nicht erinnern. Er streckte den Arm aus und umschloß den Flaschenhals mit der Hand.
»Sieh dir den Nebel an«, murmelte Judith. »Ich hoffe, daß Cooper nicht die halbe Nacht lang ausbleibt. Ich glaube, er wird krank.«
Brett blickte von den Stricknadeln auf, deren Handhabung sie eben der achtjährigen Marie-Louise erklärt hatte. »Weshalb ist er zur Werft zurückgegangen? Arbeitet noch jemand?«
»Nein. Er ging hin, weil er sich Sorgen macht. Sie sind mit dem Bau des Schiffes zeitmäßig arg im Rückstand. Der wichtigste Architekt hat Cooper verlassen, weil er nicht mit den hiesigen Arbeitern zurechtkam. Die Banken zögern mit weiteren Darlehen, weil es nicht sicher ist, ob die Handelsbeziehungen mit dem Norden nicht unterbrochen werden. Ach Gott, wie furchtbar das alles ist!«
Sie hätte noch hinzufügen können, daß Cooper sich auch wegen Brett Sorgen machte, aber sie unterließ es. Es hätte nur Schuldgefühle bei Brett ausgelöst, und Brett ging es ohnehin nicht besonders gut.
Judith war sehr beunruhigt über ihren Mann. Letzte Woche war er morgens gegen halb fünf aus Mont Royal zurückgekehrt. Seither hatte er jeden Tag in der Werft auf James Island verbracht und war jeden Abend nach dem Essen nochmals hinübergefahren. Er hatte einen Fährmann auf Abruf eingestellt. Der Mann fing an, sich zu beklagen. Aber er war wenigstens noch gesund. Cooper hingegen hatte etwa fünf Kilo abgenommen, was für einen Mann von seiner schlanken Statur nicht wenig war. In letzter Zeit sah sein Gesicht ziemlich wächsern aus. Während Brett mit Marie-Louise lachte und flüsterte, beobachtete Judith den Nebel, der langsam am feuchten Fenster vorbeistrich. Was mochte Cooper in einer solchen Nacht wohl auf der Werft tun?
Sie wußte es. Er war in der Lage, sich vor lauter Sorgen selber zu zerstören.
Das große Kielschwein der Star of Carolina ragte in den Nebel hinaus wie das Rückgrat eines längst gestorbenen und vermoderten Sauriers.
Cooper wandte sich ab. Der Traum vom Schiff war ausgeträumt; das hatte er sich schließlich eingestehen müssen. Er hatte Schiffbruch erlitten. Doch was sollte er jetzt tun?
Er zog sein Taschentuch heraus, schneuzte sich die triefende Nase und rieb sie mehrmals. Er wurde krank, aber es war ihm egal.
Aus der Ferne war das Horn eines Dampfers zu vernehmen. Dichter Nebel hing über James Island. Cooper hätte sich verirrt, wenn nicht die beiden Laternen an dem Bürogebäude ihm mit ihrem fächerförmigen Lichtschein den Weg gewiesen hätten.
Ich hätte die ganze Sache noch hinkriegen können, wenn Van Roon nicht fortgegangen wäre, dachte Cooper, als er durch den Schlamm trottete, der ihm über die Schuhe schwappte. Der Architekt, Van Roon, war der Eckpfeiler des Vorhabens gewesen. Leider waren er und ein armer Teufel, den man dazu eingestellt hatte, eimerweise Nietbolzen anzuschleppen, miteinander in ein Handgemenge geraten. Obwohl Van Roon ein gebildeter und zurückhaltender Mann war, hatte er Schläge ausgeteilt und geflucht wie ein Matrose. Und weshalb? Es ging um die Frage, wem bei einer Unabhängigkeit von South Carolina das Bundeseigentum, das heißt, das Arsenal und die Festungen, zugesprochen würde. Ein halbes Dutzend Arbeiter hatten abwechselnd auf Van Roon eingeschlagen, bevor Cooper hingekommen und seinen Architekten gerettet hatte.
Cooper war am Ufer angelangt und spähte über den Schiffskanal, in seiner Phantasie stieg das fünfeckige Fort Sumter vor ihm auf. Die Festung war im Winter 1828-29 errichtet, aber nie fertiggestellt worden. Bis auf den heutigen Tag war sie unbemannt geblieben. Doch da sie sich in der Nähe des Kanals und des Hafens befand, war sie strategisch gesehen natürlich von Bedeutung, vielleicht von noch größerer Bedeutung als eines der andern Charleston-Forts. Und wenn der alte Gardner sie befestigen würde? Dann würde wohl die Hölle los sein.
Der Staat, den Cooper so sehr liebte, war unter die Kontrolle von Idioten geraten, von Idioten und Opportunisten nach der Art von Ashtons Ehemann. Sie gaben ihre Parolen zum besten, ließen ihre aufgeblasene Rhetorik vom Stapel und vergaßen dabei die Fabriken, die großen Industriewerke wie dasjenige der Hazards im Norden. Im ganzen Süden gab es nur ein einziges größeres Eisenwerk: Tredegar in Richmond. Wenn der Krieg ausbrach, wie wollte der Süden es verteidigen? Mit gewandten Deklamationen und einem Bollwerk aus Baumwolle?
Was würde in den nächsten Monaten geschehen? Cooper starrte in den Nebel und hatte dabei das Gefühl, daß er die Antwort auf diese Frage kannte.
»Die Apokalypse«, sagte er leise vor sich hin und nieste dann so heftig, daß ihm der Hut vom Kopf fiel.
Der Hut fiel ins Wasser und wurde von einer leichten Welle erfaßt. Cooper watete hinein, aber der Hut trieb immer weiter ab. Als das Wasser ihm schließlich bis an die Oberschenkel reichte, gab er seine Verfolgungsjagd auf.
Herrlich, dachte er und grinste im stillen. Der Allmächtige holt dich wieder auf die Erde zurück, indem er dir den Hut davonbläst. Oder sollte es eine Warnung sein? Ein Hinweis darauf, daß nur derjenige, der sich um die kleinen Dinge sorgte, die beinahe sichere Apokalypse überleben würde?
Er watete ans Ufer zurück und eilte, von einer Inspiration beflügelt, ins Büro: Da man in diesen Zeiten offensichtlich keinen anständigen Schiffsarchitekten nach Charleston locken konnte, mußte er eben sein eigener Architekt sein.
Er riß sämtliche Pläne von den Wänden und schmetterte sie auf den großen Arbeitstisch. Dann drehte er das Licht voll auf. Er vertiefte sich in die Pläne, wühlte darin herum, stellte Berechnungen an, doch schließlich mußte er zugeben, daß er zwar einiges über die einzelnen Aspekte des Vorhabens wußte, aber nicht genug. Die Star of Carolina war nicht zu retten.
Als der Morgen dämmerte, fand der gähnende Fährmann Cooper bewußtlos und fiebernd mit dem Kopf auf dem Arbeitstisch.
»Den Schubkarren hierher! Bitte, treten Sie zur Seite!«
Billys erster Befehl wendete sich an einige zivile Arbeiter, der zweite an einige Touristen, die auf den Dünen in der Nähe von Fort Moultrie spazierengingen. Die Ausbesserungsarbeiten wurden immer wieder durch Gaffer gestört, und Billy verlor des öfteren die Geduld.
Heute war keine Ausnahme. Er befahl einer Familie, ihre Picknickreste von einer Düne zu räumen, die von seinen Männern abgetragen wurde, damit sie nicht von Heckenschützen besetzt werden konnte. Für November war das Wetter ungewöhnlich warm, und er schwitzte stark.
Er bemerkte, wie Hauptmann Foster gestikulierend vom Fort herkam. Eilends verließ er seine Männer und ging seinem Vorgesetzten entgegen. Foster fiel erneut auf, daß Billy wieder einmal barfuß arbeitete. Er war zwar nicht damit einverstanden, sagte heute morgen jedoch nichts, weil er etwas anderes auf dem Herzen hatte.
»Gardner ist abgelöst worden. Wir bekommen einen neuen Kommandanten.«
»Wen?«
»Major Robert Anderson.«
»Mein Bruder kannte einen Robert Anderson in Mexiko. In der Artillerie. Er hat einige Jahre vor Lee in West Point abgeschlossen.«
»Das ist der Mann. Er kommt aus Kentucky. Er war früher Sklavenbesitzer. Ich nehme an, daß man ihn ausgewählt hat, um die einheimische Bevölkerung zu beruhigen.«
Die Entscheidung war zu verstehen. Der Versuch von Gardner, Waffen und Munition aus dem Arsenal herüberzuholen, hatte im ganzen Staat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst.
Die Forts von Charleston in den Händen eines Sklavenbesitzers? Billy fand es ein schlechtes Omen.
Er änderte seine Meinung, als der Major eintraf.
Robert Anderson war fünfundfünfzig Jahre alt, groß, grauhaarig und von vollendeter Höflichkeit. Er würzte seine Gespräche mit Hinweisen auf Gott und bezeugte absolute Loyalität zur Flagge und zur Uniform. Er hatte tapfer in Mexiko gekämpft und war in Molino del Rey verwundet worden, was den Respekt seiner Männer noch steigerte. Billy fand ihn streng, aber gewissenhaft und vertrauenswürdig.
Wenige Tage nach seiner Ankunft begab sich Anderson nach Sumter. Billy und Foster saßen am Ruder, Doubleday im Vorderschiff. Anderson hatte keine Soldaten dabei haben wollen, weil er fürchtete, die Inspektion würde unnötig ins Gerede kommen.
Sie umfuhren das fünfeckige Fort, dann gab Anderson das Zeichen, anzuhalten. Anderson ließ seinen Blick prüfend über die ganze Befestigungsanlage schweifen.
»Bitte rudern Sie zur Esplanade«, sagte er, als er mit der Inspektion zu Ende war.
