Die Menschen mögen widersprüchlich sein, aber die menschliche Natur bleibt sich selber treu. Seit dem das Monstrum der Sklaverei geschaffen wurde, hat sie immer wieder schreiend davon Zeugnis abgelegt, und bis es unter den Verwünschungen des Universums zugrunde gegangen ist, wird es unbeirrt ihren Weg gehen, ihre Pfeile abschießen und die Brut verurteilen.
Theodore Dwight Weld. American Slavery As It Is 1839
18
Mit einem Weihnachtsfest wurde George bald darauf feierlich zu Hause willkommen geheißen. Er hatte Gelegenheit, all die Veränderungen, die sich in kurzer Zeit in der Familie ereignet hatten, zu beobachten. Einiges überraschte ihn sehr.
Sein Bruder Billy, der erst zwölf war, handelte bereits wie ein Erwachsener und sah auch so aus. Sein Gesicht war voller geworden und hatte nun ebenfalls den leicht derben Ausdruck angenommen, der allen Hazards – mit Ausnahme von Stanley – eigen war. Sein braunes Haar war dunkler als dasjenige von George, seine blauen Augen weniger blaß und durchdringend. Er hatte ein liebenswürdiges Lächeln, aber wenn er sachliche und intelligente Fragen zum Krieg stellte, war er sehr ernst. Wer war der bessere General, Taylor oder Scott? Was konnte man über einen Vergleich der mexikanischen mit der amerikanischen Armee sagen? Was hielt George von Santa Anna? Billy konnte wohl nicht so ernst sein, wie es den Anschein erweckte, dachte George. Aber dann erinnerte er sich daran, daß es ihm selbst, als er in Billys Alter gewesen war, meistens sehr ernst gewesen war. Manchmal hatten ihn Frauen in Verlegenheit gebracht. Ob wohl Billy ähnliche Probleme hatte?
Dann mußte er über sich selbst lachen. Auch er hatte sich verändert, nicht nur die andern Hazards.
Virgilia schwatzte pausenlos über die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Sie nannte es ihre Arbeit. Sie war nicht nur fanatisch geworden, sondern nahm sich selbst auch sehr wichtig. Natürlich sagte George dies nicht laut, aber er verbarg auch nicht seinen Ärger, als er ihr mitteilte, daß Orry sein Trauzeuge sein würde.
Virgilia entgegnete darauf: »Ach ja, dieser Freund von dir, der Sklaven besitzt. Nun, George, sei gewarnt: Ich werde ihn weder anlächeln noch vor ihm kriechen.«
Es versprach eine unangenehme Hochzeit zu werden. Virgilia war offensichtlich entschlossen, Orrys Besuch zu verderben, und Stanleys Frau machte mehrere eisige und sarkastische Bemerkungen in bezug auf Constance Flynns Religion und den Ort der Hochzeit – die kleine, unprätentiöse katholische Kapelle am Kanal.
Stanley hatte vor etwas mehr als einem Jahr geheiratet, als George nach Mexiko unterwegs war. Isabel Truscott Hazard war 28, zwei Jahre älter als ihr Mann. Sie kam aus einer Familie, die von sich behauptete, einen Freund und Kollegen von William Penn als Stammvater zu haben. Obwohl sie sich während ihres ersten Jahres in Lehigh Station vornehmlich ihrer Schwangerschaft gewidmet hatte, war sie dank dem Namen ihres Mannes und ihrem eigenen Ehrgeiz zu einer führenden sozialen Position aufgerückt.
George versuchte Isabel zu mögen, aber nur fünf Minuten lang. Isabel war häßlich wie ein Pferd, was ihn nicht gestört hätte, wenn sie intelligent oder anmutig gewesen wäre. Aber sie betonte mit einigem Stolz, daß sie nie etwas anderes als den Gesellschaftsklatsch lese. George hätte Mitleid mit ihr haben können, aber weshalb sollte er sich überhaupt um sie kümmern? Sie glaubte ja doch, daß sie perfekt sei. Dasselbe dachte sie auch über ihr Zuhause, ihre Garderobe, ihren Geschmack in bezug auf Möbel und ihre Zwillingssöhne, die neun Monate auf den Tag genau nach der Hochzeit auf die Welt gekommen waren. Sie hatte Stanley bereits darüber informiert, daß sie keine weiteren Kinder mehr haben wollte, da sie das ganze ekelhaft gefunden hatte.
Mit großem Stolz zeigte George seiner Familie eine kleine Photographie von Constance. Wenige Minuten später, als ein Diener ihnen Rumpunsch servierte, bemerkte Isabel:
»Miß Flynn sieht sehr hübsch aus.«
»Danke, da bin ich einverstanden.«
»Man sagt, daß die Männer des Südens körperliche Schönheit ohne, sagen wir, Substanz mögen. Ich hoffe, deine Verlobte ist nicht so naiv zu glauben, daß man im Norden auch so denkt.«
George wurde rot. Offensichtlich hatte Isabel beschlossen, Constance zu verurteilen, weil sie zufällig schön war.
