Viertes Buch. Der Marsch in die Dunkelheit

Ich sage Euch, da ist ein Feuer. Heute haben sie eine brennende Fackel in den Tempel der verfassungsmäßigen Freiheit geworfen, und, so Gott will, werden wir nie wieder Frieden haben.

Rechtsanwalt James Petigruaus Charleston, während der Sezessionsfeier am 20. Dezember 1860

60

Mit jedem Tag fühlte sich Sumter mehr wie ein Gefängnis an. Billys feuchtkaltes Zimmer aus unverputzten Backsteinen befand sich im Offiziersquartier. Die Trübseligkeit des Raumes wurde noch dadurch gesteigert, daß er die meiste Zeit über dunkel war. Die Garnison hatte fast alle Kerzen und Streichhölzer aufgebraucht, die Mrs. Doubleday im Januar, einen Tag bevor sie und die andern Garnisonsfrauen nach Norden gereist waren, gekauft hatten. Es blieb Billy nur noch ein kleiner Stumpf übrig, den er jeden Tag einige Minuten lang anzündete, wenn er einen weiteren Kalenderstrich in die Wand ritzte. Für den Februar hatte er jetzt bereits einundzwanzig Striche an der Wand.

Brett sah er nicht mehr. Er gehörte nicht zu denjenigen, die alle paar Tage in die Stadt abkommandiert wurden, um dort gepökeltes Schweinefleisch und Gemüse einzukaufen. Diese Art der Verpflegung wurde mit der Einwilligung von Gouverneur Pickens und unter dem Drängen einiger berühmter Persönlichkeiten aus Charleston so gehandhabt.

Andere Persönlichkeiten der Stadt machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen eine Versorgung der Garnison mit Nahrungsmitteln und Postsachen. In einem ihrer Briefe schrieb Brett, daß besonders Rhett vom Mercury dafür war, daß die Garnison durch Hunger zur Kapitulation gezwungen werde. Billy hegte den Verdacht, daß der Gouverneur das gleiche Ziel verfolge, wenn auch mit andern Mitteln. Pickens hatte es den dreiundvierzig Maurern und Arbeitern nicht gestattet, Fort Sumter zu verlassen. Wahrscheinlich würde somit der Nahrungsmittelbestand schneller zurückgehen und Anderson um so früher um Verhandlungen bitten müssen. Mehrere Offiziere behaupteten, der Gouverneur führe ein Täuschungsmanöver durch und habe überhaupt keine derartigen Rechte. Doubleday vertrat die Ansicht, daß Anderson die Arbeiter in der Nacht an Land bringen lassen könnte, wenn er sie wirklich los sein wolle. Er wagte es natürlich nicht, dies Anderson ins Gesicht zu sagen, und der Kommandant, der sich sehr wohl darüber im klaren war, daß eine Konfrontation gefährlich sein könnte, hütete sich vor jeder unbedachten Handlung.

Brett berichtete, daß die Männer, die die Lebensmittel auf dem Markt in Charleston einkauften, mit Gewehren herumspazierten. Jedesmal trottete eine Menschenmenge hinter den Soldaten her, und ab und zu rief jemand Doubledays Namen. Er war der am meisten gehaßte Mann des Forts, ein bekannter Republikaner. Sollte er jemals einen Fuß in die Stadt setzen, so würde er sicher vom Pöbel gelyncht werden, meinte Brett.

Billy beschäftigte sich, so gut er konnte. Als die unter seinem Kommando stehenden Maurer sämtliche Fenster der zweiten Kasemattenreihe zugemauert hatten, wurden sie von Foster für Arbeiten am Haupttor abkommandiert. Das Tor wurde auf der Innenseite verkleinert, und sobald die Arbeiten soweit fertiggestellt waren, gab Anderson Befehl, eine leichte Haubitze vor dem Tor aufzustellen.

Alle Insassen des Forts waren einer Art Stumpfheit verfallen. Man arbeitete viel und lange, und die Anspannung machte alle noch müder, als sie es sonst geworden wären. Hauptmann Seymour und Hauptmann Doubleday hatten ein besonders schweres Los: Sie fungierten abwechslungsweise jeden zweiten Tag als Offiziere vom Dienst und durchwachten jede zweite Nacht.

Der Ernst der Lage bewirkte, daß die Offiziere offener wurden und sich weniger starr ans Protokoll hielten. Der Beweis dafür wurde eines schönen Nachmittags erbracht, als Billy und Doubleday von der Brustwehr aus beobachteten, wie ein Schoner am Kai auf Morris Island festmachte. Er war mit Eisenschienenstahl beladen, der für den Bau eines Artilleriestandplatzes in weniger als zwölfhundert Meter Entfernung bei Cummings Point errichtet werden sollte.

»Schauen Sie sich das an!« rief Doubleday. »Wir erlauben es, daß sie in aller Gemütlichkeit ihre Kanonen und ihre Munition aufstellen.«

Es stimmte. Von dem nun schwer mit Baumwollballen und Sandsäcken befestigten Fort Moultrie aus bis zu Cummings Point waren überall Kanonen aufgestellt, die eine schwere Bedrohung für das Fort im Hafen darstellten. Die Artillerieeinheiten des Staates South Carolina führten regelmäßig Übungen durch. Eben jetzt konnte Billy Männer sehen, die geschäftig um die Kanonen herumflitzten, während die Palmettoflagge im Wind flatterte.

Wie die meisten Garnisonsmitglieder, war auch Billy der Meinung, daß Major Anderson ein anständiger, gewissenhafter, wenn auch alter und eher gottesfürchtiger Mann war. Er fühlte sich dazu veranlaßt, auf die unausgesprochene Kritik zu reagieren.

»Wenn der Major versuchte, der Sache Einhalt zu gebieten, könnte er damit dieses ganze Land in einen blutigen Krieg führen. Ich möchte diese Verantwortung nicht haben, Sir.«

»Ich auch nicht«, gab Doubleday heftig zurück. »Glauben Sie mir, es ist mir klar, in welchem Dilemma er sich befinden muß, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Verzögerungstaktik unsere Lage nur noch verschärfen kann.«

»Glauben Sie, daß eine Friedenskonferenz helfen wird?« fragte Billy.

Virginia hatte zu einer solchen Konferenz aufgerufen, und der frühere Präsident Tyler hatte sie im Willard’s Hotel in Washington einberufen. Doch einige bedeutende Staaten wie Michigan und Kalifornien hatten keine Delegierten entsandt.

Doubleday beantwortete die Frage ohne zu zögern mit einem Nein. »Meiner Meinung nach können wir nicht beides, die Union und die Sklaverei retten.« Er hieb mit der Faust auf die Brustwehr. »Ich wünschte, der Major könnte seine Befehle für eine Stunde vergessen und es uns gestatten, die Batterien dort drüben zu vernichten. Wenn wir das nicht tun, werden wir demnächst von einem Feuerring umgeben sein.«

Ein Feuerring. Ein guter Ausdruck, dachte Billy, als er zusah, wie der Schoner entladen wurde. Aus allen Richtungen, außer vom Meer her, waren Kanonen aus South Carolina auf Fort Sumter gerichtet. War es nicht unvermeidlich, daß jemand früher oder später – auf Befehl oder aus Versehen – ein solches Ding losfeuerte und damit einen Krieg auslöste?

Bretts nächster Brief bestätigte die bevorstehende Gefahr. In Charleston ging das Kriegsfieber um. Doubleday und noch andere der Garnison vermuteten, daß Präsident Davis aus diesem Grund so sehr darauf bestand, die Artillerieeinheiten von Charleston im Namen der Regierung einzuziehen. Davis sandte auch offizielle Unterhändler der Konföderation nach Washington, um eine sofortige Übergabe des umstrittenen Eigentums zu fordern.

Einige Tage später bekam Billy von Anderson selbst eine weitere überraschende Nachricht zu hören. »Davis schickt seinen eigenen Offizier, um das Kommando über die Batterien zu übernehmen.« Der Major seufzte. »Beauregard.«

Sie standen neben der Geschützbank. Die Hälfte der achtundvierzig brauchbaren Geschütze von Fort Sumter waren im Freien aufgestellt, die andere Hälfte befand sich in den Kasematten. Etwa in fünfzig Meter Entfernung vom Fort fuhr die Nina vorbei, eines der zwei Wachschiffe, die dauernd im Hafen patrouillierten. Die Scharfschützen im Heck erkannten Anderson und feuerten Salutschüsse ab. Der großgewachsene Mann mit den tiefliegenden Augen blieb reglos da stehen.

»Hauptmann Beauregard aus Louisiana?« fragte Billy.

»Jetzt Brigadegeneral Beauregard der Konföderierten Staaten von Amerika. Als ich in den Jahren ‘36 und ‘37 an der Akademie Artillerie lehrte, war er einer meiner besten Schüler. Er war so gut, daß ich ihn nach seinem Schulabschluß zu meinem Assistenten machte.« Der Major schweifte mit seinem Blick über die Batterie bei Cummings Point. »Ich nehme an, daß das Geschütz demnächst fachkundiger aufgestellt sein wird.«

Anderson wandte sich plötzlich seinem Untergebenen zu. In dem über die Dächer und Kirchtürme von Charleston fallenden Sonnenlicht sah sein Gesicht noch verhärmter aus. »Aber eigentlich wollte ich mich nach Ihrer jungen Dame erkundigen, Leutnant. Ist sie immer noch in der Stadt?«

»Ja, Sir, ich bekomme fast jeden Tag einen Brief.«

»Wollen Sie beide immer noch heiraten?«

»Sehr gern, Sir, aber das scheint unter den gegenwärtigen Umständen kaum möglich.«

»Sagen Sie das nicht! Sie wissen ja, daß Hauptmann Foster eigentlich dagegen ist, daß Ihr Herren von den Pioniertruppen Frontdienst macht; wenn Sie also mit Ihrer Arbeit zu Ende sind, werde ich an Ihre Situation denken.«

Billys Hoffnung flammte wieder auf, doch gleichzeitig stieg ein anderes Gefühl in ihm hoch. »Sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir, aber ich möchte nicht weggehen, wenn es zu Feindseligkeiten kommt.«

»Es wird keine Feindseligkeiten geben«, flüsterte Anderson. »Auf jeden Fall werden sie nicht von uns ausgehen. Können Sie sich die katastrophalen Folgen vorstellen, wenn Amerikaner auf andere Amerikaner das Feuer eröffnen würden? Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit es nicht zu einem solchen Zusammenstoß kommt, und ich schäme mich nicht, Ihnen zu sagen, daß ich jeden Abend auf den Knien zu Gott bete, damit ich dieses Versprechen auch halten kann.«

Der Gegensatz zu Doubledays schwelender Kampflust war offensichtlich. Billy betrachtete die untergehende Abendsonne und lenkte seine Gedanken auf die Hoffnung, der Anderson mit seinen Worten Ausdruck verliehen hatte. Aber er wagte es kaum, darüber nachzudenken, weil die Möglichkeit einer Enttäuschung zu groß war.

Langsam schweifte sein Blick über den Hafen mit dem Geschütz. Ein Feuerring, der absichtlich oder versehentlich entzündet werden konnte. Als die Sonne untergegangen war, hatte sein Pessimismus wieder die Oberhand gewonnen.

An jenem Abend verließ Orry ein Flußboot und betrat den Kai von Mont Royal. Zwanzig Minuten später gesellte er sich in der Bibliothek zu Charles.

»Wie stehen die Dinge in Charleston?« erkundigte sich der junge Mann und schenkte zwei Gläser Whiskey ein.

»Schlecht. Die Geschäfte gehen schlecht. Die Kaufleute fangen an, sich zu beklagen.«

»Ziehen die Menschen fort?«

»Im Gegenteil. So viele Touristen hat die Stadt schon lange nicht mehr gesehen. Aber sie geben nur das Nötigste aus. Dasselbe gilt für die Einwohner.«

»Nun, das überrascht mich nicht. Wer will schon Geld zum Fenster hinausschmeißen, wenn der Bürgerkrieg jede Minute ausbrechen und das Brot in zwei Wochen schon zwanzig Dollar kosten kann?«

Mit einem Lächeln, das eher einer Grimasse glich, sank Charles in seinen Sessel zurück und schwang ein Bein über die Lehne. Zwei Tage hatte er sich gefreut, wieder zu Hause zu sein, aber jetzt verebbte das Gefühl. Er hatte sich mit Orry eingehend über Elkanah Bent unterhalten, und obwohl Charles kaum etwas Neues erfahren hatte, deprimierte ihn die Tiefe von Bents Haß erneut. Es war nur zu hoffen, daß dieser Haß von selbst ausbrannte, falls es Krieg gab. Charles war ohnehin sicher, daß sich ihre Wege nie wieder kreuzen würden.

Doch nicht nur Bent war für sein Unbehagen verantwortlich. Er vermißte den Westen und fühlte sich zu seiner eigenen Überraschung in seinem Heimatstaat nicht mehr ganz zu Hause. Er wagte es nicht zuzugeben, daß es nur ein einziges Mittel gegen dieses Mißbehagen gab: Kämpfen.

»Die Nachrichten werden immer schlimmer«, bemerkte Orry, nachdem er einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte. »Es gibt einige Reaktionen auf die neue Regierung. Davis hat bei der Regierungsbildung South Carolina offensichtlich vergessen.«

Charles verdaute die Mitteilung und wechselte dann das Thema: »Wie geht es denn in der Tradd Street?«

»Cooper tut den Umständen entsprechend sein Möglichstes: das Schiff kann er ja jetzt endgültig abschreiben, und ein Teil seiner Werftanlagen wird als Geschützstandort benützt.«

»Ich nehme an, er hatte die Wahl, ja zu sagen oder sich die Werft vom Pöbel niederbrennen zu lassen. Judith und Brett kümmern sich zwar um ihn, aber er ist ziemlich verzweifelt. Seine schlimmsten Ängste sind Wirklichkeit geworden.«

»Hast du Ashton getroffen?«

»Nein. Man sagte mir, daß James mit Gouverneur Pickens befreundet ist, und obwohl man in Montgomery South Carolina übergeht, soll er sich dort schwer um eine Stellung bemühen. Ah ja, noch etwas – aus verläßlicher Quelle weiß ich, daß all diese Kriegsvorbereitungen den Staat in den Bankrott geführt haben.«

»Und was ist mit diesem Darlehen von siebenhunderttausend Dollar, das sie vergeben möchten?«

»Niemand ist daran interessiert.«

»Na ja, vielleicht kehrt alles irgendwie wieder zur Normalität zurück? Vielleicht kann die Frage des Forts friedlich gelöst werden.«

»Präsident Davis hat gesagt, daß er das Fort entweder über den Weg von Verhandlungen oder mit Gewalt nehmen wird. In zwei Wochen wird Präsident Lincoln sein neues Amt antreten – vielleicht erfahren wir dann mehr.«

Die beiden früheren Soldaten starrten einander in der düsteren Bibliothek an; keiner zweifelte an den Absichten der führenden Politiker des Staats.

Etwa achtundvierzig Stunden später stand Huntoon an der Reling des Spähschiffs Nina. In der einen Hand hielt er einen Teller mit Hühnchensalat, in der andern ein Glas Tokaier.

Etwa dreißig Herren hatten sich an Bord begeben, um das Fort bei Sonnenuntergang zu inspizieren. Am Heck des Schiffes waren unter einem gestreiften Sonnensegel kalte Speisen aufgestellt worden, die von einem ausgesuchten Damenausschuß vorbereitet worden waren. Ashton war es gelungen, unter den Damen zu sein. Etwa ein halbes Dutzend Sklaven aus ebensovielen Häusern waren damit beauftragt worden, sich um das Essen zu kümmern.

Von Nordosten her wehte ein kräftiger Wind und versprach eine kühle Februarnacht. Während Huntoon hörbar kaute, wendete die Nina im Hauptkanal und steuerte auf die Stadt los.

»Wissen Sie, Gouverneur«, sagte Huntoon zu dem neben ihm stehenden Mann, »die Tatsache, daß es bis jetzt noch nicht zu einer entscheidenden Aktion gekommen ist, ist für viele Bürger höchst irritierend.«

»Ich kann nichts tun«, gab Pickens zurück. »Bald wird General Beauregard hier sein, und Präsident Davis hat mich in unmißverständlicher Weise wissen lassen, daß er während der Interimszeit der Verantwortliche ist und nicht ich.«

»Hmmm.« Huntoon nippte an seinem Wein. »Ich hatte geglaubt, daß der Palmettostaat abgefallen ist, um seine souveränen Rechte zu wahren. Haben wir diese Rechte nun bereits an eine neue Zentralregierung übergeben?«

Pickens blickte verstohlen über die Schulter, ob keine unerwünschten Zuhörer da seien. »Ich würde nicht so laut reden – oder nicht so kritisch. Zumindest nicht, wenn Sie immer noch auf einen Posten in Montgomery hoffen.«

»Ja, das tue ich immer noch. Es scheint mir, daß dort Männer mit Charakter und Mut vonnöten wären. Wir müssen die Dinge vorantreiben.«

»James, Sie sind zu voreilig«, wollte der Gouverneur fortfahren, aber der jüngere Mann unterbrach ihn unverzüglich.

»Unsinn, Sir. Wenn wir nicht handeln, dann werden uns die andern zuvorkommen. Gestern habe ich gehört, wie man ernsthaft von einer neuen Sezessionsbewegung sprach. Einige einflußreiche Pflanzer in diesem Staat wollen sich von der Regierung Davis distanzieren und Großbritannien darum ersuchen, aus South Carolina ein Protektorat zu machen.«

»Absurd!« rief Pickens, aber seine Stimme klang leicht nervös. Und mit gutem Grund. Vor kurzem hatte sein sezessionistischer Freund und Kollege, Bob Rhett, Gerüchte gehört, wonach Stephen Douglas sich immer noch um einen Wiedereingliederungsplan bemühe, um die Union zu retten. Der Gouverneur war nicht an wahnwitzigen Ideen einer britischen Kolonie interessiert, aber eine Versöhnung lockte ihn ebensowenig.

»Wir müssen noch eine Weile Zurückhaltung üben. Davis’ Unterhändler werden eine Schlappe in Washington einstecken müssen. Bis dann wird Beauregard seinen Posten bekleiden, und wir werden unsern Krieg haben.«

»Das hoffe ich sehr«, murmelte Huntoon.

Da bemerkte er plötzlich einen Offizier auf dem Wallgang von Fort Sumter. Es war Billy Hazard. Huntoon erhob sein Weinglas, um ihn zu grüßen.

Der Yankee nickte nachlässig. Huntoon war beleidigt. Wir werden unsern Krieg haben, und du wirst zu den ersten Opfern zählen, dachte er, als das Schiff auf die Landungsbrücke lostuckerte.

61

Die Hand, die auf Bretts Arm lag, tat weh. Die Stimme verriet den typischen Akzent des ländlichen South Carolina.

»Aber, aber, Verehrteste, alles was ich wissen wollte, war…«

»Fragen Sie jemand anderen.« Sie versuchte, sich zu befreien, und stieß ihm die Schuhspitze gegen das Schienbein.

Er fluchte und beschimpfte sie. Sein whiskeygeschwängerter Atem stieg ihr in die Nase, als sie sich endlich aus seinem Griff befreite und durch die Meeting Street flüchtete. Der Mann, ein stämmiger junger Kerl mit schmutzigen Kleidern und einem breitkrempigen Filzhut, latschte hinter ihr her.

Sie bekam es mit der Angst zu tun und rannte in die Februardämmerung hinein, bis sie schließlich die Tradd Street erreichte. Ihr Verfolger schrie irgend etwas über die Huren von Charleston, aber er kam nicht weiter als bis zur Ecke.

Jetzt erst wagte sie, sich umzublicken. Der Mann ging über die Meeting Street, ein Schatten unter anderen. Sie zitterte.

In Charleston wimmelte es von Besuchern, die aus allen Teilen des Südens kamen, um ihre Sensationslust zu befriedigen. Die meisten gaben wenig Geld aus, und viele gehörten zum Pöbel, wie der junge Mann, vor dem sie eben die Flucht ergriffen hatte. Er hatte sie angesprochen, als sie vom Markt kam, wo sie dem Einkäufer von Fort Sumter etwas Käse, Brot, Kerzen und Streichhölzer gebracht hatte.

Auch dort hatte sie sich einer beträchtlichen Gefahr ausgesetzt. Sie konnte die giftigen Blicke und die üblen Worte, mit denen man sie bedacht hatte, immer noch spüren und hören, als sie dem Korporal den Korb ausgehändigt hatte. Verräterin war der mildeste Ausdruck, den man ihr an den Kopf geworfen hatte.

»Mr. Rhett und seine Kollegen beklagen sich doch immer über den Pöbel im Norden«, sagte sie zu Judith, als sie sich wieder zu Hause in Sicherheit befand. »Ich würde meinen, daß wir hier in Charleston unseren eigenen Pöbel haben.«

»Ja, die Spannungen scheinen mit jedem Tag zuzunehmen«, pflichtete ihr Judith bei. Sie ergriff das kräftige Handgelenk ihres Sohns. »Judah, hör auf, damit herumzuspielen.«

Doch der Knabe pflatschte weiterhin mit seinem Löffel im Austerngericht herum. Auf der andern Seite des Tisches rutschte Marie-Louise unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Mama, wird Papa heute abend wieder fortgehen?«

»Ja, er hat in letzter Zeit sehr viel zu tun.«

Die Blicke von Judith und Brett trafen sich kurz; beide verstanden die eben ausgesprochene Lüge. Es waren nicht geschäftliche Gründe, die Cooper dazu zwangen, in der Dunkelheit auf der James Island auszuharren. Schon seit Wochen waren die Bauarbeiten an der Star of Carolina eingestellt worden, und doch kehrte er Tag für Tag zur Werft zurück und blieb dort bis nach Mitternacht oder noch länger. Erschöpft und hohlwangig, benahm er sich wie ein gespenstischer Passagier, der nach einem Eisenbahnunglück immer wieder in den Trümmern herumwühlt, als ob er dort eine Erklärung finden könne. Brett machte sich ebenso viele Sorgen um ihren Bruder wie um Billy.

»Oh, du mußt dir unbedingt den New York Herald ansehen, den Cooper vorgestern mitgebracht hat«, sagte Judith. »Er berichtet über ein neues Stück, das in New York aufgeführt wird – über Fort Sumter. Sogar der Name des Schauspielers wird genannt, der die Rolle von Leutnant William Hazard spielt.«

»Du meinst, daß die Rollen nach den wirklichen Leuten benannt sind?«

»In der Tat. Anderson, Doubleday – sie sind alle dabei.«

»Ist das nun Kunst oder Geldgier?«

»Ich nehme an, eher das letztere«, erwiderte Judith.

Brett seufzte. Wie grotesk die Stadt und die Nation sich doch in nur wenigen Wochen verändert hatten! Schritt für Schritt waren die Amerikaner in eine Art vornehmen Wahnsinn hineingedriftet; alles war von nun an möglich. Doch am schlimmsten war, daß der junge Mann, den sie liebte, durch diesen Wahnsinn gefährdet war. Überall war man sich darüber einig, daß es schon bald nach Lincolns Präsidentschaftsantritt zum Krieg kommen würde. Beauregard würde den Batterien den Feuerbefehl erteilen, und die achtzig Mann auf Fort Sumter würden im Kanonenfeuer oder durch die Bajonetts und Musketen umkommen.

Brett hatte Alpträume deswegen; sie träumte davon, wie sie an Billys Beerdigung teilnahm. Sie hatte solche Angst vor diesen fürchterlichen Träumen, daß sie in letzter Zeit kaum noch schlafen konnte. Seit ihrem Auszug aus Mont Royal hatte sie beinahe sechs Kilo abgenommen; um ihre Augen zeichneten sich große, dunkle Ringe ab.

Sie nahm eine Schere, um den Artikel aus der Zeitung herauszuschneiden, als sie von einem zweimaligen Dröhnen aufgeschreckt wurde.

Mörser, dachte sie. Die Batterie von Mount Pleasant. Sie hatte sich bereits so daran gewöhnt, daß sie genau wußte, woher die Übungsfeuer kamen. Die meisten Einwohner von Charleston hatten in letzter Zeit dieses neue Talent entwickelt.

Als das Dröhnen in der Ferne verebbte, stieß sie einen leisen Schrei aus und bemerkte, daß sie die Schere fallen gelassen hatte. Ihre Handfläche war dabei verletzt worden, und sie hatte es nicht einmal gespürt. Blut trat aus und rann über ihr Handgelenk.

Das Blut, das Artilleriefeuer, die Erinnerung an den Betrunkenen, der sie verfolgt hatte, und die Schimpfworte, mit denen man sie auf dem Markt bedacht hatte, hatten ihr seelisches Gleichgewicht zerstört. »Billy«, flüsterte sie. Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Billy.«

Sie preßte die blutende Hand auf den Mund und versuchte ihre Angst zu meistern.

»Du meinst, ihr verdammter Präsident mußte bei Nacht und Nebel nach Washington schleichen?«

»Ja, Sir. Er trug alte, abgetragene Kleider, genau wie sein Geheimpolizist Pinkerton. Sie sind mitten in der Nacht mit einem Schlafwagen eingetroffen. Wie Verbrecher!«

»Weshalb hat Lincoln nicht den normalen Zug benutzt?«

»Man sagt, daß er Angst hatte, ermordet zu werden. Wenn ich in der Nähe gewesen wäre, hätte ich das gleich besorgt – oh, guten Abend, Mr. Main.«

»’n Abend, die Herren.«

Cooper nickte den Herren angewidert zu. Es handelte sich um zwei Korporale der Artillerie von South Carolina, die unter dem Kommando von Major Evans auf James Island stand.

Cooper hatte das schadenfrohe Gespräch mitanhören können, als er von der Rückseite des Schuppens her kam, den die staatlichen Behörden auf seiner Werft aufgestellt hatten. Im Schuppen stand ein besonderer Ofen, mit dem während einer Bombardierung Brandgeschosse vorgewärmt werden sollten.

Tölpel, dachte Cooper, als er an den Männern und dem Schuppen vorbeistapfte. Die feuchte Nachtluft reizte ihn zum Husten. Auf Fort Sumter glühte ein blaues Signallicht. Wenn er dorthin blickte, dann war er wenigstens nicht gezwungen, das Kielschwein des unfertigen Schiffes ansehen zu müssen. Es kam ihm wie eine hämische Karikatur all seiner Träume vor, die er für den Süden gehegt hatte. Na ja, Brunei war es schließlich auch nicht anders ergangen. Der kleine Ingenieur hatte seine Träume ja auch begraben müssen.

Cooper bemerkte Lichter bei einer Mörserbatterie weiter unten am Strand. Er beschloß, nicht in dieser Richtung weiterzugehen. Er kauerte sich nieder, ließ Sand durch seine Finger rieseln und starrte in den Nebel über dem Meer.

Er stand vor einer Entscheidung. Mallory, der Marineminister, hatte aus Montgomery telegraphisch den Besuch von zwei Mitgliedern des Marineausschusses bei Cooper angekündigt. Die beiden würden am Vormittag eintreffen. Cooper wußte, was sie von ihm wollten.

Sein Lagerhaus. Seine Werft. Seine Schiffe.

Er fand, daß die neue Regierung irregeleitet war, in einem tragischen Irrtum befangen.

Weshalb zermarterte er sich dann auch noch eine Sekunde lang das Hirn und fragte sich, welche Antwort er den Besuchern geben wollte? Er kannte die Antwort.

Er rang mit sich selbst, weil die Loyalität seinem Staat gegenüber ihm keine Ruhe ließ und hartnäckig wie eine Ozeanwelle immer wieder an ihm zerrte. Er haßte seinen Zwiespalt, war jedoch machtlos, etwas dagegen zu tun.

Er stand auf und kehrte zum Schuppen zurück. Sein Magen knurrte, und er erinnerte sich daran, daß er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Aber er hatte keine Lust mehr auf Essen, er war überhaupt an nichts mehr interessiert und quälte sich nur noch mit der bevorstehenden Entscheidung herum. Was sollte er tun?

Nein, das war nicht die richtige Frage. Jeder einigermaßen vernünftige Mann sollte den Süden verlassen, solange es noch Zeit dafür war. Er mußte die Frage anders formulieren. Was würde er tun?

Bis morgen früh mußte er sich entschieden haben.

»Rex, worüber habt ihr eben geflüstert?« Ashton war gerade an der Speisekammer vorbeigegangen und hatte gehört, wie der Sklave und der ältere Hausbedienstete sich aufgeregt miteinander unterhalten hatten.

Der Junge trat einige Schritte vor seiner Herrin zurück. »Hab’ nichts geflüstert, Miz’ Huntoon.«

»Verdammter Niggerbalg, ich habe dich gehört. Ich habe ganz genau das Wort Linkum verstanden.«

Rex schluckte. »Linkum? Nein, Ma’am, ich schwöre, daß ich nie und nimmer – «

Homer hatte seine dunkle Hand auf seinen Arm gelegt, und er hielt mitten im Satz inne. Homer, in seinen Vierzigern und von der jahrelangen Plackerei ganz gebeugt, blickte dem jüngeren Mann resigniert in die Augen. »Lügen helfen nicht. Im Gegenteil, es wird uns noch schlechter gehen. Schlucken wir lieber die bittere Pille.«

Er wandte sich Ashton zu und zeigte sich willens, die Wahrheit zu sagen, aber Rex blieb störrisch.

»Nein, Homer, ich will nicht – «

Homer packte ihn so hart am Handgelenk, daß der Jüngere aufschrie. Ashton keuchte laut und schwer, als sie sagte: »Laßt eure Hosen runter. Beide!«

Ihr Knüppel lag am üblichen Ort in der Küche. Der Koch und die beiden Hausmädchen tauschten besorgte Blicke aus, als ihre Herrin in die Küche stürmte, den Knüppel ergriff und wieder hinauseilte.

Ashton fühlte sich gezwungen, jede Faszination für Lincoln im Keim zu ersticken, bevor sie allzu gefährliche Ausmaße annehmen würde. Überall in Charleston und überall im ganzen Staat begannen sich die Sklaven zu rühren und flüsterten immer wieder dieses eine Wort – Linkum. Diejenigen, die lesen konnten, wußten, daß er der neue Präsident des Nordens war. Die meisten jedoch wußten kaum etwas über ihn, außer daß er ein Republikaner war. Da ihre Herren die Republikaner so abgrundtief haßten, konnte Linkum nur ein Freund der Schwarzen sein.

Homer und Rex hatten in der Speisekammer ihre Hosen heruntergelassen und sich mit dem Gesicht zur Wand gestellt. Ashton befahl ihnen, die zerrissenen Unterhosen ebenfalls fallen zu lassen. Sie zögerten zwar, aber dann gehorchten sie. Als Ashton die schlanken, muskulösen Lenden erblickte, durchfuhr sie ein leises Zittern.

»Fünf pro Nase«, sagte sie. »Und wenn ich jemals einen von euch wieder den Namen dieses Schuftes aussprechen höre, gibt es zehn oder mehr Schläge. Wer wird zuerst bestraft?«

Homer sagte mit ruhiger Stimme: »Ich, Ma’am.«

Ashtons Brüste spannten sich unter ihrem Kleid. Sie atmete heftig. Sie sah, wie Rex rasch einen verstohlenen, ängstlichen Blick über die Schulter warf. »Nein, nicht du«, murmelte sie und schwang den Knüppel.

Der Schlag fiel laut wie ein Gewehrschuß. Rex hatte sich nicht fest genug gegen die Wand gestemmt und flog mit dem Kinn dagegen. Er brüllte und blickte nochmals zurück; ein wilder, rachsüchtiger, beinahe mörderischer Blick.

»Blick auf die Wand, Nigger«, sagte Ashton und schlug mit ihrer ganzen Kraft zu.

Homer ballte seine rechte Hand zur Faust, lehnte den Kopf vor und schloß die Augen.

Hinterher fühlte sich Ashton, als ob sie durch einen Sturm hindurchgegangen wäre und nun Windstille eingesetzt hätte. Sie zog sich auf ihr Zimmer zurück und döste genießerisch in einem Sessel vor sich hin. Ihre Glieder waren von einer lasziven Schwere.

Sie wiederholte die Bestrafungsszene in ihrer Phantasie. Erst stellte sie sich noch einmal alles ganz genau vor und genoß die Empfindungen, die sich dabei einstellten. Dann veränderte sie die Szene: Es war nicht mehr ein schwarzer Junge oder ein schwarzer Mann, den sie auspeitschte, sondern der sich windende und um Gnade bettelnde Billy Hazard.

Forbes LaMotte und sie waren beide zur Untätigkeit verurteilt, weil Billy in Fort Sumter festsaß und nie in die Stadt kommen durfte. Doch das würde sich vielleicht ändern, sobald General Beauregard die Zügel in die Hand nahm. Es wurde ihr jetzt klar, daß der frühere Versuch, Billy zu verprügeln und zu verletzen, idiotisch gewesen war. Natürlich hätte sie es vorgezogen, Billy selbst zu vernichten, aber sie und Forbes würden es zufrieden sein, wenn er im Fort umkäme.

Ohne daß sie es merkte, glitten ihre Hände abwärts zur Taille. Schweißperlen glänzten auf der Oberlippe und Stirn. Sie schloß die Augen und sah ein neues Phantasiebild: Billy, umgeben von Feuer und berstenden Steinen. Die Artillerie South Carolinas verwandelte Fort Sumter in Schutt und Asche. Langsam verblaßte sein Bild. Keuchend befriedigte sie sich selbst.

Laß es geschehen, dachte sie. O Gott, laß es bald geschehen.

Sie stöhnte leise. Die ruckartige Bewegung ihres Körpers verschob den Sessel um einige Zentimeter.

Der Mann aus Georgia taumelte. Forbes LaMotte trat zur Seite, damit sein Opfer an ihm vorbeifallen konnte. Der Mann schlug mit dem Gesicht auf dem Kies der Allee auf. Donnergrollen kam aus dem dunklen Gewölk des Märzhimmels.

Forbes bewegte seine rechte Hand, die verletzt war, und zupfte sich dann die Krawatte wieder zurecht. Hinter ihm stand ein schlanker, bleicher, elegant gekleideter junger Mann. Er hatte Forbes den größten Teil des Kampfs überlassen.

Der Mann aus Georgia stützte sich auf die Ellbogen und versuchte aufzustehen. Forbes hatte ihm drei Zähne ausgeschlagen, Lippen und Kinn waren von Blut und Speichel bedeckt. Langsam näherte Forbes seine Schuhsohle dem Kopf des Mannes und stieß zu. Das Gesicht des Mannes wurde erneut in den Kies gedrückt.

Forbes suchte in der Innentasche seines Mantels nach einem silbernen Flachmann. Er schüttelte die Flasche. Halb voll. Er entkorkte sie, lehnte den Kopf zurück und kippte den Rest in sich hinein. Er steckte die Flasche sorgfältig in eine Seitentasche und lächelte dem vierten Mann in der Allee zu – einem weiteren, elegant gekleideten Mann aus Georgia, der ängstlich an einer Schuppenwand lehnte. Der Mann hatte zugeschaut, wie Forbes seinen Freund zur Bewußtlosigkeit geschlagen hatte.

»Nun, Sir«, sagte Forbes mit schwerer Zunge. »Sollen wir das Gespräch, das diese disziplinarische Maßnahme leider erforderlich machte, wieder aufnehmen? Mal sehen. Als Mr. Smith und ich Ihnen beiden auf der Battery begegnet sind, haben Sie die Einwohner von Charleston lauthals kritisiert. Sie sagten, daß wir es uns anmaßen würden, das Sprachrohr des ganzen Südens zu sein.«

Der schlanke junge Mann, Preston Smith, trat vor. »›Hochmütig anmaßten‹, das waren die genauen Worte.«

Forbes blinzelte. »Ich erinnere mich.«

Preston Smith warf dem entsetzten Mann aus Georgia einen bösartigen Blick zu. Preston liebte Schlägereien, besonders wenn er zusehen durfte. Er hoffte, daß dieser Streit noch nicht zu Ende sei.