Er betrachtete alles ausgiebig und ging von einem Ende der Esplanade zum andern, bevor er zu sprechen begann.
»Ich habe einige der ursprünglichen Pläne dieses Forts geprüft. Ein solider Bau. Das Fundament besteht aus zehntausend Tonnen Granit und sechzig- bis siebzigtausend Tonnen Gestein und Muscheln. Wenn das Fort mit allem Nötigen ausgestattet wird, kann es alles überleben. Auch mit einer so kleinen Armee wie der unsrigen.«
»Sir«, sagte Hauptmann Doubleday, »wenn wir das Fort befestigen, wird man das als eine feindliche Handlung betrachten.«
Der Hauptmann stellte seinen Vorgesetzten aus Kentucky auf die Probe, dachte Billy. Zum erstenmal war eine Spur Heftigkeit in Andersons Stimme.
»In der Tat, Hauptmann. Ich habe nicht die Absicht, Sumter sofort zu befestigen. Aber aufgepaßt! Diese Forts sind das Eigentum der rechtmäßigen Regierung in Washington und gehören niemandem sonst. Ich werde gemäß meinen Pflichten alles Nötige veranlassen, um sie zu schützen. Für jetzt habe ich genug gesehen. Gehen wir?«
»Er ist noch strenger als der alte Gardner«, flüsterte Billy Foster zu, als sie zum Boot zurückkehrten. Foster nickte zustimmend.
Am nächsten Nachmittag ging Brett paketbeladen die Meeting Street hinunter. Jemand rief ihr etwas zu. Verblüfft erkannte sie Forbes LaMotte.
»Guten Nachmittag, Miß Brett.« Er tippte sich an den Hut. »Darf ich dich begleiten? Dir vielleicht einige Pakete abnehmen?«
»Nein, Forbes, ich muß weiter.«
Es war eine schwache Ausrede, aber sie wollte ihm keinerlei Hoffnungen machen. Seine Wangen waren rot wie Äpfel, und er verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte er sich in der Saloon-Bar des Mills House die Zeit vertrieben. Das tat er des öfteren, wie sie gehört hatte.
Gekränkt trat Forbes zur Seite – und sah Brett nur noch von hinten.
»Hure«, murmelte er und zog sich in den Schatten eines Hoteleingangs zurück.
Eigentlich meinte er es nicht so böse. Aber er haßte Brett Main, weil sie diesem Soldaten aus Pennsylvania den Vorzug gab; er liebte sie immer noch. Sie gehörte zu den Frauen, die man heiratete, im Gegensatz zu Ashton, die fürs Vergnügen da war. Sie trafen einander ungefähr einmal pro Woche, wann immer sie eine sichere Verabredung treffen konnten.
Er erinnerte sich an ihr letztes Rendez-vous. Hinterher hatte er geblutet und sein feines Leinenhemd verdorben, weil sie ihre Nägel so heftig in seinen Rücken eingegraben hatte.
Ein Siegespfand, dachte er, aber er durfte sich nicht einmal damit brüsten, und gerne hätte er es gegen ein Wort der Ermutigung von Ashtons Schwester eingetauscht.
Ende November fiel eine Nachricht im Mercury Orry besonders auf: Der West-Point-Kadett Henry Farley aus South Carolina hatte am neunzehnten des Monats seinen Abschied genommen und die Militärakademie verlassen. Seine Handlung wurde als Protestreaktion gegen Lincolns Wahlsieg dargestellt.
Orry fand die Nachricht deprimierend. Er war sicher, daß es nicht bei diesem einzigen Rücktritt bleiben würde. Vielleicht würden sogar Berufssoldaten aus der Armee austreten.
Noch am selben Tag kam ein Brief von Judith. Sie sagte, daß Cooper sich langsam von seiner schweren Grippe erhole. Während mehr als einer Woche war er gefährlich krank gewesen. Die gute Nachricht von seiner Schwägerin war ihm zwar willkommen, vermochte jedoch nicht die Melancholie, die die Nachricht aus West Point in ihm ausgelöst hatte, aufzulösen.
Er löschte das Licht in der Bibliothek und blieb in der Dunkelheit sitzen. Die Dunkelheit schien dem Zerfall, der sich überall um ihn herum bemerkbar machte, zu entsprechen. Gab es irgendwo im Land noch Anlaß zu einem hoffnungsvollen Licht?
Während Stunden saß er einfach da und hörte den gespenstischen Klang von Kriegstrommeln.
»Unsere Jungens verlassen die Akademie in Scharen«, sagte Justin LaMotte wütend. »Herrlich!« Er schmiß die Zeitung auf einen Korbweidentisch und schöpfte Pfefferminzpunsch aus einer silbernen Schale. Er reichte Francis die Tasse und schenkte sich dann selbst ein.
Die Brüder waren eben von einer Inspektion der Ashley-Garde zurückgekehrt. In ihren hellen Hosen und den dunkelgelben Mänteln mit den blauen Aufschlägen sahen sie wie zwei bunte Vögel aus. Keiner der beiden besaß im Augenblick einen Säbel, aber jeder hatte bereits einen in New York bestellt; in South Carolina gab es keine der hervorragenden Solingen-Waffen.
»Glaubst du, daß wir bald Krieg haben werden?« fragte Francis, während er sich setzte. Die Veranda war im milden Dezemberlicht sehr angenehm.
Justin strahlte. »In einem Jahr, schätze ich. Wenn es soweit ist, werde ich höchstpersönlich ein Regiment ausheben und dann…«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Stirnrunzelnd blickte er auf die Gestalt, die geräuschlos auf die Veranda getreten war.
»Guten Abend, Liebes. Möchtest du etwas Punsch?«
Madelines Kleid war ebenso schwarz wie ihr Haar. Sie war totenbleich, und ihre Pupillen waren riesengroß. »Nein.« Sie lächelte verführerisch. »Danke.« Daraufhin verschwand sie im Haus.
Francis schnalzte anerkennend. »Hübsche Frau, obwohl sie etwas kränklich aussieht. Wie ruhig sie geworden ist! Ich staune immer wieder über ihre Veränderung. Bemerkenswert.«
»Ja, nicht wahr?« Justin seufzte. »Ein Gottesgeschenk. Noch etwas Punsch?«
Madeline konnte sich nicht mehr daran erinnern, daß ihre Welt einmal scharfe Kanten gehabt hatte. Jetzt glitt sie durch runde Tage und sah alles durch einen Schleier hindurch. Die Menschen oder die Dinge, die um sie herum geschahen, berührten sie nicht. Ab und zu dachte sie mit einer leisen Sehnsucht an Orry, aber sie hatte die Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, längst aufgegeben.
Manchmal kam es vor, daß sie unvermutet in eine scheinbare Normalität zurückkehrte. Sie hatte plötzlich wieder einen klareren Kopf, einen stärkeren Willen, einen schärferen Blick. Und sie war dann jedesmal auf sich selbst wütend, weil sie mit ihrem Mann nicht mehr über Politik redete oder seine Äußerungen, egal wie verletzend oder ungehörig sie waren, in Frage stellte. Sie hatte aufgegeben. Wenn ihr dies manchmal bewußt wurde, überkam sie eine stille Verzweiflung.
Aber sie hatte nicht mehr die Kraft, um diese Verzweiflung zu bekämpfen oder sich über deren Ursachen Gedanken zu machen. Wozu kämpfen? Wozu hoffen? Die Welt wurde von grausamen Verrückten beherrscht. Zwei davon saßen eben grinsend beim Punsch in ihrem Haus.
Als sie die Veranda verlassen hatte, hatte sie einige luzide Augenblicke. Sie ging in ihrem düsteren Wohnzimmer auf und ab, rezitierte fragmentarisch Gedichte, die ihr von Gott weiß woher zugeflogen kamen, und dachte an Orrys dunkle Augen und an den Klang seiner Stimme, mit der er ihr vorgelesen hatte.
Sie mußte ihn wiedersehen. Als sie dies beschloß, lächelte sie seit Tagen wieder zum erstenmal.
Sie nahm das Tuch vom Geschirr mit dem Essen, das ihr wie gewöhnlich auf einem Tablett ins Zimmer gestellt worden war. Köstlich, diese dickflüssige Tunke über dem Gemüse! Sie war ganz wild danach und bestellte sie nun jeden Tag. Sie aß genießerisch alles auf und summte vor sich hin, als sie sich ihr bevorstehendes Rendez-vous bei der Kapelle mit dem Namen …
Mit dem Namen …
Sie konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern. Langsam machte sich die Erschöpfung wieder in ihr breit. Sie sank in ihre Schleierwelt der Gleichgültigkeit zurück und tastete nach dem Bett. Tränen glänzten in ihren Augen – warum, war ihr nicht bewußt. Als sie sich auf das Bett niederließ, murmelte sie Orrys Namen vor sich hin. In voller Kleidung schlief sie die Nacht durch.
Am nächsten Morgen stellte sie fest, daß das Tablett entfernt worden war und daß man ihr Treibhausblumen aufs Zimmer gestellt hatte. Sie freute sich wie ein Kind über ein neues Spielzeug. Und dachte kein einziges Mal mehr an Orry.