Maude Hazard mochte die Bemerkung ihrer Schwiegertochter nicht. Stanley bemerkte, wie seine Mutter die Stirn runzelte und etwas zu Isabel sagte. Für den Rest des Abends schwieg sie nun zwar, aber George war sicher, daß dies nicht für immer sein würde.
Für die Weihnachtsfeiertage war der Kamin mit Berglorbeer geschmückt worden. Fenster und Türen ebenfalls. Auf dem Kaminsims stand der Stolz der Familie, ein massiver, etwa siebzig Zentimeter hoher Pokal, der vom berühmten John Amelung aus Maryland stammte. Williams Vater hatte den Pokal in einer Zeit des Überflusses gekauft. Auf dem Glas hatte der Künstler einen Schild und einen amerikanischen Adler mit ausgebreiteten Schwingen eingraviert. Vom Schnabel des Adlers flatterte ein Band mit der Inschrift E pluribus unum. Gegen Ende der Feier stellte Maude sich vor den Kamin und hielt eine kurze Ansprache.
»Nun, da George endgültig zu Hause ist, müssen wir eine Änderung der Leitung der Hazardwerke vornehmen. Von jetzt an werden Stanley und George in gleichem Maße für den Betrieb des Ofens und des Walzwerks verantwortlich sein. Deine Zeit wird auch noch kommen, Billy, mach dir keine Sorgen.«
Stanley versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, aber er sah aus, als hätte er eine Zitrone verschluckt. Maude fuhr fort:
»Da die Familie immer größer wird, können wir nicht mehr alle unter einem Dach wohnen. Es müssen also auch in dieser Hinsicht einige Änderungen vorgenommen werden. Dieses Haus wird von nun an Stanley und Isabel gehören. Ich werde auch hier wohnen, und für eine gewisse Zeit auch noch Billy und Virgilia.«
Sie wandte ihren Blick George zu und nahm ein gefaltetes Dokument vom Kaminsims, das er vorher nicht bemerkt hatte. »Einer der letzten Wünsche deines Vaters war, daß du ein eigenes Haus haben sollst. Dies also für dich und deine Braut: Es ist eine Urkunde für ein Stück Land. Die Parzelle ist recht groß und befindet sich gleich nebenan. Dein Vater hat das Schriftstück zwei Tage vor seinem Schlaganfall unterzeichnet. Bau Constance und deinen Kindern ein Heim.«
Georges Augen füllten sich mit Tränen, als er die Urkunde in Empfang nahm; Billy klatschte. Stanley und Isabel schlossen sich ihm ohne Begeisterung an. George verstand den Grund ihres Verhaltens. Stanley war nicht sonderlich darauf aus, die Leitung des Unternehmens mit einem Bruder zu teilen, den er als unerfahren und waghalsig betrachtete.
Constance und ihr Vater trafen Ende März im Norden ein, und die jungen Leute heirateten an einem milden Apriltag. George hatte seinen neuen, verantwortungsvollen Posten bereits vor drei Monaten übernommen.
In seiner Jugendzeit hatte er hier und dort einige Arbeiten in den Eisenwerken verrichtet, aber jetzt betrachtete er das Ganze mit den Augen eines Unternehmers und nicht mit dem Blick eines gelangweilten Knaben, der anderswo zu sein wünschte. Er streifte oft durch die Hochofenanlagen, die Gießerei und das Walzwerk, lernte die Arbeiter kennen und hoffte, ihnen zeigen zu können, daß sie ihm vertrauen konnten. Er stellte Fragen und konzentrierte sich immer voll auf die Antwort. Stieß er dabei auf ein Problem, das er lösen konnte, so tat er es.
Viele Male blieb er bis zur Morgendämmerung auf und las. Er sah die alte Korrespondenz durch, schlug sich mit dicken Handbüchern über die Eisenindustrie und mit technischen Büchern herum. Seine Neugier ärgerte Stanley. George war es egal. Was er las, war recht aufschlußreich und manchmal ärgerlich. Die Akten zeigten nämlich, daß Stanley jedesmal den Weg des geringsten Risikos eingeschlagen hatte, wenn ihm sein Vater die Entscheidung über ein Projekt erlaubt hatte. Glücklicherweise hatte William Hazard seinem ältesten Sohn nicht zu viele Kompetenzen übertragen. George war davon überzeugt, daß die Werke sonst auf den Stand des 18. Jahrhunderts zurückgefallen wären.
George fand daneben noch Zeit, einen Architekten aus Pennsylvania kommen zu lassen, der Pläne für sein neues Haus entwerfen sollte. Villen im italienischen Stil waren jetzt sehr en vogue, und der Architekt entwarf einen Plan für eine Villa in asymmetrischer L-Form mit einem raffinierten Aussichtsturm im Winkel. Dieser Turm sollte dem Gebäude den Namen geben: Belvedere – schöne Aussicht. War das Haus einmal fertiggestellt, würde dies sicher stimmen. Die Fundamente waren eben ausgehoben worden, als die Flynns ankamen.