»Er sagte ebenfalls, daß wir uns so benehmen würden, als ob die Tatsache, daß man in South Carolina geboren wurde, einem ein Ehrenrecht verliehe.«

»Ein Ehrenrecht«, wiederholte Forbes mit einem umnebelten Blick. »Das war die Bemerkung, die mich am meisten geärgert hat.« Er gab dem am Boden liegenden Mann einen Stoß mit der Stiefelspitze. »Ich würde sagen, daß etwas Wahres daran ist. Ihr beide habt heute eure Meister gefunden.«

Preston kicherte. »Ich bin nicht sicher, ob er dir das abnimmt, alter Freund.«

Forbes stieß einen übertriebenen Seufzer aus. »Nun, das glaube ich auch nicht. Ich befürchte, wir müssen ihm ebenfalls eine Lehre erteilen.«

Er stieg über den bewußtlosen Mann hinweg und ging auf den andern los, der am liebsten durch die Schuppenwand verschwunden wäre, wenn das möglich gewesen wäre. Er blickte nach rechts, dann nach links, und gerade als Forbes die Faust erhoben hatte, machte er sich aus dem Staub.

Beim Anblick des um sein Leben Rennenden prustete Preston los. »Am besten rennst du ohne Unterbrechung bis nach Savannah, du dummer Frosch.«

Der Flüchtende warf einen Blick zurück und verschwand dann. Forbes mußte so laut lachen, daß ihm die Tränen in die Augen traten.

Preston wischte sich mit peinlicher Genauigkeit den Staub von den Knien und Ärmeln. »Verflucht, ich hasse all diese Touristen!« Forbes setzte seinen Hut wieder auf, und die beiden Freunde gingen in der entgegengesetzten Richtung durch die Allee. »Sie glauben wohl alle, sie können hierherkommen und sagen, was ihnen beliebt.«

»Wir haben die Pflicht, ihnen eine Lehre zu erteilen. Aber das gibt Durst. Nimmst du auch noch einen mit mir?«

»Aber Forbes, es ist ja erst zwei Uhr nachmittags!«

»Was zum Teufel willst du damit sagen?«

Preston verzichtete auf eine Antwort. Wie hätte er seinem Freund mitteilen sollen, daß er zuviel trank? In letzter Zeit tat Forbes nichts anderes, als die Unabhängigkeit von South Carolina in den verschiedenen Bars zu feiern. Das Trinken war seinem Temperament nicht gerade bekömmlich. Fand er nicht gerade ein Opfer, so wandte er sich gegen seine eigenen Freunde. Preston erkannte die Warnsignale und erfand schnellstens eine Entschuldigung.

»Nun, ich wollte bloß sagen, daß ich dir zwar gerne Gesellschaft leisten würde, aber ich kann nicht – ich muß um zwei bei Doll Fancher’s sein. Komm, ich bring’ dich zu deiner Kutsche, und dann muß ich weiter.«

»Brauch’ die Kutsche nicht«, gab Forbes heftig zurück. »Alles, was ich will, ist etwas zu trinken.«

Die beiden gingen schweigend nebeneinander her. Über ihnen zogen sich die Regenwolken bedrohlich zusammen. Als Preston aus Versehen stolperte und gegen seinen Freund prallte, stieß Forbes ihn heftig beiseite.

Sie lenkten ihre Schritte von der Allee zur Gibbes Street und dann zur Battery, wo sie auf eine Gruppe von älteren Männern stießen, die mit nicht weniger alten Musketen Schießübungen machten.

Seit einigen Wochen befand sich die Reserve in Charleston. Es handelte sich um eine nicht offizielle Polizeitruppe, die die Sklaven einschüchtern und gefügig halten sollte, falls plötzlich alle jungen und kräftigen Männer zum Wehrdienst einberufen würden. Preston grüßte einen der Gardisten, einen graubärtigen Verwandten, Onkel Nab Smith.

Forbes spürte die ersten Regentropfen auf seiner Stirn. Der Rumpf von Fort Sumter ragte dunkel im nebligen Hafen empor.

Forbes’ Kutsche und Fahrer warteten beim Seedamm. Preston half seinem Freund, der beim Einsteigen etliche Mühe hatte. Als er sich endlich ins weinrote Plüschpolster zurücklehnte, rief er Preston zu:

»Steig ein! Ich nehm’ dich bis zu Doll Fancher’s mit.«

»Nein danke, es lohnt sich nicht. Bis dein Kutscher die Karre gewendet hat, bin ich längst dort.«

Forbes’ Lächeln verzerrte sich zu einer Grimasse. »Verdammt noch mal, Preston, ich habe dir gesagt, steig ein und – «

»Wir treffen uns in ein oder zwei Tagen«, unterbrach ihn Preston schnell, denn jetzt war nicht die Zeit für lange Dialoge. Forbes hatte in einer solchen Stimmung einmal einem Seemann das Rückgrat gebrochen. Obwohl Preston damals in der Hafenbar den Streit mit sarkastischen Bemerkungen angefeuert hatte, war er von der Gewalttätigkeit seines Freundes entsetzt gewesen.

Preston ging rasch von dannen. Forbes lehnte sich in die Kissen zurück. Der Regen wurde heftiger. Er versuchte sich mit großer Anstrengung daran zu erinnern, welcher Tag heute war. Ach ja, der dritte März. Morgen würde dieser verdammte Idiot in Washington sein neues Amt antreten.

»Wohin soll’s denn gehen, Mist’ LaMotte?« fragte der Kutscher.

»Ich weiß es nicht. Fahr mal in die Meeting, dann sehen wir weiter.«

Er fühlte sich müde und gelangweilt. Deshalb trank er auch so viel und fing mit irgendwelchen Fremden Streit an. Die gelegentlichen Stelldicheins mit Ashton brachten ihm auch nicht mehr viel. Verschiedene Artillerieeinheiten, die unbedingt ihre Dienstliste mit dem Prestige des Namens LaMotte anreichern wollten, flehten ihn an, in die staatliche Armee einzutreten. Aber das Angebot interessierte ihn nicht. Er haßte Disziplin.

Sein Geist war indessen noch klar genug, um zu bemerken, daß in seinem Innern eine merkwürdige Wut schwelte. Er wußte auch, daß seine Bekannten darüber im Bild waren. Sogar Preston, der, wenn die Chancen günstig für ihn standen, ein leidenschaftlicher Kämpfer war, ging ihm mehr und mehr aus dem Weg. Forbes hielt sich am Handriemen der schlingernden Kutsche fest und sann darüber nach, weshalb er so viel Wut in sich spürte und weshalb die Raufereien ihm keine Erleichterung verschafften.

Er starrte in den Regen hinaus, und plötzlich war ihm die Antwort klar. Die einzige Frau, die er über alles hatte heiraten wollen, hatte ihn zurückgestoßen. Seither haßte er Brett Main, aber paradoxerweise hatte sein Verlangen nach ihr nicht aufgehört.

Er setzte sich plötzlich bolzengerade auf und ließ den Handriemen los. War die draußen vorbeihastende Gestalt Wirklichkeit oder bloß ein Trugbild der Phantasie?

Nein, so betrunken war er nicht. Er klopfte an das Kutschendach: »James, fahr an den Straßenrand!« Dann lehnte er sich zum Fenster hinaus und winkte.

»Brett? Brett, hierher!«

Sie erkannte die Stimme sofort. Als sie sich umdrehte, stieg Forbes gerade schwerfällig aus der Kutsche. Mit einer einladenden Bewegung nahm er den Hut ab.

»Bitte gestatte mir, dich mitzunehmen, wohin du auch immer willst. Bei diesem Wetter sollte eine Dame nicht zu Fuß gehen.«

Das war klar. Als Brett sich auf den Weg zu einer ganz in der Nähe wohnenden Näherin gemacht hatte, hatte sie geglaubt, noch vor dem Regenschauer wieder zu Hause zu sein. Doch jetzt goß es in Strömen, und sie war schon fast durchnäßt.

Es schien nicht gefährlich, seine Einladung anzunehmen. Schließlich war er ja ein Kavalier. Ohne weiteres Zögern klappte sie ihren Schirm zu und stieg ein.

Mit einem Seufzer der Dankbarkeit ließ sie sich in das Plüschpolster sinken. Forbes schloß die Tür hinter ihr, setzte sich ihr gegenüber und gab dem Kutscher die Adresse der Näherin bekannt. Die Kutsche rollte davon.

Forbes legte sorgfältig den Hut auf seine Knie. Sein Lächeln hatte etwas Mürrisches, ja beinahe Wütendes an sich, wie Brett plötzlich mit einem Druckgefühl im Magen feststellte. Er hatte einen glasigen Blick. Sie fing an, ihre Entscheidung zu bereuen.

»Ich hab’ dich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, Brett. Du siehst wie immer bezaubernd aus.«

»Auch du siehst gut aus, Forbes.« Sie hatte Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen.

Er nestelte an seiner Weste herum. »Ich habe leider zugenommen. Wahrscheinlich verbringe ich zuviel Zeit in den Saloons. Aber es gibt nicht viel zu tun. Und auch nicht viel zu denken – außer daß ich an dich denke.«

»Aber Forbes«, sie lachte gezwungen und nervös, »das haben wir doch längst alles besprochen.«

Sie blickte zum Fenster hinaus. Sie waren erst einen Häuserblock weit gekommen; die Kutsche fuhr langsam. Schön. Sollte er zudringlich werden, würde sie einfach hinausspringen.

Forbes betrachtete sie wortlos während einigen Sekunden; sein eigenartiges, listiges Lächeln erhöhte die Spannung, die zwischen ihnen herrschte. Dann fegte er abrupt seinen Hut auf den Sitz und hievte sich selbst neben sie. Die Federung quietschte. Seine unvermutete Bewegung verwandelte ihre Furcht in Entschlossenheit.

»Ich habe dein Angebot als Höflichkeit aufgefaßt. Enttäusche mich nicht!«

»Ich kann nicht höflich sein. Ich hab’ dich verdammt gern.« Er ergriff ihr Handgelenk. »Brett – «

»Hör auf!« sagte sie keineswegs zimperlich, sondern bestimmt.

»Tut mir leid, aber das kann ich nicht, mein Herz.« Mit dem Daumen streichelte er die Innenseite ihres Handgelenks, gerade oberhalb des Rüschenbesatzes ihres Musselinhandschuhs. »Ich kann meine Gedanken keine fünf Minuten von dir abwenden. Mir scheint, du solltest einem Mann, der so tief für dich empfindet, den Vorrang geben.«

Mit der linken Hand suchte sie den Türgriff. »Ich muß aussteigen.«

Er packte sie an den Schultern und preßte sie in die weinroten Kissen. »Den Teufel wirst du«, knurrte er, als er seinen Mund auf ihre Lippen preßte. Es tat weh.

Durch seinen geöffneten Mund strömte ihr sein ranziger Atem entgegen. Seine rechte Hand fiel schwer auf ihr Mieder. Mit der linken Schulter drückte er sie in die Kissen, fummelte grob an ihrem Busen herum und blies ihr den warmen Atem gegen Kinn und Hals.

»Gott, ich liebe dich, Brett. Ich hab’ dich schon immer – «

»Laß mich los!«

»Nein, verflucht noch mal.« Mit dem rechten Knie versuchte er sie festzunageln. Der Druck seiner Finger nahm zu, und trotz der Kleiderschicht tat er ihren Brüsten weh.

»Brett, du bist nicht für diesen mickrigen Yankee-Soldaten bestimmt. Du brauchst einen Mann, der in jeder Hinsicht groß genug ist, um dir das zu geben, was eine Frau – «

Mit einem Schrei zuckte er zurück. Sie hatte ihm das Gesicht zerkratzt und drei blutige Fingernagelspuren hinterlassen.

Einige Augenblicke verharrte er reglos. Dann berührte er sein Gesicht, zog die Hand wieder zurück und sah die scharlachroten Flecken auf der gekräuselten Hemdmanschette. Der Anblick versetzte ihn in Raserei. Fluchend hob er die Fäuste. Sie hatte inzwischen die Tür aufgestoßen, doch bevor sie hinausspringen konnte, packte er sie am rechten Arm. Sie stieß einen Schrei aus und befürchtete, daß er sie verletzen würde. Sie bückte sich, griff nach ihrem Schirm, der auf dem Boden lag, und schlug auf seinen Kopf ein. Einmal, zweimal, dreimal…

»Mist’ Forbes, was ist los?«

Der alte Kutscher lenkte das Fahrzeug näher an den Gehsteig heran und brachte die Pferde zum Stehen. Auf der andern Seite der Meeting Street blieben einige Fußgänger gaffend stehen – der Anblick einer elegant gekleideten weißen Frau, die mit einem Gentleman in der Kutsche kämpfte, war zu ungewöhnlich. Brett hatte keine Zeit, sich über Konventionen Sorgen zu machen. Sie schlug nochmals zu, riß sich dann von ihm los und stürzte sich aus der Kutsche. Sie verfehlte den Tritt und landete bäuchlings im Straßenschlamm.

»He, aufgepaßt!« rief ein Bierfuhrmann und lenkte sein Fuhrwerk in letzter Sekunde an ihr vorbei. Die schweren Räder bespritzten sie über und über mit Schlamm.

Sie rappelte sich auf; ihr Hut flog davon, und der Regen prasselte wieder auf sie nieder. Forbes hing in der Kutschentür, sein Gesicht zur Fratze verzerrt:

»Du gottverdammte Hure – «

Mehr hörte sie nicht; sie drehte sich um und rannte los. Am ganzen Leibe zitternd bemerkte Forbes, wie Männer und Frauen auf dem Gehweg ihn anstarrten. Jemand erwähnte seinen Namen. Er schleuderte die Kutschentür zu und warf sich in die Kissen.

Er lehnte zurück und betupfte seine Wange mit dem Taschentuch. Der Anblick des Bluts trieb ihn erneut in einen Wutanfall. Beinahe hätte er mit der Faust ein Loch in das Kutschendach geschlagen.

»Weiterfahren!«

Aber die Flucht vor der Stätte seiner Erniedrigung half nicht. Er zog seine Flasche aus der Tasche, erinnerte sich, daß sie leer war, und schmiß sie zum Fenster hinaus. Mehr denn je haßte er Brett. Er würde sie am liebsten erdrosseln, dann nach Sumter hinausrudern und jenen Hurensohn von einem Yankee, der ihr den Kopf verdreht hatte, erschießen.

Das gleichmäßige Prasseln des Regens und das regelmäßige Schwanken der Kutsche vermochten ihn langsam etwas zu beruhigen. Er dachte an Ashton und klammerte sich wie ein Ertrinkender an ihren Namen und ihre Gestalt.

Ashton stand auf seiner Seite. Ashton würde ihm helfen, sich zu rächen.

An demselben Abend begaben sich, Hunderte von Meilen von Charleston entfernt, Stanley Hazard und Simon Cameron zu einem Empfang für den neuen Präsidenten.

Drei von Mr. Pinkerton organisierte Privatdetektive standen vor dem Empfangszimmer von Willard’s Wache. Drinnen unterhielten sich die Gäste und die Kabinettsmitglieder gedämpft. Lincoln war vor wenigen Minuten aus seiner Suite gekommen. Stanley hatte sich mit ihm unterhalten. Er war nicht beeindruckt.

Er ließ Lincoln einen weiteren Witz erzählen und machte sich auf die Suche nach seinem Meister. Cameron war gerade mit Chase, dem steifen, affektierten Finanzminister, in ein ernstes Gespräch vertieft. Von allen Kabinettsmitgliedern sprach sich Chase am offensten und konsequentesten für die Notwendigkeit der Sklavenbefreiung aus. Stanley fand seinen Idealismus beleidigend.

Schließlich konnte Cameron sich von seinem Gesprächspartner losreißen und gesellte sich zu Stanley an die Sektbar. Der Boss sah mächtig und bedeutend aus. Zu Recht, dachte Stanley. Wie geplant, war es Cameron gelungen, genügend Stimmen für sich zusammenzubringen, um in der neuen Regierung den Posten des Kriegsministers übernehmen zu können.

Cameron nippte an seinem Sekt und klopfte dann auf seine volle Manteltasche. »Ein Freund hat mir eine Zusammenfassung der Antrittsrede übermittelt.«

»Welches sind die wichtigsten Punkte?«

»Ungefähr das, was in Anbetracht seiner früheren Reden zu erwarten war.« Cameron redete mit leiser Stimme; seine Sperberaugen blickten aufmerksam umher, um sicherzugehen, daß auch niemand zuhöre. »Er weigert sich, in der Frage der Auflösung der Union nachzugeben. Er sagt, es sei verfassungswidrig und letzten Endes unmöglich. Er wird weiterhin an Fort Sumter festhalten, doch falls es zum Krieg kommen sollte, muß er von der Konföderation ausgelöst werden. Insgesamt gesehen«, wieder wanderte sein Blick aufmerksam umher, »eine gewöhnliche Rede von einem gewöhnlichen, um nicht zu sagen unfähigen, Mann.« Die letzten Worte murmelte Cameron bloß und beugte sich tief über sein Sektglas.

Unfähig war wohl nicht der treffende Ausdruck, dachte Stanley. Morgen schon würde General Scott Soldaten vor den Häusern und auf den Dächern in der Pennsylvania Avenue postieren, um einem möglichen Aufstand zuvorzukommen. Ein beschämender Anfang für eine Regierung, die nicht sonderlich kompetent zu werden versprach. Natürlich mit einigen Ausnahmen.

Cameron hielt sein leeres Glas hin. Als man ihm nochmals eingeschenkt hatte, entfernte er sich von der Bar und fuhr fort: »Aber was halten Sie vom neuen Präsidenten?«

Stanley blickte über die Menge hinweg das häßliche, eckige Profil an. »Ein Possenreißer aus der Prärie. Ein Mann, der sich so jovial gibt und solch grobe Witze reißt, kann nicht viel taugen.«

»Genau. Meiner Meinung nach handelt es sich um den schwächsten Mann, der jemals ins Weiße Haus geschickt wurde. Aber das wird uns zum Vorteil gereichen. Wir werden um so mehr Macht übernehmen können.« Er wirkte plötzlich sehr belebt und gab Zeichen mit dem Glas. »Seward, alter Freund! Sie wollte ich gerade sprechen.«

Der Boß rauschte davon. Es dauerte nicht lange, bis er mit dem neuen Außenminister Arm in Arm herumparadierte. Sie unterhielten sich flüsternd. Stanley genehmigte sich noch mehr Sekt und sonnte sich im Schatten des Rampenlichts. Er war glücklich, hier zu sein, überglücklich.

Er würde in Camerons Ministerium einen Posten bekommen. Isabel wäre hell entzückt von Washington. Stanley seinerseits dachte mit Hochgenuß an seine zukünftige Macht und an all die Möglichkeiten, die sich ihm bieten würden, um seinen Reichtum zu mehren. Leute, die an den Hebeln der Macht saßen, schlugen immer Kapital aus ihrer Position, wie sein Boß sagte. Stanley hoffte im geheimen, daß die Rebellen nicht lockerlassen und in Charleston den Krieg auslösen würden. Denn damit würden die Chancen, zu Reichtum zu kommen, wesentlich besser werden.

62

Die Feldmütze unter dem Arm ging Billy am folgenden Nachmittag vor dem Büro von Major Anderson auf und ab. Er mußte warten, bis der Kommandant einen Brief fertig geschrieben hatte, in welchem er sich für eine Beschädigung von Baumwollballen bei Fort Moultrie durch eine Schießübung entschuldigte. Da sowohl die Sumter- als auch die Charleston-Artillerieeinheiten häufig Übungen durchführten, waren solche Unglücksfälle an der Tagesordnung. Ereignete sich ein solches Mißgeschick, so ließen die Schuldigen der gegnerischen Partei sofort ein Erklärungsschreiben zukommen. Die meisten Schreiben waren außerordentlich formell abgefaßt, aber da es sehr wohl möglich war, daß ein Krieg aus Versehen ausgelöst werden könnte, fand Billy ein Zuviel an Entschuldigungen besser als das Gegenteil.

Hart, Andersons Offizier vom Dienst, tauchte mit dem fertigen Brief auf. »Er möchte Sie jetzt sehen, Sir«, sagte der Offizier, als er durch den düsteren Gang davoneilte.

Billy betrat das Büro des Kommandanten, ein dunkler, von einem Kerzenstumpf erleuchteter, kleiner Backsteinraum. Anderson beantwortete das steife Salutieren des jungen Offiziers mit einer langsamen, müden Bewegung. Dann deutete er auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Leutnant. In den nächsten Tagen werden Sie kaum zur Ruhe kommen.«

Andersons Finger zitterten leicht, als er einen dicken Beutel aus wasserdichtem Stoff berührte. »Ich habe General Scott einige neue Mitteilungen zu machen. Ich möchte, daß Sie sie überbringen.«

»Nach Washington, Sir?«

»Ja. Ich muß ihm mitteilen, daß meiner Meinung nach zur Überwindung der gegnerischen Hafenstreitkräfte und zur Verstärkung dieser Garnison jetzt schätzungsweise mindestens zwanzigtausend Mann erforderlich sind. Es sind noch weitere vertrauliche Mitteilungen in diesem Beutel enthalten. Packen Sie Ihre Sachen und halten Sie sich in drei Stunden bereit.«

Billys Gedanken überstürzten sich. Von diesem finsteren, niederdrückenden Ort wegzukommen, war das, was sich jeder einzelne Mann der Garnison wünschte, obwohl nur wenige dies zugaben. Würde ihm noch etwas Zeit bleiben, um Brett kurz in Charleston zu treffen, bevor er weg mußte?

»Ich kann schon vorher bereit sein, Sir.«

Anderson schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Hart wird demnächst mit dem Boot übersetzen, um Hauptmann Calhoun mein Entschuldigungsschreiben zu überbringen. Er wird anschließend Gouverneur Pickens im Charleston-Hotel treffen. Doch auch mit der Einwilligung des Gouverneurs ist das Ganze ein heikles Unterfangen. Ich habe gehört, daß scharenweise Männer zur Battery drängen, wenn ein Boot unseren Kai verläßt. Sie hoffen jedesmal, daß es Doubleday ist.« Nach einem kurzen trockenen Lachen fügte Anderson hinzu: »Hart wird auf jeden Fall eine Weile fort sein. Sie werden bei Einbruch der Nacht oder etwas später gehen.«

»Ja, Sir.«

»Noch etwas, Leutnant – packen Sie alles. Im Gegensatz zu einigen Kurieren, die ich nach Washington geschickt habe, werden Sie nicht mehr zurückkehren.«

»Sir?«

Leichenblaß starrte Billy seinen Kommandanten an. Die Nachricht war niederschmetternd; er würde Brett in einer Stadt zurücklassen, die von einer Minute zur anderen durch den Krieg verwüstet werden könnte. Aber das wußte der Major doch? Weshalb lächelte er dann so merkwürdig? Verlor er die Fassung?

Der Major ließ nicht mit einer Erklärung auf sich warten. »Bis morgen abend sind Sie auf Urlaub; dann erwarte ich von Ihnen, daß Sie einen Zug nach Norden nehmen. Hart hat alles Nötige für Sie vorbereitet. In der Zwischenzeit können Sie Ihre junge Dame treffen. Wenn Sie ihr rasch eine Nachricht zukommen lassen würden, hätten Sie eventuell sogar genug Zeit, um sie zu heiraten. Hart ist bereit, eine entsprechende Botschaft zu übermitteln, falls Sie sie in den nächsten zehn Minuten schreiben können.«

Billy war sprachlos. Er konnte seinem Glück kaum trauen. Anderson bemerkte seine Reaktion.

»Blicken Sie nicht so erstaunt drein, Leutnant! Jemand muß gehen. Warum nicht Sie? Ich habe Leutnant Meade nach Hause zu seiner kranken Mutter in Virginia geschickt – Ihre Umstände sind wesentlich erfreulicher. Ich bin mir darüber im klaren, daß ich in den Kompetenzbereich Ihres Vorgesetzten eindringe, aber ich nehme an, er wird Verständnis dafür haben, wenn ich ihm die Sachlage schildere.«

Andersons Blick verdüsterte sich wieder. »Sogar mit der Zustimmung des Gouverneurs werden Sie möglicherweise Schwierigkeiten haben, durch die Stadt zu kommen. Deshalb will ich Sie ja auch bis zum Einbruch der Dunkelheit hierbehalten.«

Billy beschloß, daß es an der Zeit war, sein Glück nicht mehr anzuzweifeln, sondern das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. »Sir, wenn der Schoner mich zum Pier der C.S.C. oberhalb des Zollagers bringen könnte, könnte Cooper Main dort mit einer geschlossenen Kutsche auf mich warten. Er könnte mich zur Tradd Street fahren, und Brett und ich könnten Charleston noch vor Tagesanbruch verlassen.«

»Möchten Sie nicht im Haus der Mains heiraten?«

»Ich glaube, es wäre sicherer, nach Mont Royal zu fahren. Nicht weit von der Plantage befindet sich eine kleine Eisenbahnstation.«

»Nun, was auch immer Sie entscheiden werden, es wird schwierig sein, durch die Stadt zu kommen. Ich empfehle Ihnen dringendst, die ganze Zeit über einen voll geladenen Revolver bereit zu halten.«

Billy salutierte und machte auf dem Absatz kehrt. Der Kommandant starrte mit melancholischem Blick in die Kerzenflamme.

Anderson schüttelte Billy beim Landungskai die Hand. »Sie sind ein ausgezeichneter Offizier, Leutnant Hazard. Noch ein paar Jahre, und Sie werden hervorragend sein. Grüßen Sie Ihre Braut von mir.«

»Sir, das werde ich tun. Ich kann Ihnen nicht genug danken…«

»Doch, das können Sie. Bringen Sie Scott diesen Beutel. Ich möchte, daß er sich der Gefahren bewußt ist, sollte er die Sandbank mit einigen hundert Mann in Pinassen stürmen wollen.« Andersons Stimme wurde heiser vor Anstrengung. »Ich kann nur wiederholen, was ich bereits vorhin gesagt habe: Falls es in diesem Land zu einem Blutbad kommen sollte, wird Washington dafür verantwortlich sein und nicht wir.«

Er trat zurück, die Dunkelheit verschluckte ihn. »An Bord, Sir!« rief eine Stimme vom Deck des kleinen Schoners.

Billy eilte die Stufen hinunter und hörte, wie die schlaffen Segel im Wind flatterten. Ein irgendwie unheilvolles Geräusch.

»Gott sei Dank war ich zu Hause, als Andersons Ordonnanz kam«, sagte Cooper, als Billy auf das C.S.C.-Pier sprang. »Judith wartet in der Kutsche.«

»Wo ist Brett?«

»Zu Hause. Sie wollte zwar mitkommen, aber Judith hat sie gebeten, zu Hause zu bleiben und zu packen. Es bleibt ihr nicht viel Zeit, um die Aussteuer zusammenzusuchen – wir werden noch vor Sonnenaufgang auf dem Weg sein. Ich habe bereits einen Boten nach Mont Royal geschickt. Orry soll den Pfarrer für morgen um eins bestellen.«

»Wann fährt der Zug?«

»Etwa drei Stunden später, um halb fünf.«

Sie unterhielten sich weiter, während sie eilends auf die wartende Kutsche zu marschierten. Billys Herz klopfte im gleichen Tempo, aber trotz der Anspannung fühlte er Heiterkeit; seit Monaten war er zum erstenmal wieder glücklich.

»Danke, Gerd«, sagte Cooper zu einem stämmigen Mann, der ihm die Zügel reichte. »Ich werde fahren, Billy. Halt dich ja vom Fenster zurück. Beim Zollager lungern immer irgendwelche Gestalten herum, und deine Uniformknöpfe wirken wie Laternen.«

Er versuchte angestrengt, einen humorvollen Ton beizubehalten, doch Billy merkte die unterschwellige Angst. Cooper rutschte aus, als er über die Speichen des Vorderrads klettern wollte. Er zog eine Grimasse, kletterte dann auf den Bock und sagte: »Manchmal ist es verdammt unbequem, wenn man keine Sklaven besitzt. Alles muß man selber tun. Kein Wunder, daß sich das System so lange gehalten hat.«

Billy grinste mit etwas Mühe, als er die Tür auf der linken Seite öffnete. Judith saß auf der rechten Seite. Er begrüßte sie und vergewisserte sich, ob die lederne Meldetasche noch sicher über seiner linken Schulter hing.

Cooper schnalzte mit der Zunge und fuhr los. Als sie am Warenlager vorbeifuhren, sah Billy im Licht der Giebellaterne Tränen auf Judiths Wangen. »Was ist?« fragte er.

»Ach nichts. Nichts.« Sie lächelte und weinte gleichzeitig. »Ich bin ein Kamel, daß ich mich so gehen lasse, aber ich kann nicht anders. Es gibt in diesen schrecklichen Zeiten so wenig Gelegenheit zur Freude, aber dies ist eine solche Gelegenheit.« Sie schniefte und schüttelte dann den Kopf. »Ich möchte mich entschuldigen.«

»Das ist nicht nötig. Mir ergeht es ähnlich.«

»Paßt auf!« rief Cooper. »Mehr Menschen als üblich.«

Billy verschob seinen Säbel, damit er sich freier bewegen konnte. Dann zog er den Revolver halbwegs aus der Halfter. Vor ihnen, auf der rechten Seite, unterhielten sich einige Männer lachend und lärmend. Plötzlich rief einer von ihnen: »He da! Anhalten!«

Billy zog sich der Magen zusammen, als die Kutsche ihre Fahrt verlangsamte. Cooper stieß verärgert einen Fluch aus.

Die Stimmen wurden lauter. Billy verzog sich schnell auf die Mitte der Sitzbank, dort, wo es in der Kutsche am dunkelsten war. Schräg durch das rechte Fenster konnte er einen Blick auf das Zollager, das ehemalige Bundeseigentum, werfen.

Die Kutsche schwankte leicht und hielt dann an. »Ihren Namen! Und was haben Sie vor?«

»Ich heiße Main; ich bin ein Bürger von Charleston und ich bin in eigener Sache unterwegs. Bitte lassen Sie mein Pferd los und treten Sie zur Seite. Danke.«

»Scheint in Ordnung zu sein, Sam«, sagte ein anderer Mann. Der erste Sprecher murmelte irgend etwas vor sich hin. Billy hörte Schritte.

Judith packte ihn am Arm. »Leg dich hin! Sie werden reinschauen.«

Während sie noch flüsterte, knallte Cooper die Peitsche, aber die Kutsche rührte sich nicht vom Fleck. »Lassen Sie das Pferd los!« forderte Cooper. Ein grobes Gesicht tauchte im selben Augenblick vor dem rechten Fenster auf. Der Mann sprang auf das Trittbrett. Das Innere der Kutsche wurde von den Laternen des Zollgebäudes beleuchtet. Der Mann hielt sich am Fensterrahmen fest und äugte in die Kutsche.

»Hier ist ein Soldat!«

Ein lauter Aufschrei erfolgte. »Ist es Doubleday?« Weitere Gestalten drängten sich zum Fenster. Billy zog den Revolver.

Gleichzeitig befahl jemand Cooper, vom Bock herunterzusteigen. Als Antwort war der Schlag einer Peitsche auf einem menschlichen Körper zu vernehmen. Ein Schrei. Cooper brüllte wie ein Fuhrmann und gab dem Pferd die Zügel.

Die Kutsche rollte los. Unterdessen war es dem Mann auf dem Trittbrett gelungen, die Tür zu öffnen, und er versuchte jetzt, sich um die Türe herum in das Kutscheninnere vorzuarbeiten. Mit der rechten Hand klammerte er sich immer noch an den Fensterrahmen. Billy gab der Tür mit dem linken Stiefel einen Stoß. Sie flog auf, und der Mann fiel vom Trittbrett herunter.

Erhobene Fäuste und haßerfüllte Blicke schienen an der Kutsche vorbeizufliegen. Cooper raste in die Dunkelheit hinter dem Zollgebäude und bog in einem höllischen Tempo nach rechts ab. Billy mühte sich ab, um die Kutschentür wieder zu schließen, und wäre beinahe kopfüber aus der Kutsche geflogen.

Schließlich lehnte er sich wieder zurück, den Revolver aufs Knie gelegt, keuchte und rang nach Luft.

»Du hast sehr schnell reagiert«, sagte Judith voller Hochachtung.

»Mußte ich. Ich will ja schließlich nicht meine eigene Hochzeit verpassen.«

Doch sein Lächeln war gekünstelt. Sein Herz hämmerte wie verrückt, und es dauerte eine geraume Weile, bis er die blutrünstigen Gesichter aus seinen Gedanken verbannen konnte. Er erkannte erneut, wie tief und schwer die Spaltung des Landes war.

Doch als er Brett wiedersah, verflogen alle düsteren und grimmigen Gedanken. Cooper hatte behutsam die Wohnzimmertür hinter sich geschlossen, und die beiden jungen Leute waren nun allein und küßten und umarmten sich während fünf Minuten.

Er hatte beinahe vergessen, wie herrlich ihr Haar duftete, wie süß ihre Küsse waren und wie straff ihre Brüste, die sie fest an seinen Körper preßte, sich anfühlten. Schließlich sanken die beiden lachend, nach Luft schnappend und händehaltend auf das Sofa.

»Ich wünschte, wir könnten heute abend heiraten«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich vor lauter Freude auf morgen die ganze Nacht kein Auge zudrücken werde.«

Zögernd sagte er: »Ich werde nicht nach Charleston zurückkehren. Bist du sicher, daß du mit mir in den Norden gehen willst?«

Zum erstenmal wurde sie sich der Tragweite seiner Frage bewußt. Unsicherheit stieg in ihr auf und Angst. Es würde nicht leicht sein, weit weg von der Familie mitten unter lauter Yankees zu leben.

Aber sie liebte ihn. Und alles andere war nebensächlich.

»Mit dir würde ich überall hingehen«, flüsterte sie ihm sanft ins Ohr. »Überallhin.«

An jenem Abend begab sich Cooper kurz nach zehn zum Haus in der East Battery. Nur mit allergrößter Anstrengung vermochte Ashton, während sie ihn anhörte, ihre Fassung zu bewahren. Als Cooper wieder gegangen war, eilte sie ins Studierzimmer, um Huntoon die Neuigkeit zu eröffnen.

Er schmiß die Akte, in der er eben gelesen hatte, auf den Schreibtisch und sagte: »Ich habe wirklich keine Lust, zur Hochzeit eines verdammten Yankees zu gehen.«

»James! Sie ist meine Schwester. Wir gehen.«

Bevor er etwas hätte entgegnen können, war sie bereits aus dem Zimmer gerauscht. Sie blieb kurz in der Halle stehen, preßte die Handflächen aufs Gesicht und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Morgen um diese Zeit würden Billy und ihre Schwester – sofern niemand eingriff – für immer weg sein. Sie hatte nur diese einzige Chance. Aber sie brauchte auch nur eine.

Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie weiterging. Sie schrieb eine Mitteilung an Forbes und forderte ihn auf, am frühen Morgen flußaufwärts zu reiten. Er könne einen Helfer mitnehmen, aber es müsse jemand sein, dem man vertrauen könne. Er solle in Resolute das Weitere abwarten.

Sie schloß eilig, versiegelte dann den Brief, stellte einen Passierschein aus und rannte in die Küche.

»Rex, bring dies Mr. Forbes LaMotte. Versuch ihn bei Gibbes zu erreichen. Falls er nicht dort sein sollte, dann geh in die Bar vom Mills Hotel. Der Wirt weiß meistens, wo sich Mr. LaMotte gerade aufhält. Gib nicht auf und komm nicht zurück, bis du ihm diese Botschaft selber überreicht hast!«

Rex, der durch das Auspeitschen eingeschüchtert worden war, nickte immerfort, bis Ashton mit ihren Instruktionen zu Ende war. Doch als der Junge die Treppe hinunter zur Hintertür ging, glimmte dumpfe Wut in seinen Augen. Und der Wunsch nach Rache.

Am späten Vormittag traf Cooper mit seiner vollbesetzten Kutsche in Mont Royal ein. Die Märzsonne warf ihre milden Strahlen auf die Erde, und der wolkenlose Himmel zeigte sich in jenem weichen, reinen Blau, das es Bretts Meinung nach nur in South Carolina gab. Würde sie es jemals wiedersehen?