57
»Ein Besucher?« sagte Orry, als er dem Haussklaven zur Treppe folgte. »Ich erwarte nie… Gott im Himmel, bist du es wirklich, George?«
»Ich glaube schon«, antwortete der vor Nässe und Schmutz triefende Reisende und lächelte. »Wasch mir die Asche vom Haupt und bürste mir den Staub aus den Kleidern, dann werden wir es mit Sicherheit feststellen können.«
Orry rannte die Treppe hinunter. »Cuffey, bring die Reisetaschen gleich aufs Gästezimmer. George, hast du schon was zu essen gehabt? Das Abendessen wird in einer halben Stunde aufgetragen. Warum hast du uns nicht mitgeteilt, daß du kommst?«
»Ich wußte es selbst noch nicht bis vor ein paar Tagen, als ich den Entschluß faßte. Abgesehen davon«, er suchte nervös nach einer Zigarre, »hättest du mir wohl ohnehin nicht geantwortet, wenn ich dir meine Ankunft schriftlich mitgeteilt hätte. Du hast keinen meiner Briefe beantwortet.«
Orry errötete. »Ich hatte sehr viel zu tun. Die Ernte – und dann befindet sich der ganze Staat in Aufruhr, wie du weißt.«
»Das kann ich nur bezeugen. Als ich in Charleston aus dem Zug stieg, hatte ich das Gefühl, ich sei in einem fremden Land.«
»Du könntest bald recht haben damit«, sagte Orry mit einem trockenen Lachen. »Sag mir, ist dieses Gefühl im Norden weit verbreitet?«
»Ich würde beinahe sagen, auf der ganzen Welt.«
Orry schüttelte den Kopf, obwohl ihn das, was sein Freund sagte, nicht überraschte: Der von Gouverneur Pickens anberaumte Sonderkongreß war bereits in der Baptistenkirche in Columbia zusammengetreten. Alle nahmen an, daß die Abgeordneten für die Sezession stimmen würden.
George räusperte sich, um das Schweigen zu brechen. »Schenkst du mir bitte einen Drink ein? Und dann wollen wir reden.«
Orrys Gesicht hellte sich etwas auf. »Natürlich. Komm.«
Er führte George in die Bibliothek. Er freute sich unbändig, seinen Freund wiederzusehen, aber die Spannungen, die es zwischen ihnen gegeben hatte, wirkten wie ein Damm, und er konnte George seine Gefühle nicht mitteilen. Er holte seinen besten Whiskey. Als er einschenkte, bemerkte George, daß er einige Stunden mit Cooper verbracht habe.
»Aber ich bin eigentlich nicht deswegen hierhergekommen«, fuhr er fort und streckte sich gemütlich in einem Stuhl aus. Er zog einen Schuh aus und rieb sich den Fuß.
Orry stand mit dem Glas in der Hand mit dem Rücken zum Fenster. Schultern und Hinterkopf waren ganz in das blasse Winterlicht getaucht. »Weshalb bist du denn gekommen?«
Kann er mir nicht wenigstens halbwegs entgegenkommen, dachte George in einem Anflug von Frustration. Doch dann erinnerte er sich an die eigene Traurigkeit, die ihn schließlich dazu gedrängt hatte, diese Reise zu unternehmen. Er sah den großen, finsteren Mann beim Fenster an und entgegnete:
»Aus zwei Gründen. Erstens möchte ich unsere Freundschaft retten.«
Es folgte ein betäubendes Schweigen. Orry war zu bestürzt, um Worte zu finden.
George lehnte sich vor; die vorgeschobene Schulter und das vorgestreckte Kinn unterstrichen die Eindringlichkeit in seiner Stimme.
»Diese Freundschaft ist mir sehr wichtig, Orry. Abgesehen von Constance und meinen Kindern, ist es das, was ich auf dieser Welt am höchsten schätze. Nein, warte – laß mich ausreden! Ich habe mich zwar schriftlich bei dir entschuldigt, aber ich hatte jedesmal ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Ich nehme an, dir ist es ähnlich ergangen. Deshalb bin ich hergekommen, um von Angesicht zu Angesicht mit dir darüber zu reden. Laß es nicht zu, daß die Hitzköpfe hier im Süden oder die Extremisten wie meine Schwester die Gefühle der Freundschaft, die wir füreinander hegen, zerstören.«
»Hast du etwas von Virgilia gehört?«
George schüttelte den Kopf. »Sie versteckt sich immer noch. Ehrlich gesagt, mir ist es egal, was sie tut. Ich hätte nicht so eilfertig ihre Partei ergreifen dürfen. Nun, ich bin wütend geworden.«
Orry versuchte der Verlegenheit die Spitze abzubrechen und sagte leise: »Wir alle sind wütend geworden.«
»Ich bin nicht gekommen, um anzuklagen, sondern um dich um Verzeihung zu bitten. Es ist mehr als klar, daß South Carolina beabsichtigt, aus der Union auszutreten, obwohl die Handlung meiner Meinung nach ein schrecklicher Irrtum ist. In bezug auf die Sklaverei sind Kompromisse noch immer möglich gewesen, doch wenn ich die in Washington herrschende Stimmung richtig auslege, so gibt es im Falle einer Auflösung der Union keinen Kompromiß. Dazu kommt, daß andere Staaten dem Beispiel dieses Staats folgen werden, und die Konsequenzen können nicht anders als schrecklich sein. Das Land kommt mir vor wie ein Schiff, das auf eine Sandbank aufgelaufen ist: Es ist unfähig, sich selber aus der Lage zu befreien und wird langsam zersplittern. Die Hazards und die Mains sind einander während Jahren sehr nahegestanden. Ich möchte nicht, daß diese Freundschaft auseinanderbricht.«
Orry sah seinen Besucher direkt an; der Damm in seinem Innern zerbröckelte langsam, und er fühlte sich erleichtert, als er sagte:
»Ich auch nicht. Ich bin froh, daß du gekommen bist, George. Jetzt kann auch ich um Entschuldigung bitten. Begraben wir das Kriegsbeil.«
George ging auf seinen Freund zu. »So gut das in den heutigen Zeiten möglich ist.«
Sie umarmten einander wie Brüder.
Bald darauf plauderten sie gemütlich wie in alten Tagen. George wurde nachdenklich. »Ich befürchte wirklich, daß es zu einer harten Auseinandersetzung kommen wird, wenn South Carolina abfällt. Und nicht nur zu einer politischen.«
Orry nickte. »Die Frage nach dem Eigentum der bundesstaatlichen Forts hat sich aufs Äußerste zugespitzt.«
»Das wurde mir bei meinem kurzen Aufenthalt in Charleston klar. Jemand muß einen Ausweg aus diesem ganzen Schlamassel finden, bevor die Verrückten auf beiden Seiten uns in einen Krieg zerren.«
»Gibt es einen Ausweg?«
»Lincoln und einige andere haben eine Lösung vorgeschlagen: Aufhebung der Sklaverei und Entschädigung des Verlusts für den Süden. Entschädigung, auch wenn das Schatzamt die letzte Unze Gold hergeben muß. Sicher keine Ideallösung und auch nicht moralisch einwandfrei, aber wenigstens könnte damit eine bewaffnete Auseinandersetzung vermieden werden.«
Orry blickte skeptisch. »Du hast Ashtons Ehemann noch nie gehört, und er vertritt die für diesen Staat typische Haltung. Der Konflikt soll gar nicht vermieden werden.«
»Wenn der Hurensohn jemals ein Schlachtfeld gesehen hätte, würde er anders denken.«
»Zugegeben, aber das hat er nicht.« Orry seufzte. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß du in der Sklavereifrage recht hast.«
Er kniff die Lippen zusammen und fuhr mit einem bekennenden Seufzer fort: »Ist dir klar, was es einen Mann aus South Carolina kostet, so etwas zu sagen? Doch abgesehen von mir – ich kenne die andern Pflanzerfamilien am Ashley sehr gut. Alles Gold in der Staatskasse wird nicht ausreichen, um sie davon zu überzeugen, die Sklaverei aufzugeben. Und das gleiche gilt für die Reispflanzer an den andern Flüssen und für die nördlicheren Baumwollplantagen. Kein Mann außer einem Heiligen würde sich damit einverstanden erklären, das System, das seinen Reichtum garantiert, aufzugeben. Ich glaube, meine Nachbarn würden sich eher von Gott den Tod wünschen.«
»Den werden sie vermutlich auch haben können«, sagte George durch die blaue Rauchwolke seiner Zigarre hindurch. »Die Hitzköpfe auf beiden Seiten wollen Blut sehen. Aber es muß doch noch einen andern Weg geben.«
Wieder Schweigen. Keiner der beiden Männer wußte, was für ein Weg das hätte sein können.
Orry hatte sich seit Monaten nicht mehr so ruhig und glücklich gefühlt. Die lang angestaute Spannung, die sowohl auf die äußeren Ereignisse als auch auf die innere Unzulänglichkeit zurückzuführen war, hatte plötzlich ein Ventil gefunden. Er war in einer offenen und empfänglichen Stimmung, als George den zweiten Grund für seinen Besuch ins Gespräch brachte.
»Ich möchte über meinen Bruder und deine Schwester mit dir reden. Sie wollen heiraten. Weshalb erlaubst du es ihnen nicht?«
»Oh, ich habe den Eindruck, daß Brett in letzter Zeit durchaus tut, was ihr gefällt.«
»Verflucht nochmal, Orry, weich mir nicht aus.«
Orry errötete schuldbewußt und blickte weg. George ließ nicht locker. »Sie hat sich dir immerhin nicht so weit widersetzt, daß sie ohne deine Erlaubnis geheiratet hätte! Und ich kann einfach nicht begreifen, warum du damit zurückhältst.«
»Nein? Wir haben den Grund doch diskutiert. Es wird Unruhen geben, möglicherweise Krieg!«
»Ein Grund mehr für die beiden, das Glück so lange zu genießen, wie es ihnen möglich ist.«
»Aber du kennst doch Billys Pflichttreue der Armee und der Regierung in Washington gegenüber? Und er hat ja auch vollkommen recht. Brett hingegen…«
»Verdammt noch mal«, explodierte George, »du läßt es zu, daß der Haß von einer Handvoll von Fanatikern und politischen Opportunisten ihr Leben ruiniert! Das ist ungerecht. Und völlig unnötig! Billy und Brett sind jung. Das verleiht ihnen Kraft, Schwung. Natürlich werden sie einem Druck ausgesetzt sein. Ich kenne das, Orry. Doch zusammen werden mein Bruder und deine Schwester die Zukunft besser als wir alle meistern. Sie lieben einander – und zufällig kommen sie aus zwei Familien, die einander tief verbunden sind.«
Die Worte widerhallten in dem mit Büchern vollgestopften Zimmer. George ging zum Schrank, in dem der Whiskey stand. Seine Stimmung sank, seine Hoffnungen zerstoben. Orry runzelte die Stirn.
Zum drittenmal senkte sich Schweigen über den Raum. Schließlich:
»Einverstanden.«
George nahm den Zigarrenstummel aus dem Mund. Er wagte es kaum, seinen Ohren zu glauben.
»Sagtest du…?«
»Einverstanden«, wiederholte Orry. »Ich war schon immer der Meinung, daß du viel zu kühn bist. Aber meistens hast du ja damit recht gehabt. Ich schätze, daß Billy und Brett eine Chance haben sollten. Geben wir sie ihnen.«
George brach in ein Freudengeschrei aus und hüpfte herum. Dann rannte er zur Tür, riß sie auf und sagte: »Ruf einen deiner Diener und schicke ihn geradewegs nach Charleston. Das arme Mädchen soll nicht länger in ihrem Elend schmoren.«
Orry ging hinaus, schrieb einen Passierschein für Cuffey und war überrascht, wie wohl er sich fühlte: wie ein Junge, voll einfacher Freude – ein Gefühl, das er jahrelang nicht mehr gekannt hatte.
Als er wieder in die Bibliothek zurückgekehrt war, nahm George eine ironisch ernste Haltung ein und beglückwünschte seinen Freund für seine Klugheit. Sie hörten, wie Cuffey davonritt und gingen dann dazu über, die letzten Neuigkeiten auszutauschen. George erzählte von Constance und den Kindern; Orry schilderte den überraschenden Rückzug von Madeline, ihre angeblich angeschlagene Gesundheit. Dann kam George auf die Star of Carolina zu sprechen.
»Wie bereits gesagt, ich habe mit Cooper gesprochen. Ich muß zugeben, daß es mir etwas schwerfällt, mich mit einem Zwei-Millionen-Dollar-Verlust abzufinden.«
»Cooper könnte jeden Cent zurückbezahlen, wenn alles liquidiert würde, aber ich nehme an, daß er das nicht tun möchte, weil es das Eingeständnis einer Niederlage wäre.«
»Obwohl er selbst sagt, daß das Schiff nicht fertiggestellt werden kann? Na ja – « George zuckte die Achseln, »ich glaube, ich bewundere das – oder ich würde es bewundern, wenn ich nicht so viel investiert hätte. In welch fürchterlichen Schlamassel haben wir alle diese Welt gebracht!«
»So klagen alte Männer«, murmelte Orry.
»Möchtest du damit sagen, daß wir alte Männer sind?«
»Ich weiß nicht, wie es um dich steht, aber was mich betrifft, ja.«
»Tja, ich glaube, ich bin auch alt. Entsetzlicher Gedanke.«
George kaute auf seiner Zigarre herum. »Stiel, komm, wir wollen uns betrinken.«
Orry strahlte, als er seinen alten Spitznamen wieder hörte. Auch wenn die Dinge niemals mehr so sein würden, wie in jenen ersten, jugendfrischen Tagen an der Akademie, so konnten sie beide sich zumindest etwas vortäuschen. Weshalb sollten alte Männer sich nicht mit einem Spiel trösten? Die Welt versank in Dunkelheit.
»Stumpf, du gestattest«, sagte er und griff als erster nach der Whiskeyflasche. »Ich bin ein Experte für Betrunkenheit geworden.«
Sie lachten beide und glaubten, daß es ein Witz war.
58
Am selben Nachmittag, an dem George in Mont Royal eintraf, reisten die Abgeordneten des Sonderkongresses mit dem Zug von Columbia nach Charleston, denn in der Hauptstadt South Carolinas befürchtete man eine Pockenepidemie. Huntoon kam folglich früher nach Hause, als es Ashton erwartet hatte. Doch wie die meisten Bürger der Stadt fand sie es höchst aufregend, daß die gewichtigen Debatten demnächst in der Institute Hall über die Bühne gehen sollten, und sie freute sich königlich darüber, daß ihr Mann daran teilnehmen durfte. Sicher würde er es im neuen Staat zu einer Machtposition bringen, und sie würde mit ihm aufsteigen.
Sie war gerade dabei, ihre Garderobe für die erste Tagung in der Halle in der Meeting Street zusammenzustellen, als Brett unangekündigt in ihr Schlafzimmer platzte.
»Oh, Ashton – herrliche Nachrichten! Cuffey kam gestern abend aus Mont Royal. George Hazard ist da – «
»Was will denn der? Sich über unsre patriotischen Absichten lustig machen?«
»Sei nicht so zynisch! Er kam, um sich mit Orry über Billy und mich zu unterhalten. Und weißt du, was dabei herauskam?«
Die Wut stieg bereits in Ashton auf und verdarb ihr die gute Stimmung. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie und trat vor den Spiegel.
»Orry hat seine Meinung geändert! Billy und ich können heiraten, wann immer wir wollen!«
Ashton hatte bereits befürchtet, daß ihre Schwester das sagen würde, und sie mußte ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht in Raserei zu geraten. Brett plauderte munter drauflos.
»Ich habe Cuffey zum Fort geschickt. Ich kann es nicht fassen! Nun ist doch noch alles gut geworden.«
»Ich freue mich ja so für dich.«
Noch nie in ihrem Leben hatte Ashton es so schwer gefunden, zu lächeln. Aber sie lächelte. Dann umarmte sie ihre Schwester und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. Brett war zu aufgeregt, um die Wut in den Augen ihrer Schwester zu bemerken. Ansonsten spielte Ashton perfekt.
»Wir müssen uns unbedingt über die Hochzeit unterhalten«, sagte Ashton, als sie zur Tür eilte. »Es wird mir ein Vergnügen sein, dir bei den Vorbereitungen zu helfen. Aber wir müssen noch ein, zwei Tage warten, bis der Kongreß vorbei ist. Noch nie war Charleston so voller Leben – «
Und weg war sie. Von Haß und Eifersucht überwältigt, war sie mehr denn je davon überzeugt, daß sie um jeden Preis gegen ihre Schwester und Billy Hazard vorgehen mußte.
Schweigen herrschte in der Institute Hall, eine gespannte Atmosphäre. Die Zuschauer auf der Galerie lehnten sich vor, um jedes Wort vom Bericht des Ausschusses, der mit der Ausarbeitung der Sezessionserklärung beauftragt worden war, mitzubekommen.
Seit der Ankunft der Delegierten waren zwei Tage verstrichen. Anträge waren vorgelegt, abgeändert, angenommen worden. Sondergruppen von Beobachtern aus den Staaten Mississippi und Alabama waren mit großem Zeremoniell empfangen worden. Doch nun, am Nachmittag des zwanzigsten Dezember, kamen die Abgeordneten auf den Kern der heiklen Angelegenheit zu sprechen. Der Vorsitzende las den Entwurf vor.
Cooper saß in der ersten Reihe der Galerie, die Ellbogen auf die Rampe gestützt. Der Platz war eng. Seine Blicke wanderten über den Saal unter ihm, vom früheren Senator Gist zu Senator Chestnut zu Huntoon, der mit rotem Gesicht da saß und wie ein mörderischer Cherub lächelte.
Die Zuschauer auf der Galerie setzten sich zur Hälfte aus Frauen zusammen, von denen die meisten Sezessionshüte trugen. Zu seiner Rechten konnte Cooper in der Ferne Ashton entdecken, die den Verhandlungen mit feuchter Stirn und geöffneten Lippen folgte. Sie sah aus, als ob sie etwas weitaus Erregenderes erlebe als die Lesung der Proklamation. Cooper fand ihren Gesichtsausdruck nicht nur überraschend, sondern geschmacklos.
Er hörte dem Vorsitzenden zu, obwohl er am liebsten nichts gehört hätte. Sein Schädel brummte. Würde es morgen schon zwei verschiedene Postsysteme geben? Zwei Bankensysteme nächste Woche? Die Leute schienen sich überhaupt keine Gedanken zu machen. Als er einigen führenden Finanzleuten diese Fragen gestellt hatte, hatte er nur bestürzte Blicke geerntet, die rasch in Feindseligkeit umgeschlagen waren. Armer alter Main, sagten diese Blicke. Du bist und bleibst verrückt.
Traurig schweifte sein Blick wieder über den Saal. Die Männer, die sich für diese Sache eingesetzt hatten, waren fast ausnahmslos Berühmtheiten. Männer, die intelligent waren und etwas geleistet hatten. Er konnte ihre Wut, die sich seit einer Generation angestaut hatte, verstehen. Aber er würde niemals die Mittel verstehen, mit denen sie dieser Wut Luft zu machen suchten.
Der Vorsitzende fuhr mit der Lesung fort. Zwischendurch Applaus. Cooper erkannte unter den Zuschauern einen Beamten der Zollbehörde der Vereinigten Staaten sowie die Frau eines Pfarrers. Er hätte nicht sagen können, wer von den beiden am lautesten schrie. Cooper beugte sich über die Rampe und erntete verächtliche Blicke.
»– und daß die unter dem Namen Vereinigte Staaten von Amerika bestehende gegenwärtige Union mit South Carolina und andern Staaten hiermit aufgelöst ist.«
Es war wie ein Pandämonium. Die ganze Galerie stand wie auf Befehl auf. Cooper blieb sitzen. Der Zollbeamte packte ihn an der Schulter.
»Steh auf, verdammt noch mal!«
Cooper faßte das Handgelenk des Mannes und schob es ruhig beiseite. Der Mann fluchte. Cooper sah ihn einen Augenblick lang an und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf den Saal.