Sobald die Kutsche angehalten hatte, kletterten die Kinder heraus. Vetter Charles wühlte liebevoll in Judahs Haar herum, legte dann seinen Arm um die Taille von Marie-Louise, hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Sie hielt sich an seinem Hals fest und jauchzte vor Freude.

Brett stieg aus, dann Judith, gefolgt von Billy, der sich in seinem feinen schwarzen Anzug nicht besonders wohl zu fühlen schien. Er schwitzte. Cooper hatte noch um Mitternacht einen Schneider aufgetrieben. Billy war höchst überrascht, Charles in voller Uniform mit glänzenden Knöpfen und Säbel vorzufinden.

Die Freunde umarmten einander. »Weshalb um Himmels willen hast du dich so herausgeputzt?« wollte Billy wissen.

Charles grinste. »Ganz zu deiner Ehre, Billy. Wenn schon ein Offizier einen andern bittet, sein Trauzeuge zu sein, dann, so dachte ich mir, sollte der Trauzeuge auch eine würdige Erscheinung bieten. Na, die Wahrheit ist, daß ich meine Uniform vermisse. Und auch die Armee.«

Orry trat aus dem Haus; seine düstere Erscheinung wurde noch durch den langen dunklen Mantel, den er trug, gesteigert. Er teilte der lärmenden Gruppe mit, daß seine Ehrwürden, Pater Saxton, um halb eins kommen werde. »Ich habe ihm absichtlich gesagt, daß er früher kommen soll. Er trinkt nämlich sehr gern, und ich kann mir vorstellen, daß er sich gern ein Gläschen genehmigen möchte, damit er die ganze Zeremonie durchsteht.«

Alle lachten. Cooper zerrte einen kleinen Lederkoffer herunter, in den Billy seinen Revolver, seine Uniform und die lederne Meldetasche eingepackt hatte. Cooper stellte den Koffer krachend neben Brett auf den Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Brett fragte Orry: »Wie geht es Mutter?«

»Immer noch gleich. Ich habe ihr dreimal erklärt, daß du heiraten wirst. Sie hat zwar jedesmal behauptet, daß sie verstanden hat, aber ich weiß, daß es nicht stimmt.«

Judah sprang wild auf und ab und rief: »Es kommt jemand!«

Eine Kutsche rollte in einer Staubwolke durch die Allee. »Das ist Ashton«, sagte Brett ohne große Begeisterung, wie Billy feststellte.

Rasselnd und klirrend kam die Kutsche hinter derjenigen von Cooper zum Stehen. Homer saß auf dem Bock und betrachtete die weißen Menschen gleichgültig; Rex sprang hinunter, um Ashton und ihrem Ehemann die Tür zu öffnen.

Huntoon gratulierte dem Brautpaar mit völligem Desinteresse. Ashton rannte erst auf Brett, dann auf Billy los, umarmte sie und lächelte ihnen überschwenglich zu.

»Oh, ich freue mich ja so sehr für dich und für Brett! Ich darf das ganz offen sagen, weil ich ja selbst verheiratet bin.«

Ihre Augen blitzten wie Diamanten. Billy war nicht klar, was wirklich in ihr vorging, aber da er sich an die vergangenen Vertraulichkeiten erinnerte, errötete er, als sie ihre Wange an die seinige drückte. Sie spitzte die Lippen und gab ihm einen lauten, schmatzenden Kuß. Cooper fiel auf, daß Homer seine Herrin verdrießlich betrachtete, und er fragte sich warum.

Charles zündete an einer der weißen Säulen ein Streichholz an – sehr zu Orrys Mißfallen. Billy zeigte mit dem Finger auf die lange Zigarre, die Charles sich zwischen die Zähne geklemmt hatte, und fragte:

»Seit wann hast du denn die Gewohnheit meines Bruders übernommen?«

»Seitdem ich wieder zu Hause bin. Irgendwie muß ich mir ja die Zeit vertreiben. Ich würde natürlich viel lieber kämpfen, aber man kann ja nicht alles haben.«

Es war ein etwas tapsiger Versuch, humorvoll zu sein, aber in Anbetracht der ernsten Angelegenheit und der tragischen Ereignisse in Charleston wohl etwas fehl am Platz. Die Bemerkung wurde mit allseitigem Schweigen quittiert. Charles errötete und beschäftigte sich intensiv mit seiner fünfundzwanzig Zentimeter langen Havanna.

»Na, ihr beiden«, zwitscherte Ashton und hakte sich rechts bei Billy und links bei Brett unter. »Seid ihr nicht völlig ausgehungert? Also was mich betrifft, ich hab’ einen Bärenhunger und ich bin sicher, daß es im Haus etwas zu essen – « Orry nickte. »Ach, ist das nicht ein aufregender Tag? Ihr werdet beide Unvergeßliches erleben!«

Und mit diesen Worten zog sie die beiden mit sich ins Haus.

Charles blieb noch ein Weilchen draußen, nachdem alle gegangen waren. Er schämte sich über seinen Ausrutscher und wunderte sich über Ashtons aufgeregten Gesichtsausdruck. Sie schien sich echt über die Heirat ihrer Schwester zu freuen. Weshalb hatte er denn ein so ungutes Gefühl?

Das Gefühl, daß sie ein Theater vorspielte.

63

Das warme Wetter erfüllte Madeline mit schläfriger Schwere. Sie war eben aus der Küche gekommen, wo sie die Vorbereitungen für das Abendessen – gekochter Schinken – überwacht hatte. Die Küchenmädchen meinten, das Wetter sei angenehm und eher kühl. Wenn das wirklich zutraf, warum verschmachtete sie dann beinahe vor Hitze?

Justin tadelte sie dafür, daß sie sich immer wieder über Schweißausbrüche beklagte. In letzter Zeit litt sie darunter wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie fragte sich, ob vielleicht eine körperliche Veränderung der Grund dafür sein könnte, aber sie war zu träge und schläfrig, um eingehend über diese Frage nachzudenken.

Als sie ziellos auf der Veranda des Erdgeschosses herumwanderte, versuchte sie sich zu erinnern, wo sich ihr Gatte aufhielt. Ach ja! Er war mit seiner alten Flinte aufs offene Feld gegangen, um Schießübungen zu machen. Justin nahm seinen Dienst bei der Ashley-Garde sehr ernst. Hämisch frohlockend prophezeite er, daß es nur noch Wochen dauern könne, bis die Übungen durch Taten ersetzt würden.

»Wie spät ist es?«

»Fast eins. Sie sollte etwa in einer Stunde eine weitere Mitteilung abschicken.«

Madeline blieb einen knappen Meter neben einem der offenen Fenster des Studierzimmers stehen, um zuzuhören. Sie brauchte mehrere Sekunden, um herauszufinden, wer soeben gesprochen hatte: Justins Neffe Forbes und sein unsympathischer, spindeldürrer Freund Preston Smith. Die beiden waren im Lauf des Vormittags unerwarteterweise zu Pferd eingetroffen. Forbes hatte keinerlei Erklärung dafür abgegeben, weshalb er nicht zur Plantage seines Vaters geritten war, die sich ungefähr fünfzehn Kilometer weiter flußaufwärts befand. Madeline wurde jedoch nur noch ganz selten über irgend etwas informiert. Man behandelte sie als Objekt, als Gegenstand. Meistens war sie ohnehin zu entkräftet und zu gleichgültig, um sich deswegen Sorgen zu machen.

Doch die merkwürdig eindringlichen Stimmen schienen irgendwie ihren Zustand geistigen Stumpfseins, in den sie in letzter Zeit offenbar unablässig hineinglitt, zu durchbrechen. Forbes hatte das Wort sie gebraucht. Wieso sollte ihm eine Frau eine Mitteilung nach Resolute schicken? Um vielleicht ein Treffen zu vereinbaren?

Doch sie verwarf diese Möglichkeit sofort wieder, als sie ihn fragen hörte: »Sind die Pistolen bereit?«

»Ja!«

»Hast du das Pulverfläschchen gefüllt?«

»Ja, hab’ ich gemacht. Wir müssen höllisch vorsichtig mit dem Pulver sein. Es darf nicht zuviel davon in eine Pistole geraten!«

»Da hast du recht, verdammt noch mal.«

Die beiden jungen Männer lachten; es klang freudlos, beinahe brutal. Angst stieg in Madeline auf; ihr Puls schlug wie rasend.

Sie kniff mehrmals die Augen zusammen. Sie mußte dem Gehörten ihre Aufmerksamkeit schenken. Ihre volle Aufmerksamkeit. Sie verlagerte das Gewicht auf den linken Fuß. Die Planken unter ihr knackten.

»Forbes, ich hab’ was gehört.«

»Wo?«

»Ich weiß nicht, vielleicht war’s draußen.«

»Ich hab’ nichts gehört.«

»Du hast nicht aufgepaßt.«

»Geh doch nachschauen, wenn du Angst hast«, sagte Forbes spöttisch.

Madeline preßte benommen die feuchten Handflächen gegen die weiße Wand. Das durch die Moosgirlanden fallende Sonnenlicht zeichnete ein Schattenspiel auf ihr blasses, apathisches Gesicht.

»Ach lassen wir’s«, murmelte Preston verlegen. »Wahrscheinlich war es bloß ein Nigger.«

Madeline wurde beinahe ohnmächtig vor Erleichterung. Sie löste sich aus dem Schatten der Wand, hob die Röcke so leise wie möglich hoch und eilte ans Ende der Veranda – weg von den offenen Fenstern. Die verschwörerischen Stimmen, das Gespräch über Mitteilungen und geladene Pistolen hatten sie aus ihrer Lethargie gerissen. Sie mußte unbedingt wachsam bleiben, um mehr zu erfahren, aber das war nicht einfach. Die matte Gleichgültigkeit wollte sie von neuem überfallen.

Als sie durch einen Nebeneingang ins Haus schlüpfte, versuchte sie dagegen anzukämpfen. Sie durfte nicht aufgeben. Irgend etwas war in Resolute im Gange. Etwas Eigenartiges und – dem Tonfall des Gesprächs nach – auch etwas Schreckliches.

Charles überreichte Billy einen Umschlag.

»Fahrkarten zur – nach Washington. Ich hätte beinahe Hauptstadt gesagt. Aber es ist ja nur noch eure Hauptstadt. Alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht abschütteln.«

Billy steckte den Umschlag ein. Charles streckte ihm noch eine kleine Samtschachtel hin. »Das brauchst du auch noch.«

Billy ergriff die Schachtel und errötete. »Guter Gott, die Ringe! Ich hab’ völlig vergessen, daran zu denken.«

»Orry hat vermutet, daß es in der ganzen Aufregung untergehen könnte.« Charles traf Vorbereitungen, sich eine seiner Mammutzigarren anzuzünden. »Ich wollte, ich hätte ein paar übrig für George. Aber ich weiß nicht, ob er Manns genug ist, um sie zu rauchen!«

Billy lachte. Orry öffnete die Tür zur Bibliothek und steckte den Kopf herein. »Wenn Bräutigam und Trauzeuge soweit sind, sollten wir anfangen. Der Pfarrer hat schon drei Gläser Sherry getrunken. Noch eins, und er wird nicht mehr in der Lage sein, die Bibel zu lesen.«

»Oh, du siehst entzückend aus.« Ashton klatschte begeistert in die Hände.

Brett stand nervös vor einem Spiegel. Sie zupfte am Puffärmel ihres neuen dunkelorangenen Seidenkleides. »Ich bin so glücklich, daß ich Trauzeugin sein kann«, fuhr Ashton fort. »Ich bin so dankbar, daß du mich gefragt hast.«

Brett eilte zu ihrer älteren Schwester, ergriff ihre Hände und fühlte die Zuneigung, die zwischen ihnen war. »Du bist meine Schwester. Ich hätte nie jemand anderen als Trauzeugen gewollt. Aber ich bin diejenige, die sich bedanken muß. Ich weiß, was du früher einmal für Billy gefühlt hast.«

»Das war nur eine törichte Jugendliebe.« Ashton trat zurück und drehte Brett den Rücken zu. Mit etwas lauterer Stimme sagte sie: »Ich hab’ den Mann, den ich wollte. James ist ein wundervoller, aufmerksamer Gatte. Er – «

Orrys ungeduldiger Ruf ertönte von unten. Brett eilte zum Bett, um den Strauß getrockneter Blumen an sich zu nehmen.

»Wir sollten gehen.«

»Wann fährt euer Zug?«

»Ich glaube, Billy hat etwas von halb fünf gesagt. Wieso?«

»Ich möchte, daß Homer euch beide in unserer Kutsche hinfährt.«

»Ashton, das ist nicht nö…«

»Scht«, unterbrach sie Ashton, die sich nun wieder unter Kontrolle hatte. »Ich will es so haben. Unsere Kutsche ist viel bequemer als Coopers alter Klapperkasten. Und zudem hat Cooper keinen Kutscher. Es wäre eine Schande, wenn ein Mitglied der Main-Familie Niggerarbeit verrichten müßte.«

Ashton drängte ihre Schwester aus dem Zimmer heraus, indem sie sie mit einem Wortschwall bombardierte. »Du rennst schon mal nach unten; ich komme gleich nach. Ich will bloß schnell Homer suchen, damit alles bereit ist.«

Nachdem sie die Hintertreppe hinuntergeeilt war, suchte sie jedoch Rex und nicht Homer. Sie befahl dem Jungen, zu Fuß nach Resolute zu rennen, und schärfte ihm ein, die Mitteilung niemand anderem als Forbes LaMotte zu übergeben. Sie unterstrich ihren Befehl dadurch, daß sie ihre Fingernägel in den dünnen braunen Unterarm von Rex grub, bis sie Schmerz in seinen Augen lesen konnte. Seit sie ihn ausgepeitscht hatte, war der Nigger dreist gewesen. Sie wußte, daß er nur auf Rache sann. Aber er würde nicht wagen, etwas zu unternehmen, wenn er weiterhin Angst vor ihr hätte.

Sie stellte einen Ausgehschein aus und bugsierte Rex durch die Vorratskammer hinaus. Dann strich sie ihr sorgfältig gekämmtes Haar zurecht, setzte ein charmantes Lächeln auf und rauschte nach vorn, um am letzten glücklichen Augenblick im Leben von Billy Hazard teilzunehmen.

»Und nun dürfen Sie die Braut küssen.«

Nach dieser Äußerung atmete Pfarrer Saxton so tief aus, daß diejenigen, die in der Nähe saßen, in eine Sherrywolke getaucht wurden. Clarissa hielt die Hände wie ein entzücktes Kind gefaltet. Sie hatte die Zeremonie mit großem Interesse verfolgt, obwohl sie niemanden kannte.

Hinter ihr stieß Marie-Louise einen verzückten Seufzer aus und murmelte: »War das nicht toll?«

»So nah wirst du nie mehr an einen Altar herankommen«, sagte Judah mit einem boshaften Seitenblick. »Du bist ja häßlich wie eine Vogelscheuche.«

Das Mädchen gab ihm einen Tritt ans Schienbein. »Und du giftig wie eine Klapperschlange.«

Cooper gab beiden von hinten einen leichten Klaps auf die Ohren und ermahnte sie mit einem finsteren, väterlichen Blick zur Ruhe.

Brett hatte fast kein Wort von dem, was der Pfarrer aus dem Gebetsbuch vorgelesen hatte, mitbekommen. Billy hatte sie mit einem sanften Stoß darauf hinweisen müssen, daß sie sich niederzuknien hatten. Sie wußte zwar, wie heilig und wichtig die Zeremonie war, aber ihr Herz schlug zu schnell, als daß sie sich hätte konzentrieren können. In zwei Stunden würde sie ihre Heimat verlassen, um als verheiratete Frau in einem fremden, ja sogar feindlichen Land zu leben. Der Gedanke war schrecklich – bis sie in die Augen ihres Gatten blickte, die so viel Liebe und Zuversicht ausstrahlten.

Er legte die Arme um sie, und sie fühlte, wie sie von einer Welle von Kraft durchflutet wurde. Mit Billy an ihrer Seite würde sie das Schlimmste, das ihr im Norden widerfahren könnte, überstehen. Nie würde sie ihre Sehnsüchte oder Ängste zeigen, und sie würde für sie beide eine wundervolle Zukunft aufbauen.

Diesen stillen Schwur legte sie ab, als sie ihn küßte.

Orry hatte sich in der dritten und letzten Reihe niedergelassen – aus Angst, daß er seine Gefühle während der Zeremonie nicht verbergen könne. Glücklicherweise blieben seine Augen trocken, obwohl er sehr aufgewühlt war.

Er dachte an Madeline. An das Alter und an die Tage, die in einer einsamen Prozession dahinglitten. Er dachte an die Krise von Fort Sumter. Noch vor einem Jahr wäre es unvorstellbar gewesen, daß eine amerikanische Familie wie die Mains unter einer neuen Flagge leben würde.

Vielleicht quälten ihn die Gedanken an all die Schwierigkeiten, weil eine Hochzeit ein einschneidendes Ereignis war; ein fröhlicher Anlaß, aber dennoch ein Meilenstein in einem Leben. Er beschloß, den freudigen Aspekt zu sehen. Nach der Zeremonie küßte er seine Schwester auf die Wange und gratulierte ihr überschwenglich.

»Ich hoffe, daß du es wirklich ernst meinst«, antwortete Brett und schmiegte sich an Billy, der schützend einen Arm um ihre Taille gelegt hatte. »Ich möchte, daß die Heirat unsere zwei Familien zusammenhält – was auch immer geschehen mag.«

Orry sah den Bräutigam an: Ein gutaussehender, tüchtiger junger Mann und der Bruder seines besten Freundes. Aber derselbe junge Mann mit dem fröhlichen, beinahe abwesenden Lächeln trug im täglichen Leben keinen eleganten, schwarzen Hochzeitsanzug, sondern eine Uniform. »Auch ich möchte das«, meinte Orry und versuchte die Zweifel zu verheimlichen, die ihn auf einmal überwältigten. »Gehen wir ins Eßzimmer, bevor der Wein warm wird.«

Sie gingen hinaus, an Ashton vorbei, die sich bei ihrem gelangweilten, mürrischen Gatten eingehakt hatte. Ashton starrte die Neuvermählten unverblümt an, was glücklicherweise von niemandem bemerkt wurde.

In der Eingangshalle von Resolute hörte sich Forbes die Mitteilung an, die Rex überbracht hatte, und schickte ihn dann in die Küche, damit er sich zur Belohnung eine Schnitte warmen Maisbrotes holen könne. Justin und Preston Smith schlenderten eben aus dem Studierzimmer. Justins seidene Hemdärmel trugen immer noch Spuren seines Ausflugs auf das Feld – Überreste von Blättern und Zweigen. Preston hatte eine große Satteltasche über die Schulter gehängt.

Die beiden Männer blickten Forbes an, der nickte und sagte: »Halb fünf.«

Preston schaute an seinem Freund vorbei auf eine goldbronzene Uhr, die unter dem alten Säbel an der Wand auf einer Truhe aus Kirschbaumholz stand. »Dann haben wir noch viel Zeit.«

»Ich sattle mein Pferd aber trotzdem schon und mach’ mich auf den Weg. Ich möchte sie nicht verpassen.«

»Ich auch nicht«, stimmte Preston mit einem verschlagenen Lächeln zu.

Auch Justin lächelte. Er stolzierte zur Wand, befeuchtete die Kuppe seines Daumens und wischte ein Fleckchen, das nur er sehen konnte, von der gezinkten Klinge. Die durch das Oberlicht einfließenden Sonnenstrahlen tauchten die Wand und den Säbel in ein Feuermeer.

»Ich wünsche euch viel Erfolg, Jungens«, sagte Justin, als er mit dem Daumen auf der Klinge des Säbels hin und her fuhr. »Ihr werdet der Öffentlichkeit einen großen Dienst erweisen, wenn ihr den jungen Mr. Hazard tötet. Ein Offizier weniger in der Yankee-Armee! Abgesehen davon ist es eine wohlverdiente Strafe für das Main-Pack.«

»Find’ ich auch«, sagte Forbes grinsend, aber sein Blick war eiskalt.

»Ich bin auf euren Bericht gespannt«, rief ihnen Justin nach, als die beiden davonstapften. Mit einem selbstgefälligen Seufzer wollte er sich wieder ins Studierzimmer begeben, aber schon nach wenigen Schritten wurde er auf ein schwaches Geräusch aufmerksam, das vom oberen Ende der Treppe herkam. Seine Stimme klang ungewöhnlich harsch, als er fragte:

»Was zum Teufel machst du denn dort oben, Madeline?«

Es war vollkommen klar; sie hatte zugehört.

Sie stand in den langen Schatten der Nachmittagssonne und stützte sich auf das Treppengeländer. Ihre Bewegungen waren lebhafter als gewöhnlich, als sie zwei Stufen hinunterstieg. Plötzlich überfiel ihn Angst. War das Laudanum in letzter Zeit durch irgendein Mißgeschick zu schwach dosiert worden?

Sie klammerte sich mit weißen Händen an das Treppengeländer und stieg eine weitere Stufe hinunter – dann noch eine. Ihr Mieder aus schwarzer Seide hob und senkte sich; sie mußte sich offensichtlich stark anstrengen. Ihre von tiefen Schatten umrahmten Augen waren ekelerfüllt.

Die Situation erlaubte keinerlei Nachgiebigkeit. Justin marschierte zur Mitte der Eingangshalle, wo er sich mit gespreizten Beinen postierte und die Daumen über dem Gürtel in die Hose steckte. »Hast du unsere Gäste belauscht?« Die Frage enthielt eine unverhüllte Drohung.

»Nicht absichtlich. Ich«, ihre Stimme wurde kraftvoller, »ich wollte gerade ins Nähzimmer gehen. Worüber habt ihr euch unterhalten, Justin? Wen wollen sie töten?«

»Niemanden.«

»Ich habe den Namen Hazard gehört.«

»Das hast du dir nur eingebildet. Geh auf dein Zimmer.«

»Nein.«

Sie stieg zwei weitere Stufen hinunter und schloß die Augen; ihr Atem ging mühsam und ruckweise. Auf ihrer bleichen Stirn glänzten Schweißperlen. Er sah, daß sie immer noch gegen die Wirkung des Medikaments kämpfte.

»Nein«, wiederholte sie. »Nicht, bis du mir eine Erklärung gegeben hast. Sicher habe ich irgend etwas falsch verstanden. Du wirst wohl nicht deinen eigenen Neffen als Mörder gedungen haben.«

Panik überwältigte ihn. Unbesonnen schrie er: »Du verdammte Hure! Geh auf dein Zimmer! Und zwar sofort!«

Wiederum schüttelte Madeline den Kopf und nahm ihre ganze Kraft zusammen, um langsam und schwerfällig den Rest der Treppe zu bewältigen. »Ich gehe«, sagte sie.

Für die nächsten zwei Stufen brauchte sie beinahe volle zehn Sekunden. Es wurde ihm klar, daß er dumm gewesen war, in Panik zu geraten. Sie war viel zu schwach, als daß sie irgend etwas hätte unternehmen können. Es gelang ihm, sich etwas zu entspannen und einen belustigten Blick aufzusetzen.

»Ah ja? Und wohin willst du denn gehen?«

»Das«, sie fuhr sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Stirn, »geht dich nichts an.«

Unmittelbar nachdem Justin den Namen Hazard ausgesprochen hatte, war Madeline bewußt geworden, wie verzweifelt dringlich die Situation war. Nun, da sie sich unten an der Treppe befand, hörte sie, wie Pferde auf dem Torweg davonritten. Die Angst gab ihr neue Kraft, und sie konnte die fürchterliche Lethargie überwinden. Sie torkelte zum Eingang. Justin machte einen Schritt zur Seite und versperrte ihr den Weg.

»Laß mich bitte durch.«

»Ich verbiete dir, dieses Haus zu verlassen.«

Seine Stimme klang nun grell – der endgültige Beweis dafür, daß das Komplott eine Tatsache war. In Mont Royal sollte jemand ermordet werden. Der Grund war ihr unbekannt, aber sie wußte, daß sie versuchen mußte, diesen Mord zu verhindern.

Sie machte einen Bogen um ihren Gatten. Justin ballte die Hand zur Faust, machte eine leichte Drehung nach links und versetzte ihr einen Schlag auf die Schläfe. Schreiend fiel sie hin.

Sie lag auf dem Boden und starrte ihn eine Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, benommen an. Schwer atmend stützte sie sich auf die Hände, stand auf und versuchte erneut, die Eingangshalle zu durchqueren.

Wieder schlug Justin zu. Diesmal schlug sie mit dem Hinterkopf auf die Kante der Kirschholztruhe auf – ein harter, schmerzhafter Aufprall. Ihr Schrei war markerschütternd. Mühsam stützte sie sich auf ein Knie und versuchte verzweifelt aufzustehen.

Eine Tür wurde geöffnet. Zwei schwarze Gesichter spähten in die Halle, als sich Justin drohend über Madeline beugte. »Wenn du darauf beharrst, dich wie ein starrköpfiges Tier zu benehmen, wirst du auch als solches behandelt.« Er versetzte ihr einen heftigen Tritt unter die linke Brust.

Madeline fiel erneut gegen die Truhe, die gegen die Wand prallte. Der Säbel an der Wand rasselte. Verzweifelt schnappte Madeline nach Luft. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie sah alles wie durch einen Schleier hindurch.

Justin drehte sich ruckartig um und eilte durch die Halle. »Verdammt noch mal, was gafft ihr hier herum? Verschwindet, oder ich zieh’ euch die Haut ab!«

Die zu Tode erschrockenen Sklaven machten sich aus dem Staub. Madeline sah inzwischen wieder etwas klarer. Sie hielt sich an der Truhe fest und zog sich mit letzter Willensanstrengung hoch.

Justin drehte sich um, sah, daß sie wieder auf den Füßen stand, und begann laut zu fluchen. Sie hörte hinter ihrem Rücken das Stakkato seiner Stiefelabsätze; mit den gemeinsten Flüchen stürzte er auf sie los. Mit übermenschlicher Anstrengung riß sie den Säbel von der Wand, wirbelte herum und schlug zu.

Die scharfe Klinge riß ihm das Gesicht von der linken Augenbraue bis zum Unterkiefer auf. Einen Augenblick lang klaffte die Wunde und ließ das Fleisch sichtbar werden, dann schoß das Blut hervor; es lief ihm über die Wange und tropfte auf sein Seidenhemd.

Er preßte die eine Hand auf die Wunde. »Du gotterbärmliche Hure du!« und raste auf sie los.

Sie schleuderte den Säbel fort und trat instinktiv einen Schritt zur Seite. Er konnte den Schwung seines Körpers nicht mehr bremsen und prallte Kopf voran gegen die Wand. Langsam sank er in die Knie – wie in einem schlechten Schauspiel. Das blutende Gesicht auf der Brust, stöhnte er vor sich hin.

Zwei andere Sklaven, vom Lärm angezogen, standen unter dem Türrahmen. »Ezekiel, komm mit mir. Ich brauche den Wagen.« Sie zeigte auf den zweiten Schwarzen. »Du kümmerst dich um Mr. LaMotte.«

Zwei Minuten später lenkte sie den Wagen durch den Torweg in Richtung Fluß.

»Jung. Jung hat er gesagt.«

Das linke Hinterrad des Wagens knallte in ein tiefes Loch, und sie wurde beinahe vom Sitz geschleudert. Als sie an Six Oaks vorbeiraste, konnte sie nur knapp verhindern, daß der Wagen nicht im Straßengraben landete. Die frische Luft hatte ihre Sinne ein wenig geschärft, und sie hatte nun einen klareren Kopf. Es war ihr eben in den Sinn gekommen, daß ihr Gatte eine Anspielung auf den jungen Mr. Hazard gemacht hatte. Das Opfer mußte also der Bruder von George sein. Das hieß, daß er das Fort im Hafen von Charleston verlassen hatte; aber wo war er nun?

Sonnenbeschienene Bäume flogen an ihr vorbei. Der Wind peitschte ihr Gesicht. Sie war wirklich erzdumm gewesen, so lange bei Justin zu bleiben. Monat um Monat war ihre Widerstandskraft durch eine ihr rätselhafte Erschöpfung unterminiert worden, und zuvor war es ihr falsches Ehrgefühl gewesen, das sie in Resolute zurückgehalten hatte.

Aber der Mann, dem sie sich durch die Heirat verpflichtet hatte, kannte das Wort Ehre nicht – genau wie die meisten Mitglieder seiner Familie. Bis zu diesem Nachmittag war Madeline jedoch nicht klargeworden, wie niederträchtig sie wirklich waren.

Sie hatte am oberen Treppenabsatz gestanden, hatte nach unten geschaut und bemerkt, daß ein junger Sklave Forbes eine Nachricht zugeflüstert hatte. Der Junge lebte nicht in Resolute; er mußte also von jemand anders hergeschickt worden sein, und zwar mit einer Mitteilung, auf die Forbes ungeduldig wartete.

Dann war Justin mit dem jungen Smith in ihr Blickfeld getreten. Zuerst hatte sie geglaubt, es handle sich um irgendeinen derben Spaß. Als sie jedoch die rohen Worte hörte und den Gesichtsausdruck der drei sah, wußte sie, daß die Anspielung auf den Mord wörtlich zu verstehen war.

Nun hoffte sie, den jungen Mr. Hazard in Mont Royal anzutreffen. Sie betete inbrünstig, daß – solle dies nicht der Fall sein – er rechtzeitig gefunden und gewarnt werden könnte. O Gott, sie hätte Justin wirklich schon vor langer Zeit verlassen und Orry heiraten sollen.

Die kühle Luft belebte ihren Körper und Verstand. Die Nadeln und Perlmutterkämme, mit denen sie das Haar hochgesteckt hatte, lösten sich, und lange, schwarze Strähnen wehten im Wind. Der feurige Wallach, der den offenen Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinter sich herzog, war bereits schweißbedeckt.

Sie fühlte sich ungemein erleichtert und glücklich. Nie mehr würde sie nach Resolute zurückkehren. Nie mehr zurück zu Justin…

Und zum Teufel mit den Konsequenzen!

64

Kurz vor drei Uhr versammelte sich die Familie, um sich von den Neuvermählten zu verabschieden. Billy wollte früh genug gehen, damit sie gemütlich zum kleinen Bahnhof im Wald fahren konnten.

Ein perfekter Nachmittag für eine Hochzeitsreise, fand Charles und zündete sich schon wieder eine Zigarre an. Die milde Märzsonne schimmerte durch die moosbewachsenen Eichen, und die Luft roch nach feuchter Erde. Es wurde langsam Frühling. Verflixt noch mal, er sollte wirklich nach Charleston reiten und ein Mädchen finden.

Charles half Homer, die Kisten und Koffer auf Huntoons Kutsche zu verstauen, während sich Brett und Billy von der Familie verabschiedeten. Ashton stand auf der Seite, um die letzte zu sein. »Ich wünsche euch von ganzem Herzen eine gute Reise, viel Glück und Erfolg. Und ein langes Leben«, fügte sie hinzu. Als sie Brett umarmte, funkelte das Sonnenlicht in ihren dunklen Augen.

»Vielen Dank, Ashton«, sagte Billy. Linkisch schüttelte er ihre Hand. Charles fand linkisch den passenden Ausdruck für Billys Verhalten Ashton gegenüber an diesem Nachmittag. Nun, das war nicht weiter erstaunlich, denn Billy war ja lange genug in sie vernarrt gewesen. Aber sein Freund hatte schließlich das bessere Mädchen gewählt. Ashton war zwar intelligent und voller Elan, hatte jedoch auch eine böse Ader.

»Bison«, Billy trat zu Charles und streckte ihm die Hand hin, »paß auf dich auf, vor allem, wenn es auf Fort Sumter noch hitziger zugehen sollte.«

»Ich werd’ mir Mühe geben.« Ihr Handschlag war lang und kräftig. »Laß mal was von dir hören. Ich weiß natürlich, daß es eine Weile dauern wird. Schließlich ist ein frisch verheirateter Mann noch anderweitig beschäftigt.«

»Das möchte ich wohl hoffen.«

Beide lachten. Brett hatte eben ihre Mutter zum letztenmal umarmt. Sie wischte sich eine Träne von der Wange und sagte hänselnd: »Das tönt aber verrucht.«

Charles grinste. »Du hast recht, aber wir müssen jetzt noch ein paar Zoten reißen. Der Bräutigam ist schließlich um seinen Polterabend gekommen.«

»Er kann froh sein, daß er in diesen Zeiten überhaupt zu einer Hochzeitsreise kommt«, sagte Orry auf die ihm eigene mürrische Art.

Clarissa lächelte immer noch und blinzelte wie ein verwirrtes Kind, das trotzdem nett sein will. Einige der Hausdiener waren herausgekommen, um sich ebenfalls zu verabschieden, und so wurden die beiden von einer großen klatschenden und Glückwünsche rufenden Menschenmenge umringt, als Billy seiner Frau in die Kutsche half.

Er lehnte zum Fenster hinaus und winkte. Brett ebenfalls. Die Sonnenstrahlen brachten ihre Tränen zum Glitzern. Homer gab den Pferden die Zügel. Als die Kutsche langsam davonrollte, winkten alle und riefen ihnen noch mehr Abschiedsworte zu. Spaßeshalber zog Charles den Säbel und salutierte den Neuvermählten formell.

Als er über die Klinge seines Säbels schaute, bemerkte er, wie Ashton sich mit dem Taschentuch in einer Hand die Augen wischte und mit der anderen Hand winkte. Dann huschte plötzlich ein selbstgefälliges Lächeln über ihr Gesicht. Niemand schenkte dem Beachtung, da alle der Kutsche nachsahen, die im Sonnenlicht auf dem Torweg davonratterte.

Charles spürte einen Stich im Nacken. Er trat einen Schritt zurück, so daß er sich hinter einer Säule vor Ashton verstecken konnte. Was auch immer sie dem Brautpaar zuvor gesagt haben mochte, sie sah auf keinen Fall so aus, als würde sie ihnen etwas Gutes wünschen. Was in aller Welt war eigentlich los?

Etwas Merkwürdiges – soviel stand fest. Vielleicht würde er mehr erfahren, wenn er die Augen offenhalten und nicht zu viel trinken würde.

Er bat Cuffey, ihm ein Glas Champagner zu bringen. Dann öffnete er den Kragen seiner Uniform und ließ sich auf einen Schaukelstuhl im Schatten nieder. Er schaukelte gemächlich hin und her und war froh, allein zu sein. Bevor seine Geduld belohnt wurde, hatte er den Champagner schon in kleinen Schlucken leergetrunken. Ein schwarzer Junge, staubbedeckt und schwer atmend, tauchte bei der Hausecke auf. »Ist Homer hier, Sir?«

»Nein, er ist mit der Kutsche fortgefahren, aber er wird bald zurücksein.«

Charles brauchte einen Augenblick, bis er wußte, wohin der Junge gehörte. Sein Name war Rex – der andere Diener von Ashton. Wo war er gewesen? Sein verwaschenes blaues Flanellhemd triefte vor Schweiß, als wäre er eine große Strecke gerannt.

Der Junge wich Charles’ Blick aus und kauerte in einiger Entfernung bei einer Säule nieder. Charles erinnerte sich genau daran, daß er nach der Zeremonie ein paar Worte mit Homer gewechselt hatte. Rex hatte er nirgends gesehen. Eigenartig.

Charles hob den Kopf. Er hörte Lärm; im Torweg erblickte er eine Staubwolke. Das Geräusch von Pferdegetrampel und quietschenden Wagenrädern wurde schnell stärker. Als er die verstörte, verängstigt dreinblickende Gestalt sah, die den Wagen lenkte, sprang er auf.

»Madeline«, rief er, warf die Zigarre fort und eilte ihr entgegen. Einen Augenblick später ergriff er den Zaum des völlig erschöpften Pferdes und half Madeline beim Aussteigen. Er wollte sie loslassen, aber sie hielt ihn umschlungen.