Dort unten klopfte man sich auf den Rücken, schüttelte einander die Hände und beglückwünschte sich gegenseitig mit viel Lärm. Er würde diese kollektive Verblendung niemals begreifen. Wie, um Himmels willen, wollten der Staat oder der Süden im Alleingang bestehen? Wie konnte es einen Kontinent, ein Volk und zwei Regierungen geben?
Nach einer längeren Würdigung der Arbeit des Vorsitzenden und des Ausschusses setzten sich die Delegierten und Zuschauer wieder. Die Sezessionserklärung wurde ohne weitere Debatte mit 169 Stimmen ohne Gegenstimme angenommen. Sie würde noch am selben Abend unterzeichnet und besiegelt werden.
Nach dieser Ankündigung brach erneut die Hölle in der Institute Hall los. Cooper seufzte, stand auf und kämpfte sich zum Ausgang. Es gab nur wenig verdrießliche Gesichter. Darunter J.L. Petigru, ein berühmter Rechtsanwalt und Vertreter der Whig-Partei in Charleston. Ihre Blicke trafen sich kurz, wie zwei Trauernde an einer Beerdigung.
Cooper marschierte aus der Halle; er hatte seine Wut beinahe nicht mehr unter Kontrolle.
Das Abendessen an der Tradd Street wurde in grimmiger Stimmung eingenommen. Orry war am Vormittag mit George aus Mont Royal gekommen, um der Debatte in der Institute Hall beizuwohnen. Aber sie waren nicht mehr hineingekommen. Orry schien fast ebenso niedergeschmettert über die Sezession wie Cooper. George verzichtete darauf, erneut zu betonen, daß die Bundesregierung ohne Nachsicht reagieren werde.
Brett deprimierten die möglichen Folgen, die die Verfügung für ihre Zukunft haben könnte. Fort Moultrie war in Alarmbereitschaft, falls die unvermeidbaren Kundgebungen in Gewalt ausarten sollten. Sie würde Billy heute Abend nicht treffen können, und es war noch ungewiß, wann sie sich wiedersehen würden.
Schon den ganzen Nachmittag hatte man auf den Straßen Geschrei und Musik gehört. Nach dem Abendessen steigerte sich der Lärm. In der ganzen Stadt wurden die Glocken geläutet. Die melancholische Stimmung im Haus war praktisch unerträglich. Cooper langte nach seinem Hut.
»Nun, meine Herren, sie haben es unterzeichnet. Ein historischer Augenblick – sollen wir rausgehen, und sehen wie Charleston seinen eigenen Untergang feiert?«
»Wir kommen mit«, sagte Judith und kam mit ihrem und mit Bretts Schal an. Die Frauen ließen sich auf keine weitere Diskussion ein.
Als die fünf Menschen das Haus verließen und Richtung Meeting Street gingen, gingen die Böllerschüsse los.
Der Volksauflauf anläßlich Lincolns Wahlsieg war offenbar nur eine Probe für die heutigen Festlichkeiten gewesen. In den Straßen wimmelte es von Menschen, und ein Vorwärtskommen war fast unmöglich. Knapp einen Meter von George und den Mains entfernt explodierte eine Serie von Schwärmern. Judith kreischte, preßte eine Hand auf die Brust und versuchte dann zu lächeln.
Sie gingen die eine Seite der Meeting Street hinauf und die andere wieder hinunter. In vielen Auslagen hatte man Lichter und Photos ausgestellt. Fässer mit brennendem Harz tauchten die Straßen in ein grelles, rotes Licht. Überall gingen Feuerwerkskörper los.
Auf der Battery wurden Böllerschüsse abgefeuert. Musikkapellen spielten. Die Menge drängte zurück, damit die Ashley-Garde vorbeidefilieren konnte.
Ein stämmiger Deutscher marschierte mit einem Plakat hinterdrein.
HURRA!
Die Union
ist
AUFGELÖST
»Wunderbar, ja?« schrie der Plakatträger und blies Cooper seine Schnapsfahne ins Gesicht. »Aber es hat viel zu lange gedauert. Viel zu lang!«
Cooper wurde kreideweiß, riß dem Mann das Plakat aus den Händen, zerfetzte die Pappe und zerbrach den hölzernen Träger. Judith war blaß.
Zuschauer bedachten Cooper mit Schimpfnamen und begannen ihn anzurempeln. Orry stellte sich neben seinen Bruder und schubste zurück. George ebenfalls.
»Ich bin ein Fremder in dieser Stadt, aber Ihr werdet Grund haben, Euch an mich zu erinnern, wenn Ihr nicht gleich weitermarschiert!«
Orry lachte. Für einen Augenblick war die Zeit verschwunden, und der junge Kadett Hazard aus West Point war plötzlich vor ihm gestanden. Die Leute und auch der Deutsche zogen schließlich weiter.
Es stank nach einem Gemisch aus Puder, Parfüm, Tabak und Schweiß. Der Himmel war blau und zitronengelb erleuchtet. Die Kanonenschüsse waren so laut, daß die Musik darin unterging und nur gelegentlich ein Trommeln oder einige heisere Hörner zu vernehmen waren.
»Ich glaube nicht, daß ich dich jemals so wütend gesehen habe«, sagte Orry zu seinem älteren Bruder.
Cooper blieb abrupt stehen und sah diese vier Menschen, die er liebte, an. Wenn es irgendwo auf der Welt noch Menschen gab, die seinen bohrenden Schmerz verstehen würden, dann sie.
»Ich bin so wütend, weil diese verdammte Sezession mich in eine unmögliche Situation gedrängt hat. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich reagieren soll, wohin mit meiner Loyalität! Ich hasse es, mich dem Staat gegenüber, den ich mein ganzes Leben lang geliebt habe, als Verräter zu fühlen. Aber noch schlimmer ist das Gefühl, die Nation verraten zu haben. Die Auflösung der Union! Es schreit zum Himmel, verdammt – «
»Cooper, wie redest du«, flüsterte seine Frau, aber er hörte sie nicht.
»– ein Main hat sein Blut vergossen für diese Union! Wenn ihr jetzt noch nicht das Gefühl habt, entzweigerissen zu werden – wartet’s nur ab. Diese verrückten Idioten wissen nicht, was sie getan haben. Was sie sich, ihren Kindern, uns allen angetan haben. Sie wissen es nicht!«
Aschfahl im Gesicht, drehte er sich abrupt um und marschierte weiter – eine Schattengestalt gegen den feuerhellen Himmel. Die andern folgten dicht hinter ihm. Brett versuchte Judith zu trösten, die ansonsten nicht leicht zu schockieren war, aber nun völlig die Sprache verloren hatte. Orry empfand bereits etwas von der Verwirrung, von der Cooper gesprochen hatte.
George hatte Kopfweh wegen den Kanonenschüssen. Er schien bloß die donnernden Schüsse, nicht aber das Jubelgeschrei und Gelächter zu hören. Er dachte an Mexiko. Es war ein leichtes, die Augen halb zu schließen, die in den Feuerschein getauchten Gebäude verschwommen vor sich zu sehen und sich vorzustellen, daß Charleston bereits eine Stadt im Krieg war.
Gesichter schwebten an Orry vorbei, vom Feuerschein und von Leidenschaft verzerrte Gesichter. Mit jedem Augenblick schienen die glotzenden Augen und die gaffenden Mäuler unmenschlicher zu werden. Die primitiven Emotionen verwandelten normale Gesichter in Fratzen.
Brett schmiegte sich an Orry und umklammerte seinen Arm; sie hatte offensichtlich Angst vor dem Gedränge der Menge. Cooper und Judith gingen dicht hinter ihnen, gefolgt von George wie von einer wachsamen Nachhut. Man beobachtete sie jetzt nicht mehr.
Orry sah, wie drei junge Rowdies mit ihren Stöcken auf einen alten Neger einschlugen und dann den Inhalt ihrer großen, bauchigen Biergläser, die sie aus einer Bar mitgenommen hatten, über ihn gossen. Er sah, wie ein ehrwürdiges Mitglied der Methodistenkirche, die Flasche in der Tasche, an einem Laternenpfahl Halt suchte und sich bekotzte. Er sah, wie die Frau eines bekannten Juweliers der Meeting Street sich in einem dunklen Hauseingang von einem Fremden betasten ließ. Überall kam es zu Exzessen.
Auch die Parolen, die man ihm ins Ohr schrie oder auf Plakaten oder scheinbar über Nacht hergestellten Seidenbannern zur Schau trug, ließen in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig. Drei Männer rauschten mit einem ausgebreiteten Banner auf dem Gehsteig an ihm vorbei. Orry mußte sich ducken und die andern auffordern, es ihm gleichzutun.
Die Rechte des Südens dürfen nicht mit Füßen getreten werden!
Orry und die andern richteten sich wieder auf. Plötzlich bemerkte er Huntoon, der mit andern hinter den Bannerträgern hereilte.
»Orry! Guten Abend!« Huntoon tippte an seinen Hut, der mit einer auffälligen blauen Kokarde geschmückt war. Orry hatte die Dinger heute abend bereits dutzendweise gesehen. Huntoons Krawatte war lose, und der Hemdzipfel hing unordentlich über die Hose – ungewöhnlich für einen sonst tadellos gekleideten Mann.
Aber dies war ja auch eine ungewöhnliche Nacht, wie Huntoons außerordentlich breites Lächeln bezeugte. »Entsprechen die Feierlichkeiten Ihrem Geschmack?«
Die Frage war mit einem hämischen Unterton an alle fünf gerichtet worden, aber wohl hauptsächlich auf Cooper gemünzt, wie Orry sich vorstellte. »Nicht ganz«, antwortete er. »Ich hasse es, wenn anständige Leute sich lächerlich machen.«
Doch Huntoon ging nicht darauf ein. »Ich meine, daß Lustbarkeiten völlig in Ordnung und Exzesse durchaus verständlich sind. Wir haben der Welt unsere Freiheit proklamiert.« Sein Blick streifte Brett. »Natürlich rückt mit unserer Unabhängigkeit die Frage nach dem Bundeseigentum in Charleston ins Blickfeld, die Zollbehörde, das Arsenal, die Forts. Wir sind dabei, eine Gruppe von Unterhändlern zusammenzustellen, die Präsident Buchanan die Frage vorlegen werden. Die Übergabe des Eigentums an den souveränen Staat South Carolina ist nun zwingend geworden.«
George stellte sich neben Brett. »Und wenn der alte Buck die Dinge anders sieht?«
Huntoon lächelte. »Dann, Sir, werden wir die Frage mit andern Mitteln beantworten.«
Er tippte wiederum an den Hut, ging weiter und tauchte in der Menschenmasse unter, die sich lärmend und singend durch die Straßen schob: »Die Rechte des Südens! Die Rechte des Südens!«
Brett sah Huntoon nach, bis er verschwunden war. Orry spürte, wie sie seinen Arm fester umklammerte. »Das mit den Forts sagte er wegen Billy, nicht wahr?«
Cooper hörte die Frage. »Daran zweifle ich nicht. Menschlichkeit ist bei Mr. Huntoon, wenn überhaupt, nur in einer kleinen Dosierung vorhanden.«
Sie sahen ihn nochmals kurz auf der andern Straßenseite, als er sich die Stufen zum Mills House hinaufkämpfte und dann von oben einen Blick auf das Treiben der Menge warf. Seine Brillengläser widerspiegelten die Flammen eines Fasses mit brennendem Harz. Wie die Augen eines grinsenden Dämons, dachte Orry. Eines von vielen Spukbildern.
Er dachte an Major Anderson von Fort Moultrie. Er hatte Anderson in Mexiko gekannt: ein Offizier mit gutem Ruf, gewissenhaft und kompetent. Was mochte wohl in ihm vorgehen? Wem würde er in den nun kommenden Monaten die Treue halten? Den Sklavenbesitzern seines Heimatstaats Kentucky oder der Armee?
Viele Amerikaner – viele Männer aus West Point – würden jetzt auf eine harte Probe gestellt werden; sie wurden jetzt zu einer Entscheidung gezwungen. Orry hatte beinahe das Gefühl, daß die Welt in die Hände einer bösen Macht geraten war.
»Tja, wie du bereits gesagt hast, Cooper, ein historischer Moment!« sagte er. »Komm, gehen wir nach Hause.«
Das taten sie, schweigend und deprimiert.
Von den schwitzenden und schreienden Schaulustigen umgeben und beinahe erdrückt, fühlte sich Ashton auf der Battery unerwartet erregt. Es war, als ob gewaltige Energien vom Pöbel in die Erde abgeleitet würden und dann über ihre Beine bis zu ihrem Zentrum wieder aufstiegen. Sie fühlte sich ganz schwindlig und atemlos.
Doch wie gewöhnlich war es nicht die Welle von Patriotismus, die sie erregte, sondern dessen Bedeutung, die Chance, die sie darin erblickte. Die Flüche, Drohungen und Parolen waren die Geburtsschreie einer neuen Nation. James prophezeite, weitere Baumwollstaaten würden dem Beispiel South Carolinas folgen. Bald werde auch eine neue Regierung aufgestellt, und er, Huntoon, werde eine wichtige Rolle dabei spielen. Es konnte sich nur noch um Wochen handeln, und dann würde ein lange geträumter Traum endlich Wirklichkeit. Die Macht würde ihr zu Füßen liegen und sie brauchte nur noch danach zu greifen.
Eine neue Serie von Feuerwerkskörpern tauchte ihr Gesicht in ein scharlachrotes Licht. Die Schwärmer schossen in den Himmel und explodierten über Sullivan Island, wobei sie die Wälle des Forts kurz erleuchteten. Sie verzerrte das Gesicht.
Dann tauchte hinter dem Phantasiebild von Billy Hazard plötzlich eine ihr vertraute Gestalt auf.
»Forbes!« Sie umklammerte ihren Sezessionshut und kämpfte sich die paar Meter zu ihm vor. »Forbes!«
»Mrs. Huntoon«, sagte er mit jener übertriebenen Höflichkeit, die er jedesmal, wenn sie sich in der Öffentlichkeit trafen, an den Tag legte. Er verneigte sich. Sie roch Whiskey und Männlichkeit. Ihre Erregung steigerte sich, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um solchen Gelüsten nachzugehen.
»Forbes, wir müssen uns unbedingt unterhalten«, flüsterte sie. »Morgen – so früh wie möglich. Orry hat Billy und meiner Schwester die Heiratserlaubnis erteilt. Ich ertrage es nicht. Ich kann es nicht zulassen.«
Eben noch hatte Forbes LaMotte heiter betrunken ausgesehen; jetzt hing sein Mund schief, als hätte jemand mit einem Messer sein Gesicht aufgeschlitzt. Die Schwärmer, Kanonenschüsse und Glocken verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Er mußte dicht an Ashton herantreten, um zu verstehen, was sie sagte.
»South Carolina ist zur Offensive angetreten. Ich glaube, es ist an der Zeit, daß wir das gleiche tun.«
Er lächelte wieder entspannt und schläfrig. »Da hast du recht«, murmelte er. »Ich stehe zu deiner Verfügung.«
59
Am Morgen des 25. Januar 1861 traf Hauptmann Elkanah Bent in New Orleans ein. Er war auf dem Weg nach dem einzigen Zuhause, das er kannte, nach Washington. Er hatte sich gerade rechtzeitig um eine Versetzung bemüht. Die Situation im ganzen Land war kritisch und verschlechterte sich von Tag zu Tag. Er war davon überzeugt, daß das Kriegsministerium Beförderungen vorbereitete und für den bevorstehenden Konflikt Umstrukturierungen vornahm. Oder zumindest würde dies der Fall sein, sobald der Gimpel Buchanan das Weiße Haus geräumt hätte.
Bent trug heute brandneue und teure Zivilkleider. Er hatte sie in Texas erworben, unmittelbar nach seinem Entschluß, in New Orleans einen Tageshalt einzulegen. Er hatte das Gefühl, daß es gefährlich sein könnte, in einer so vehement auf der Seite des Südens stehenden Stadt seine Uniform zur Schau zu tragen. Wie er erfahren hatte, würde Louisiana demnächst dem Beispiel der andern fünf Baumwollstaaten folgen und aus der Union austreten.
Als er durch Bienville schlenderte, stieg ihm der aromatische Duft von starkem Kaffee in die Nase. Die Stadt war für ihren guten Kaffee bekannt, ein Genuß, den er sich nicht entgehen lassen wollte.
Er war froh, nicht mehr in Texas zu sein. Auch dort stand die Sezession bevor, man sympathisierte offen mit dem Süden. Der alte Davey Twiggs und Bob Lee, die letztes Jahr aus Virginia zurückgekehrt waren, um das Kommando über die Zweite Kavallerie zu übernehmen, waren ohnehin zwei potentielle Verräter.
Aber es gab weitere Gründe, weshalb er sich glücklich schätzte, aus Texas weggekommen zu sein. Er mußte sich eingestehen, daß er den Versuch, Charles Main zu beseitigen, selber verpfuscht hatte, und er hatte Glück gehabt, nicht vors Kriegsgericht gekommen zu sein. Doch die Chancen für einen Krieg standen ziemlich gut, und so würde er erneut Gelegenheit haben, den Mains und den Hazards eins auszuwischen. Er brannte darauf, ihre Akten in Washington durchzusehen. Diese Aussichten machten ihm den Mißerfolg etwas leichter.
Auf eine Frage hatte Bent bis jetzt noch keine befriedigende Antwort gefunden: Kannte Charles den wahren Grund für seine Feindseligkeit? Zu diesem Zeitpunkt mußte er ihn eigentlich kennen, denn Charles und dieser verfluchte Orry Main hatten sicher Briefe zu diesem Thema ausgetauscht. Briefe, die die Beziehung Bents zu Orry und George Hazard enthüllt hatten. Sollte jedoch kein solcher Briefwechsel stattgefunden haben – was zwar eher unwahrscheinlich war –, so würde Charles das Geheimnis bestimmt bei seinem ersten Urlaub erfahren.
Sobald die Mains über Bents Rachedurst einmal Bescheid wußten, würden die Hazards es zweifellos auch erfahren. Doch er hatte immer noch einen Vorteil: Die Mitglieder beider Familien würden bestimmt damit rechnen, daß sein Haß in den Wirren des Kriegs verginge, wenigstens abnehmen würde. Und diese irrtümliche Annahme würde ihr Verderben sein.
Wenn Bent die Situation, in der sich das ganze Land befand, richtig interpretierte, so waren Feindseligkeiten unvermeidbar. Charleston stand im Brennpunkt. Ein Tag nach Weihnachten hatte die kleine Garnison von Anderson geheime Vorbereitungen getroffen und im Schutze der Dunkelheit mit Booten nach Fort Sumter übergesetzt. Die Palmettoflagge wehte jetzt also überall auf dem Bundeseigentum in und um Charleston herum, mit Ausnahme des von Anderson besetzten Forts mitten im Hafen.
Seine Garnison durfte sich immer noch auf dem Markt in Charleston mit frischem Fleisch und Gemüse eindecken, aber die Miliz des Staats drang vermehrt in die Stadt ein und kümmerte sich um die Kanonen von Fort Moultrie, Castle Pinckney und Fort Johnson.
In den vergangenen Wochen hatte Buchanan sein Kabinett von südlichen Einflüssen gereinigt und einen härteren Kurs eingeschlagen. Er weigerte sich, die Unterhändler aus South Carolina, die über die Übergabe von Fort Sumter mit ihm verhandeln wollten, zu empfangen und hatte ihr Memorandum ungelesen zu den Akten gelegt.