»Madeline, Sie sehen zu Tode erschrocken aus. Was ist los?«

Mit einem verwirrten Ausdruck schaute sie zum jungen, großen Offizier hoch. Sie versuchte sich zusammenzureißen. Dann bemerkte sie Rex, der angespannt bei der Säule kauerte. Langsam begann sie die Zusammenhänge zu begreifen.

»Ich habe diesen Jungen vor kurzem in Resolute gesehen. Ich bin vollkommen sicher.«

Aber Rex war schon über die Veranda gerast und verschwunden.

Die Bewegung der Kutsche übte eine beruhigende Wirkung aus; die Stimmung stieg. Auf den ihnen gegenüberliegenden Kissen zeichneten die Sonnenstrahlen Schatten von Föhren und Eichen, die am Straßenrand standen. Billy hielt Brett eng umschlungen.

»Glücklich?« fragte er.

Sie seufzte. »Selig. Ich habe nicht mehr geglaubt, daß der Augenblick noch kommen würde.«

»Und ich habe nicht mehr geglaubt, daß Orry seine Erlaubnis geben würde.«

»Dein Bruder hat ihn umgestimmt, das weißt du ja.«

Billy gluckste. »Die Ehemaligen sagen, daß West Point dein Leben auf immer beeinflußt – und zwar so, wie man sich dies als Kadett nicht vorstellen kann. Jetzt glaub’ ich ihnen endlich.«

Brett dachte einen Augenblick nach. »Wie lange, denkst du, wirst du in Washington bleiben müssen?«

»Das kann ich nicht sagen. Vielleicht Tage, Wochen oder sogar – «

»Es kommen Reiter, Leutnant Hazard.«

Als Billy Homers Stimme hörte, blickte er zum offenen Fenster hinaus. Der Sklave klang zwar nicht beunruhigt, aber allein die Tatsache, daß er die beiden darauf aufmerksam gemacht hatte, ließ etwas Ungewöhnliches ahnen. Billy konnte sie links hinter der Kutsche hören. Die Hufe trotteten auf Waldboden. Eigenartig.

»Wer ist es?« fragte Brett.

Billy lehnte sich aus dem Fenster. Staubwolken tanzten in den Sonnenstrahlen hinter der Kutsche. Zwei verschwommene Gestalten tauchten zentaurenähnlich in den Staubwolken auf, aber er konnte erst Einzelheiten feststellen, als die Pferde in Galopp fielen. Die zwei Reiter lösten sich aus dem Staub. Billys Hände ruhten auf dem Fensterbrett.

»Ein alter Freund von dir. Dieser Kerl namens LaMotte.«

Aber auch Brett war eher verwirrt als verängstigt. Forbes gab dem Pferd die Sporen. Sein Begleiter, ein schmächtiger, elegant gekleideter Bursche etwa in Forbes’ Alter, war dicht hinter ihm. Brett lehnte sich aus dem andern Fenster.

»Merkwürdig, das ist Preston Smith. Was um Himmels willen tun die beiden auf dieser gottverlassenen Straße?«

Billy hegte den Verdacht, daß sie nicht bloß einen Ausflug machten. Sicher waren sie auch nicht auf dem Weg zu Bekannten, denn die Kutsche war schon seit mehreren Meilen an keiner Siedlung mehr vorbeigefahren. Zu jeder Seite der Kutsche erschien ein Reiter.

»Homer, halt an!« rief Forbes. Er hatte ein breites Lächeln auf dem Gesicht, aber Billy kam es unecht vor. Forbes fuchtelte befehlshaberisch herum. »Anhalten hab’ ich gesagt!«

Verwirrt zog der Kutscher die Zügel und trat mit dem Fuß auf die Bremse. Die Kutsche schlingerte hin und her; Staubwolken stiegen hoch. Herunterhängende Äste streiften das Gepäck auf dem Verdeck der Kutsche. An dieser Stelle verengte sich die Straße zu zwei schmalen, parallelen, durch hohes Gras voneinander getrennten Furchen.

Preston Smith hustete und steckte dann das Taschentuch ein, das er vor Nase und Mund gehalten hatte. Forbes ritt hinten um die Kutsche herum auf Billys Seite. Brett lehnte sich über Billys Schulter.

»Ich hätte nicht erwartet, dich hier draußen zu sehen, Forbes.«

Forbes’ Haar war staubbedeckt und einige Töne heller als gewöhnlich. Er schien entspannt und gut aufgelegt. Aber Billy war argwöhnisch, denn er bemerkte einen eigenartigen Glanz in Forbes’ Augen. Billy dachte an seinen Dienstrevolver. Er befand sich in der Kiste auf dem Verdeck. Verdammt noch mal.

»Ich wollte euch gratulieren«, antwortete Forbes. »Du kennst meinen Freund Preston Smith, nicht wahr?«

Brett nickte und sagte: »Ja, wir haben uns schon gesehen.«

»Sir«, fuhr Forbes fort, »ich konnte Braut und Bräutigam nicht abreisen lassen, ohne ihnen zu gratulieren.« Sein Gesicht leuchtete auf. »Aber Sie werden mir sicher verzeihen, wenn ich nicht sage, daß der beste Mann gewonnen hat.«

Unter dem Fenster, unsichtbar für Forbes, ergriff Brett Billys Knie und drückte es. Billys Herz raste. Er sprach den Gedanken aus, der beiden durch den Kopf ging.

»LaMotte, woher wissen Sie, daß wir geheiratet haben?«

Smith beruhigte sein bockendes Pferd. »Oh, wir haben es irgendwo gehört. Ich glaube nicht, daß ich schon die Ehre hatte, Sie kennenzulernen, Sir. Sie sind Leutnant Hazard, nicht wahr?«

Sein Tonfall machte deutlich, daß es alles andere als eine Ehre war, Billy zu treffen. Billy starrte ihn unentwegt an. »Das stimmt.«

»Preston Smith. Ihr Diener.«

Smith lächelte verächtlich. Billy hatte plötzlich das Gefühl, daß die Begegnung kein Zufall war. Waren sie in eine Falle geraten?

Homer räusperte sich. »Wir sollten weiterfahren, Leutnant, sonst verpassen wir den Zug.«

Forbes schaute den Schwarzen an. »Ihr fahrt zum kleinen Bahnhof im Wald, nicht wahr?«

Homer starrte geradeaus. »Ja, Sir, und ich finde, daß wir nun wirklich Dampf dahinter setzen sollten.«

»Nigger, du gehst nirgends hin, bis ich es dir erlaube.«

Wütend sagte Billy: »Fahr weiter, Homer.« Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie sich Smith nach hinten lehnte, die Hand in die Satteltasche streckte und flink und beinahe mühelos eine riesige Duellierpistole mit bronzener Ziselierung und einem Feuersteinschloß herauszog. Lächelnd richtete er die Pistole auf Homer.

»Wenn du die Zügel berührst, wird die Straße voll von Niggerblut sein.«

»Wir wollen nicht streitsüchtig sein«, sagte Forbes mit noch breiterem Grinsen als zuvor. »Aber wir sind ein gutes Stück geritten, um Ihnen unsere Aufwartung zu machen, und das wollen wir auch tun. Und jetzt, Mr. Yankee-Soldat, steigen Sie aus und trennen Sie sich vom Rock Ihrer Frau, damit ich Ihnen geziemend gratulieren kann.«

Brett drückte Billys Knie stärker. »Billy, tu das nicht.«

Aber Billy schäumte vor Wut. Er stieß ihre Hand weg, riß die Türe auf und stieg aus.

Forbes seufzte. »Nein, Sir, ich kann wirklich nicht sagen, daß der beste Mann gewonnen hat. Obwohl es den Anschein erweckt, als wären Sie für eine Weile obenauf – wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Billy errötete. Smith lachte wiehernd. Ein großer schneeweißer Reiher segelte über die Baumkronen. Billy machte einen Schritt auf Forbes’ Pferd zu.

»Passen Sie auf, was Sie in Anwesenheit meiner Frau sagen.«

Forbes und sein Freund warfen sich kurze, zufriedene Blicke zu. »Nun, Mr. Hazard, das klingt ja fast wie eine Drohung. Und eine Drohung betrachte ich als persönliche Beleidigung. Oder habe ich Sie vielleicht falsch verstanden?«

»Komm, Billy!« rief Brett. »Vergeude deine Zeit nicht mit diesen gemeinen Idioten.«

Forbes wandte sich ihr lächelnd zu. »Weißt du, Liebling, ich muß zugeben, daß ich dich immer noch liebe – obwohl dich deine spitze Zunge manchmal in eine giftspeiende Nutte verwandelt. Ich mache jede Wette, daß du auch herumhurst.«

»LaMotte, du Hurensohn, komm von diesem Pferd runter!«

Forbes lachte und schüttelte den Kopf, während er das Pferd außer Billys Reichweite lenkte. Dann glitt er vom Pferd, glättete sich mit den Handflächen das Haar und stolzierte herbei.

»Ich bin sicher, daß ich diese Bemerkung nicht falsch verstanden habe, Sir. Sie haben mich beleidigt.«

Mit ernstem Nicken sagte Smith: »Das hat er tatsächlich.«

Forbes starrte auf Billy herunter, der beinahe einen Kopf kleiner war. »Ich fordere Satisfaktion, Sir.«

Homer schaute fassungslos zu, wie Brett aus der Kutsche schoß. »Laß dich nicht mit ihm ein, Billy! Merkst du denn nicht, daß er hierhergekommen ist, um dich zu provozieren? Ich weiß zwar nicht, wie er herausgefunden hat, daß wir fortgehen, aber laß dich nicht in dieses Spiel hineinziehen!«

Billy war auf der Hut, fixierte seinen Gegner und schüttelte den Kopf. »Halt dich da raus, Brett. LaMotte – «

»Ich sagte«, unterbrach ihn Forbes, »daß ich Satisfaktion fordere.« Plötzlich riß er den Arm hoch und schlug Billy links und rechts ins Gesicht. Der mit der offenen Handfläche ausgeführte Schlag knallte wie ein Peitschenhieb. »Und zwar hier und jetzt«, fuhr er fort und setzte wieder sein charmantes Lächeln auf.

»Du gemeiner Hund!« explodierte Brett. »Ich wußte, daß du eifersüchtig bist, aber ich habe nicht gewußt, daß es dich in den Wahnsinn getrieben hat. Wie lange hast du auf diesen Augenblick gewartet?«

»Schon lange – das will ich nicht leugnen. Es ist für mich jedoch die angemessenste und ehrenvollste Art, meine Differenzen mit Mr. Hazard zu bereinigen. Preston hat eine zweite Pistole in der Satteltasche. Er wird als mein Sekundant agieren. Was den Ihrigen betrifft«, er wandte seinen Blick der Kutsche zu, »so nehme ich an, daß du dieses Amt übernehmen wirst, Homer. Meiner Meinung nach macht es sich recht gut, daß der Sekundant eines Yankees ein Nigger ist.«

Bretts Stimme war heiser vor Angst. »Billy, du darfst das nicht tun!«

»Sei bitte still«, unterbrach er sie. Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie hinter die Kutsche. Dann beugte er sich zu ihr nieder und flüsterte: »Ich muß mich ihm stellen. Ist dir denn nicht klar, daß er uns abgefangen hat, um mich zu töten? Wenn wir zu flüchten versuchen, findet er irgendeinen Vorwand, um mich auf der Stelle zu erschießen. Und so – «

Er schluckte leer. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Ein Tropfen fiel von seinem Kinn, und sein Rockaufschlag verfärbte sich wie von einem Blutflecken.

»So hab’ ich wenigstens noch eine Chance.«

Sie schüttelte den Kopf; erst sanft, dann immer heftiger. Tränen schossen ihr in die Augen. Billy drückte ihren Arm und ging dann wieder auf die andere Seite der Kutsche. Sie hörte ihn sagen:

»In Ordnung, LaMotte. Gehen wir zu diesem Feld dort drüben beim Sumpf.«

»Ihr Diener, Sir«, antwortete Forbes und verneigte sich.

Billy zog Mantel, Krawatte und Wams aus. Er schmiß alles über die stachligen Blätter einer Yukkapflanze, die neben den verwelkten Wedeln einer wilden Palme wuchs. Homer näherte sich, aber Billy winkte ab.

»Bleib bei Brett. Ich komm’ allein zurecht.«

»Wieso eigentlich nicht. Es ist ja wirklich nicht schwer«, bestätigte Smith, als er die beiden Duellanten im Sonnenschein in die Mitte eines Bermudagrasfeldes abkommandierte. Die Halme wogten sanft im Wind.

Smith streckte die Hände aus, in denen je eine Duellierpistole lag. Billy bemerkte, daß es sich um zwei identische Modelle handelte – ein weiterer Beweis dafür, daß die Begegnung kein Zufall war. Für einen kleinen Ausritt hatte man nicht zufällig derartige Pistolen einfach in der Satteltasche.

»Meine Herren, ich werde die Pistolen vor Ihnen beiden mit Pulver und Kugel laden. Dann stellen Sie sich Rücken an Rücken und machen auf meinen Befehl hin zehn Schritte. Nach dem zehnten Schritt können Sie sich umdrehen und schießen. Irgendwelche Fragen?«

»Nein«, sagte Forbes und rollte die Ärmel hoch.

»Beeilen Sie sich«, meinte Billy.

Höhnisch verbeugte sich Smith, kniete dann ins Gras, öffnete die Satteltasche und entnahm ihr zwei Pulverflaschen, die eine etwa dreimal größer als die andere. Aus der größeren schüttete er grobkörniges Pulver, das die Kugel antreiben würde, in die Mündung der ersten Pistole. Dann stopfte er die Kugel und einen Tuchfetzen hinein, und zum Schluß füllte er die Mündung mit dem feinkörnigen Pulver auf, das er der kleineren Flasche entnahm.

Er überreichte die Pistole Forbes, der sie oberflächlich begutachtete und nickte. Forbes schien es interessanter zu finden, seinem Freund zuzuschauen, wie dieser die zweite Pistole mit der nach oben gerichteten Mündung zwischen die Knie klemmte.

Billy sah, wie Smith nach der größeren Flasche griff. Forbes räusperte sich. Billy wandte sich ihm zu.

»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ein Mann vor dem Gefecht pissen geht?« Billy schüttelte den Kopf. »Dann würden Sie vielleicht so freundlich sein und dies hier halten, bis ich zurück bin.«

Er streckte bereits die Pistole hin; Billy mußte sie nehmen und konnte deshalb nicht sehen, daß Smith die Stellung der größeren Flasche veränderte. Beinahe das ganze grobkörnige Pulver fiel ins rauhe Gras.

Das Ganze war gut geplant und in Sekundenschnelle durchgeführt worden. Forbes hatte Billy genau im richtigen Augenblick abgelenkt; der Kunstgriff war nicht aufgefallen. Man konnte nur Smith im wogenden Gras kauern sehen – die Pistole wurde fast ganz von seinen Knien verdeckt.

Smith legte die zweite Kugel in die Mündung, füllte diese mit dem feinkörnigen Pulver auf und sagte: »Hier.« Er stand auf und hielt Billy die schwere Pistole hin, die nun zu wenig grobkörniges Pulver enthielt, um die Kugel mit der üblichen Geschwindigkeit anzutreiben. Diese Waffe würde niemanden mehr töten können.

Billy bemerkte einige Pulverkörner an der Stelle, wo Smith niedergekauert war. Er fragte sich kurz, ob er einen Austausch der Pistolen verlangen sollte, verdrängte seinen Argwohn jedoch gleich wieder. Nicht einmal ein eifersüchtiger Verehrer würde sich dazu hinreißen lassen, Waffen zu manipulieren, die in einer Ehrensache verwendet wurden.

Forbes kam zurück. Billy reichte ihm die erste Pistole. Smith gab Billy die zweite. »Danke«, sagte Billy, als er sie in Empfang nahm.

Smith räusperte sich: »Gentlemen, sollen wir beginnen?«

65

»Ist Billy Hazard hier?« fragte Madeline. Seit ihrer Ankunft in Mont Royal waren etwa fünf Minuten verstrichen. Charles hatte sie in die Bibliothek geführt und nach Orry rufen lassen, der nun betroffen an der verschlossenen Tür lehnte.

»Er ist fortgegangen«, antwortete Charles. »Zusammen mit Brett. Sie werden im kleinen Waldbahnhof einen Zug nach Norden nehmen. Vor zwei Stunden haben sie geheiratet.«

»Geheiratet«, wiederholte Madeline verwirrt. »Das muß irgendwie damit zu tun haben.«

»Womit?« fragte Orry.

Sein Tonfall war schärfer als gewollt, aber die Gefühle übermannten ihn; einerseits Freude über ihren unerwarteten Besuch, andererseits herzzerreißender Kummer, wenn er ihr trauriges und apathisches Gesicht betrachtete. Sie hatte noch mehr abgenommen; aber es war noch etwas viel Schlimmeres mit ihr geschehen, obwohl er nicht sagen konnte, was.

»Forbes«, murmelte sie. »Forbes und sein Freund Preston Smith. Sie haben Resolute kurz vor mir verlassen. Ich habe gehört, wie sie Justin sagten, daß sie – daß sie Billy umbringen würden. Jemand von hier muß ihnen mitgeteilt haben, daß er und Brett abreisen würden.«

Charles kaute an der kalten Zigarre. »Kann es der Bursche gewesen sein, den Sie draußen gesehen haben?«

»Ich weiß nicht.« Ihre Augen waren merkwürdig glasig geworden. »Ja, er muß es gewesen sein.«

»Von welchem Burschen redest du?« wollte Orry wissen.

Charles’ Gesichtsausdruck war frostig und bedrohlich geworden. »Rex, der Bursche von Ashton. Ich geh’ ihn suchen.«

Er ging zur Tür. Orry schritt an ihm vorbei auf Madeline zu. »Sind Sie sicher, daß die zwei gesagt haben, sie wollten Billy etwas antun?« fragte Charles und wartete bei der Tür auf ihre Antwort.

»Das Wort, das ich gehört habe, war ›umbringen‹.« Sie wollte die Tränen zurückhalten, was ihr aber nicht gelang. »Umbringen.«

Orrys Gesicht war wutverzerrt. »Bei Gott, ich werde mit Justin reden – «

»Dazu reicht die Zeit nicht«, schrie Madeline. »Und Justin ist nicht mehr wichtig. Ich habe ihn verlassen!«

Orry starrte sie verständnislos an.

»Verlassen«, wiederholte sie. »Ich geh’ nie mehr zurück nach…« Bevor sie den Satz beenden konnte, kippte sie ohnmächtig um.

Sie fiel gegen Orrys Brust, der durch den Aufprall rückwärts stolperte, sie jedoch auffangen konnte. »Geh und hol Hilfe«, schrie er Charles zu.

Charles nickte und verließ mit grimmigem Gesichtsausdruck die Bibliothek.

»Ashton, wo ist dein Bursche?«

Seine Cousine schaute vom silbernen Teeservice auf. Sie hatte im Salon eben Tee für sich und Clarissa einschenken wollen.

»Meinst du Rex?«

»Ja. Wo ist er?«

Sein eisiger Blick fegte ihr Lächeln weg. »Irgendwo draußen, nehme ich an. Wieso bist du so eingeschnappt?«

Verzweifelt versuchte sie, sich zu verstellen; sie hatte den Wagen kommen hören, als sie und ihre Mutter sich gerade setzen wollten, und hatte durchs Fenster gesehen, wie Madeline – schmutzig und häßlich wie eine Hexe – ins Haus geführt wurde. Aber Ashton hatte sich nicht getraut, den Salon zu verlassen – aus Angst, daß irgend etwas schiefgegangen war.

Charles beantwortete ihre Frage nicht. Als er hinausraste, zitterte der Boden unter seinem schweren Stiefelschritt.

Mit einem freundlichen, wißbegierigen Lächeln sagte Clarissa: »Ich kenne diesen jungen Mann nicht. Ist er ein Besucher?«

»Er ist dein Neffe, Mama!«

Ashtons Tonfall war so heftig gewesen, daß Clarissa Tränen in die Augen schossen. Ashton trocknete ihr die Wangen mit kurzen, heftigen Bewegungen. »Tut mir leid, daß ich aufgefahren bin, aber ich habe ganz plötzlich fürchterliche Kopfschmerzen – «

»Vielleicht hilft der Tee ein wenig.«

»Ja. Vielleicht.«

Ihre Hände zitterten, als sie den Tee einschenken wollte. Sie goß ihn prompt neben die Tasse und hätte beinahe den Krug fallen gelassen. »Verdammt noch mal!«

Clarissa atmete geräuschvoll, als sie die profane Bemerkung hörte. Ashton knallte den Krug auf das Tablett, stand auf und schritt nervös auf und ab. Charles mußte irgend etwas wissen; soviel stand fest. Doch wenn sie zu neugierig wäre, könnte sie sich selbst verraten. Aber konnte sie es wagen, ihn mit Rex allein zu lassen? Der Junge wartete ja nur darauf, ihr eins auszuwischen.

Etwa eine Minute lang war sie vor Unentschlossenheit wie gelähmt. Dann rauschte sie ohne Erklärung aus dem Zimmer. Clarissa faltete eine Serviette zusammen und wischte den Tee weg, den die junge Frau verschüttet hatte. Wie nervös dieses Mädchen doch war! Clarissa versuchte vergeblich, sich an ihren Namen zu erinnern.

Auf der Veranda vor der Küche neigte sich Charles über Rex, die eine Hand dicht neben dem Ohr des Jungen gegen eine graue Wand aus Zypressenholz gepreßt. Er hatte den Burschen gefunden, als dieser eben an einem Stück gepökeltem Schweinefleisch herumkaute, und bevor er fortkriechen konnte, hatte Charles ihn mit einer Drohgebärde festgenagelt.

»Rex, ich dulde keine Lügen! Hast du verstanden?«

Verzweifelte schwarze Augen blickten auf den hinter Charles liegenden Rasen. Der Junge wußte, daß er in der Falle saß. Mit leiser Stimme antwortete er: »Ja, Sir.«

»Du bist den ganzen Weg nach Resolute und zurück gerannt, nicht wahr?«

Rex biß sich auf die Unterlippe. Charles’ Miene verfinsterte sich, und er beugte sich noch mehr vor.

»Rex – «

Rex antwortete mit schwacher Stimme: »Ja.«

»Mit wem hast du dort gesprochen?«

Erneutes Zögern. »Mist’ LaMotte.«

»Justin LaMotte?«

Rex kratzte sich den Kopf. »Mist’ Forbes. Man hat mir gesagt…«

Er hielt inne. Charles stachelte Rex an:

»Wer hat es dir gesagt? Ich will, daß du den Namen der Person sagst, die dich nach Resolute geschickt hat.« Er wußte natürlich, wer es gewesen war; nachdem er die erste Überraschung und den Ekel überwunden hatte, war das Komplott nur zu durchsichtig und glaubwürdig geworden. Er zog die Hand von der Wand zurück und berührte sanft den Arm von Rex.

»Ich verspreche dir, daß dir nichts passieren wird, wenn du mir den Namen sagst.«

Der Junge kämpfte mit sich, prüfte Charles Gesichtsausdruck und entschloß sich schließlich zu einer Antwort. Ein sonderbares Lächeln umspielte plötzlich seine Mundwinkel. Charles verlor langsam die Geduld.

»Verdammt noch mal, Bursche, wir haben keine Zeit für solche Sachen. Sag endlich – «

»Rex? Hier steckst du; ich hab’ dich überall gesucht!«

Charles stand auf, drehte sich um und sah, wie Ashton auf sie zugerannt kam.

Völlig atemlos trat sie auf die Küchenveranda. »Komm mit, du Bengel. Ich brauche dich, und zwar sofort.«

»Zuerst muß er mir eine Antwort geben«, sagte Charles.

»Aber Charles«, sie setzte einen niedlichen Schmollmund auf, doch er hatte das Gefühl, daß Angst dahinter steckte, »ich muß mich für die Heimreise bereit machen.«

»Du kannst nicht fortgehen, bis Homer mit der Kutsche zurückkommt.« Voller Ironie fügte er hinzu: »Und wenn wir Madelines Bericht Glauben schenken können, wird das noch eine geraume Weile dauern.«

»Madeline LaMotte? Willst du damit sagen, daß sie hier ist?«

»Du hast uns ja beobachtet, als ich sie über die Veranda geleitete. Ich hab’ dich gesehen, als du dich hinter dem Vorhang verstecken wolltest.«

Ashton wurde puterrot und stotterte – eine Reaktion, die man von ihr nicht gewohnt war. Charles benützte die Gelegenheit und wandte sich wieder dem Jungen zu.

»Ich warte auf deine Antwort, Rex. Wer hat dich mit der Nachricht, daß Billy und seine Frau verreist sind, nach Resolute geschickt?«

Ashton merkte, daß die Falle am Zuschnappen war. Es war sinnlos, sich noch weiter zu verstellen, aber sie hatte einen starken Selbsterhaltungstrieb. Sie drängte an Vetter Charles vorbei und erhob drohend die geballte Faust. »Falls du weißt, was gut für dich ist, Rex, dann hältst du den Mund – oh!«

Rex sah die Faust dicht vor seiner Nase zittern. Charles hatte den Schlag abgefangen, indem er Ashton am Handgelenk packte. Der Junge machte große Augen; Ashton wurde übel. Sie wußte, woran er dachte: an die Peitschenhiebe.

»Sie hat mich geschickt.«

Der Tonfall des Jungen war beleidigend und beißend. Charles seufzte und ließ Ashton los. Sie rieb sich das Handgelenk.

»Wovon redet er eigentlich? Ich habe nicht die leiseste – «

»Sei still«, unterbrach sie Charles. »Madeline hat Orry und mir alles erzählt, was sie in Resolute gehört hat. Es hat keinen Sinn mehr, wenn du noch weiter lügst oder diesen Jungen bedrohst.« Er packte Rex an der Schulter. »Es ist besser, wenn du dich aus dem Staub machst.«

Rex rannte davon.

Charles betrachtete die Veränderung, die sich auf Ashtons Gesicht vollzog. Sie wurde aschfahl, und ihr aufgesetztes, unehrliches Lächeln verschwand. Er traute seinen Augen kaum. Mit zorniger, aber leiser Stimme sagte er:

»Mein Gott – es ist also wahr. Du willst, daß dein Schwager verletzt oder getötet wird.«

Ihr Schweigen und ihr trotziger Blick bestätigten dies. Er verlor keine Zeit mit Beschuldigungen, sondern packte seinen Säbel und raste wie ein Verrückter zum Stall.

Ashton ging ihm einen Schritt nach und schrie der verschwindenden Gestalt hinterher: »Das nützt nichts mehr. Es ist schon zu spät. Zu spät.«

»Eins«, rief Smith mit lauter Stimme. Den Blick geradeaus gerichtet, die Pistole in der Hand, begannen die Duellanten in entgegengesetzte Richtungen zu gehen.

»Zwei.«

Der Wind spielte mit den Grashalmen und kräuselte das glitzernde Wasser im Sumpf. Schweiß rann über Billys Nacken und durchnäßte den Kragen seines feinen Hochzeitshemds.

Billy versuchte, sich zu konzentrieren, und starrte auf den tiefhängenden Ast einer Eiche, unmittelbar vor ihm. Er fühlte die Duellierpistole in seiner Hand und rief sich in Erinnerung, wie er sie hochhalten und abdrücken mußte.

»Drei.«

Brett hielt die Hände so stark zusammengeballt, daß ihre Unterarme schmerzten. Sie stand bei der Kutsche und fragte sich, wie es zu diesem schrecklichen Erlebnis hatte kommen können. Wer hatte Forbes von ihren Reiseplänen erzählt? Es konnte kein Zufall sein, daß er genau auf dieser Straße geritten war.

»Vier.«

Homer stand etwa zwei Meter rechts von Brett. Als die zwei Duellanten voneinander weggingen, sah er, wie sich der junge LaMotte und sein Sekundant verschwörerisch anblickten. Homer hatte einen grauen, faustgroßen Stein vom Boden aufgelesen und ließ ihn nervös und gedankenverloren von einer Hand in die andere gleiten. Etwas schien wirklich faul bei diesem Unterfangen.

»Fünf.«

Preston Smith stand bei seinem und Forbes’ Pferd zu Bretts Linken. Er wollte nahe bei seiner Satteltasche sein – für den Fall, daß irgend etwas schiefginge. Er blickte zu seinem rechten Stiefel hinunter und war wieder beruhigt, als er die Tasche sah, die auf der Außenseite des Stiefelschafts aufgenäht worden war. Dann wanderte sein Blick über Brett zu Homer, der schwitzend mit einem Stein jonglierte. Sie hatten von einem verängstigten Nigger nichts zu befürchten. Ein Gefühl von Genugtuung durchflutete ihn; es war so stark, daß er beinahe vergessen hätte weiterzuzählen.

»Sechs.«

Billy konnte nicht mehr klar sehen. Panik stieg hoch, es wurde ihm übel, und er hatte einen trockenen Mund. Die Gedanken jagten sich mit rasender Geschwindigkeit:

Wieso sollst du sie anschauen?

Du wirst sie wiedersehen.

Aber vielleicht doch nicht.

Wie haben sie uns gefunden?

Ein Geräusch drang in sein Bewußtsein – ein sanftes, regelmäßiges Klopfen. Er hatte nicht gewußt, daß sein Herzschlag so tönte.

»Sieben.«

Homer verstand nun den verschlagenen Blick, den sich die beiden Freunde zugeworfen hatten. Seine Nase hatte ihn also nicht getäuscht. Die zwei hatten die Ermordung des jungen Hazard geplant. Er wußte zwar nicht wie und weshalb, aber er war vollkommen sicher, daß es so war. Als er daran dachte, was bald geschehen würde, wurde ihm ganz elend, und er mußte sich, den Stein umklammernd, an das Vorderrad der Kutsche lehnen.

»Acht.«

Auch Brett legte das klopfende Geräusch für einen Augenblick falsch aus. Doch dann wurde ihr klar, daß ein Pferd auf der Straße aus der Richtung von Mont Royal herbeigaloppierte. Ein Schrei tönte durch das Geklapper der Hufe.

Auch Smith hörte es. Eines der von ihm gehaltenen Pferde scheute und wieherte, wodurch ein Teil des Schreis verschluckt wurde.

»– Billy, paß auf – «

Brett riß die Augen auf. »Das ist ja Charles!«

»Neun.«

Forbes drehte sich um; sein Selbstvertrauen schmolz dahin. Er mußte den leichenblassen, verängstigten Smith gar nicht erst anschauen, um zu wissen, daß der Reiter ihren Plan durchkreuzen würde. Billy reagierte nicht mehr auf Smiths Zählen. Er stand da und starrte erwartungsvoll auf die Straße. Wut und Verzweiflung überwältigten Forbes. Billys Hinterkopf gab eine deutliche Zielscheibe ab…

Smith hatte vergessen, zehn zu rufen. Aber das war ja auch völlig unwichtig. Forbes hob die Pistole auf Schulterhöhe und zielte.

Homer war sich bewußt, daß er bestraft würde, wenn er einen Weißen angriff, aber er konnte nicht einfach zusehen, wie jemand ermordet wurde. Er holte mit seinem rechten Arm zum Wurf aus.

Smith begriff nicht genau, was der Schwarze vorhatte, aber er faßte es als Bedrohung auf. Er schrie und raste an Brett vorbei. Im Rennen streckte er die Hand zum rechten Stiefel aus.

Der Stein segelte auf Forbes zu, als dieser dabei war, abzudrücken. Brett sah, daß er ihn um mindestens einen Meter verfehlen würde, aber er hatte seinen Zweck erfüllt, denn er durchquerte Forbes’ Blickfeld, und jener mußte den Kopf nach links werfen – auch die Hand, in der Forbes die Pistole hielt, wurde mitgerissen. Eine Explosion – eine Rauchwolke…

Der Stein fiel ins windgepeitschte Gras. Forbes sperrte den Mund auf. Billy drehte sich um und starrte seinen Gegner an.

Brett hatte sich angsterfüllt gegen die Kutsche gedrückt, als Smith an ihr vorbeigerast war. Sie richtete ihren Blick auf das Feld: Billy stand immer noch aufrecht, er schien unverletzt. Der Reiter tauchte auf. »Charles!« rief sie. Der Ruf wurde durch einen gutturalen Schrei gedämpft.

Sie wirbelte herum und preßte eine Hand auf den Mund. Smiths Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Er zog die Klinge seines Jagdmessers, das er aus dem Stiefelschaft gezerrt hatte, aus Homers Brust.

»Oh.« Homer starrte auf sein zerrissenes und blutbeflecktes Hemd. »Oh«, wiederholte er überrascht und voller Schmerzen, als er zur Seite kippte. Smith half mit seiner freien Hand nach. Homer starb im Fallen.

Mit geraumer Verspätung wurde Billy bewußt, daß eine Kugel an seinen Ohren vorbeigepfiffen war. Wenn Forbes nicht durch den Stein, den Homer geworfen hatte, abgelenkt worden wäre, so hätte ihn die Kugel mit großer Sicherheit getroffen.

Charles brachte sein schweißbedecktes Pferd zum Stehen. Er trug immer noch die Uniform. Als er vom Pferd sprang, schlug ihm sein Säbel ans Bein. Billy starrte wieder auf Forbes – Forbes, der zu früh geschossen hatte; der versucht hatte, ihn von hinten zu erschießen! Zitternd vor Zorn hob Billy die Duellierpistole, zielte und drückte ab. Aus der Mündung schoß eine Stichflamme, und man hörte einen Knall, der irgendwie zu leise tönte.

Forbes hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Billy hatte genau auf die Mitte seines Brustkastens gezielt. Wie konnte die Kugel ein solch großes, unbewegliches Ziel verfehlt haben?

Dann stach ihm ungefähr zehn Schritte vor seinen Füßen, auf einem Stück unbewachsener Erde, etwas Dunkles in die Augen. Er marschierte darauf los; ein bleifarbenes Metallstück wurde sichtbar. Die Kugel aus seiner Pistole – dort lag sie.

Er erinnerte sich wieder, wie Smith niedergekauert war, als er die Pistolen geladen hatte, und plötzlich erinnerte er sich auch an das verschüttete Pulver. Ein sorgfältig geplantes Manöver! Er stieß einen Fluch aus und warf die Pistole ins Gras.

»Forbes!«

Forbes drehte sich rasch nach Smith um, der sein Jagdmesser hochhielt und dann seinem Freund zuwarf. Forbes wartete, bis es nahe neben ihm ins Gras fiel, und packte es mit der linken Hand. Dann zerrte er aus dem rechten Stiefel ein zweites, genau gleiches Messer; nur war es nicht blutverschmiert und fünf Zentimeter länger.

Die Sonne zeichnete Silberflammen in Forbes’ Händen, als er auf Billy zuschritt. »Es tut mir leid, daß Ihr Schuß danebenging.« Forbes stieß ein irres Lachen aus. »Ich bin aber ganz sicher, daß es Ihnen noch viel mehr leid tut.«

»Mein Schuß ging nicht daneben. Die Kugel ist gar nie in Ihre Nähe gekommen. Sie liegt dort drüben auf dem unbewachsenen Fleck. In meiner Pistole war nicht genug Pulver.«

»Sie sind aber wirklich ein verflucht heller Yankee.«

Der Wind wühlte in Forbes’ Haar, das auf seiner schweißbedeckten Stirn klebenblieb. Billy trug keine Waffe bei sich. Er trat einen Schritt zurück; und dann noch einen. Forbes bewegte sich seitwärts wie eine Krabbe auf ihn zu.

»Sie hätten sich nicht an Brett heranmachen sollen. Und Sie hätten auch nie einen Fuß nach South Carolina setzen sollen. Jetzt wird man Sie dafür in einem Sack nach Hause schicken, und ich bin vollkommen sicher, Ihre Verwandten werden keine Lust haben, ihn zu öffnen, um Sie anzuschauen.«

Mit dem rechten Messer zeichnete er einen kleinen Kreis in die Luft und führte dann die gleiche Bewegung mit dem linken aus. »Auf jeden Fall nicht, nachdem ich Ihr Gesicht verschönert hab’!«

Billy trat wieder einen Schritt zurück. Er wollte zum nächsten Baum rasen und versuchen, einen Ast abzureißen, bevor eines dieser Messer…

»Billy!«

Als er den Ruf hörte, drehte er sich ruckartig zur Kutsche um. Smith war verschwunden. Charles stand nun neben Brett; sein Hemdkragen war lose, die hellblaue Hose schmutzig: mit wutverzerrtem Gesicht schleuderte er den Säbel aufs Feld.