Am 9. Januar nahm der Konflikt zwischen Nord und Süd eine gefährliche Wendung. Buchanan hatte ein Schiff mit Nahrungsmitteln, Munition und 250 Soldaten nach Charleston geschickt. Als die Star of West an der Sandbank vorbeifuhr, eröffneten die Kadetten von ›The Citadel‹, die die Kanonen im Hafen besetzt hatten, das Feuer.
Die Truppen von Anderson verzichteten darauf, das einfahrende Schiff zu verteidigen. Schon nach dem ersten Treffer wendete die Star of West und fuhr wieder aufs Meer hinaus. Damit war die Sache erledigt – außer in Washington, wo das Gerangel zwischen der Regierung und einer weiteren Delegation aus South Carolina weiterging.
Vor nur wenigen Tagen hatten Davis und weitere Südstaaten-Senatoren nach langen Abschiedsreden, deren künstliche Sentimentalität ihren Verrat verschleiern sollte, das Kapitol verlassen. Heute früh hatte Bent vernommen, daß Davis und die andern demnächst in Montgomery, Alabama, zusammentreten sollten, um eine neue Regierung zu bilden.
Es würde auf jeden Fall zwischen dieser Regierung und Washington zu einem ernsthaften Konflikt kommen. Der alte Buchanan würde nicht mehr lange im Amt sein, und der neue Mann, dieser komische Lincoln, vertrat in der Sklavenfrage zwar einen nachgiebigen Standpunkt, würde jedoch unnachgiebig sein, wenn es um die Erhaltung der Union ging. Der Krieg stand bevor. Die Zukunftsaussichten waren herrlich.
In dieser Geistesverfassung stieg Bent die Stufen einer wunderschönen schmiedeeisernen Treppe hinauf und klopfte an die Tür eines Etablissements, das ihm von einem Herrn auf der Reise empfohlen worden war. Als die Tür geöffnet wurde, stellte er sich unter fremdem Namen vor.
Zwei Stunden später führte ein finster blickender, riesiger Schwarzer den halbnackten Bent in das Zimmer der Besitzerin, drückte ihn in einen Plüschsessel und wartete mit verschränkten Armen den Ausgang des Streits ab.
»Einhundert Dollar ist eine Unverschämtheit!« ereiferte sich Bent, stopfte das Hemd in die Hose und knöpfte sich die Hemdsärmel zu. Hier hätte seine Uniform vielleicht Eindruck erwecken können.
Madame Conti wirkte hinter ihrem prunkvollen Schreibtisch äußerst entspannt; das indigofarbene Seidenkleid mit dem aufgestickten Pfau stand ihr hervorragend. Sie war groß, kräftig, etwa sechzig. Das ungewöhnlich weiße Haar war apart frisiert.
»Trotzdem, Monsieur Benton, einhundert Dollar ist der Preis. Das ist das, was einem so jungen Mädchen wie Otille gebührt.« Die Dame betrachtete ein Stück Papier. »Sie haben ebenfalls mehrere, mh, Sonderdienstleistungen verlangt. Ich kann sie Ihnen aufzählen, falls Ihr Gedächtnis Sie im Stich lassen sollte. Hat sie Ihnen nicht gesagt, daß dafür ein Zuschlag erhoben wird?«
»Nein, davon weiß ich garantiert nichts.«
Madame Conti zuckte die Achseln. »Ein Versehen. Aber das ändert nichts am Preis.«
»Ich weigere mich, zu zahlen, verdammt noch mal. Ich weigere mich.«
Madame Conti quittierte den Wutanfall mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie blickte an Bent vorbei und sagte: »Was sollen wir mit ihm machen, Pomp?«
»Weiterhin wie einen Gentleman behandeln«, knurrte der Schwarze. »Vielleicht ändert er seine Meinung?«
Schweiß perlte auf Bents Oberlippe. Der bedrohliche Ton war ihm nicht entgangen. Er versuchte tapfer die Fassung zu bewahren. Madame Conti lächelte unentwegt.
»Schenk unserem Besucher einen kleinen Champagner ein. Vielleicht hilft das.«
»Es wird nicht helfen«, sagte Bent. Sie lachte und verlangte auch nach einem Glas für sich selbst.
Bent verzichtete auf eine weitere Bemerkung und versuchte, seinen nächsten Schritt zu planen. Er würde sich den Weg aus dem Bordell nicht freikämpfen können und hatte auch nicht die Absicht. Er ließ es für einen Augenblick bei der gegenwärtigen Situation bewenden und akzeptierte den ausgezeichneten französischen Champagner von Pomp. Er kippte ihn hinunter und hielt das Glas ein zweites Mal hin. Madame Conti nickte dem Schwarzen zustimmend zu.
Der Champagner übte eine beruhigende Wirkung aus. Bent registrierte die Eleganz des Büros. An den mit rotem Samt tapezierten Wänden hingen mehr als ein Dutzend beleuchtete Ölbilder. Eines davon war eine lustige Studie von Pelzjägern auf einem Floß.
»Das ist mein Stolz«, sagte die Dame. »Ein Weststaatler namens Bingham hat es gemalt.«
Ihr Stolz ist falsch angebracht, dachte Bent und trank noch mehr Champagner. Er betrachtete das Porträt einer jungen Frau, das hinter Madame Contis linker Schulter hing. Irgendwie kamen ihm die Züge der wunderschönen, dunkelhaarigen Kreatur bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.
Madame Conti bemerkte sein Interesse. »Ah, Sie bewundern sie? Sie hat vor vielen Jahren einige Zeit hier gearbeitet. Sie war noch schöner als Otille. Und wesentlich teurer.«
Hure, dachte er. Sie achtete darauf, daß er die Rechnung keinen Augenblick vergaß.
Und plötzlich wußte er, wo er das exotische Gesicht des Porträts schon mal gesehen hatte: auf einem der Photos von Charles Main.
Nein, Augenblick. Diese Frau mit dem verführerischen Lächeln war nicht dieselbe Kreolenschönheit, die er auf dem Bild in Texas gesehen hatte. Die Ähnlichkeit war zwar groß, aber es konnte sich nicht um dieselbe Person handeln. Waren es vielleicht Schwestern?
»Wer ist sie, Madame?«
Die mit Juwelen besetzten Armbänder klirrten, als die weißhaarige Frau ihren Champagner trank. »Ich glaube, ich brauche kein Geheimnis daraus zu machen. Sie war ein armes Mädchen, das, kurz bevor sie starb, zu einer hohen Position aufstieg. Sie gab ihre Stelle bei mir auf, um die ehrenwerte und anerkannte Frau eines reichen Fabrikanten aus New Orleans zu werden.«
»Der dunkle Schimmer auf ihrer Haut ist bezaubernd. Der Maler muß sehr inspiriert gewesen sein.«
»Nur von dem, was er tatsächlich gesehen hat.«
»Sie meinen, ihre Haut war in Wirklichkeit so?«
»Ja, Monsieur Benton.«
»Ich bin fasziniert. Ein liebliches, romantisches Bild.« Er beugte sich leicht vor; als geübter Ränkeschmied konnte er subtil sein, wo es nötig war. »Wie ging die Geschichte aus – wenn ich Sie fragen darf, Madame?«
Sie drehte sich um und warf einen liebevollen Blick auf das Porträt. »Mein liebes Mädchen schenkte dem sie anbetenden Ehemann nach der Heirat ein Mädchen, aber leider ist die wunderschöne Mutter gestorben. Bevor auch der liebende Vater das Zeitliche segnete, schickte er seine Tochter weit weg, um standesgemäß zu heiraten. Sie hat eine ebenso weiße Haut wie Sie und ich, aber einige Menschen in dieser Stadt wissen vom Vorleben ihrer Mutter.«
Das war es also: Mutter und Tochter. Bent konnte seine Augen nicht von dem Porträt abwenden.
»Und Sie wissen auch, daß das Kind weder Spanierin noch Französin, sondern ein Achtel Negerin ist. Damals waren attraktive junge Frauen mit Mischblut noch bevorzugte Geschöpfe. Aber jetzt nicht mehr. Die ganze Aufregung um die Sklaverei hat dem ein Ende gesetzt. Heutzutage«, ein ausdrucksvolles Achselzucken, ein melancholisches Lächeln, »bedeutet ein Achtel Negerblut – wie hell die Haut auch immer sein mag – genausoviel wie ein richtiger Neger zu sein. Was ist, Monsieur Benton?«
Bent war die Hand ausgerutscht, und er hatte den Champagner auf den teuren Teppich geleert.
»Ein Ungeschick, Madame. Ich bitte um Entschuldigung.«
Er zog sein Taschentuch heraus und beugte sich nieder, um den Teppich zu säubern, was in Anbetracht seines Wanstes kein einfaches Unterfangen war.
Die Tochter einer Niggerhure stand also mit jener arroganten Main-Bande in einem Zusammenhang? Offensichtlich hegten sie keinen Verdacht; keine Frau mit Negerblut würde zu einer Gruppenaufnahme von Plantagenaristokraten zugelassen werden! Welch herrliche Information! Er wußte zwar noch nicht, wie oder wann er sie verwenden konnte, aber er zweifelte keine Sekunde daran, daß sie ihm nützlich sein würde.
»Madame, Sie haben völlig recht. Der Champagner hat tatsächlich eine beruhigende Wirkung.« Sein schweißfeuchtes Gesicht strahlte. »Die Dienstleistungen der jungen Dame waren äußerst zufriedenstellend, und ich bedaure, am Preis gemäkelt zu haben. Ich werde alles bezahlen. Wenn Sie gestatten, würde ich sogar gerne ein hübsches Trinkgeld hinterlassen.«
Madame Conti wechselte einen Blick mit dem riesigen Schwarzen, der seit einigen Minuten damit beschäftigt gewesen war, seine Fingernägel mit einem eindrucksvollen Messer zu reinigen. Auf ihr kaum merkliches Signal hin steckte er das Messer wieder ein. »Aber selbstverständlich«, sagte sie mit einem höflichen Nicken.