Billy machte einen Schritt nach rechts, um dem Säbel möglichst nahezukommen. Gerade als der Säbel ins Gras fiel, tauchte Smith wieder hinter der Kutsche auf und rannte auf sein Pferd zu. Der Säbel landete einige Schritte von Billy entfernt, und Billy stürzte sich sofort auf die Waffe und riß sie an sich.

Smith hatte sein Pferd erreicht und zerrte eine Derringer mit vier Läufen aus der Satteltasche. Charles sah ihn, fluchte und stürzte sich auf ihn. Smith rannte einige Schritte auf das Feld hinaus, zielte auf Billy und schoß alle Läufe leer. Nach der letzten dröhnenden Explosion fühlte Billy, daß er getroffen war. Er stieß einen Schmerzensschrei aus und taumelte.

Charles packte Smith von hinten, wirbelte ihn herum, riß ihm die leergeschossene Derringer aus der Hand und hämmerte in wilder Wut rechts und links auf ihn ein – ungezielte, aber harte Schläge. Smith stöhnte; schon flossen rote Bäche aus seiner Nase.

Billy war umgefallen. Sein linker Ärmel oberhalb des Ellbogens färbte sich rot. Er lag auf dem Bauch und versuchte, sich mit beiden Armen hochzustemmen. Stechende Schmerzen durchfuhren seinen linken Arm. Seine Hand versagte ihren Dienst.

Silbernes Licht funkelte ein paar Schritte neben ihm im Gras. Er tastete nach dem Säbelgriff und hätte die Waffe beinahe fallen gelassen, als er sich mühsam aufrappelte. Ein langer Schatten fiel über das Gras. Billy wich zur Seite. Forbes’ Messer verfehlte ihn nur ganz knapp.

Der Schmerz schwächte ihn und benebelte seinen Kopf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen und den Angriffen so gut wie möglich auszuweichen. Forbes’ schweißnasses Gesicht grinste bedrohlich; in seinen Augen glimmte Mordlust.

Billy verteidigte sich auf instinktive Art. All die eleganten, schön geplanten Abwehrbewegungen, die er in West Point gelernt hatte, tauchten in einem Nebel von Schrecken und brennendem Schmerz unter. Forbes stach mit dem Messer der linken Hand zu. Billy parierte mit dem Säbel und wollte Forbes wegstoßen, aber er war zu schwach.

Forbes gluckste kehlig. »Nun hab’ ich dich – Yankee.« Er vollführte mit beiden Messern gleichzeitig schnelle Bewegungen in der Luft, um Billy zu verwirren, während er sich unaufhaltsam an Billy heranschob.

Wieder zog sich Billy zurück, um einen Ausfall vorzubereiten, war jedoch wegen des Blutverlusts zu schwach dazu. Er fühlte das warme Blut unter seinem Hemd bis zum Handgelenk; es tropfte nun von der Manschette.

Brett rief von irgendwoher, aber er wagte nicht, sich umzudrehen. Er stolperte über kräftige, freiliegende Wurzeln und stieß plötzlich mit dem Rücken gegen einen riesigen Baumstamm. Genüßlich fixierte Forbes seinen Gegner. Mit dem größeren Jagdmesser zielte er auf Billys Gesicht.

Billy tauchte blitzschnell nach rechts, die Klinge zitterte im Baumstamm. Forbes versuchte gar nicht erst, das Messer wieder freizubekommen, sondern stieß mit dem zweiten zu. Billy wich auf die andere Seite aus. Das Messer grub sich haarscharf an seinen Rippen vorbei in die dicke Baumrinde.

Mit einem verzweifelten Blick in den Augen streckte Forbes jetzt beide Hände aus, um die Messer aus dem Baum herauszureißen. Billy wußte, daß dies seine letzte Chance war. Er zog ein Knie an und rammte es Forbes in den Unterleib. Forbes schnappte nach Luft und torkelte zwei Schritte zurück. Billy hatte nun ein wenig Bewegungsfreiheit. Er bohrte Forbes den Säbel in die Brust. Forbes kippte vornüber. Beim Aufprall auf die Erde bohrte sich der Säbel bis zum Knauf in Forbes’ Brust und ragte plötzlich aus seinem Rücken.

Zitternd drehte sich Billy um. Der Schmerz in seinem Arm war nicht halb so schlimm wie die aufsteigende Übelkeit. An den Baumstrunk gelehnt, übergab er sich.

Brett stieß erleichtert einen leisen Schrei aus und eilte zu ihrem Gatten. Charles rief: »Bring ihn hierher, ich will mir seine Wunde ansehen.« Dann wandte er sich erneut Smith zu. Er packte Forbes’ Kumpan am Hemdkragen und drückte ihn gegen die Kutsche. Smith hielt die Hände auf den Unterleib gepreßt; Tränen rollten über seine Wangen. Charles schüttelte ihn.

»Laß endlich dein Gejammer und hör gut zu! Ich hab’ mir einmal deinen Verwandten Whitney vorgeknöpft, und eigentlich möchte ich mit dir das gleiche tun. Aber ich finde, wir haben schon genug Blut vergossen. Mach dich also aus dem Staub, bevor ich es mir anders überlege!«

Winselnd stolperte Smith auf sein Pferd los.

»Du gehst zu Fuß«, sagte Charles scharf. »Die Tiere bleiben hier.«

Ohne einmal zurückzublicken, wandte sich Smith zur Straße. Plötzlich wurde Charles von einem Wutanfall übermannt; er hob einen Stein auf und warf ihn der davonhumpelnden Gestalt nach. Smith heulte auf, rieb sich den Nacken und rannte los, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

Charles’ Lächeln erlosch, als er zuerst Ashtons toten Sklaven bemerkte und dann seinen Blick zu dem Ort wandern ließ, wo Forbes’ durchbohrter Körper im hohen Gras lag – die Spitze des Säbels leuchtete im Sonnenlicht. Fliegenschwärme summten bereits um den Toten herum.

Billy hatte inzwischen die Kutsche erreicht. Mit dem rechten Arm hielt er Brett umschlungen, der linke hing schlaff und blutverschmiert herab. »Das Duell war vorausgeplant«, keuchte er und beschrieb dann in ein paar wenigen Sätzen den Trick mit der Pistole und wie er ihn bemerkt hatte.

»Die Schweine«, knurrte Charles. Er zerriß Billys Ärmel und untersuchte die Wunde. »Sieht so aus, als wäre es nur eine Fleischwunde. Das Schlimmste ist der Blutverlust. Brett, zerreiß deinen Unterrock und gib mir ein paar lange Streifen. Ich werde die Wunde abbinden.«

Brett drehte sich um und hob den Rock. Charles warf den Kopf in den Nacken, um zu sehen, wie hoch die Sonne stand. »Wir müssen uns sputen, wenn wir den Zug noch erreichen wollen. Glaubst du, du schaffst es?«

»Ja, zum Teufel«, sagte Billy. »Ich will diesen schrecklichen Ort so schnell wie möglich verlassen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, murmelte Charles.

»Ich habe nie gewußt, wie verrückt und bösartig Forbes eigentlich war«, sagte Brett über die Schulter, während sie den Stoff in Streifen riß. »Wie hast du uns bloß rechtzeitig finden können?«

»Madeline LaMotte hat ein Gespräch zwischen Forbes und Preston in Resolute mitangehört. Sie redeten über euch. Als sie gegangen waren, fuhr sie nach Mont Royal, um uns zu warnen. Ich sattelte gleich mein Pferd und ritt euch hinterher.«

»Aber – wie konnte Forbes wissen, daß wir gerade jetzt fortgehen würden? Oder daß wir diesen Zug nehmen würden?«

Charles nahm die Stoffstreifen aus Bretts Hand entgegen und machte sich daran, sie um Billys Oberarm zu wickeln. Billy preßte die Zähne zusammen. Er hatte bereits wieder etwas Farbe im Gesicht.

»Ist mir nicht ganz klar«, entgegnete Charles ausweichend und konzentrierte sich voll auf seine Aufgabe, um Brett nicht in die Augen sehen zu müssen. »Ich werde einige Fragen stellen, wenn ich Homers Leiche zur Plantage zurücktransportiere. Ihr beide setzt euch mal in die Kutsche und haltet euch ja schön aneinander fest. Ich werde nämlich den Rest der Strecke in einem Höllentempo hinter mich bringen.«

Charles hielt Wort und raste tollkühn der kleinen Bahnstation im Wald entgegen. Als die Kutsche quietschend anhielt, war bereits das Pfeifen der Lokomotive im Süden zu hören. Charles flitzte über die Schienen zum Unterstand aus Zypressenholz, riß den Deckel von der Kiste und hißte die Flagge.

Billy versuchte sich über das Schnauben und Gebimmel der Lokomotive hin verständlich zu machen. »Ich weiß nicht, wie ich – «

»Mach dir keine Gedanken. Die reinste Pflichtübung. Akademieabsolventen kümmern sich schließlich umeinander.«

»Aber du bist doch ausgetreten.«

»Das heißt noch lange nicht, daß West Point auch aus mir ausgetreten ist.« Charles stellte überrascht und leicht verlegen fest, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Wahrscheinlich hatte die ganze Aufregung an diesem Nachmittag ihren Teil zu dieser Gemütsverfassung beigetragen.

Er versuchte, seine Gefühle so gut wie möglich zu verbergen, und rannte zur Kutsche, um das Gepäck abzuladen. Der Zug fuhr langsam ein; nach den Güter- und Postwagen folgten die Personenwagen. Die Gleichgültigkeit auf den Gesichtern hinter den staubigen Fenstern verschwand sofort, als sie des schmutzbedeckten Trios ansichtig wurden – des Offiziers, des Mädchens und des jungen Mannes mit dem Mantel über der Schulter und dem leicht blutigen, bandagierten Arm.

Brett warf Charles die Arme um den Hals. »O Vetter – ich danke dir. Erklär bitte alles zu Hause.«

»Das werde ich. Steig ein«, fügte er mit einem Blick auf den ungeduldigen Zugführer hinzu.

Billy folgte ihr. Er stand auf der zweituntersten Stufe und blickte seinen Freund an. Ein fester Handschlag.

»Hab’ keine Ahnung, wann wir uns wiedersehen werden, Bison.«

Charles war plötzlich betroffen. »Nein, ich auch nicht.«

»Paß auf dich auf!«

»Du auch. Ich wünsche dir und deiner Frau eine sichere Reise.«

»Danke. Wir werden uns wiedersehen.«

»Ich weiß.«

Charles hegte Zweifel. Bei all den Unruhen im Land würden sie sich höchstens auf einem Schlachtfeld wieder treffen. In zwei verschiedenen Lagern.

Verdammt, laß diese Gedanken und verdirb nicht alles. Der Tag ist so schon hart genug gewesen. Es gelang ihm, sein altes, kühnes Lächeln wieder aufzusetzen; er hob die Hand und winkte, als der Zug langsam davonratterte.

Einige Reisende standen auf der Plattform des letzten Eisenbahnwagens, und als er vorbeifuhr, hörte Charles eine Zote. Etwas flog an seinem Gesicht vorbei. Er blickte an sich hinunter und bemerkte, daß jemand auf seine Uniform gespien hatte.

»Scheiße«, sagte er.

Doch der Ärger verflog bald. Sein Lächeln kehrte wieder, und aus dem Schatten neben dem Gleis rief er spöttisch demjenigen – wer es auch immer gewesen sein mochte –, der auf seine Uniform gespuckt hatte, nach:

»Das haben Sie wie ein echter Südstaatler gemacht!«

Er rieb sich die Augen und schritt den Schienen entlang auf die Kutsche zu. Der Zug verschwand in einem natürlichen Waldtunnel. Charles konnte noch die letzten Vibrationen auf dem Gleis spüren.

Am liebsten hätte er sich jetzt sinnlos betrinken wollen. Aber erst mußte er noch etwas auf dem Feld und dann in Mont Royal erledigen.

66

I know moon-rise

I know star-rise

Lay this body down

Durch die geöffneten Fenster konnte man in der dunklen Bibliothek den Text der alten Gullah-Hymne gut verstehen. Die Sklaven sangen für Homer, den Charles in der Kutsche zurückgebracht hatte. Forbes hatte er den Kormoranen überlassen. Mitgefühl hatte schließlich seine Grenzen.

»So ungefähr ist das ganze über die Bühne gegangen, stelle ich mir vor«, sagte Charles. »Sie wollten Billy umbringen.«

Er steckte die Zigarre wieder zwischen die Zähne und streckte seine langen Beine vor dem Stuhl aus. Orry lehnte lässig an der Wand; sein Schatten fiel auf die alte Uniform. »Wenn du noch das, was Madeline uns erzählt hat, zu deinem Bericht hinzunimmst, ist die Geschichte klar. Gott im Himmel, Charles, ich hatte keine Ahnung, daß sie ihn so sehr haßten.«

»Brett sagte fast dasselbe vor ihrer Abreise. Ich nehme an, daß ein gutes Stück Eifersucht mit im Spiel gewesen ist. Wie geht es Madeline?«

»Ich hab’ vor einer Stunde mit ihr geredet. Ich nehme an, daß sie wieder schläft.«

»Wahrscheinlich sucht LaMotte sie jetzt.«

Orry nickte. »Darum muß ich mich heute abend auch noch kümmern, aber eins nach dem andern.« Er klang sehr entschlossen. »Hast du Ashton schon gesehen, seit du wieder zurück bist?«

»Ja, gerade als ich ankam. Sie wollte sich um Homer kümmern, aber ich hab’ nein gesagt, und dann ist sie verschwunden.«

Orry schlenderte in die von Kerzen beleuchtete Vorhalle. Cuffey, der auf einem Stuhl gedöst hatte, sprang eilfertig auf. »Such Mrs. Huntoon und ihren Mann«, sagte Orry. »Sag ihnen, ich erwarte sie in der Bibliothek. Und zwar sofort.«

Cuffey hastete davon. Charles wandte sich um, so daß er seinen Vetter sehen konnte. Im Kerzenschimmer bemerkte er Orrys starren Gesichtsausdruck.

»Hilf mir bitte, einige Kerzen anzuzünden, Charles. Ich möchte ihre erbärmlichen Gesichter sehen, wenn ich mit ihnen rede.«

Ashton war ziemlich aufgeregt, als sie das Zimmer betrat. Ihre Wangen glühten. Sie ging sofort zum Angriff über. »Ich hasse es, wie ein Sklave herumkommandiert zu werden. Wenn du glaubst, daß ich auf Anschuldigungen von Niggern und Unruhestiftern«, hier lachte Charles, »eingehe, so irrst du dich gewaltig.«

Orrys Feindseligkeit kam in seiner eiskalten, aber ruhigen Stimme zum Ausdruck. »Niemand möchte dich anklagen. Das ist gar nicht nötig. Die Tatsachen sprechen für sich selbst.«

Huntoon, der sich bis jetzt im Schatten seiner Frau gehalten hatte, stellte sich nun links neben sie. Die Kerzenflammen spiegelten sich in seinen Brillengläsern. »Aber meine – «

»Spare dir deine Rhetorik für Montgomery«, unterbrach ihn Orry. »Ich habe ein paar Dinge zu sagen, und ich möchte das so rasch wie nur möglich tun. Als erstes über deinen Sklaven Homer: Hat er – hatte er eine Familie?«

Ashton antwortete: »James hat Homer von einem Herrn aus Savannah mitgebracht. Ich glaube, er hatte dort Frau und Kinder.«

»Von denen ihr ihn, ohne Euch auch nur einen Gedanken zu machen, getrennt habt. Allmächtiger, kein Wunder hassen uns die Yankees.«

Erneut attackierte sie mit einer Mischung aus Drohung und Arroganz. »Orry, was ist denn mit dir los? Ich weigere mich, so von dir behandelt zu werden.«

Huntoon schien nicht weniger beleidigt als seine Frau. »Sie spricht für uns beide. Wir gehen.«

Orry nickte. »In der Tat.«

»Wir werden Homers Leiche mit nach Charleston nehmen.«

»Nein. Sie bleibt hier bei unsern Leuten. Ich werde versuchen, seine Familie ausfindig zu machen.«

Huntoon nahm die Brille ab und trat mit geschwellter Brust vor seine Frau hin. »Ich bestehe darauf, daß wir sie mitnehmen. Der Nigger mag zwar tot sein, aber er gehört immer noch mir.«

Orry blickte ihn ungerührt an. »Er bleibt hier. Ihr seid nicht würdig, ihn zu berühren.«

Huntoon neigte den Kopf und stürzte sich auf seinen Schwager. Er versuchte Orrys Unterkiefer mit der rechten Faust zu treffen. Orry trat zurück und schlug Huntoons Unterarm beiseite, als ob er ein Insekt verscheuchen würde.

Huntoon stolperte, schnaufte und kippte zur Seite; er landete auf beiden Händen und auf einem Knie. Die Brille, die er immer noch in der Hand hielt, klirrte auf dem Fußboden. Als Huntoon wieder aufstand, fielen Glasstücke zu Boden. Er war leichenblaß.

Orry ignorierte ihn und wandte sich Ashton zu. »Heute hast du dich selbst von dieser Familie abgeschnitten. Von Brett, Charles – von uns allen. Wenn du und James die Plantage einmal verlassen habt, so laßt euch nie mehr hier blicken.«

»Den Wunsch erfüll’ ich dir gern!« schrie sie.

Huntoon erhob Protest. »Ashton, er hat kein Recht – «

»Halt den Mund und komm!« Sie gab ihm einen Stoß und rauschte zur Tür, wobei sie sich heftig Mühe gab, die Fassung nicht zu verlieren. Bei der Tür blickte sie zurück. Orry erkannte seine Schwester beinahe nicht mehr, so entstellend und tief war ihr der Haß ins Gesicht geschrieben.

»Vergiß eins nicht«, flüsterte sie. »James wird demnächst eine wichtige Stelle bei der neuen Regierung bekommen. Und die Regierung wird Leute, die unloyale Äußerungen machen, scharf im Auge behalten. Die Regierung wird die Verräter bestrafen.«

Sie stolzierte in die Vorhalle hinaus. Huntoon folgte ihr wie ein treues Hündchen. Ein letztes Stückchen Glas fiel von seiner kaputten Brille klirrend zu Boden.

»Mein Gott«, sagte Orry traurig und angewidert. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist.«

Charles zündete sich auf seiner Schuhsohle ein Streichholz an und hielt es an seine Zigarre. »Ich schon. Das gleiche, was mit vielen Menschen los ist, denen ich seit meiner Rückkehr begegnet bin. Sobald sie Macht riechen, fliegt der letzte Rest ihres gesunden Menschenverstands zum Fenster hinaus.«

Kopfschüttelnd setzte sich Orry an seinen Schreibtisch und entnahm einer Schublade einen Briefbogen. »Würdest du bitte Cuffey sagen, daß er hereinkommen soll? Ich sollte eine Mitteilung nach Resolute schicken.«

»Einverstanden. Ich möchte gern einige unsrer Leute als Wachen postieren. Wenn Francis LaMotte erfährt, was Billy mit seinem Sohn angestellt hat, könnte es sein, daß wir Besuch bekommen. Hast du etwas dagegen, wenn einige der Nigger für ein paar Tage mit Musketen herumlaufen?«

»Nein.«

»Dann werde ich mich darum kümmern.« Eine Rauchfahne wehte hinter ihm her, als er den Raum verließ.

Orry starrte das leere Papier an. Noch vor einem Jahr wäre es undenkbar für ihn gewesen, daß es zwischen ihm und seiner Schwester zu einem endgültigen Bruch kommen könnte. Was sich eben ereignet hatte, war nur ein weiterer Beweis dafür, wie weit die Familie bereits auf der dunklen Straße der Zwietracht gereist war.

Ehrlicherweise mußte er vor sich selbst zugeben, daß er Ashton nie besonders gemocht hatte. Es wurde ihm ebenfalls klar, daß sie eine gewisse skrupellose Härte besaß, wie sie eigentlich eher ein Mann hatte, und er würde ihre Drohungen deshalb nicht auf die leichte Schulter nehmen. Er mochte nicht einmal darüber nachdenken, welch abwegige Pläne sie und ihr Mann in Montgomery aushecken würden.

Es dauerte nicht lange, bis sein Gedankengang Wut in ihm wachrief, Wut auf die Huntoons, die LaMottes und all die Hitzköpfe, die den Süden in Unruhen und in eine Krise gestürzt hatten. Etwas von der Wut floß in schnellen Federzügen auf das Papier.

In fünf Minuten war er fertig. Er schickte Cuffey mit dem Brief, einem Esel und einem Passierschein los. Der Sklave machte sich in dem leichten Nieselregen, der eben eingesetzt hatte, auf den Weg. Orry sah ihm nach, bis das Licht, das Cuffey trug, in der feuchten Dunkelheit verschwand, und kehrte wieder ins Haus zurück.

Er hielt den Atem an: Im Schein der flackernden Kerzen stand Madeline oben an der Treppe und starrte auf ihn hinunter.

Justin hielt sich mit beiden Armen am Stuhl fest, als er seinen linken Fuß in den Stiefel hineinschob. Der Sklave, der ihm beim Stiefelanziehen half, war offensichtlich nervös. Der Herr von Resolute hatte den ganzen Abend lang getrunken, getobt und in Erwartung seines Bruders das ganze Haus auf Trab gehalten.

Justin hatte einen Verband auf dem Kopf, der bis über die Ohren reichte und unter dem Kinn zusammengebunden war. Er sollte die Nähte von Dr. Sapp verbergen. Der Whiskey dämpfte den Schmerz etwas, und zudem hatte Dr. Sapp Justin versichert, daß es in ein oder zwei Tagen vorbei sei. Aber er würde für den Rest seines Lebens eine Narbe behalten.

Er hörte Pferde auf dem Torweg. Mit verbissenem Gesicht gab er sich einen Ruck und kam mit dem Fuß in den Stiefel hinein, aber der Sklave verlor dabei das Gleichgewicht und landete auf dem Gesäß. Ohne ein Wort der Entschuldigung stapfte Justin in die Vorhalle hinaus.

Der Schein der Föhrenholzfackeln, die die Reiter in den Händen hielten, fiel durch das Oberlicht in die Halle. Als die Tür aufflog, fingen die Fackeln zu rauchen an. Francis stolzierte herein. Justin bemerkte, daß es mittlerweile stärker zu regnen angefangen hatte.

»Es dauerte eine Weile, bis ich drei Nigger finden konnte, denen man eine Muskete anvertrauen kann, aber da sind wir.«

»Schön«, sagte Justin. »Wir werden diese Hure noch vor Tagesanbruch wieder hier haben.«

Francis tupfte sich das feuchte Gesicht mit einem Taschentuch. »Ich hab’ immer gedacht, daß sie dir nicht sonderlich viel bedeutet.«

»Tut sie auch nicht! Aber es geht um meine Ehre. Um meinen Ruf – was zum Teufel ist denn das?«

Beide rannten nach draußen, als Cuffeys Esel gerade auf den Eingang zuritt. Der Sklave trug seinen Passierschein an einer Schnur um den Hals; durch den Regen floß die Tinte wie ein kleiner Wasserfall über das Papier. Cuffey stieg von seinem Esel herunter und zog respektvoll seinen Hut. Dann zog er einen gefalteten und versiegelten Briefbogen hervor.

»Das ist für Sie, Mist’ LaMotte.«

Justin schnappte es ihm richtig aus der Hand. Cuffey vermutete, daß der Brief nicht eitel Freude erregen würde, und deshalb schwang er sich hastig wieder auf seinen Esel und ritt davon.

»Der Hurensohn«, flüsterte Justin. Er war unfähig, mehr als die ersten beiden Zeilen zu lesen. Sein Gesicht hatte sich violett verfärbt. »Der gemeine, hochnäsige Hurensohn.«

Er bemerkte, wie die Neger, die Francis zusammengetrommelt hatte, ihn verwirrt beobachteten, und trat dann ins Haus zurück, um seine Betroffenheit zu verbergen. Sein Bruder folgte ihm. Er nahm Justin den Brief unsanft aus den Händen und begab sich damit zu einer Lampe, die nun dort an der Wand befestigt war, wo vor kurzem noch ein Säbel gehangen hatte. Francis las die kurze Mitteilung durch und schüttelte dann den Kopf. »Weshalb sollte Main deiner Frau Asyl gewähren?«

»Bist du ein Vollidiot, Francis? Der Schuft haßt mich doch! Er hat mich schon immer gehaßt. Er würde nichts lieber sehen, als daß ich vor der ganzen Nachbarschaft gedemütigt würde.«

»Er sagt, daß er dich erschießt, wenn du auch nur einen Fuß auf sein Grundstück setzt.« Francis faltete die Mitteilung wieder zusammen. »Glaubst du das?«

»Nein.«

»Aber ich.« Ängstlich fuhr Francis fort: »Laß sie gehen. Keine Frau ist dein Leben wert. Frauen sind wie auswechselbare Teile einer Maschine. Eine jede kann dir denselben Dienst erfüllen.«

Die rohe Scheinweisheit fand großen Anklang. Es stimmte zwar, daß Justin sich an Madeline rächen wollte, weil sie ihn geschlagen hatte, und an Orry, weil er ihn beleidigt hatte, aber er hatte nicht die geringste Lust, im ganzen Land herumzutrotten und seinen Verlust an die große Glocke zu hängen. Und – was weitaus wichtiger war – er war wirklich nicht darauf erpicht, einen Blick in eine Revolvermündung mit Orry dahinter zu werfen.

Mit Erleichterung stellte Francis fest, daß er seinen Bruder wahrscheinlich dazu würde überreden können, von seinem Racheakt abzulassen. Er lachte und klopfte Justin auf die Schulter.

»Schau mal, wenn dir soviel daran liegt, dich an ihr zu rächen…«

»Ich möchte mich an beiden rächen.«

»Na schön, an beiden. Ich werde Forbes bitten, sich etwas auszudenken. Ich nehme an, er ist doch hier?«

»Nein.«

»Ist er nicht zurückgekommen?«

»Noch nicht.«

»Das ist merkwürdig.«

»Oh, ich vermute, daß er und Preston beim Feiern sind.«

Francis war mit der Erklärung zufrieden. »Ich hätte auch nichts gegen einen kleinen Schluck.«

Justin schenkte gerade zwei Glas Whiskey ein, als die im Regen wartenden Sklaven Lärm schlugen. Die beiden Brüder rannten hinaus und sahen Preston Smith ankommen. Er war über und über mit Dreck bedeckt und blickte wild umher. Er stolperte auf Francis zu.

»Ich bin den ganzen Weg gerannt. Man sagte mir, daß Sie hier seien.«

»Preston, was ist los?«

»Der Yankeesoldat hat Forbes getötet.«

Der ohnehin kleine Francis LaMotte schien noch mehr zusammenzuschrumpfen. Preston schmückte die Geschichte noch etwas aus, wagte jedoch nicht, sie allzusehr zu verzerren. Es war offenkundig, daß Forbes und Preston ihren Racheplan verpfuscht hatten, und daß Forbes bekommen hatte, was ihm zustand.

Merkwürdigerweise verspürte Francis kaum Wut. Er fühlte sich alt, müde und geschlagen. Vielleicht würde er später einmal den Kopf von Charles Main haben wollen, aber im Augenblick spürte er bloß müde Trauer.

»Francis?« Justin berührte ihn am Ärmel. »Ich werde mit dir nach Mont Royal gehen.« Er haßte nur schon den Gedanken daran.

Geknickt und gebeugt schüttelte Francis den Kopf. »Ich muß nach Hause. Ich muß es seiner Mutter sagen.«

Er stieg auf sein Pferd und ritt langsam im Regen davon. Die Sklaven folgten ihm im Gänsemarsch.

»Ist es gut, wenn du auf bist?« fragte Orry von der Halle her.

»Ich fühle mich gut«, sagte Madeline. »Besser, als ich mich seit langer langer Zeit gefühlt habe.«

Er glaubte ihr. Obwohl sie außerordentlich blaß war, wirkten ihre Augen wesentlich klarer als vorhin, als er sich mit ihr unterhalten hatte. Er wartete unten an der Treppe auf sie; sie kam herunter und zupfte verlegen an ihrem losen Haar herum.

»Ich muß fürchterlich aussehen.«

»Du siehst herrlich aus.«

»Mein Kleid ist ruiniert.«

»Madeline, das macht doch nichts. Wichtig ist allein, daß du hier bist.«

Er sehnte sich danach, den Arm um sie zu legen, sie an sich zu drücken und zu küssen. Die Sehnsucht schmerzte. Bilder von ihren Treffen bei der Salvation Chapel stiegen vor ihm auf. Er erinnerte sich an den Kampf, den es ihn gekostet hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten oder zu leugnen. Plötzlich stand er wieder mitten in diesem Kampf.

»Ich würde gern nach draußen gehen«, sagte sie.

»Es regnet.«

»Ja, ich habe es gehört, als ich aufgewacht bin. Aber die Luft riecht so herrlich und ist so erfrischend. Ich bin monatelang müde gewesen – konstant müde.«

Und merkwürdig fern, unnahbar, dachte Orry im stillen. Ein Gedanke stieg in ihm auf. »Hast du irgendwelche Medikamente genommen?«

»Was?«

»Medizin. Es gibt bestimmte Mittel, von denen man sich dauernd erschöpft fühlt. Lonzo Sapp ist Justins Hausarzt, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Hat er dir irgend etwas verschrieben?«

»Ein Sellerietonikum, aber das war schon vor – ach, vor einer Ewigkeit. Das alles liegt so weit zurück, daß ich mich kaum noch erinnern kann, aber ich weiß, daß ich es nur während einigen Wochen eingenommen habe.«

»Und seither hast du nichts anderes genommen?«

»Nichts.«

»Nun, ich freue mich darüber, daß es dir wieder besser geht, was auch immer der Grund sein mag. Es war ein harter Tag, eine harte Zeit, aber nun ist alles vorbei.«

Als er vorhin mit ihr gesprochen hatte, hatte er kurz erzählt, was unterdessen alles mit Billy und Charles geschehen war. Sie war zwar bestürzt über das Verhalten von Forbes, aber kaum überrascht. Orry hatte ihr noch nicht gesagt, daß er Ashton und ihren Mann zum Teufel geschickt hatte. Und was den Brief an Justin betraf, so würde er das wohl besser für sich behalten, zumindest bis er wußte, ob der Brief seine Wirkung nicht verfehlt hatte.

Medizin. Das Wort löste einen neuen und verblüffenden Gedankengang in Madeline aus. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie oft ihr Essen einen merkwürdigen Geschmack gehabt hatte. Es war viele Male vorgekommen. Aber sie war nie klug oder raffiniert genug gewesen, um ihren Mann zu verdächtigen. Wäre es möglich, daß man dem Essen ein Medikament beigemischt hatte, um sie zu beruhigen? So erschreckend der Gedanke war – Justin war dies zuzutrauen, obschon sie wohl nie einen Beweis dafür haben würde. Aber immerhin, es erklärte die langen Monate ihrer Lethargie und Gleichgültigkeit.

»Madeline?«

Mit seiner sanften, besorgten Stimme unterbrach er ihre Überlegungen. Sie wandte sich ihm zu.

»Du sahst eben so verängstigt aus. Woran hast du gedacht?«

»Ich habe über Justin nachgedacht. Was, glaubst du, wird er unternehmen, nachdem ich ihn verlassen habe?«

»Vermutlich nichts.«

Sie durchquerte die Halle. »Ich werde nie mehr zurückgehen.«

Er folgte ihr und öffnete die Tür. »Das macht mich sehr glücklich.« Er ließ die Klinke los und sah sie an. Seine Stimme verriet seine Sehnsucht, als er sagte: »Ich wäre noch glücklicher, wenn du bei mir bleiben würdest.«

Sie starrte in den Regen hinaus. »Ich freue mich, daß du das sagst, Liebster, aber bist du ganz sicher, daß du einen Skandal in Kauf nehmen willst?«

Er stand hinter ihr und lachte. »Was ist schon ein kleiner Skandal, wenn die ganze Welt dabei ist, den Verstand zu verlieren?« Mit seiner rechten Hand umschloß er ihre Schulter. »Ich würde die Hölle für dich in Kauf nehmen, Madeline. Weißt du das nicht?«

Sie drückte seine Hand mit ihrer Linken. »Ich rede nicht vom Klatsch über einen Ehebruch.«

»Wovon denn?«

Sie wandte sich um und holte tief Atem. »Ich rede von etwas, das niemand weiß, mit Ausnahme einiger Menschen in New Orleans, die jetzt schon sehr alt sind.«

Sie betrachtete sein blasses, müdes Gesicht. In Anbetracht all dessen, was heute vorgefallen war, durfte sie ihm diese Tatsache nicht verheimlichen.

»Meine Urgroßmutter ist mit einem Sklavenschiff von Afrika nach New Orleans gekommen. Ich habe ein Achtel Negerblut. Und du weißt sehr gut, was das in diesen Breitengraden bedeutet.« Sie hielt ihm ihre weiße Hand vors Gesicht. »In den Augen der meisten Leute ist meine Haut so gut wie kohlrabenschwarz.«

Die Eröffnung machte ihn einen Augenblick sprachlos. Und doch, verglichen mit allen anderen Schocks, die er heute erlitten hatte, konnte es ihn nicht erschüttern. Er fuhr ihr sanft mit der Handfläche über die Wange und flüsterte:

»Ist das alles, was du mir sagen mußt?«

»Nicht ganz. Aufgrund ihrer Herkunft durfte meine Mutter nur auf eine Art mit weißen Männern verkehren. Sie hatte nur diese eine Möglichkeit, um sich emporzuarbeiten. Sie war eine Prostituierte. Mein Vater fand sie in einem Bordell in New Orleans, aber er liebte sie genug, um sie dort herauszuholen und zu heiraten – trotz allem, was er über sie wußte.«

»Madeline, ich liebe dich ebenso.«

»Ich möchte nicht, daß du das Gefühl hast, du müßtest – «

»Ebensosehr«, wiederholte er und neigte sich zu ihrem Mund hinunter.

Ihr Kuß war scheu. Nachdem sie sich während so vieler Monate nicht mehr gesehen hatten, waren sie einander fremd geworden. Doch die Gefühle, die er so lange eingedämmt hatte, stiegen bald wieder hoch.

Sie lehnte sich zurück und umschloß seinen Nacken mit ihren Händen. Der Wind trieb Regentropfen in die Halle, und sie glitzerten nun auf ihrer Stirn und in seinem Bart. »Natürlich«, Hoffnung schimmerte jetzt in ihren Augen, »sind die Chancen, daß das Geheimnis jemals ans Tageslicht kommen wird, gering. Die wenigen Menschen, die etwas wissen, sind sehr alt und sehr weit weg.«

Wieder küßte er sie. »Das ist mir egal, verstehst du? Es ist mir egal.«

Mit einem leisen Aufschrei drückte sie sich an ihn. »O mein Gott, ich liebe dich schon so lange.«

Er spürte ihren Körper dicht an dem seinen, ihre Brüste und Hüften. Der Wind blies ihm ihr Haar ins Gesicht. »Ich liebe dich auch.«

»Bring mich nach oben.«

»Madeline, bist du sicher?«

Sie unterbrach ihn mit einem Kuß. »Wir haben beide viel zu lange gewartet, Orry.« Sie küßte ihn erneut, inbrünstig. »Viel zu lange.«

»Ja«, sagte er und ging mit ihr zur Treppe, »das stimmt.«

Sie zog sich ohne irgendein Schamgefühl in seinem Zimmer aus und half ihm mit sanften, mitfühlenden Händen.

Orry befürchtete, daß der Anblick seines Stumpfs sie abstoßen könnte, und er war dankbar für die schützende Dunkelheit. Sie küßte ihn und berührte ihn überall, auch an seiner Verletzung. Sie nahm bedenkenlos an seinem Kummer teil, wie er vorhin an dem ihrigen. Sie schmiegte sich mit ihrem nackten Körper an ihn, und lang gestaute Gefühle brachen hervor, als wäre plötzlich eine Schleuse geöffnet worden. Beide fühlten sie eine überwältigende und unendliche Befreiung. Sie tauchten in ein Meer von Glück, ließen sich eine Weile treiben, um dann von der nächsten Woge wieder mitgerissen zu werden.

Zufrieden und schläfrig lagen sie aneinandergekuschelt, ihr Arm auf seiner Brust, ihr leises Murmeln eine sanfte Untermalung der beruhigenden Melodie des Regens, die durch einen Halloruf von Charles unterbrochen wurde; offensichtlich rief er einem der Wachtposten etwas zu.

Nun, man konnte ihm die Bewachung von Mont Royal durchaus für ein oder zwei Stunden überlassen. Um nichts in der Welt hätte Orry auf diesen Augenblick verzichtet. Noch nie hatte er eine solche Glückseligkeit empfunden.

Im Verlauf der ersten Tage, die sie in Mont Royal verbrachte, litt Madeline an einer Reihe von Symptomen. Sie beklagte sich über Juckreiz und einen fast unstillbaren Durst. Tagsüber wechselten Schüttelfrost und Schweißausbrüche ab. Nachts phantasierte sie oft und redete im Schlaf. Der Arzt, den Orry hinzugezogen hatte, konnte keine spezifische Diagnose stellen und meinte mit beträchtlicher Unsicherheit, daß es sich um für Frauen typische Beschwerden handle. Er verschrieb drei Tonika, aber Madeline nahm nicht eins davon ein.

Sie litt ebenfalls unter grundlosen Wutanfällen, obwohl diese etwa um den zehnten Tag herum nachließen. Auch die anderen Symptome wurden schwächer und blieben dann schließlich ganz aus.

Unmittelbar darauf setzte eine echte Besserung ein. Ihr Gesicht verlor die Blässe, und ihre Haut nahm wieder eine kräftige Farbe an. Sie nahm viereinhalb Kilo zu und sah endlich nicht mehr so abgehärmt und verstört aus, wie dies so lange der Fall gewesen war.

Charles ließ die bewaffneten Sklaven während zwei Wochen auf ihrem Posten, aber keiner der beiden LaMotte-Brüder stattete Mont Royal je einen Besuch ab oder ließ irgendeine Drohung verlauten. Die Ereignisse auf dem Duellfeld waren offensichtlich nicht geheim geblieben. Als Cuffey einige Zeit später dort vorbeikam, stellte er fest, daß Forbes’ Leichnam verschwunden war.

Eines Nachmittags, als er auf der Flußstraße dahinritt, begegnete Charles Francis. Er riß sein Pferd an den Zügeln; das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Der ältere Mann sagte ihm ohne Umschweife in einem anklagenden Tonfall:

»Ihr Freund hat meinen Sohn ermordet.«

»Getötet«, korrigierte ihn Charles. »Er hat Forbes getötet, nachdem ihn dieser provoziert hatte. Der Kampf war überdies unfair. Preston Smith hatte die Waffe meines Freundes manipuliert. Es tut mir leid, daß Forbes tot ist, Francis, aber ich bin jederzeit bereit, eine Zeugenaussage zu machen. Vor dem Richter oder bei einem Duell. Sie haben die Wahl.«

Francis warf ihm einen verbitterten Blick zu und ritt weiter.

Und damit hatte sich die Sache.

Nach und nach nahm es Charles mit den Wachtposten in Mont Royal weniger ernst. Orry hatte sich in die medizinische Fachliteratur seines Vaters vertieft und entdeckt, daß Madelines Symptome mit denjenigen einer Person übereinstimmten, deren Laudanumdosis urplötzlich abgesetzt worden war. Weshalb hatte der Arzt sich so unwissend gestellt? Orry vermutete, daß er als ortsansässiger Arzt Madelines Ehemann kannte und sich nicht in eine unangenehme Privatangelegenheit einmischen wollte. Es war besser, einen Eindruck der Unzulänglichkeit zu erwecken, als sich den LaMottes zu widersetzen.

Madeline und Orry hegten den Verdacht, daß Justin ihr während Monaten heimlich Opiumtinktur verabreicht hatte, um sie gefügig zu machen. Mit Hilfe der Haussklaven war dies ohne weiteres möglich gewesen. Die Theorie wurde auch dadurch erhärtet, daß sie sich jetzt wesentlich besser fühlte, neue Lebensenergien verspürte und wieder einen vollkommen klaren Kopf hatte. Aber Gewißheit würde sie nie haben.

Abends, nachdem sie jeweils mit Charles zusammen das Essen eingenommen hatten, erörterten Orry und Madeline gern die letzten Neuigkeiten aus Charleston. Nur wenige davon stammten aus wirklich verläßlichen Quellen. Stand im Mercury, Andersons Garnison werde demnächst abgezogen, so war schon tags darauf zu lesen, es handle sich nur um ein Gerücht. In diesem Stil ging es bis Mitte März weiter; unterdessen ordnete Beauregard die Artillerieeinheiten neu, damit Sumter gegebenenfalls besser unter Beschuß genommen werden konnte.

Andern Gerüchten zufolge waren Schiffe mit Verstärkung aus dem Norden unterwegs, aber die einzigen Vertreter der Yankee-Regierung, die sich blicken ließen, waren drei Männer, die Andersons Lage beurteilen sollten. Einer der drei war Oberst Lamon, ein Anhänger Lincolns.

Vermutlich machte sich der neue Präsident Gedanken über das Fort. Gouverneur Pickens bestand weiterhin darauf, daß jeder Versuch, Sumter mit Lebensmitteln oder Truppen zu verstärken, abgewehrt würde. Auch Präsident Davis wiederholte seine Drohung, Sumter mit Gewalt einzunehmen, wenn keine friedliche Übergabe auf dem Verhandlungsweg erreicht werde.

All diese Äußerungen verstärkten die düstere Stimmung, in der sich Orry befand. Er hatte das Gefühl, der ganze Süden marschiere einer dunklen Straße entlang, die in stygischer Finsternis endete. In seinen Träumen hörte er Trommelwirbel, Schreie und Schüsse; die Idioten, die von einem siegreichen Krieg schwärmten, hatten noch nie den Verwesungsgeruch eines Schlachtfeldes kennengelernt.

In Anbetracht der Lage der Nation beschäftigten sich seine Gedanken auch mit dem Geld, das George in die Star of Carolina investiert hatte. Mit jedem Tag lasteten die Schuldgefühle schwerer auf ihm. Anfang April gingen neue Gerüchte um, Verstärkungstruppen seien von New York auf dem Seeweg unterwegs. Huntoon und die andern Extremisten riefen wiederholt dazu auf, Schritte gegen das Fort im Hafen zu unternehmen. Das alles drängte Orry zu einer Entscheidung.

Charles versuchte ihm die Sache auszureden und ihn davon zu überzeugen, daß er im Falle eines Krieges jeder Verantwortung George gegenüber enthoben sei. Orry hielt dem entgegen, daß der Krieg ihn von keiner Verantwortung enthebe, da George keinen Penny in ein solches Risikounternehmen gesteckt hätte, wenn es ihm dabei nicht um die persönliche Freundschaft gegangen wäre.

Orry nahm einen Zug nach Atlanta, wo er zweiundsiebzig Stunden verbrachte. Als er nach Mont Royal zurückkehrte, trug er eine kleine Tasche bei sich.

Er traf am Abend des 11. April in Charleston ein und kämpfte sich durch eine große Menschenmenge zum Haus in der Tradd Street. Cooper war höchst überrascht, seinen Bruder zu sehen.

»Ich bin nach Atlanta gefahren«, erklärte ihm Orry. »Ich habe Mont Royal verpfändet.«

»Was?« Cooper blickte ausdruckslos vor lauter Erstaunen.

»Wir schulden George einen Teil oder die ganze Summe dessen, was er investiert hat. Jetzt, bevor der Krieg ausbricht. Ich habe sechshundertfünfzigtausend Dollar zusammengebracht.« Er stieß die Tasche mit seinem Stiefel an. »In bar.«

»Für die ganze Plantage? Das ist ja ein Bruchteil dessen, was sie wert ist!«

»Ich habe Glück gehabt, daß ich überhaupt noch etwas bekommen habe. Ich möchte von dir so viel, wie du im Augenblick zusammenkratzen kannst, und ich möchte das Geld sofort haben.«

»Und wie glaubst du, soll ich das Geld auftreiben?«

»Du hast ja noch die Schiffsgesellschaft und dein Grundstück auf der James Island. Das alles hat ja auch noch einen gewissen Wert.«

»Aber Orry, die Banken hier geben doch keine Darlehen mehr.«

»Versuch’s.«

Cooper sah das verhärmte Gesicht seines Bruders und sah keinen weiteren Grund für eine Diskussion. »Einverstanden.« Er seufzte. »Morgen früh. Ich kümmere mich jetzt um dein Zimmer. Du brauchst Schlaf.«

Orry wachte in der Dunkelheit auf und hörte etwas, das wie Donnergrollen klang. Durch die Läden, die er wegen des Frühlingswinds geschlossen hatte, drang rotes Licht. Er stieß die Läden auf. Eine Granate zischte hoch über die Hausdächer und explodierte irgendwo in der Ferne.

Er eilte nach unten. Cooper, Judith und die Kinder standen alle am Fenster. »Wie spät ist es?«

»Vier oder halb fünf«, antwortete Judith mit schläfriger Stimme.

»Das klingt nach den Artillerieeinheiten im Hafen.«

Wieder ein Knall und roter Feuerschein über den Dächern. Der Boden zitterte. Cooper nickte und schlang schützend seine Arme um die Kinder. Orry hatte seinen Bruder noch nie so traurig gesehen.

»Jetzt ist es soweit. Es ist Krieg«, sagte Cooper. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube nicht, daß die Banken heute morgen noch Geschäfte machen werden.«

67

Bis in den späten Freitagnachmittag des zwölften April hinein erwiderte Major Anderson das Feuer von Beauregards weit überlegener Artillerie. Doch die Lage, in der sich die Garnison befand, war hoffnungslos; weder Anderson noch irgendeiner seiner Männer machten sich die geringsten Illusionen.

Wie durch ein Wunder war während der dreizehnstündigen Bombardierung niemand ums Leben gekommen; es konnte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis der Krieg sein erstes Opfer forderte. Anderson überlegte sich, ob er wenigstens noch die Bedingung stellen konnte, dem auf dem Fort wehenden Sternenbanner einen letzten formellen Salut entgegenzubringen, bevor er den Befehl erteilen mußte, die Flagge endgültig einzuholen.

In Mont Royal war Orry dabei, eine kleine Reisetasche mit Rasiermesser, Streichriemen, Seife, einigen Hemden und etwas Unterwäsche zu packen. Er verstaute die Tasche zusammen mit der Geldtasche in der Kutsche. Die Tasche wies ein kleines, billiges Schloß auf, dessen Schlüssel er in seiner Uhrentasche trug. Das Schloß war leicht aufzubrechen, aber er stellte sich vor, daß er mit zwei gewöhnlichen Reisetaschen – die eine in der Hand, die andere unter den Oberarm geklemmt – weniger Aufmerksamkeit erregen würde als mit einer Tasche und einem dicken Geldgürtel.

Madeline küßte ihn und versuchte ihre Tränen der Besorgnis und Angst zurückzuhalten. Sie wußte, welches Risiko Orry mit einer Reise in den Norden zum jetzigen Zeitpunkt einging, aber sie sagte nichts.

Charles hingegen reagierte anders; er hatte sich widerwillig bereit erklärt, Orry zum kleinen Waldbahnhof zu kutschieren.

»Du solltest hierbleiben, Orry. Du schuldest George nichts.«

»Ich schulde ihm mein Leben. Fahr los.« Er knallte die Tür hinter sich zu.

Clarissa stand plötzlich neben Madeline, ohne daß sie sie erkannt hätte, und winkte dem abreisenden Fremden freundlich zum Abschied. Madeline fragte sich, ob sie Orry jemals wiedersehen würde.

Am Sonntag wurde Orrys Zug nach Norden wegen der Entgleisung eines Güterzugs in North Carolina für sechs Stunden aufgehalten. Die Reisenden in der ersten Klasse unterhielten sich kaum über etwas anderes als die Belagerung von Fort Sumter. Den Akzenten und Gefühlsausbrüchen nach zu schließen stammten die meisten Passagiere aus dem Süden. Einige hundert Kilometer weiter nördlich würde die Situation umgekehrt sein. Orry würde sehr darauf achten müssen, was er wie zu wem sagte.

Als es dämmerte, waren die Gleise wieder frei, und der Zug ratterte weiter. Kurz darauf hielt er in einem kleinen Bahnhof eines Städtchens. Der Schaffner gestikulierte und rief mit lauter Stimme:

»Sumter ist gefallen. Anderson abgezogen. Die neueste telegraphische Nachricht.«

Jubel brach im Eisenbahnwagen aus. Der Verkäufer, der im Gang Zeitungen vom Vortag feilbot, warf Orry einen mißtrauischen Blick zu, weil er nicht mitmachte, aber Orry starrte zurück, und der Bursche ging weiter. Offensichtlich gab es vor dem Mißtrauen und der Feindseligkeit, die durch das Land fegten, kein Entrinnen.

Am andern Morgen verließ er den Zug in Petersburg, um sich im Bahnhofsrestaurant eine Mahlzeit zu genehmigen. Er nahm die Tasche mit dem Geld mit und stellte sie sorgsam zwischen seine Füße unter den Tisch. Der Eßsaal, in dem unzählige Fliegen herumschwärmten, erinnerte ihn vage an den Halt, den er vor zwei Jahren in Baltimore eingelegt hatte. Doch diesmal stieß Orry nicht auf Feindseligkeit; die Leute waren zu sehr damit beschäftigt, die Ereignisse vom Vortag in South Carolina zu erörtern. Mehrere Male fiel das Wort Sieg. Die meisten Kunden waren sich darüber einig, daß Virginia nach diesem ersten Schlag nun aus der Union austreten mußte.

Kopfschüttelnd beendete er rasch seine Mahlzeit. Dann kaufte er sich eine Zeitung. Als der Zug Petersburg verließ, setzte sich ein dickwanstiger, gut gekleideter Mann neben ihn. Orry beachtete ihn nicht, sondern widmete sich ganz den telegraphischen Nachrichten auf der Titelseite. Am Vortag, am Sonntag, hatte Anderson das Fort im Hafen von Charleston formell übergeben. Ironischerweise war der erste Mann im Lauf der Vorbereitungen für die Übergabezeremonie gefallen.

In der Zeitung war zu lesen, daß über fünftausend Kanonenschüsse auf Sumter abgefeuert worden waren. Der Beschuß hatte zwar keine direkten Verluste gefordert, aber die Festung war in Brand geraten und das Feuer hatte nicht ganz gelöscht werden können. Nach der Kapitulation Andersons hatten umhersprühende Funken eine Explosion einer Munitionskiste verursacht. Dabei hatte einer von Andersons Artilleristen sein Leben verloren, und fünf waren verwundet worden.

Das erste Blutvergießen, dachte Orry lakonisch. Er war überzeugt, daß noch viel mehr folgen würde.

Der Bundeskommandant hatte der Flagge einen letzten Salut entgegenbringen dürfen, bevor sie eingezogen wurde und seine Soldaten die wartenden Pinassen bestiegen. Die Kähne beförderten die Unionstruppen zu einer von der Regierung abkommandierten Verstärkungsflotille, die also offensichtlich nicht nur ein Gerücht gewesen war – die Schiffe waren während der Bombardierung vor Charleston angelangt. Bald darauf dampften das geheuerte Linienschiff Baltic und die begleitenden Kriegsschiffe mit ihrer Niederlage nach Norden. Orry vermutete, daß die Lincoln-Regierung demnächst zum Vergeltungsschlag ausholen würde.

Als er mit der Lektüre zu Ende war, unterhielt er sich mit dem dicken Mann, einem Handlungsreisenden namens Cobb aus Petersburg.

»Britische Nähnadeln und das beste Nähgarn, das es gibt«, erklärte Cobb mit seinem sanften Virginia-Akzent. »Wird nur den besten Firmen geliefert. Die Götter mögen wissen, was aus meinem Geschäft werden soll mit all den Unruhen. Ich nehme an, Sie kommen ebenfalls aus dem Süden?«

Orry nickte. »Aus South Carolina.«

»Wie weit reisen Sie?«

»Bis nach Pennsylvania.«

»Darf ich Ihnen einen Ratschlag geben? Ich bin letzte Woche in Philadelphia gewesen und hatte dort etliche Schwierigkeiten. Man erkennt die Südstaatler zu leicht an ihrem Akzent. Einmal hatte ich das Gefühl, daß ich mich in Lebensgefahr befände. Ich fahre diesmal zwar nicht weiter als bis Washington, aber trotzdem habe ich Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.«

Mit seinem plumpen Finger deutete er auf seinen Rockaufschlag; Orry bemerkte eine aus blau-weiß-rotem Band gefertigte Rosette.

»Ich würde Ihnen vorschlagen, dasselbe zu tun, Sir. Sie finden das Material für diese Unions-Rosette in jedem Kurzwarenladen.«

»Vielen Dank für die Empfehlung«, sagte Orry, obwohl er das ganze bereits innerlich abgelehnt hatte. Er war nicht voll und ganz von der Sache des Südens überzeugt, aber er würde auch nicht die Farbe der andern Seite tragen.

Das einzige, was er von Washington zu sehen bekam, war der Endbahnhof. Offiziere und Familien drängten sich auf den Bahnsteigen und in den Wartesälen. Die meisten Offiziere kamen an, die meisten Familien reisten ab. Wahrscheinlich Südstaatler, die ihre Stelle bei der Armee oder bei der Regierung aufgegeben hatten und nun nach Hause fuhren.

An jenem Montagabend wurde Orry im rußigen Schein der Bahnhoflampen klar, daß das Land im Begriff war, den nächsten torkelnden Schritt auf einen Bürgerkrieg hin zu machen. Ein Mann kratzte schwitzend und hemdsärmelig die letzten Nachrichten mit Kreide auf eine Tafel. Unter anderem stand zu lesen, daß Präsident Lincoln die Sezession des Südens zum Aufstand erklärt und fünfundsiebzigtausend Freiwillige zu den Waffen gerufen hatte.

Die kleine Menschenmenge, die sich vor der Tafel eingefunden hatte, brach in Beifall aus. Orry wandte sich um, um zu seinem Zug zu gehen. Die Menge drängte vorwärts und ließ den Präsidenten hochleben. Orry konnte sich kaum bewegen.

»Entschuldigen Sie, bitte.«

Niemand regte sich. Drei in seiner Nähe stehende Männer betrachteten ihn mit harten, prüfenden Blicken. Er wünschte, er hätte eine Pistole mit auf die Reise genommen.

»Was haben Sie gesagt, Mister?« fragte einer der Männer.

Orry wußte, daß er so wenig wie möglich reden sollte, aber er vergaß alle Vorsicht.

»Ich habe gesagt, daß ich gern durch möchte, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.«

»Aha, wir haben es mit einem Herrn aus dem Süden zu tun«, knurrte ein weiterer Mann. Die Menge schloß sich um Orry, es schien sich mehrheitlich um unrasierte, schwitzende und feindselig blickende Männer zu handeln. Orry war auf drei Seiten blockiert. Hinter seinem Rücken ging ein unheilversprechendes Tuscheln los. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an.

Jemand schubste ihn, und er hatte kaum noch genügend Platz, um sich die Geldtasche unter den rechten Arm zu klemmen. Hände wollten nach der Tasche greifen, Stimmen gingen durcheinander.

»Was hast du denn da in der Tasche, Rebell?«

»Wetten, daß es Geld ist.«

»Schaun wir’s uns doch an.«

»Ja, schaun wir’s an, schaun wir’s an!« schrie ein ganzer Chor.

Orry wurde von Panik erfaßt. Er spürte, wie die Tasche rutschte. Rasch machte er eine gezielte Handbewegung in Richtung der Manteltasche. Der Mann, der seine Hand auf die Geldtasche gelegt hatte, erschrak über die heftige Bewegung.

»Wenn ich Sie nicht durch Höflichkeit dazu bewegen kann, mich durchzulassen, meine Herren, dann muß ich eben zu andern Mitteln Zuflucht nehmen.«

Orry ließ seine Finger unter den linken Rockaufschlag gleiten. Der Mann ließ die Geldtasche los. »Aufgepaßt! Der Kerl ist bewaffnet.«

Diejenigen, die dicht bei ihm standen, waren plötzlich nicht mehr von der Situation begeistert. Orry behielt die Finger unter dem Rockaufschlag, während die ersten Männer beiseite traten und ihn passieren ließen. Es war nicht einfach, die Tasche nur mit dem Druck des Oberarms zu tragen, aber es gelang ihm. Mit schnellen Schritten ging er durch die Menge; sein Herz pochte rasend unter seiner Handfläche.

Als er die Menge endlich hinter sich hatte, hastete er davon. Vereinzelt rief man ihm Beleidigungen nach, aber er drehte sich nicht mehr um.

Er versuchte während der Fahrt zu schlafen, war jedoch zu aufgewühlt und saß mit der Tasche zwischen den Füßen in verkrampfter Haltung da. Am nächsten Morgen in Philadelphia fand er einen Kurzwarenladen und deckte sich mit einer kleinen Schere, einer Nadel, Garn und dem dreifarbigen Band ein. Mit Geduld und der Hilfe einer freundlichen Frau hinter der Theke eines Saloons wurde eine Rosette angefertigt.

Die Frau schien glücklich und stolz, daß sie ihm helfen konnte. »Virginia?« fragte sie, als sie glaubte, seinen Akzent erkannt zu haben. »Dort sind viele Leute gegen die Sklaverei, wie man hört.«

Er lächelte kaum. Hegte sie noch eine Spur von Verdacht, so verschwand dieser letzte Rest, als sie die Rosette an seinem Rockaufschlag befestigte.

Am Dienstag, dem 16. April, traf Orry zu später Stunde in Lehigh Station ein. Die Stadt hatte sich ausgedehnt; auf der andern Seite des Flusses war ein neuer Ort, South Station, mit einigen Dutzend Hütten und billigen Häusern entstanden. Auf dem Bahnhof kleisterte ein Mann im gelben Licht einer Laterne ein Plakat an die Wand. Orry sah, daß es sich um einen Rekrutierungsaufruf für Lincolns Freiwilligenarmee handelte.

Er ging in die Dunkelheit hinaus, fiel jedoch mehreren vor dem Station House herumlungernden Gestalten auf. Ein großer, hagerer Mann mit staubbedeckten Kleidern, zwei Reisetaschen und nur einem Arm mußte ja auffallen. Orry hoffte, daß man seine Rosette sehen konnte.

Als er am Hotel vorbeiging, hörte er einen der Müßiggänger sagen: »Komischer Kauz. Kennt ihn jemand?«

Die andern verneinten. Einer bemerkte: »Sieht ein bißchen wie der alte Abraham aus, nicht wahr.«

»Tja, könnte sein Bruder sein.« Der Mann, der zuletzt gesprochen hatte, trat unter der Tür des Hotels hervor und rannte hinter Orry her. »Wollen Sie ein Mietpferd, Mister? Nur zehn Cents bis zur Stadt. Egal wohin.«

Orry zog fragend die Augenbrauen hoch und deutete gleichzeitig mit dem Kopf in Richtung der Lichter von Belvedere oben auf dem Hügel.

»Und bis zu den Hazards?« Der Mann fingerte an seinem Kinn herum; jeder, der dem einzigen Millionär in Lehigh Station einen Besuch abstattete, mußte selbst ziemlich wohlhabend sein. »Das macht fünf Cents mehr.«

Orry nickte zustimmend. Der offene zweirädrige Wagen fuhr den steilen Berg hoch. Plötzlich tauchte eine dünne, weißglühende Linie im dunklen Himmel über Belvedere auf. Der Lichtstrahl fiel beinahe senkrecht zu Boden. Bevor Orry klarwurde, daß es sich um eine Sternschnuppe handelte, war schon alles vorbei.

Es dauerte nicht lange, und die warmen Frühlingsdüfte wurden von den rauchenden Schornsteinen der Hazard-Werke verzehrt. Die drei Hochöfen tauchten die Hügel der Umgebung in ein kräftiges Rot. Aus jedem Hochofen quoll der Rauch empor, und der Frühlingswind trug den stampfenden Rhythmus der Maschinen in die Welt hinaus. Irgendwie wirkte es bedrohlich.

Als der Kutscher Orry vor der Villa absetzte, wurde er von Panik erfaßt. Er hatte nicht daran gedacht, vorher zu telegraphieren. Und wenn George nun nicht zu Hause wäre?

Ein lebhafter Knabe öffnete atemlos die Tür. Er war größer als sein Vater und weniger stämmig, aber die Ähnlichkeit war frappant.

»William, erkennst du mich nicht mehr?« Orry zog den Hut und lächelte. Immer wenn dieses Lächeln mitten in der Wirrnis seines Barts auftauchte, sah er weniger abschreckend aus. Williams ängstliche Zurückhaltung schmolz denn auch prompt dahin. Er wirbelte herum.

»Pa? Pa, komm hierher! Rat mal, wer an der Tür ist.« Dann trat er beiseite. »Kommen Sie herein, Mr. Main.«

»Danke, William.« Orry ging hinein, und William nahm ihm das Gepäck ab. »Du bist riesengroß. Wie alt bist du jetzt?«

»Dreizehn.« – »Fast«, fügte er hinzu.

Orry schüttelte den Kopf und betrat die Vorhalle mit dem blendenden Licht. Er hörte, wie im zweiten Stockwerk eine Tür geöffnet und dann geschlossen wurde, und als er hinaufschaute, sah er George mit großen Schritten, hochgekrempelten Hemdsärmeln und der unvermeidlichen Zigarre in der Hand die Treppe hinuntereilen.

»Orry? Allmächtiger, das glaub’ ich nicht!«

Er stürzte auf Orry zu. Constance kam nicht weniger erstaunt aus der Küche. George führte einen Freudentanz auf wie ein Kind. »Was zum Teufel machst du in Pennsylvania? Und was ist denn das?«

Orry schielte auf seinen Rockaufschlag. »Ich mußte das Ding anstecken, um die feindlichen Linien zu durchqueren.«

George und Constance lächelten über den gutgemeinten Witz, doch bald tauchten dräuend die Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse wieder auf. Dies zeigte sich besonders deutlich, als Constance Orry umarmte und sagte:

»Es ist so herrlich, dich wiederzusehen! Die Nachricht über Sumter ist schrecklich, nicht wahr?«

»Schrecklich«, antwortete er zustimmend. »George, ich bin aus geschäftlichen Gründen hierhergekommen.«

Das war die zweite Überraschung für George. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß jetzt noch irgendwo große Geschäfte getätigt werden. Ich frage mich immer wieder, welche Auswirkungen die Sezession auf das öffentliche Leben haben wird: die Transaktionen der Banken, das Postwesen – ach, aber wir wollen nicht hier herumstehen und über diese Dinge diskutieren. Hast du Hunger? Wir sind eben mit dem Abendessen fertig. Entenbraten. Es ist noch mehr als genug für dich übrig.«

»Ein Häppchen könnte mir nicht schaden.«

»Na, dann komm. Mein Gott, ich kann es nicht glauben, daß du hier bist. Wie in alten Zeiten.«

Constance legte den Arm um ihren großen Sohn. Sie lächelte, als die Männer ins Eßzimmer gingen. Orry wünschte sich sehnlichst, daß es wieder wie in alten Zeiten wäre, aber alles, was er während der Reise erlebt hatte, deutete auf das Gegenteil hin. Nie wieder würde es einen Tag geben wie 1842, als die beiden mit noch ungetrübten Hoffnungen und Träumen an der Reling ihres Schiffes lehnten und über den Hudson schauten.

Jetzt waren sie beide alte Männer; alt und grau. Georges Haar war bereits von ein paar kräftigen Silberstreifen durchzogen. Und irgendwie hatten sie es zugelassen, daß ihre Welt in den Abgrund des Kriegs gestürzt worden war. Dieses Wissen raubte ihm die Freude über das Wiedersehen. Mit grimmiger Miene ging er hinter George in das Eßzimmer.

Orry aß, und sie tauschten Neuigkeiten aus. Billy war sicher mit seiner Frau in Washington angelangt. »Und mit einer kleinen Wunde«, fügte George hinzu. »Billy hat sich nicht ausführlich darüber geäußert, aber ich vermute, daß es zu einem Streit mit einem von Bretts früheren Verehrern gekommen ist.«

»Ja.« Mehr sagte Orry nicht.

»Man hat ihm einige Tage Urlaub versprochen. Ich erwarte die beiden eigentlich jeden Augenblick.«

»Ich würde sie gern wiedersehen, aber ich kann nicht warten. Zu Hause herrscht das Chaos.«

»Ja, das Chaos ist überall«, sagte Constance seufzend.

George nickte mit düsterer Miene. »Man sagt, daß Virginia morgen oder übermorgen aus der Union austreten wird. Und diejenigen Staaten, die bis jetzt unentschlossen gewesen sind, werden dem Beispiel folgen. Wahrscheinlich die meisten Grenzstaaten. Die Emotionen schlagen hohe Wellen« – er deutete mit der Zigarre auf die Rosette – »wie du wohl bemerkt haben wirst.«

Orry trank noch seinen Kaffee; er fühlte sich zwar jetzt etwas weniger müde, aber seine Stimmung hatte sich nicht gehoben. Er freute sich darüber, wieder bei seinem alten Freund zu sein, aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie einander lange Zeit nicht mehr sehen würden.

Nach einer längeren Redepause sagte Constance zögernd:

»Virgilia ist nach Hause gekommen.«

Orry hätte beinahe die Kaffeetasse fallen gelassen. »Von wo?«

»Das«, knurrte George, »wollen wir lieber nicht fragen.«

»Ist sie heute abend hier?«

George nickte, und Orry erinnerte sich daran, daß bei seiner Ankunft eine Türe einen Spaltbreit geöffnet und dann wieder geschlossen worden war. Hatte Virgilia ihn gesehen?

Nun, eigentlich spielte es keine Rolle. Obwohl er unten in der Stadt einige elementare Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte, hatte er nicht die Absicht gehabt, seinen Besuch total geheim zu halten.

»Das arme Geschöpf ist völlig mittellos – « wollte Constance anfangen, aber George unterbrach sie.

»Es ist ihre eigene Schuld. Ich möchte nicht darüber reden.« Seine Frau wandte ihren Blick ab. George wandte sich Orry zu: »Nun sag mir, welch wichtiges Geschäft dich dazu bringen konnte, die lange Reise hierher auf dich zu nehmen? Die Star of Carolina wird doch wohl nicht zum Stapellauf bereit sein?«

»Ich wünschte mir, daß das der Fall wäre. Aber ich glaube nicht, daß das Schiff die Werft jemals verlassen wird. Deshalb bin ich gekommen und habe die Tasche mitgebracht, die draußen in der Halle steht. Sie enthält sechshundertfünfzigtausend Dollar. Ich bedaure, daß es nicht mehr ist, aber das ist alles, was ich auftreiben konnte.«

»Auftreiben? Wie auftreiben?«

»Ach, das spielt keine Rolle. Ich wollte nicht, daß das Kapital, das du investiert hast, im Süden blockiert und schließlich konfisziert wird. Das war ja nicht Sinn und Zweck deines Darlehens.«

George runzelte die Stirn, warf seiner Frau einen Blick zu und blickte dann seinen Freund an. »Vielleicht sollten wir das in der Bibliothek besprechen?«

»Komm, Billy«, sagte Constance und fuhr ihrem Sohn, während sie aufstand, über den Kopf.

»Billy.« Orry lächelte. »Nennst du ihn so?«

Sie nickte. »Wenn Georges Bruder zu Hause ist, dann ist er Big Billy und William ist Little Billy. Manchmal ist es etwas verwirrend, aber wir mögen es so.«

William schnitt eine Grimasse. »Nicht wir alle.«

»Er hat recht«, sagte Constance und versuchte ein ernstes Gesicht zu machen. »Stanley findet es entwürdigend.«

»Und deshalb finden wir es gut«, sagte George und stand auf. Orry brach in ein spontanes, herzliches Lachen aus. Für einen kurzen Augenblick waren die alten Zeiten fast wieder gegenwärtig.

»Du sagst also, daß Billys Wunde gut heilt?« fragte Orry, als George die Tür schloß und das Licht anzündete.

»Ja, das hat man mir gesagt. Er und Brett sind glücklich, auch wenn rundum alles in Aufruhr ist.« Er machte sich auf die Suche nach Gläsern und einer Karaffe. »Ich glaube, wir könnten einen Whiskey gebrauchen.«

Er schenkte zwei Gläser ein, ohne zu fragen, ob Orry seine Meinung teilte. Immer noch derselbe alte Stumpf, dachte Orry. Er hat einfach jede Situation im Griff.

»Ja, unser Land befindet sich wirklich in einer schlimmen Lage«, stimmte Orry seinem Freund zu und nahm den Whiskey entgegen. Er trank die Hälfte des Glases in zwei Schlucken leer. Die Wärme breitete sich in seinem Magen aus und beruhigte ihn etwas. Er suchte den Schlüssel zur Tasche, die er aus der Halle mitgenommen hatte, öffnete das Schloß und machte die Tasche weit auf, damit die großen Banknoten zu sehen waren. »Wie ich dir schon gesagt habe – das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin.«

George nahm ein Päckchen der gebündelten Noten in die Hand; für eine Weile war er sprachlos. Dann sagte er mit sanfter Stimme:

»Das ist eine sehr ehrenwerte Tat, Orry.«

»Das Geld gehört dir. Ich glaube, du hast es eher verdient als die Regierung in Montgomery, die, Spaß beiseite, mit zuverlässigen und eher konservativen Männern bestückt worden ist.«

»Ja, das hab’ ich auch festgestellt. Jeff Davis. Alec Stephens aus Georgia – «

»Die Kandidaten aus South Carolina, unter ihnen unser gemeinsamer Freund, der junge Hitzkopf«, George schnitt eine Grimasse, als Orry auf Huntoon anspielte, »sind praktisch völlig ignoriert worden. Sie freuen sich nicht besonders darüber.«

»Weshalb hat man sie nicht beachtet?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, die Konservativen fanden sie zu extremistisch. Wahrscheinlich befürchteten sie, daß sie dem Ansehen der neuen Regierung schaden könnten. Wie dem auch sei, ich wollte es auf jeden Fall vermeiden, daß Männer, deren Grundsätze nicht unbedingt mit den deinigen übereinstimmen, dein Geld beschlagnahmen.«

George sah ihn kritisch an. »Stimmen ihre Grundsätze denn mit den deinigen überein?«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das noch weiß. Stumpf.«

Er setzte sich auf einen Stuhl. George ließ das Schloß der Tasche zuschnappen und setzte sich neben den Tisch, auf dem immer noch der Meteorit stand. Gedankenverloren nahm George das dunkelbraune Stück in die Hände und sagte: »Nun, wie ich bereits sagte, du hast etwas außerordentlich Ehrenvolles getan, Orry.«

Verlegen prostete Orry seinem Freund zu. Dann erlosch sein etwas melancholisches Lächeln, und er deutete auf den rauhen Gegenstand in Georges Händen.