In Texas war der Himmel grau, und es fiel ein kalter Regen. In niedergedrückter Stimmung sah Charles Main zu, wie der letzte Koffer neben den andern im Armeewagen verstaut wurde. Die Koffer gehörten Oberst Lee.
Vor fünf Tagen, am 8. Februar, hatten Charles und zwei Berufssoldaten Camp Cooper verlassen, weil sie dem Regimentskommandanten eilige Botschaften zu übermitteln hatten. Sie waren fast zweihundert Meilen in diesem miesen Wetter geritten und mußten bei ihrer Ankunft feststellen, daß Lee von General Scott nach Washington zurückbefohlen worden war. Zweifellos wollte Scott wissen, welche Absichten Lee für die Zukunft hegte – und wem er die Treue halten wollte.
Lees Abreise war ein weiterer Beweis für das Chaos, das mehr und mehr Besitz vom Land ergriff. Obwohl wichtige Grenzstaaten wie Tennessee und Lees Heimatstadt Virginia sich der sezessionistischen Bewegung noch nicht angeschlossen hatten, war Texas am ersten des Monats von der Union abgefallen. In Alabama war eine neue Regierung der Konföderierten Staaten mit Jefferson Davis als Präsident gebildet worden.
Der künftige Präsident Lincoln reiste aus Illinois mit dem Zug nach Osten. Er unterbrach seine Reise an mehreren Orten, um Reden vor seinen Wählern zu halten. In Washington hatte sich Senator Crittenden vergeblich um Kompromißvorschläge bemüht. Nachdem alle Baumwollstaaten von der Union abgefallen waren, war es für den Senat ein leichtes gewesen, Kansas als freien Staat in die Union aufzunehmen.
Major Anderson befand sich immer noch mit seiner Garnison in Fort Sumter, und Charles fragte sich, ob Billy noch dort war. Anderson hatte ja mehrere Männer nach Washington geschickt, um Instruktionen einzuholen, und vielleicht war Billy unter ihnen gewesen. Charles hoffte und betete, daß sein Freund lebend aus dem Fort herauskommen möge.
In Texas gingen Gerüchte um, daß die Grenzposten demnächst von den Staatsmilizen oder den Texas Rangers übernommen werden sollten. Obwohl General Twiggs dafür bekannt war, daß er mit dem Süden sympathisierte, hatte er sich mehrere Male an Washington gewendet, jedoch nur unklare Antworten erhalten.
In einer Zeitung aus San Antonio war zu lesen, daß einer der ehrenwertesten Absolventen der Militärakademie, Pierre Beauregard, im Januar zum Superintendent von West Point gewählt worden war. Er hatte das Amt jedoch nicht einmal eine Woche lang einnehmen können und war abgesetzt worden, weil durch den Abfall von Louisiana ein Verdacht auf ihn gefallen war. Männer, die in Mexiko gemeinsam in die Schlacht gezogen waren, die Brot und Mühsal zusammen geteilt hatten, standen sich nun als Feinde gegenüber und waren zu allen möglichen Arten des Verrats fähig. All das deprimierte Charles, der sich über seine Zukunft und seine Entscheidungen noch nicht im klaren war.
Er wartete im Regen auf Lee. Mit ihm warteten neun weitere Offiziere. Schließlich kam der Oberst, und einer nach dem andern verabschiedeten sich die Offiziere. Charles war als letzter dran.
»Es ist mir eine Ehre gewesen, Ihnen zu dienen, Sir.«
»Danke, Leutnant.«
»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«
»Ich freue mich nicht über die Umstände, die mich zu dieser Reise zwingen. Aber etwas möchte ich Ihnen noch sagen: Sie sind ein guter Offizier, das steht fest – welche Änderungen auch immer eintreten mögen.«
»Vielen Dank, Sir.«
Lee wandte sich ab. Charles befand sich in einer derartigen inneren Verwirrung, daß er das Protokoll mißachtete. »Oberst?«
Lee wandte sich neben dem Armeewagen wieder um. »Ja?«
»Welchen Weg werden Sie einschlagen, Sir? Norden oder Süden?«
Lee schüttelte den Kopf. »Ich könnte niemals die Waffen gegen die Vereinigten Staaten erheben. Aber ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich meinen Heimatstaat Virginia verteidigen muß. Ich hatte gehofft, daß dieser Entscheid mir erspart bliebe und geglaubt, daß es Präsident Buchanan gelingen würde, durch einen Appell an die Vaterlandsliebe die Harmonie wiederherzustellen. Ich glaubte, daß mit dem Einfluß des Christentums die Sklavenfrage gelöst würde, aber auch das traf nicht ein. Ich habe selbst Sklaven besessen und mir die Gewissensfrage gestellt. Die Sklaverei wird langsam verschwinden – und das sollte sie auch. Was die Sezession anbelangt, so ist sie meiner Ansicht nach nichts anderes als eine Revolution. Und doch haben ehrenwerte Männer auf den Säulen der Sezession und der Sklaverei eine neue Regierung errichtet! Ich weiß nicht, was die Zukunft mir oder meinem Land bringen wird!«
Lees Gesicht sah im Regen abgehärmt aus. »Nur eins scheint mir gewiß: Wie der einzelne die Frage, die Sie vorhin gestellt haben, auch immer für sich selbst beantworten mag, das Ergebnis wird stets dasselbe sein. Die Situation, in die wir uns von den Extremisten haben treiben lassen, wird uns allen das Herz zerreißen. Auf Wiedersehen, Leutnant.«
Er schritt zum Armeewagen, stieg ein und setzte sich neben den Kutscher. Das Gefährt rollte langsam durch den Schlamm und verschwand dann in der düsteren Ferne.
Charles ging zurück, brütete über seine eigene Verwirrung und kam zum Schluß, daß Lee recht hatte. Beide, der Norden wie der Süden, würden schwer leiden, bevor dieses schreckliche Geschäft erledigt war.
Zwei Tage später übergab der alte Davey Twiggs in San Antonio sämtliche Camps der Bundesarmee in Texas an die Milizen des Staates. Die uniontreuen Männer wurden aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, und man sicherte ihnen sicheres Geleit zu, obwohl ungewiß war, für wie lange.
Charles traf gerade, eine Stunde, bevor die Truppe das Lager verlassen sollte, in Camp Cooper ein. Hauptmann Carpenter von der Ersten Infanterie führte das Kommando. Einige der Männer waren zu Fuß, andere zu Pferd.
Charles, der von den vielen Stunden im Sattel ganz erschöpft und abgekämpft war, sah zu, wie die Männer der Kompanie K aus Ohio in einer Zweierkolonne davonritten. Unter ihnen befand sich Korporal Tannen, der bei dem Gefecht um die Lantzman-Farm dabeigewesen war. Charles war für seine Beförderung eingetreten. Tannen drehte sich nach den Zurückbleibenden um, lehnte nach links und spie.
»Jeder Mann, der bleibt, ist unwürdig, das Armeeblau zu tragen.« Er sagte es laut genug, damit ihn alle hören konnten.
»Was sagen Sie da, Korporal?« rief Charles.
Tannen erwiderte seinen Blick. »Ich habe gesagt, daß Sie ein gemeiner Verräter sind, wenn Sie bleiben.«
»Offensichtlich bin ich meines Ranges enthoben worden«, sagte Charles, nahm sich die Abzeichen ab, spannte den Hahn seines Revolvers und reichte ihn einem neben ihm stehenden Kavalleristen aus Alabama.
»Damit es keine Schießerei gibt.«
Der Mann grinste, nickte und nahm die Waffe in Empfang. Charles ging auf Tannens Pferd zu.
»Sie haben mir einmal geholfen. Ich war dankbar dafür. Mit Ihrer Bemerkung sind wir nun quitt.«
Tannen blickte auf ihn herab. »Schön. Zur Hölle mit Ihnen.«
Mit einer schnellen Handbewegung packte Charles die Zügel, die Tannen ihm ins Gesicht schlagen wollte, und wand sie um das Handgelenk des Korporals. Das Pferd stieg hoch.
Tannen versuchte den Säbel zu ziehen, Charles schlug ihn ihm aus der Hand. Dann zerrte er den Mann aus dem Sattel und schlug auf ihn ein, bis seine Nase ein blutiger Klumpen war und er sich nicht mehr regte. Keuchend wandte Charles sich an die andern, die stehengeblieben waren:
»Hebt ihn auf, wenn Ihr ihn mitnehmen wollt. Den nächsten, der mich einen Verräter nennt, bringe ich um.«
Er nahm den Fuß, den er auf Tannens Rücken gesetzt hatte, weg und stand, die Hände in die Hüften gestemmt, da, bis man Tannen bäuchlings auf ein Pferd geworfen hatte. Bald darauf waren die Yankees außer Sicht.
Eine Stunde später verfaßte Charles sein Abschiedsgesuch und packte.
Da kein Berufsoffizier der Armee mehr da war, der das Gesuch nach Washington hätte weiterleiten können, nagelte er das Schreiben an die Tür. Wenige Minuten später war er bereits unterwegs in Richtung Golf.
Lee mochte über philosophische Haarspaltereien brüten, seine Zukunft war auf viel einfachere Art entschieden worden. Er war noch nie besonders tiefsinnig gewesen, sondern ein Draufgänger und ein Reitersoldat. Der Süden könnte jemanden wie ihn wohl ebenso gut gebrauchen wie Philosophen.
Er haßte es, das ihm liebgewordene Texas verlassen zu müssen. Die Sklaverei war für ihn eine idiotische, zum Aussterben verurteilte Institution. Aber der Süden rief ihn nach Hause. Er trieb sein Pferd schonungslos an, bis er die Küste erreicht hatte.