»Ist das der gleiche, den du auf den Hügeln oberhalb der Akademie gefunden hast?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir. Ich erinnere mich noch vage an das was du damals sagtest. Irgend etwas über das Eisen der Sterne, das die Macht hat, Familien, Reichtum, Regierungen – die ganze angestammte Ordnung der Dinge zu zerstören. Ich glaube, es wird sich demnächst zeigen, ob das zutrifft. Du hast von Ehre geredet. Die Menschen haben verdammt wenig davon, und«, seine Stimme wurde leiser und nahm einen beinahe höhnischen Ton an, »vielleicht einmal in einem Jahrhundert taucht ein bißchen bei Nationen, politischen Parteien und Bewegungen auf, die dann ihren heiligen Krieg führen. Aber wenn der Krieg demnächst ausbricht, dann werden Fabriken wie die deinige dafür verantwortlich sein, daß noch das letzte bißchen Ehrgefühl unter den Menschen ausradiert wird. Cooper weiß das schon seit langem. Er hat es uns immer wieder gesagt, aber wir wollten nicht auf ihn hören. Wenn es einen Krieg gibt – und es sieht verdammt danach aus, – so wird es ein neuartiger, ein totaler Krieg sein, wie Mahan ihn vorausgesagt hat. Nicht nur die Soldaten werden dabei ihr Leben lassen; alles wird vernichtet werden.«

Er schüttelte den Kopf. Die Erschöpfung von der Reise und der hastig getrunkene Whiskey lösten in seinem Kopf ein merkwürdiges Gefühl leichter Benommenheit aus; seine Gedanken strömten frei und fanden wie von selbst die Worte, um ihnen Ausdruck zu verleihen. »Und worauf kann sich der Süden für diese Art von Kampf stützen? Auf eine Zukunftsvision, die bereits hoffnungslos veraltet ist. Auf unsere Redegewandtheit. Auf unsere Parolen – und – auf unsere Soldaten.«

»Vergiß nicht, daß die Offiziere aus dem Süden die Elite der Armee bilden.«

»Zu Befehl«, sagte Orry nickend. »Und wer wird ihre Befehle ausführen? Eine Menge hartgesottener Farmer, die, obwohl sie noch nie etwas von Mahan oder Jomini gehört haben oder ironischerweise nie auch nur einen einzigen Sklaven besessen haben, kämpfen werden wie der Teufel. Aber gegen wen werden sie kämpfen? Gegen ein Riesenheer aus dem Norden. Gegen Millionen und Abermillionen von Bürokraten und Mechanikern. Gegen eure infernalischen Fabriken.« Er war jetzt kaum noch zu hören, als er sagte: »Ein neuartiger Krieg…«

Orry schwieg einen Augenblick lang und fuhr dann schließlich fort: »Egal, wie es auch immer herauskommen mag, egal, welche Seite die Bedingungen diktieren wird – wir werden alle zu den Verlierern gehören. Wir haben abgedankt, George, und Verrückten den Thron überlassen.«

Er warf den Kopf in den Nacken und kippte den Rest des Whiskeys hinunter. Dann schloß er die Augen und schüttelte sich. Langsam und sorgfältig stellte George den Meteoriten auf den Tisch zurück und starrte ihn an.

Orry öffnete die Augen wieder. Er hatte den Eindruck, aus der Ferne Lärm und Aufruhr zu hören. George hob die Hand. »Ja, es sind Verrückte, die regieren. Aber was hätten wir tun können?«

»Ich weiß es nicht. Cooper hat uns doch immer mit Burkes Worten gewarnt.« Er überlegte, um richtig zitieren zu können. »Wenn sich schlechte Männer zusammentun, dann müssen sich die guten verbünden, denn sonst fallen sie, einer nach dem andern.«

Er war plötzlich aufgestanden und langte nach dem Whiskey. »Verdammt noch mal, ich weiß wirklich nicht, was wir hätten tun können, aber ich weiß, daß wir uns die Frage nicht früh und nicht eindringlich genug gestellt haben. Oder nicht oft genug.«

Er schenkte ein und trank zwei Drittel des Glases leer. George dachte über die Worte seines Freundes nach. Dann schüttelte auch er den Kopf. »Das ist eine sehr einfache Antwort. Vielleicht zu einfach. Das Problem ist unendlich verzwickter. Manchmal denke ich, daß ein Mensch etwas ungeheuer Mickriges ist. Wie kann er irgend etwas verändern, wenn gewaltige Kräfte am Werk sind? Kräfte, die er nicht versteht, oder die er nicht einmal erkennen kann?«

Orry antwortete mit derselben deprimierenden Wahrheit wie vorhin: »Ich weiß es nicht. Aber wenn diese gewaltigen Kräfte und Ereignisse nicht rein zufällig sind, dann müssen sie vom Menschen geschaffen und geformt werden. Positiv oder negativ. Ich glaube, daß wir eine Chance hatten. Und ich glaube, daß wir sie nicht wahrgenommen haben.«

Aus unerklärlichen Gründen wurde seine Stimme bei diesen Worten brüchig. Er spürte Tränen in den Augen. Tränen des Schmerzes, des Versagens, der Frustration und der Verzweiflung – ach, und woher sie sonst noch kamen, was wußte er denn schon. Wie betäubt starrten sich die Freunde einen Augenblick an, bar jeglicher Emotionen, mit Ausnahme des Bewußtseins ihrer Schuld und der Angst, die sie erzeugte, jetzt da der Parolen skandierende Pöbel im Norden und Süden durch die Straßen marschierte, unerschütterlich der neuen Apokalypse von Mahan entgegengehend.

Pöbel. Das Wort und gewisse Geräusche schüttelten Orry aus seinen düsteren Träumen. Er ging zu einem der Fenster. Von draußen waren Stimmen zu hören. Nicht viele Stimmen, aber sie klangen äußerst bedrohlich.

George runzelte die Stirn. »Eine Horde Rowdies aus der Stadt? Ich frage mich, was sie hier oben wollen?«

Er streckte die Hand nach den Samtvorhängen aus. Plötzlich flog die Tür auf. Er drehte sich blitzschnell um. »Virgilia!«

Sobald Orry ihrer gewahr wurde, wußte er, weshalb der Pöbel gekommen war.

68

Der Tumult draußen nahm zu. George deutete auf das Fenster und sagte mit vor Schock und Zorn erschütterter Stimme: »Bist du dafür verantwortlich, Virgilia?«

Ihr Lächeln war Antwort genug.

»Wie zum Teufel sind sie hierhergekommen?« wollte George wissen.

Ein Stein flog durch eins der Fenster. Dank der schweren Vorhänge splitterte das Glas nicht im ganzen Zimmer herum, aber es fiel laut klirrend zu Boden. Orry glaubte, daß er jemanden das Wort Verräter rufen gehört hatte. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund.

»Ich habe einen der Hausdiener zum Hotel geschickt.« Virgilia blickte Orry an. »Gleich nachdem ich ihn zur Tür hereinkommen sah.«

»Aber um Gottes willen – warum?«

Orry hätte George die Frage beantworten können. Er war kaum fähig, den Widerwillen, den Virgilias Anblick in ihm hervorrief, zu verbergen. Sie war nur wenige Jahre älter als er, aber sie sah mindestens zwanzig Jahre älter aus. Ihr bedrucktes, verwaschenes Kleid war ihr zu eng geworden; sie hatte mindestens zwanzig Pfund zugenommen, aber das war nur eines der Anzeichen ihrer zunehmenden Verwahrlosung. Ihr Teint war schwammig, ihre Augen wirkten eingefallen. Verfilzte Haarsträhnen fielen ihr auf die Schulter, und als sie sich umwandte, sah Orry, daß ihr Hals dreckig war.

»Weil er ein Verräter ist«, flüsterte sie. »Ein Südstaatler und ein Verräter. Er hat Grady ermordet.«

»Er hatte nichts mit Gradys Tod zu tun. Du – «

»Ermordet«, wiederholte sie, den Blick auf Orry geheftet. In ihren Augen glühte der Haß so abgrundtief, daß seine Kraft fast physisch spürbar war. »Sie haben es getan. Sie und Ihr Volk.«

George fuhr sie an: »Die Bundestruppen haben Grady getötet!« Aber sie war der Vernunft nicht mehr zugänglich, und nun wußte Orry plötzlich, was es war, das sie mit ins Zimmer gebracht hatte. Es war mehr als nur der Gestank ungewaschener Kleider oder eines ungewaschenen Körpers; es war der Geruch des Todes.

»Ich habe diese Männer holen lassen«, sagte sie zu ihm. »Ich hoffe, daß sie Sie töten werden.«

Plötzlich rannte sie wie ein wildgewordenes Tier zu den Vorhängen vor der zerbrochenen Fensterscheibe. »Hier ist er!« schrie sie. George machte einen Satz, packte sie am Arm und stieß sie zurück.

Sie fiel hin und landete unsanft auf Händen und Knien. Haltlos begann sie zu schluchzen: tiefe, hemmungslose Schmerzensschreie. Das Haar fiel wie ein Vorhang auf beiden Seiten ihres gebeugten Kopfes hinunter und verdeckte barmherzig ihr vom Wahnsinn gekennzeichnetes Gesicht.

George warf einen verstohlenen Blick auf die Vorhänge, die sie beinahe geöffnet hätte, und sagte mit leiser Stimme: »Um elf Uhr fährt ein Güterzug nach Osten. Ich glaube, daß es sicherer für dich wäre, wenn – «

»Einverstanden«, unterbrach ihn Orry. »Ich gehe sofort; ich will deine Familie nicht gefährden. Ich werde das Haus durch die Hintertür verlassen.«

»Den Teufel wirst du. Wahrscheinlich haben sie dort Wachen postiert. Überlaß das ganze mir.«

George ging in die Halle hinaus. Virgilia rappelte sich mühsam hoch. George wandte sich nach ihr um. »Virgilia – «

Die Gefühle überwältigten ihn, und er konnte nicht weiterreden, aber er brauchte eigentlich auch keine Worte. Seine Augen und sein rotes Gesicht zeigten deutlich, was in ihm vorging. Virgilia scheute vor ihm zurück, und er ging in die Halle hinaus.

Constance, die beiden Kinder und ein halbes Dutzend Bedienstete beobachteten ängstlich die Eingangstüre. Durch das Oberlicht fiel ein Feuerschein, die Männer vor dem Haus waren mit Fackeln ausgerüstet. Orry sah, wie jemand von außen an der Türklinke rüttelte, doch ein Hausdiener war geistesgegenwärtig genug gewesen, um den Riegel vorzuschieben, als der Pöbel aufmarschierte.

»Wer sind diese Männer?« fragte Constance ihren Mann. »Was wollen sie hier?«

»Sie wollen Orry. Virgilia ist schuld daran. Bring die Kinder nach oben.«

»Virgilia? Du lieber Gott, George – «

»Bring sie nach oben! Und ihr geht alle aus der Halle!« Zu Orry sagte er: »Warte einen Augenblick hier.« Während die Bediensteten davongingen und Constance die Kinder nach oben brachte, öffnete George die Tür zu einer Abstellkammer unter der Treppe.

Er nahm als erstes einen Uniformmantel heraus. Orry bemerkte eine Unionsrosette auf dem Aufschlag; sie war kleiner und hübscher als die seinige. Als nächstes holte er einen Patronengurt der Armee hervor, an dem ein 1847er Colt befestigt war.

George legte den Gurt auf einen Stuhl und untersuchte rasch die Waffe. »Ich habe den Colt immer geladen und griffbereit in dieser Abstellkammer, da ich manchmal unerwünschte Besucher habe – Angestellte, die ich entlassen habe, und ähnliche…«

Er prüfte den Lauf und drehte sich dann zur Tür um. Ein Stein flog durch das Oberlicht und zersplitterte das Glas, das in alle Richtungen flog. »Verdammtes Dreckpack«, knurrte George. »Folge mir.«

Mit seinen kurzen, stämmigen Beinen ging er geradewegs auf die Tür zu und schob ohne Zögern den Riegel zurück. Orry war dicht hinter ihm, ängstlich, aber auch eigenartig entzückt. Die Uhr schien zurückgedreht, und sie waren beide wieder in der Schlacht – George wie immer an der Spitze.

George stieß die Tür auf, mit genau kalkulierter Grandezza, wie Orry dachte. Doch der Pöbel, der bereits die Treppen von Belvedere erklommen hatte, schien überhaupt nicht beeindruckt, sondern lärmte weiter. Orry zählte fünfzehn mit Steinen und Stöcken bewaffnete Männer. »Da ist der verdammte Südstaatler«, schrie einer, als Orry hinter George auf die Türschwelle trat. »Da ist der Verräter!«

Ein andrer Mann schwenkte eine rauchende Fackel. »Wir wollen ihn haben!«

George straffte die Schultern. Er sah kampffreudig und kraftvoll aus, als er den Colt hob und den Arm ausstreckte. Er richtete die Mündung auf den Kopf des Mannes, der eben gesprochen hatte, und krümmte den Daumen über dem Abzug.

»Hol ihn dir. Ich garantiere aber, daß du und einige deiner Kumpanen den Versuch nicht überleben werdet.«

Orry trat links neben seinen Freund, nur ein paar Fuß weit von den Männern auf der Treppe. Er glaubte zwei der vor dem Hotel herumlungernden Gestalten zu erkennen.

»Los, auf ihn!« schrie jemand.

George richtete den Colt auf ihn. »Komm doch! Es gibt einen alten militärischen Grundsatz: Wer den Befehl erteilt, führt den Angriff auch an!«

»Verdammt noch mal, Hazard«, schrie ein andrer, »er ist ein Südstaatler. Ein Mann aus dem Palmettostaat. Wir wollen ihm nur zeigen, was wir von Sezessionisten – von Verrätern, halten.«

»Dieser Gentleman ist kein Verräter. Wir haben beide im selben Jahr in West Point abgeschlossen und haben unter General Scott die ganze Kampagne bis nach Mexiko-City mitgemacht. Mein Freund hat ebenso hart für dieses Land gekämpft wie ich, und jener leere Ärmel zeigt euch, was seine Belohnung war. Ich kenne die meisten von euch, und ich möchte nicht, daß auch nur ein einziger durch meine Hand umkommt. Aber wenn ihr einem Ehrenmann wie ihm ein Leid antun wollt, dann müßt ihr zuerst mich beseitigen.«

Der Pöbel wurde etwas ruhiger. Orry sah, wie Blicke von Georges Colt über die Tür wanderten. Einige Männer überlegten sich offensichtlich, wie sie ihn und George in die Zange nehmen und dann überwältigen könnten. Zwei Gestalten lösten sich von der Gruppe, aber George nahm sie sofort ins Visier.

»Den ersten, der noch einen Schritt macht, erschieße ich.«

Die beiden Männer blieben stehen. Fünf Sekunden. Zehn Sekunden. Fünfzehn ...

»Wir können sie überwältigen«, rief eine Stimme. Keine Antwort. Orrys Herz hämmerte. Alles war möglich…

»Zum Teufel«, sagte jemand. »Es lohnt sich nicht, dafür zu sterben.«

»Das nenne ich gesunden Menschenverstand«, sagte George in einem immer noch etwas pathetischen Tonfall. »Wenn der Rest ebenso denkt, könnt ihr gehen. Achtet bloß darauf, daß ihr euch von der Tür entfernt, den Hügel hinuntergeht und von meinem Grundstück verschwindet.« Er legte eine Kunstpause ein und schrie mit seiner besten West-Point-Stimme: »Verschwindet!«

Sie reagierten auf den Befehl und auf die Bedrohung mit dem Colt. Vereinzelt und in Grüppchen schlurften sie davon und hinterließen bloß noch einige Flüche.

Eine Minute verstrich. Eine weitere. George und Orry blieben bei der Tür stehen, für den Fall, daß es sich der Pöbel wieder anders überlegen könnte. Schließlich ließ George den Colt sinken und lehnte aufatmend gegen eine Säule.

»Das hätte ins Auge gehen können«, sagte er sanft. »Aber wir sind noch nicht auf dem Trockenen. Hol deinen Koffer, und ich schicke jemanden los, um die Kutsche zu holen. Je schneller du deinen Zug erwischst, desto besser.«

Orry erhob keinen Einwand.

Einer der Diener betätigte sich als Kutscher, der andere ritt neben der Kutsche her. Beide waren bewaffnet. George ebenfalls. Er hatte bereits veranlaßt, daß der Diener, der Virgilias Botschaft überbracht hatte, gesucht werden sollte. Der Mann würde entlassen werden.

George und Orry waren immer noch erschüttert über das Ereignis. George saß schweigend und in nachdenklicher Stimmung da, während die Kutsche den Hügel hinunterholperte. Schließlich fragte ihn Orry: »Worüber denkst du nach?«

»Über diese schrecklichen Zeiten. Wir hätten dies alles vermeiden können, wenn wir mit dem Guten, das in uns allen ist, reagiert hätten. Aber statt dessen haben wir mit dem Bösen in uns reagiert. Mit dem Schlimmsten. Ich frage mich, ob wir überhaupt zu etwas anderem fähig sind.«

Erneutes Schweigen. Orry versuchte die düstere Stimmung etwas zu heben, indem er seinem Freund erzählte, wofür er bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden hatte – daß Madeline nun endlich bei ihm war und bei ihm bleiben würde. Sie hatten vor, einen Rechtsanwalt zu konsultieren und die Scheidung einzureichen, sobald die düsteren Wolken am Horizont verschwunden waren.

»Das ist herrlich. Schön«, murmelte George, als die Kutsche an einigen abgelegenen Häusern vorbeifuhr. Sein ständig umherwandernder Blick flog über schattige Veranden, erleuchtete Fenster und über die Straße. Plötzlich lehnte er sich vor. Vor ihnen waren vier Männer im Licht der Hotel- und Bahnhofslampen auf die Straße getreten und warteten auf die Kutsche.

»Aufgepaßt, ihr beiden!« schrie George seinen Männern zu.

Keuchend rannte Virgilia über den Pfad, der auf den Hügel hinter Belvedere führte. Sie wagte es nicht, in die Stadt zu fliehen, wo sie vielleicht George begegnen würde.

Dornen rissen an ihren Kleidern und zerstachen ihr die Hände, in denen sie eine riesengroße, vollgestopfte Reisetasche hielt. Sie war zwar eine kräftige Frau, vermochte aber trotzdem die Tasche kaum zu schleppen. Jedesmal, wenn sie gegen ihr Bein schlug, war ein klirrendes Geräusch zu hören.

Sie war einmal zu oft zur Villa zurückgekehrt. Das war ihr jetzt völlig klar. Nie wieder würde sie auch nur einen Fuß nach Lehigh Station setzen.

Wozu auch? Sie haßte die ganze Familie. Den aufgeblasenen kleinen George und den selbstgefälligen Stanley, ihre Ehefrauen und ihre Kinder mit der ach so kostbaren weißen Haut. Sie verstanden überhaupt nichts von dem Kampf, der in der Welt draußen geführt wurde. Sie behaupteten zwar das Gegenteil, aber sie hatten ja keine Ahnung, wie mühsam und grausam das alles war. Wohlgenährte Heuchler waren sie, alle.

Ihre lauten, raschen Atemzüge klangen wie Schluchzer. Plötzlich strauchelte sie und fiel hin. Aber die Tasche ließ sie nicht für eine Sekunde los.

Sie stand wieder auf und hastete weiter den steilen Hügel hinauf, als hätte sie eine ganze Schar von Verfolgern auf den Fersen. In dem Moment, als George sie wortlos angeblickt hatte, war ihr klargeworden, daß sie fliehen mußte.

Schultern und Oberarme taten bereits entsetzlich weh. Sie hatte die Tasche zu voll gestopft, bevor sie das Haus verließ: Kerzenhalter, Silber, Kleidungsstücke aus der Garderobe von Constance und einige ihrer kostbarsten Juwelen – alles Gegenstände, die Virgilia gut verkaufen konnte, um Geld zum Leben zu haben.

Sie betrachtete es nicht als Diebstahl, sondern fand, daß es ihr rechtmäßig zustand. Stanley und George hatten sie immer erniedrigt, weil sie eine Frau war. Und als sie sich in einen Schwarzen verliebt hatte, war ihre Verachtung nur noch stärker geworden. Eines Tages würde sie es ihnen heimzahlen, gelobte sie sich, als sie den Hügel hinaufkeuchte. Allen würde sie es heimzahlen.

Die Kutsche rollte auf die wartenden Männer zu, die in der Mitte der Straße stehenblieben. George berührte den Kutscher am Arm.

»Halt nicht an und fahr auch nicht um sie herum. Gib mir deinen Colt.«

Der Kutscher gab George seine Waffe. Während etwa einer halben Minute war nur das Geklapper der Hufe und das schwache Quietschen der Hinterachse zu vernehmen. George hielt den Atem an und hob die beiden Revolver hoch, so daß sie gut sichtbar waren.

Als der Zaum des Pferdes noch einen knappen Meter von den schweigenden Männern entfernt war, traten sie beiseite.

Orry erkannte im Zwielicht zwei der Männer, die vor Belvedere seinen Kopf gefordert hatten. Der eine spuckte auf die Straße und starrte dabei Orry ins Gesicht. Doch Orry fühlte keine Wut mehr, er war zu erschöpft, um zu reagieren. Die Kutsche rollte weiter.

»Geschafft!« rief George mit einem etwas mühseligen Lächeln.

Sie warteten etwa eine Stunde lang im Bahnhof; die beiden Diener standen draußen Wache. Von den Unruhestiftern war nichts mehr zu sehen.

George schien jetzt ebenso erschöpft wie sein Freund. Ihr Gespräch verlief dementsprechend. Orry erwähnte Elkanah Bent, aber George winkte mit einer müden Handbewegung ab. Nun, da der Krieg ausgebrochen war, meinte er, gab es Schlimmeres zu befürchten als einen verrückten Offizier. Billy war gewarnt, und George schien ihn endgültig vergessen zu wollen. Damit war die Sache auch für ihn erledigt.

Schweigen. Genau wie George fragte sich auch Orry, wie das Land in eine solche Krise hatte hineinschlittern können. Wo hatten sie versagt? Was hatten sie nicht berücksichtigt? Es waren einige Vorschläge zur Lösung des Problems vorgebracht worden, aber man hatte sie nie ernsthaft geprüft. Wie zum Beispiel der von Emerson und anderen ausgearbeitete Plan für eine kompensierte Emanzipation. Die Wiederansiedlung von befreiten Sklaven in Liberia, damit der Norden nicht von billigen Arbeitskräften überschwemmt würde. Hatte auch nur die geringste Hoffnung auf eine Verwirklichung dieser Ideen bestanden? Wären Garrison und Virgilia damit einverstanden gewesen? Oder Calhoun und Ashtons Ehemann? Er wußte es nicht. Er würde es nie wissen.

Die Lokomotive tauchte auf, die Schienen blitzten im Lichtschein auf. Der Bahnhofsvorstand hatte die Fracht mit einer Flagge gekennzeichnet. George begleitete Orry zu der Stelle, wo der Bremswagen mit größter Wahrscheinlichkeit halten würde.

»Sonderpassagier«, erklärte George den verblüfften Bremsern und drückte ihnen Geld in die Hand. Er wollte sich eben von seinem Freund verabschieden, als sein Blick auf Orrys lieblos angefertigte Rosette fiel. »Augenblick noch.«

Er löste die Rosette und warf sie weg. Dann nahm er seine eigene vom Rockaufschlag und befestigte sie an Orrys Kragen.

»Warum sollst du nicht eine echte tragen. Verdammt noch mal, ich will nicht daran schuld sein, daß sie dich in Maryland lynchen.«

Sie umarmten einander. Orry stieg in den Zug.

69

Am nächsten Morgen traf Orry in Philadelphia ein. Um vier Uhr nachmittags ging der Zug nach Washington. Es regnete stark. Orry saß mit der Stirn an das feuchte Fenster gelehnt, wie in Trance. Nur die Erinnerung, der Gedanke an Madeline, hielt ihn aufrecht.

Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, als der Zug mit einem Ruck anhielt. Ein schäbiger Bahnsteig wurde von einigen Lampen beleuchtet, und Orrys Blick fiel auf einen Zug nach Norden, der auf dem andern Gleis stand. Die Passagiere drängten sich auf dem Bahnsteig; sie benutzten die Gelegenheit, um den verrauchten Eisenbahnwagen für eine Weile zu entkommen und etwas frische Luft zu schnappen. Auch um Orry herum stand man auf, um sich nach draußen zu begeben. Er hatte keinerlei Lust, sich zu rühren.

»Wo sind wir?« fragte er den Schaffner.

»Relay House.«

»Weshalb halten beide Züge an?«

»Um Reisende aus einem Bummelzug aus dem Osten aufzunehmen. Einige werden nach Norden, andere nach Süden reisen.«

»Ist ja klar«, meinte Orry. Der Schaffner blickte ihn an, als ob er nicht ganz bei Sinnen wäre.

Orry starrte in den Regen hinaus, und plötzlich fiel sein Blick auf vertraute Gesichter. Er sprang wie von der Tarantel gestochen auf, raste den Gang hinunter und blieb dann abrupt stehen.

Er beugte seine hohe Gestalt und schaute durchs Fenster auf seine Schwester und deren Ehemann. Würde er das junge Paar kompromittieren, wenn er mit ihnen redete? Billy trug die Uniform.

Er stieß einen Fluch aus. Für einen kurzen Augenblick war ihm der Pöbelhaufen vor Georges Haus wieder in den Sinn gekommen: Wenn du ein Südstaatler bist, dann bist du ein Verräter. Rasch ging er zum vorderen Ende des Wagens.

Der Regen schlug ihm ins Gesicht, als er sich einen Weg durch das Gewühl auf dem Bahnsteig bahnte. »Brett? Billy?«

Überraschung und Verwirrung spiegelte sich auf ihren Gesichtern, als sie ihn erkannten. Einige Leute warfen ihm mißtrauische Blicke zu.

»Was in aller Welt tust du denn hier?« rief Brett.

»Ich bin auf dem Weg nach Hause. Bin in Lehigh Station gewesen. George sagte, daß er euch erwartet.«

»Ich bin auf Urlaub«, sagte Billy. »Was dann kommt, wissen die Götter.«

»Wie geht es deinem Arm?«

»Gut. Kein dauernder Schaden.« Er legte den Arm um Bretts Taille. »Jene zwei oder drei Stunden nach der Trauung kommen mir, mehr als alles andere, wie ein böser Traum vor. Ich weiß bis heute nicht genau, weshalb das alles geschehen ist.«

»Ich auch nicht«, fügte Brett hinzu. Orry war sich immer noch nicht darüber im klaren, ob er ihr etwas von Ashtons Machenschaften erzählen sollte.

Sie bemerkte seine Rosette. »Wo hast du denn das her? Ist gar am Ende eine wundersame Wandlung in dir vorgegangen?«

»Nicht ganz. Ich hab’ es von George bekommen. Damit ich durch die feindlichen Linien komme, wie man das nennen könnte.«

Der Bummelzug aus dem Osten ratterte in den Bahnhof ein. Reisende stiegen aus und rannten mit ihrem Gepäck auf die beiden wartenden Züge los. »Wie geht es George?« erkundigte sich Brett.

»Gut, wie immer.«

Sie berührte sanft seinen Arm. »Und wie geht es dir?«

»Besser als ich es je erwartet hätte. Ich nehme an, du weißt nicht, daß Madeline LaMotte ihren Mann verlassen hat. Sie ist nun in Mont Royal. Wir sind schon seit Jahren – befreundet gewesen.«

Brett wirkte nicht überrascht. Sie lächelte. »Ich habe so etwas geahnt. Ach Orry, es gäbe so viele Fragen, die ich dir stellen möchte, und jetzt fällt mir nicht einmal ein Viertel davon ein.«

Der Schaffner vom Zug nach Norden rief voller Ungeduld: »Alle einsteigen bitte! Wir sind schon eine halbe Stunde zu spät.«

Brett warf ihrem Bruder die Arme um den Hals. »Wann werden wir dich wiedersehen?«

»Ich nehme an, es wird ein gutes Weilchen dauern. Ich glaube sogar, daß weder Mr. Lincoln noch Mr. Davis wissen, was demnächst auf uns zukommen wird. Was auch immer geschehen mag – die Bande zwischen den Hazards und den Mains dürfen nicht zerreißen. Es gibt auf dieser Welt wenige Dinge, die so wichtig sind wie Freundschaft und Liebe. Beide sind höchst fragil. Wir müssen sie bewahren, bis diese Zeiten vorüber sind.«

»Das werden wir, ich verspreche es«, sagte sie unter Tränen.

»Hier ist bereits das stärkste Band.« Billy hob ihre linke Hand, um den Ehering zu zeigen.

Orry nickte. »Das ist mir schließlich klargeworden, und deshalb habe ich meine Meinung in bezug auf eure Heirat auch geändert.«

»Dafür danke ich dir«, sagte Billy lächelnd.

»Eeeinsteigen!« schrie der Schaffner. Sein Kollege von Orrys Zug brüllte ebenfalls. Der Schaffner des Nordzugs sprang auf die Stufen eines Wagens und winkte dem Zugführer. Sofort stieg der Geräuschpegel: Dampf zischte, Glockengebimmel, Stimmengewirr.

Billy und sein Schwager schüttelten sich die Hände. Orry eilte zu seinem Wagen zurück. Die Lokomotive spuckte eine Dampfwolke aus, die den Bahnsteig, der sich in Sekundenschnelle geleert hatte, in einen Nebel hüllte. Ein erster Ruck, gefolgt von einem Keuchen, und bald ratterten die beiden Züge in entgegengesetzten Richtungen davon; zurück blieb eine kleine Lichtinsel, während die Züge immer schneller in die Dunkelheit rasten.

Orry mußte in Washington nochmals umsteigen, diesmal auf einen Eilzug. Gerade bevor er losfuhr, stiegen noch vier Männer in Zivilkleidern mit einer Unmenge von Koffern und Paketen ein. Ihrer Haltung und ihren Bewegungen nach zu urteilen, wußte Orry, daß es sich um Soldaten handelte, Soldaten aus dem Süden, die nach Hause fuhren.

Sie nahmen zwei Reihen hinter ihm Platz. Er hörte ihrem Gespräch zu. Würden Lincoln und Jeff Davis Armeen gegeneinander losschicken? Würden die Züge nicht mehr fahren? Würde in Montgomery neues Geld herausgegeben werden? Endlose Fragen; keine Antworten.

Der Regen ging in Nieselregen über. Langsam ratterte der Zug durch die sumpfigen Landstriche des District of Columbia. Auf einem von Unkraut überwachsenen Feld sah Orry eine Armeeeinheit beim Exerzieren. Es standen vereinzelt einige Laternen herum, aber die dunklen Gestalten waren hauptsächlich deshalb zu erkennen, weil irgendwo in der Ferne eine ihm unbekannte Lichtquelle gespenstisch glühte. Er sah ganze Reihen von Bajonetten auf Gewehrläufen; eines der Bajonette blitzte kurz wie ein Stern auf. Die Soldaten exerzierten im Regen. Kein Wunder wurden so viele Anstrengungen gemacht: Washington befand sich jetzt in einer verwundbaren Position. Auf der andern Seite des Potomac lag Virginia – jetzt feindliches Territorium.

Wo mochte Lee sein? Wo einige von Orrys alten Kameraden aus Mexiko? Der kleine McClellan, den er beneidet, aber nie gemocht hatte? Jackson, der am Militärinstitut von Virginia Kadetten unterrichtete? Der flotte George Pickett, der ein so guter Soldat war und so selten ernst? Ach, wie gerne hätte er einige von ihnen wiedergesehen!

Aber nicht auf einem Schlachtfeld. Nicht wenn ihr Wiedersehen von einander feindlich gesinnten Generälen organisiert würde. Männer, die einander an der Akademie wie Brüder nahegestanden waren, planten unter Umständen gerade in diesem Augenblick ihre gegenseitige Vernichtung. Das Unvorstellbare war also doch Wirklichkeit geworden.

Das blinde Marschieren dieser namenlosen Einheit schien ihm der schlagendste Beweis dafür zu sein – eine Vision von finsteren, seelenlosen Gestalten, von messerscharfem, blitzendem Stahl. Die Kriegsmaschinerie lief schon auf Hochtouren. Gott helfe uns allen, dachte er.

An jenem Abend fiel ein leichter Regen in der Tradd Street. Cooper schrieb einen Brief, über den er schon seit einer Weile nachgedacht hatte. Als er damit zu Ende war, suchte er seine Frau. Judith hatte eben die Kinder zu Bett gebracht. Mit dem zunehmenden Kriegsfieber im ganzen Staat waren Judah und Marie-Louise überreizt und wollten immer zu lange aufbleiben.

Ohne Umschweife teilte Cooper Judith seine Entscheidung mit. Judith verharrte einen Augenblick in bestürztem Schweigen. Dann:

»Ist es dir ernst?«

»Ich habe den Brief bereits geschrieben, wie es die Herren von mir verlangt haben. Morgen schicke ich ihn nach Montgomery. Nach dem ersten Mai wird das ganze Vermögen der Carolina Shipping Company, einschließlich unsrer Schiffe, der Marine gehören.«

Kopfschüttelnd setzte sie sich. »Wie kannst du mit deiner Überzeugung und deinen Ansichten eine solche Entscheidung treffen?«

»Neutralität ist der Ausweg des Feiglings. Entweder unterstützen wir den Krieg – oder wir ziehen in den Norden. Die Sezession ist ein Fehler, und das System, das dazu geführt hat, ist ein noch schlimmeres Übel. Ich glaube, daß wir bestraft werden. Zermalmt. Und doch – «, ein sorgenvoller Blick, eine zögernde Handbewegung »fühle ich eine gewisse Loyalität, Judith.«

Sie blickte ihn skeptisch an. Er holte tief Atem. »Ich habe noch etwas mit den Mitgliedern des Ausschusses besprochen, von dem du noch nichts weißt. Sie haben mich gebeten, nach London zu gehen. Als Agent der Marine.«

»London? Weshalb?«

»Weil ihnen klar ist, daß die Konföderation ohne Lebensmittel und Güter von andern nicht wird überleben können. Auch Mr. Lincoln weiß das. Die Yankees werden bestimmt die Blockade als Waffe gegen uns benützen. Und dann müssen wir zu einem Gegenschlag ausholen können. Ein Schiff wie die Star of Carolina – «

»Wovon zum Teufel redest du?« rief Judith aufgebracht. »Sie wird niemals in See stechen!«

»Ich habe gesagt: ein Schiff wie sie, das in der Lage ist, schweres Geschütz zu befördern. Ein Kriegsschiff. Ein Handelsschiff. Ein Schiff, das auf allen Meeren herumfahren und der Schifffahrt der Yankees beträchtlichen Schaden zufügen würde.« Er warf seiner Frau einen kurzen Blick zu. »Weil ich hier in Charleston Erfahrungen gesammelt habe, möchte die Marine, daß ich in Großbritannien die Möglichkeiten…«

»Das heißt, daß wir die Kinder mitnehmen müssen?«

»Und ein Jahr oder vielleicht länger bleiben müssen.«

»Ach Cooper, das können wir doch nicht! Wir kämpfen für eine falsche Sache!«

»Und haben den Kampf vielleicht schon verloren«, sagte er mit einem Kopfnicken. Da tauchte eine flammende Vision von Hazard-Eisen vor seinem geistigen Auge auf. »Und doch habe ich das Gefühl, ich muß gehen, obwohl ich dir meine Beweggründe nicht ganz oder auch nur einigermaßen erklären kann. Nein, ich will ganz ehrlich sein: Ich möchte gehen.«

Sie blickte ihn prüfend an. »Einverstanden. Ich hasse zwar das ganze und begreife deine Logik keineswegs – wenn überhaupt Logik dahintersteckt –, aber du weißt, daß ich dich nie im Stich lassen würde. Ich schlage vor, daß du die Überfahrt auf dem Dampfer buchst.«

»Hab’ ich bereits getan. Freitag in einer Woche schiffen wir uns im Hafen von Savannah ein.«

Er nahm sie in die Arme und hielt sie umschlungen, während sie weinte.

Am nächsten Morgen sorgte er dafür, daß auf der James-Island-Werft ein großer Eisenmast aufgestellt wurde. Als der Flaschenzug und die Taue bereit waren, sah er zu, wie zwei seiner Männer eine Riesenflagge entfalteten. Sie bestand aus drei waagrechten, breiten Streifen; der obere und der untere waren rot, der mittlere weiß. In der oberen linken Hälfte war ein Kreis aus sieben weißen Sternen auf tiefblauem Grund.

Er war verblüfft über die Ähnlichkeit der neuen Flagge mit derjenigen der Nation, von der die sezessionistischen Staaten abgefallen waren. Sogar jetzt, wo wir unsere Unabhängigkeit verkünden, sind wir nicht fähig, alle Bande durchzuschneiden, dachte er, als die neue Staatsflagge gehißt wurde, den ersten Windstoß einfing und sich gegen den Himmel ausbreitete.

70

In der Frühe des darauffolgenden Tages holperte eine Kutsche auf einer staubigen Straße durch Alabama in Richtung Montgomery. Das Kutschendach war mit gut einem Dutzend Koffer, und Reisetaschen beladen. Rex saß auf dem Bock und hielt die Zügel. In der Kutsche mühte sich Huntoon an einem lackierten Eichenklapptisch ab. Er hatte nun doch einen allerdings nicht sonderlich wichtigen Posten in der Regierung erhalten. Im Augenblick war er damit zufrieden, hatte er doch wesentlich mehr Glück gehabt als viele der führenden Sezessionisten von South Carolina. Bob Rhett zum Beispiel war als Präsidentschaftskandidat der Konföderation abgelehnt worden, weil man ihn als zu extrem befunden hatte.

Huntoon war bereit, gewisse Risiken auf sich zu nehmen, um sich eine Position zu schaffen. Während der ganzen mühseligen letzten Etappe ihrer Reise von Columbus, Georgia, bis nach Montgomery hatte er sich mit der Abfassung einer Denkschrift für den Kongreß der Konföderation beschäftigt. Sie bestand zur Hauptsache aus einem Angriff auf den konservativen Charakter der neuen provisorischen Verfassung des Südens, die sich seiner Meinung nach sprachlich und inhaltlich zu stark an die alte Verfassung anlehnte, außer daß sie die Sklaverei ausdrücklich befürwortete. Bemerkenswerterweise wurde der Sklavenhandel mit Afrika von der neuen Verfassung verboten. Diese Bestimmung mußte abgeändert werden.

Huntoon forderte in seiner Denkschrift die neue Konföderation auf, sich ›Vereinigte Staaten von Amerika‹ zu nennen, um der Welt zu zeigen, daß sie die einzig wahre, verfassungsmäßige Regierung auf dem ganzen Kontinent repräsentierte. Aus seiner Sicht waren es die Yankees gewesen, die die Grundsätze der Gründerväter pervertiert hatten.

Allerdings war er bei der Conclusio steckengeblieben. Er hatte geschrieben: »Wir müssen den Beweis erbringen, daß die Aristokratie besser regieren kann als der Pöbel«, und nun kam er nicht mehr weiter. Vielleicht war es der Anblick seiner Frau, der ihn ablenkte und seine Gedankengänge blockierte.

Ashton lehnte an der Wand und starrte zum Fenster hinaus auf die lieblichen Baumwollfelder, durch die die Straße sich hindurchwand. Trotz der allgemeinen Aufregung, die eine solche Reise mit sich brachten, sah sie äußerst attraktiv aus, dachte Huntoon. Er spürte, wie er körperlich reagierte, und erinnerte sich daran, daß er schon seit mehr als einem Monat nicht mehr mit ihr geschlafen hatte. Ashton schien dies offensichtlich nichts auszumachen.

Er räusperte sich. »Liebling? Ich komme nicht mehr weiter. Vielleicht kannst du mir zu einem treffenden Abschluß meiner Denkschrift verhelfen?«

Er hielt ihr das letzte von mehreren eng beschriebenen Blättern hin. Schmollend schlug sie es ihm aus der Hand.

»Ich bin nicht an dem blöden Gequassel interessiert, Jamie.«

Er fühlte, daß seine Erregung wieder nachließ. Ashton sah ihm an, daß sie wohl etwas zu hart gewesen war, und lehnte sich vor, so daß ihre Brust wie zufällig auf seinem Arm zu liegen kam.

»Montgomery wird für uns eine herrliche Erfahrung werden. Es kommt nicht auf die Rhetorik, auf die Philosophie an, sondern auf die Macht, die wir – die du erlangen und einsetzen kannst. Wir haben lange auf diese Gelegenheit gewartet, und wir wollen sie nicht mit sinnlosen Übungen vertrödeln.«

Sie war ganz erregt geworden; der Gedanke an Macht übte jedesmal diese Wirkung auf sie aus. Sollte es ihrem Mann nicht gelingen, sich schnell genug eine hohe Position zu verschaffen, so gab es in Montgomery sicherlich andere Männer, die ihres Wohlwollens würdig waren. In Montgomery oder in Richmond, wie sie sich im stillen korrigierte. Man munkelte bereits davon, daß die Hauptstadt demnächst vom Baumwollgürtel nach Virginia verlegt werden sollte.

Das Gespräch, wie auch eine lange Periode der Abstinenz infolge von Forbes’ frühzeitigem Tod, hatten bei Ashton zu einer sexuellen Spannung geführt. Auch wenn sie ihren Mann nicht besonders mochte, war er doch nicht ganz unbrauchbar.

»Jamie, Jamie – leg das blöde Papier zur Seite. Merkst du denn nicht, daß ich deine Gesellschaft sehr vermißt habe?«

»Wirklich? Das ist mir nicht aufgefallen.«

Doch sein Zynismus war nur von kurzer Dauer. Eine leichte Berührung mit ihrer Hand genügte, um ihn zu erregen. Ashton war etwas über die Intensität und Heftigkeit ihres eigenen Verlangens überrascht.

Er bugsierte sie auf den gegenüberliegenden Sitz; mit der einen Hand drückte er ihren Busen, mit der andern fummelte er unter ihren Röcken an ihrem Bein herum. Ein scheußlich grober Mensch, dachte sie, aber er würde seinen Zweck erfüllen. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich einen Galaball vor, bei dem sie Präsident Davis vorgestellt wurde; er war von ihrer Intelligenz und Schönheit völlig hingerissen.

Unterdessen holperte die Kutsche weiter, und Rex kratzte sich am Kopf und lehnte zur Seite. Er wunderte sich sehr über das laute Quietschen und Schreien, das aus der Kutsche zu kommen schien, aber leider war der Blickwinkel zu eng, und er konnte überhaupt nichts sehen.

Am selben Abend stand Elkanah Bent an der Bar im Willard-Hotel. Er schlürfte Whiskey und addierte Zahlen auf einem Fetzen Papier.

Das Ergebnis beglückte ihn. Nach Abzug der Schneiderkosten für seine neuen Uniformen würde ihm gerade genug bleiben, um die Miete für die kleine Wohnung, die er gefunden hatte, zu bezahlen. In letzter Zeit waren in Washington viele schöne Häuser und Wohnungen frei geworden, weil ganze Scharen von verräterischen Offizieren und Beamten nach Hause in den Süden geflüchtet waren.

Es ziemte sich für ihn, etwas Besseres als nur ein Hotelzimmer sein eigen zu nennen. Dank seiner einflußreichen Freunde hatte er es jetzt zum Brevetoberst geschafft, eine für einen Berufsoffizier nicht ungewöhnliche Beförderung in diesen Zeiten hektischer Kriegsvorbereitungen. Bent hoffte inständig, daß der Krieg länger als nur einige Monate dauern würde. General Scott verwies häufig auf ›die verhängnisvolle Unfähigkeit der Südstaatler, sich einigen oder zusammenarbeiten zu können‹. Er sagte voraus, daß dies sich nachteilig auf ihre Armee auswirken würde.

Nun, er hatte später genügend Zeit, sich mit solchen Gedanken zu befassen. Heute abend wollte er feiern: ein gutes Essen und dann Gesellschaft für eine Stunde. Allerdings würde er für letzteres einen Kredit aufnehmen müssen, aber er kannte ein schäbiges schwarzes Bordell, wo so was möglich war.

Der Gedanke an den bevorstehenden bewaffneten Konflikt beflügelte ihn. Blut würde fließen. Tausende und Abertausende würden sterben. Endlich, endlich könnte er seine Talente einsetzen und den Ruhm und Glanz erwerben, die ihm seiner Meinung nach rechtmäßig zustanden.

Und so ganz nebenbei würde er auch noch einige alte Rechnungen begleichen. Es wurmte ihn immer noch, daß er seine Rachepläne in Texas selbst vereitelt hatte. Und nun war dieser verdammte Charles Main, wie so viele andere ehrlose Soldaten, die wirklich nichts anderes verdient hatten, als vor ein Exekutionskommando gestellt zu werden, einfach in den Süden abgehauen. Doch der Krieg hatte seine eigene merkwürdige Art, Schicksale miteinander zu verknüpfen, und vielleicht würde sich doch noch eine Gelegenheit finden, den Mains eins auszuwischen. Er durfte nicht vergessen, daß sie mit einer Frau in Zusammenhang standen, die sich als Weiße auszugeben versuchte, eine Frau, die nicht nur eine Negerin, sondern die Tochter einer Hure aus New Orleans war.

Und was Billy Hazard anbelangte, so würde er seine Wege verfolgen können. Der junge Offizier leistete ja noch Dienst in der Armee. Bent hatte sich dessen bereits im Büro des Generaladjutanten versichert. Er würde sie kriegen, beide Familien. Weder die Mains noch die Hazards würden ahnen, daß Bents Rachegelüste das bevorstehende Chaos überdauern würden. Ihre Dummheit war seine Trumpfkarte.

Er trank seinen Whiskey aus und bestellte sich einen neuen. Er bewunderte sich in seiner schmucken Uniform im Spiegel hinter der Theke. Dann fielen ihm zwei Männer auf, die sich neben ihm laut unterhielten. Der eine vertrat den Standpunkt, daß ein Wiederaufbauplan ausgearbeitet und unverzüglich veröffentlicht werden solle, damit der Süden, das verlorene Schaf, zur Herde zurückkehren könne.

Bent knallte sein Glas auf die Theke. »Wenn Sie das wirklich glauben, Sir, dann gehören Sie auf die andere Seite des Potomac.«

Der Mann war offensichtlich auf eine Diskussion aus. »Unser Herr, Jesus Christus, hat selbst gesagt, daß Barmherzigkeit – «

»Keine Barmherzigkeit«, unterbrach ihn Bent. »Nicht für einen Cent. Niemals!«

Einige der Zuhörer applaudierten. Bents Gesprächspartner merkte, daß seine Ansichten nicht gefragt waren, und schwieg.

Bent plusterte sich vor dem Spiegel auf. Welch herrlicher Tag war das doch gewesen. Ein Mann hatte Glück, wenn er einen Krieg erleben durfte.

Krieg. Gab es überhaupt ein herrlicheres, ein süßeres Wort? Bent fühlte sich so glücklich, daß er dem Barkeeper einen Vierteldollar Trinkgeld hinterließ.

Er stolzierte aus dem Hotel und gab sich einem seiner Lieblingsgedanken hin. Bent und Bonaparte: zwei Namen, die mit demselben Buchstaben anfingen. Kein gewöhnlicher Zufall. Bei Gott, nein. Es war von enormer historischer Bedeutung. Demnächst würde die Welt es zu schätzen wissen.

Wenige Tage später stattete Virgilia in der Gegend der Blue Ridge Hills bei Harper’s Ferry dem namenlosen Grab von Grady einen Besuch ab.

Es war an einem milden, warmen Aprilnachmittag. Sie hatte am Bahnhof eine Kutsche gemietet und am Rand der staubigen Straße am Fuß des mit Ahorn bewachsenen Hügels angehalten. Nachdem sie das Pferd an einem Ast angebunden hatte, war sie den Hügel hinauf marschiert und neben einem von Bäumen umstandenen Grabhügel auf die Knie gefallen.

»O Grady! Grady!«

Sie ließ sich in das noch junge Gras fallen. Mit ihren eigenen Händen hatte sie das Grab ausgehoben, Grady begraben und den Grabhügel geschaufelt. Während der allgemeinen Verwirrung kurz vor Browns Gefangennahme war sie heimlich nach Harper’s Ferry gekommen, hatte Gradys Leichnam gesucht und versteckt. Später hatte ihr eine befreundete Negerin geholfen, den toten Grady hierherzubringen, wo er von niemandem entdeckt und entehrt werden konnte.

Brown gab es nicht mehr; sein Traum einer glorreichen Revolution war mit ihm am Galgen gestorben. Auch Grady gab es nicht mehr. Doch mit ihrem Blut hatten sie ein wertvolles Geschenk erworben: den Krieg. Es wurde zwar noch nicht gekämpft, aber sie war davon überzeugt, daß es nicht mehr lange dauern würde. Sie ergötzte sich an diesem Gedanken, während sie ihre Schenkel und Brüste gegen den Grabhügel drückte, als ob es Gradys Körper wäre.

Sie stellte sich Reihen um Reihen von Leichen vor, Südstaatler, ohne Köpfe, mit Armstümpfen, aus denen Blut hervorquoll, und Löchern, wo einmal Genitalien gewesen waren. Sie stöhnte und zitterte beim Gedanken an die bevorstehende triumphale Geburt ihrer Revolution. Es würde Arbeit für sie geben, blutige Arbeit, vor der andere entsetzt zurückscheuen würden.

Aber sie würde diese Arbeit auf sich nehmen. Sie würde dem Ruf ihres eigenen Hasses auf diejenigen folgen, die andere zu Sklaven machten, die wunderschöne schwarze Männer zu Sklaven machten. Sie hatte ihre Familie verlassen, diese unerträglichen, selbstgefälligen Moralapostel – für immer. Sie hatte sich von der Menschheit losgesagt und lebte jetzt einzig und allein für ihre Erinnerungen und für einen Gefährten: Der Tod, der ihr Freund und das gerechte Werkzeug Gottes war.

In Mont Royal schienen die Schatten länger und die Frühlingsnächte finsterer als je zuvor. Orry war weder am Anbau und an der Ernte von Reis interessiert, noch hatte er das geringste Vertrauen in den von Jeff Davis angekündigten Plan, wonach die Anerkennung der Konföderation seitens Europas durch die Handelswaffe Baumwolle erreicht werden sollte. Davis war seiner Meinung nach ein verdammter Idiot. Der europäische Markt war mit Baumwolle gesättigt, und wen würde es scheren, wenn der Süden seine Ernte zurückbehielt?

In Orrys Innerem drängte in letzter Zeit alles auf eine Veränderung. Ruhelos irrte er in den ihm vertrauten Räumen – in den gewohnten Geleisen – umher. Nur die Anwesenheit von Madeline und ihre einfache Art, sich in sein Leben einzufügen, machten ihm die Existenz noch erträglich.

Verwirrung und Zweifel schienen sein Schicksal zu sein. Während einer seiner schlaflosen Nächte begab er sich in die Bibliothek und fing an, dort herumzustöbern. Er nahm ein Buch in die Hand, das er seit Jahren nicht mehr angeschaut hatte. Notes on the State of Virginia, das einzige je von Thomas Jefferson geschriebene Buch.

Er zog das Nachthemd etwas hoch und setzte sich hin, um eine Weile in dem Buch zu lesen. Ein Satz, der unterstrichen worden war, stach ihm ins Auge. Am Rand waren drei Worte mit Tinte niedergeschrieben worden: Amen und amen. Die Zeile lautete wie folgt:

»Ja, ich zittere wirklich um mein Land, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist, und daß seine Gerechtigkeit nicht auf ewig schlafen kann.«

Jefferson, ein Südstaatler und Sklavenbesitzer, hatte über die Sklaverei geschrieben. Was Orry bestürzte, war der Vermerk am Rand. Er hatte genügend alte Akten der Plantage durchgesehen, um die Handschrift seines Vaters erkennen zu können.

Den drei Worten nach zu schließen, mußte Tillet, der die Sklaverei nach außen zwar heftig verfochten hatte, doch Zweifel am System gehegt haben, Zweifel, die er sein ganzes Leben lang geheimgehalten hatte. Der alte Sünder, dachte Orry in einem Anflug von Zuneigung. Nun, gab es einen vernünftigen Mann auf der Welt, der keine Zweifel hegte, besonders jetzt, da die Folgen so grausam offensichtlich geworden waren?

Tillets Zweifel vergrößerten seine eigenen, die bereits stark waren. Sie bezogen sich auf die ganze Entwicklungsgeschichte der Mains und auf jeden Mann, der das System unterstützte und folglich davon lebte. Später bedauerte es Orry immer wieder, damals diesem merkwürdigen Impuls nachgegeben und gerade jenes Buch vom Bücherregal genommen zu haben.

An einem nebligen Morgen, wenige Minuten nach Sonnenaufgang, ritten Orry und Charles auf der Plantage herum. Blasse Dunstwolken umhüllten sie, als sie wie Phantomgestalten auf Phantompferden durch eine Landschaft von Grau mit rauchigem Orange galoppierten. Die bewässerten Felder schimmerten unter den Nebelwolken wie blankes Metall.

Zu ihrer Rechten trottete eine Reihe von Sklaven über das Feld. Der Mann an der Spitze wandte sich kurz um, um dem Herrn der Plantage einen lakonischen Gruß zu entbieten. Sogar aus der Distanz konnte Orry eine gewisse Ironie in der Haltung des Schwarzen, einen gewissen Groll auf seinem Gesicht erkennen.

Die gespensterhafte Kolonne der Männer tauchte bald darauf wieder in einem Nebelwirbel unter, doch es befanden sich noch weitere Gruppen von Arbeitern an jenem Morgen auf den Feldern, und Orry mußte feststellen, daß er mitten durch sie hindurch geritten war, ohne daß er sie bemerkt hatte. Sie gehörten irgendwie zum Ganzen, wie die Schleusen auf den Feldern oder das Küchengebäude. Sie gehörten zum Besitz.

Wiederum dachte er an das Buch von Jefferson. Besitzgegenstände. Das war es doch, nicht wahr? Das war doch der Grund, weshalb der Norden, weshalb die Welt, ja vielleicht sogar Gott selbst den Süden zur Rechenschaft zog.

»Wade Hampton ist dabei, eine berittene Legion zusammenzustellen«, sagte Charles plötzlich. »Ich werde mich in zwei Wochen zum Dienst melden.«

»Das wußte ich nicht.«

»Ich habe erst gestern Bericht erhalten. Ich habe die Warterei satt; ich möchte das tun, wozu ich ausgebildet worden bin.« Er sprang mit seinem Pferd über einen Graben. Sein viel zu langes Haar tanzte lustig in seinem Nacken auf und nieder. »Es wird einen glorreichen Kampf geben.«

Diese Bemerkung machte Orry deutlich, wie groß der Graben war, der sie voneinander trennte. Es war nicht bloß der Altersunterschied, der schuld daran war. Sogar nachdem Charles in Texas dem Tod ins Auge gesehen hatte, war seine Kampflust nicht kleiner geworden.

Orry wollte nicht, daß Charles sein Schweigen als Zustimmung auffassen könnte. »Glorreich?« rief er. »Ich glaube nicht. Diesmal sicher nicht.«

Doch Charles hatte bereits seinem Pferd die Zügel gegeben und lachte so laut, daß er die ernste Stimme hinter ihm nicht mehr hörte.

Mit wehendem Haar galoppierte er in den dunstigen Sonnenaufgang hinein – ein vollendeter Reiter.

Am nächsten Tag erhielt Orry einen Brief von der Regierung. Er versteckte ihn bis zum Abend und besprach ihn dann mit Madeline in ihrem gemeinsamen warmen Bett.

»Sie haben mich gebeten, das Kommando einer Brigade zu übernehmen. Offensichtlich macht es bei dem Dienstgrad nichts aus, wenn man nur noch einen Arm hat! Sie schreiben, meine Erfahrungen seien von unschätzbarem Wert. Unschätzbar – man stelle sich so was vor!«

Er lachte, doch der Humor kam nicht von Herzen. »Madeline, weißt du, daß Calhoun vor Jahren gesagt hat, West-Point-Männer würden große Armeen anführen? Er wird sich aber dabei kaum gedacht haben, daß sie diese Armeen aufeinanderhetzen würden.«

Nach einer Weile sagte sie: »Was hältst du von dem Vorschlag?«

Er legte sich hin und streichelte ihr Haar. »Er ist verführerisch, aber ich würde dich nicht allein hier zurücklassen wollen.«

»Ich habe keine Angst vor Justin.«

»Es geht mir nicht um Justin. Ist dir aufgefallen, wie sich viele Leute auf der Plantage benehmen? Sie sind faul geworden, und einige haben in letzter Zeit ein arrogantes Glimmen in den Augen. Noch heute Nachmittag habe ich Cuffey dabei erwischt, wie er mit einem andern Haussklaven flüsterte. Ich habe den Namen ›Linkum‹ gehört.«

Madeline versicherte ihm, daß er sich keine Sorgen um sie zu machen brauche, sollte er sich dafür entscheiden, den Vorschlag anzunehmen. Er dankte ihr, wußte jedoch, daß seine Entscheidung viel elementarere Gründe haben würde. Sein Land, das Land der Mains, war jetzt bedroht. Wollte er es verteidigen oder nicht?

»Morgen früh zeige ich dir den Brief«, sagte er. »Ich glaube, ich muß ihnen eine positive Antwort geben.«

»Das habe ich bereits geahnt, als der Ruf an dich erging.«

Der Ruf. Das Wort löste eine Welle von Erinnerungen in ihm aus, vor allen Dingen akustischer Art. Er hörte die schon fast vergessenen Trommelwirbel wieder; sie forderten ihn zur Antwort auf.

»Und was würdest du davon halten, wenn ich das Angebot annähme?«

Sie küßte ihn auf den Mund. »Ich würde es bedauern.« Noch ein Kuß. »Und stolz auf dich sein.« Ein dritter Kuß, länger, süßer. »Und darauf warten, daß du bei der ersten günstigen Gelegenheit wieder zu mir zurückkommen würdest.«

Sie umschlang ihn eng mit den Armen. Er hatte sich noch nie so glücklich gefühlt. Sie flüsterte ihm zu:

»Ich liebe dich zu sehr, als daß ich dich verlieren möchte, Orry. Wenn du fortgehst, werde ich so heiß und innig zu Gott beten, daß er dich unbedingt heil und gesund zurückschicken muß.«

Stanleys Mentor, Boss Cameron, hatte ihm einen Posten in der Hauptstadt verschafft. In Washington waren bereits Anzeichen dafür vorhanden, daß die Stadt zu einem Paradies für Kriegsgewinnler, Aasgeier der Macht und politische Söldner werden würde. Stanley, der unermüdlich für seine Karriere arbeitete, wirkte voll neuer Lebenskraft, und Isabel freute sich auf ein aufregendes Gesellschaftsleben. Sie hatten beide bereits ihr Haus ausgesucht und ihre Zwillinge an einer von Washingtons Eliteschulen eingeschrieben. Beide waren nun vierzehn und undisziplinierte Grobiane. Ganz Lehigh Station würde ihre Abwesenheit begrüßen.

In Rhode Island zerstörte ein heftiger Sturm einen beträchtlichen Teil des Daches von Fairlawn. Die Nachricht wurde George telegraphisch mitgeteilt, und er beschloß, am nächsten Tag mit dem Zug dorthin zu reisen, um sich den Schaden zu betrachten. Constance sagte, sie würde ihn begleiten. Sie hatte dringend Ferien nötig; sie war über die ganze Welt verärgert und brachte kaum noch Geduld für William und Patricia auf. Brett und Billy versprachen ihr, sich um die Kinder zu kümmern; Billy wollte vor der Wiederaufnahme seines Diensts ohnehin noch einige Tage in Belvedere verbringen.

George hatte eine längere Sitzung in seinem Büro im Werk abgehalten und konnte an jenem Abend einfach nicht einschlafen. Um halb zwölf begab er sich in die Bibliothek und setzte sich an den Tisch. Sein volles Glas Whiskey stellte er neben den grobflächigen braunen Gegenstand, den er während so vielen Jahren wie einen Schatz gehütet hatte.

Lange starrte er den Meteoriten an; er war nicht mehr so stolz auf sein Geschäft wie früher, und er war auch nicht mehr so sicher, ob der Eisenhandel wirklich die enorme Bedeutung hatte, die er ihm in der Vergangenheit beigemessen hatte. Er sann darüber nach, wie oft das Eisen im Lauf der Jahrhunderte für destruktive Zwecke eingesetzt worden war; dies würde bald einmal mehr geschehen. Schließlich, gegen drei Uhr morgens, trank er seinen Whiskey aus, löschte die Lampe und ging ins Schlafzimmer, wo er sich neben seine schlummernde Frau in die Wärme kuschelte. Doch der Schlaf blieb ihm verwehrt.

Newport wirkte unter dem grauen Himmel verlassen, tot. George und Constance fühlten sich merkwürdig, so ganz allein in dem großen Haus, und doch genossen sie die ihnen unvertraute Intimsphäre.

Am Nachmittag des ersten Tages, den sie in Fairlawn verbrachten, setzte sich George für eine Stunde mit dem Baumeister zusammen, der das Dach reparieren würde. Dann machten er und Constance einen Spaziergang am einsamen Strand, wo sich hohe, weißschäumende Wellen brachen. Obwohl es Frühling war, herrschte eine fast winterliche Stimmung. Constance hatte sich bei George eingehakt; sie suchte seine körperliche Nähe.

»Du hast mir nicht gesagt, weshalb du diese Sitzung im Werk abgehalten hast, George.«

»Ach, da ist nichts Geheimes dran. Ich habe alle Vorarbeiter zusammengetrommelt und ihnen mitgeteilt, daß wir ab jetzt auf einen 24-Stunden-Betrieb umstellen. Das Kriegsministerium hat uns schon einiges in Auftrag gegeben, und Stanley wird sicher darum bemüht sein, noch viel mehr Aufträge hereinzubekommen. Das Ganze wird uns reicher machen als wir es je gewesen sind.«

»Auf Kosten einer bestimmten Anzahl von Leichen.«

Er runzelte die Stirn. »Ja, vermutlich.«

Er blieb stehen und wandte ihr das Gesicht zu. Er mußte ihr etwas sagen. »Stanley sagt, daß Washington alle Akademieabsolventen haben wolle, die aufzutreiben sind.«

»Für die Armee?«

»Oder für Posten bei der Regierung.«

Sie blickte ihn ernst an. »Willst du Dienst leisten?«

»Wollen ist nicht der richtige Ausdruck. Irgendwie, irgendwo«, er holte tief Atem; es war bei weitem nicht das glücklichste Eingeständnis, das er je gemacht hatte, aber er verspürte eine große Erleichterung, »habe ich das Gefühl, ich muß.«

Sie fing an zu schluchzen, kämpfte jedoch sofort die Tränen nieder. »Es ist deine Entscheidung, Liebling.« Sie nahm ihn wieder beim Arm. »Gehen wir wieder ins Haus zurück? Ich habe plötzlich das dringende Bedürfnis, mit dir zu schlafen.«

Sie lächelte zwar, aber er konnte immer noch Tränen in ihren Augen schimmern sehen. Er warf einen verstohlenen Blick auf das dürre Gestrüpp hinter den großen Felsen am Ende des Strands.

»Wie wäre es hier?« Er setzte ein schelmisches Lächeln auf und küßte ihre Nasenspitze. »Es sei denn, daß Sie für so was zu konservativ empfinden, Mrs. Hazard.«

»George«, sie hielt kurz inne und warf ihm einen neckischen Blick zu, »hast du solche Sachen des öfteren gemacht, bevor wir geheiratet haben? Zum Beispiel in West Point? Es scheint nichts Ungewohntes für dich zu sein.«

»Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit.«

Sie dachte nach. »Und wenn man uns sieht?«

»Wer sollte uns sehen? Keine Seele weit und breit.«

»Es ist ziemlich kühl.«

»Ich werde dir warm geben.«

»Glaubst du, wir können es wirklich wagen?«

»Natürlich. Die Kriegszeiten haben eine verheerende Wirkung auf die Konventionen. Die Leute wissen, daß sie vielleicht keine zweite Chance mehr haben werden.«

Sie stellte fest, daß sein kleiner Scherz eigentlich einer düsteren Stimmung entsprungen war. Seine Augen waren sehr ernst. Sie umklammerte seine Hand. Sie drehten dem leblosen Himmel den Rücken zu und rannten auf die Felsen los.

71

Billy und Brett nahmen in Belvedere gemeinsam das Abendessen ein, und Billy schlug vor, anschließend einen Spaziergang zu unternehmen; es war ein wirklich herrlicher Frühlingsabend. Doch beiden war sofort klar, daß dies nicht der einzige Grund sein konnte; in den vergangenen Stunden war die Stimmung zwischen ihnen merklich gespannter geworden. Am frühen Nachmittag war ein Telegramm eingetroffen; Billy hatte Befehl erhalten, am nächsten Morgen nach Washington zurückzukehren. Der Gedanke an seine unmittelbar bevorstehende Abreise deprimierte Brett und verdarb ihr den Appetit.

Gegen Ende der Mahlzeit wurde plötzlich das Stückchen Himmel, das durch die Eßzimmerfenster in der Dämmerung zu sehen war, von einem Lichtstrahl überflutet. Als Billy, Brett und zwei der Hausmädchen ans Fenster eilten, spürten sie die leichten Erschütterungen eines fernen Bebens. Eines der Mädchen stieß einen leisen Schrei aus. Ein Diener stürzte ins Zimmer und verkündete aufgeregt, eine Sternschnuppe habe taghell aufgeleuchtet und sei dann im Nachbartal verschwunden.

Wenn ein Meteor auf die Erde gefallen war, so ließe sich damit die Erschütterung erklären. Der erschrockene Diener erzählte von den vielen Sternschnuppen, die in letzter Zeit über dem Tal niedergegangen waren. Er zitterte und flüsterte etwas von Gottes Zorn, der auf die Erde niederging.

Brett nahm die Bemerkungen zwar mit äußerlicher Ruhe auf, aber das merkwürdige Licht und die Erschütterung beunruhigten sie noch mehr, als sie mit Billy den Hügel hinaufstieg, von dem aus man die Hochöfen der Hazard-Werke überblicken konnte. Es war ein herrlicher Abend, warm und wolkenlos. Tausende von Sternen funkelten atemberaubend hell, ihr Glühen durch vereinzelte phosphoreszierende Lichtschleier gedämpft.

Vom Hügel her wehte ihnen ein merkwürdig beißender Geruch entgegen, der einer dünnen, beinahe unsichtbaren Rauchwolke zu entstammen schien. »Was brennt?« fragte sie, als sie beide leicht außer Atem auf dem Hügel angelangt waren. Sie standen mitten in den dichten Lorbeersträuchern, deren Blüten weiß in der Dunkelheit aufleuchteten.

Billy schnupperte. »Ich weiß nicht, aber es scheint nicht weit weg zu sein. Dort unten. Warte hier, ich seh’ mal nach.«

Er kletterte durch die Lorbeersträucher hinunter. Der Rauch wurde etwas dichter und der Brandgeruch intensiver. Noch bevor er den Krater sah, ahnte er ihn bereits; Hitze schlug ihm ins Gesicht. Schließlich sah er die Einschlagstelle im fahlen Licht, einige Meter weit entfernt, ein dunkler Fleck auf der hellen Flanke des Hügels. Den Meteoriten konnte er nicht ausmachen, aber er wußte, daß er dort war.

»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er, als er wieder oben auf dem Hügel stand. »Die Sternschnuppe, oder ein Stück davon, ist ganz in der Nähe heruntergefallen.«

Sie suchte in seinen Armen Schutz vor ihrer Angst und ihrem Gefühl der Einsamkeit. Natürlich taten George und Constance ihr Möglichstes, damit sie sich wie zu Hause fühlte. Aber sie hatte sich noch nicht wirklich an das Leben in Pennsylvania, an das Tal, an die Leute oder ihre Art gewöhnt. In den Psalmen stand, daß Gott die Fremden beschütze, aber sie zweifelte ein bißchen daran.

Und jetzt konnte sie ihre Gefühle nicht länger für sich behalten.

»Billy, ich habe Angst.«

»Vor dem Krieg?«

»Ja, und auch davor, daß du gehst. Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, wo du sein wirst. Ich habe Angst vor den Leuten in der Stadt und davor, wie sie mich manchmal vorwurfsvoll ansehen, weil ich aus dem Süden komme. Ich habe vor allem Angst. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich kann nicht anders.«

Ihrer Stimme fehlte die Stärke, die Billy immer von ihr erwartete. Sie redete ganz leise, und er bemerkte plötzlich, daß er ebenso viel Angst hatte wie sie. Er wußte nicht, wohin die Armee ihn schicken würde, obwohl er sich einigermaßen vorstellen konnte, welche Art von Pflichten ihn erwartete. Er würde Schanzen instandstellen, Straßen freimachen oder Pontonbrücken für die großen Armeen bauen. Pioniere waren den andern Truppen oft voraus und damit als erste dem feindlichen Feuer ausgesetzt.

»Alles ist so ungewiß«, murmelte Brett. »Es gibt soviel Haß und soviel Vorfreude über das bevorstehende Töten. Manchmal frage ich mich, ob überhaupt jemand überleben kann.«

»Wir lieben uns genug, wir können alles überleben. Unsere Familien ebenfalls. Und das Land auch.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Ja. Einmal, als ich traurig war, hat George mir hiermit geholfen.« Er brach einen Lorbeerzweig ab und legte ihn ihr in die Hand. »Dort, wo andere Pflanzen sterben, gedeiht der Lorbeer. Meine Mutter sagte immer, daß unsere Familie dem Lorbeer gleicht, und ich glaube, dasselbe gilt für deine Familie. Da wir einander fast alle lieben, sind wir stark genug, um alles überleben zu können.«

Sie betrachtete den Zweig mit den kleinen weißen Blüten und steckte ihn dann in eine Tasche ihres Kleids. »Danke.«

Er beugte sich hinunter, um ihr Gesicht zu küssen, und spürte ihre Tränen, aber ihre Stimme klang wieder kräftiger.

»Sobald ich weiß, wo ich stationiert bin, werde ich dir eine Nachricht zukommen lassen. Wir werden dies alles schon irgendwie durchstehen.«

Sie küßte ihn. »Ach, ich liebe dich, Billy Hazard.«

»Ich liebe dich, Brett. Und deshalb werden wir durchkommen.«

Sie küßten sich lange; dann drehte sie sich um und lehnte ihren Rücken an seine Brust. Sie betrachteten die Sterne, während der Frühlingswind über den Hügel hinwegbrauste. Der Lorbeer wogte im Wind und raschelte leise. Billy hatte seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, Gewißheit hatte er nicht. Er wußte wohl, daß die Hoffnung zerbrechlich war.

Auch die Dunkelheit schien ungewiß. Sie wandten ihre Blicke von den Hazard-Werken ab, merkten jedoch bald, daß ihr Licht überall um sie herum war, ein stärker werdendes rotes Glühen, das das ganze Tal zu erfüllen schien. Dahinter wirkten die Lichter der Stadt blaß, und einige waren gar nicht mehr zu sehen.

Billy wollte sich nicht umsehen oder die Existenz der Fabrik zur Kenntnis nehmen, aber es war unumgänglich. Der blutrote Glanz der drei Hochöfen ertränkte die Sterne. Er hörte das Rufen der Männer, die während der Nacht in Rauch und Feuer arbeiteten, und den ohrenbetäubenden Lärm der auf Hochtouren laufenden Maschinen.

Für einen Augenblick schloß er die Augen. Umsonst. Scharlachrote Lichtwellen überfluteten Haar und Schultern seiner Frau. Der Wind hatte umgeschlagen und trug jetzt den Qualm und Rauch der Hazard-Werke zu ihnen herüber. Das Tal und die ganze Welt schienen vom Gehämmer der Maschinen zu widerhallen, welche die ersten Tonnen Eisen für die Waffen, für die Union, für den Krieg ausspuckten. Der Wind vermischte den Rauch des Eisenwerks mit dem Rauch des Meteoriten, der den Lorbeer auf der Hügelflanke weggefressen hatte, als ob dort nie etwas gewesen wäre.



Die Sklaverei bringt das Strafgericht des Himmels über ein Land. Da die Nationen nicht in einer andern Welt belohnt oder bestraft werden können, muß es in dieser Welt geschehen.

George Masonaus Virginia 1787

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