Constance merkte bald, daß Isabel sie verachtete; sie lächelte und versuchte, das beste daraus zu machen. Fühlte sich Orry während der Hochzeitsfeierlichkeiten durch Virgilia beleidigt, so zeigte er dies nicht. Die beiden Neuvermählten machten sich auf ihre Hochzeitsreise nach New York. Die Familienkutsche führte sie am Handelsposten vorbei, der der Stadt ihren Namen verliehen hatte, aber Constance hatte keinen Blick für die Landschaft übrig. Sie lagen einander in der Kutsche in den Armen. Sie hatten eine einzige Nacht für sich allein in Easton, eine selige Nacht, als ein Kurier George nach Hause rief – für eine der ersten großen Auseinandersetzungen mit seinem Bruder Stanley.
Einer der Hochöfen war durch die enormen Spannungen, die sich im Innern anstauten, explodiert – ein Unfall, der sich bereits mehrere Male ereignet hatte. Zwei Arbeiter hatten dabei den Tod gefunden. Nachdem George die Unfallstelle inspiziert hatte, ging er in Stanleys Büro.
»Weshalb waren die Schornsteine nicht mit den gußeisernen Ringen versehen? In den Akten steht, daß Geld dafür vorgesehen war.«
Stanley sah blaß und erschöpft aus. Seine Stimme verriet Unmut, als er sagte: »Das war Vaters Idee, nicht meine. Nachdem er gestorben war, habe ich den Auftrag annulliert. Ich hatte den Eindruck, daß wir uns das nicht leisten könnten.«
»Du glaubst, daß wir uns zwei Leichen und zwei vaterlose Familien eher leisten können! Ich möchte, daß diese Ringe angebracht werden, und werde sofort einen Auftrag erteilen.«
Stanley versuchte einen entrüsteten Ton anzuschlagen. »Ich glaube nicht, daß du das Recht hast, eine Bestellung – «
»Verdammt! Du hast auf einem einzigen Gebiet mehr Rechte als ich. Du bist der einzige, der Wechsel unterschreiben darf. Diese Ringe werden bestellt. Und wir bezahlen jeder Familie tausend Dollar.«
»George, das ist blödsinnig.«
»Nicht, wenn wir weiterhin gute Arbeiter haben wollen. Nicht, wenn wir ruhig schlafen wollen. Du unterzeichnest die Wechsel, Stanley, oder ich komme mit hundert Mann und belagere dein Haus so lange, bis du es tust.«
»Verdammter Emporkömmling«, knurrte Stanley, aber er unterzeichnete.
Als er Maude mitteilte, daß man Schutzringe an den Schornsteinen anbringen würde, stellte er die Sache so dar, als ob das Ganze seine Idee gewesen sei.
Im November 1848 ging Zachary Taylor als Sieger aus der Präsidentenwahlkampagne hervor. Ungefähr gleichzeitig wurde Belvedere fertiggestellt, und George und Constance, die schwanger war, zogen in das neue Haus. Nicht lange danach kam William Hazard III zur Welt. Die beiden liebten ihr neues Zuhause. Constance möblierte erst das Kinderzimmer und stattete dann die übrigen Räume mit teuren, aber bequemen Möbeln aus, die dazu da waren, benützt und nicht bewundert zu werden. Im Gegensatz dazu betrachteten Stanley und Isabel ihr Haus als Museum.
George besprach jede wichtige Entscheidung mit Constance. Am Anfang wußte sie noch nichts über Eisen, aber sie war intelligent und praktisch und lernte schnell. Er gestand ihr, daß er wahrscheinlich des öfteren einen Mißerfolg haben würde, weil er oft zu rasch und unüberlegt handelte, besonders bei Problemen, bei denen er sich nicht auf seinen Instinkt verlassen konnte. Aber er glaubte, daß der Fortschritt nicht auf einem andern Weg zu erreichen sei, und sie teilte seine Meinung.
Das sich stetig erweiternde amerikanische Eisenbahnnetz brauchte bald alle Schienen auf, die das Walzwerk in 24 Stunden herstellen konnte – und dies trotz der schlechten Wirtschaftslage. Doch George mußte weiterhin um jeden Schritt, um jede wichtige Entscheidung mit seinem Bruder feilschen.
»Um Himmels willen, Stanley, wir befinden uns im Herzen einer wichtigen Kohleregion, aber du scheinst das nicht zu bemerken. Es ist fast hundertfünfzig Jahre her, seit die Darbys in England versucht haben, Eisen mit Koks zu schmelzen. Ist dies für dich immer noch zu neu?«
Stanley blickte George an, als ob dieser verrückt geworden wäre. »Holzkohle ist traditionell und sehr zufriedenstellend. Wozu sie aufgeben?«
»Weil die Bäume nicht ewig leben. Nicht, wenn wir weiterhin so abholzen.«
»Wir können Holzkohle verwenden, bis es keine mehr gibt, dann können wir experimentieren.«
»Aber Holzkohle ist schmutzig. Wenn sie dies bewirkt«, er wischte mit dem Zeigefinger über Stanleys Pult: sein Finger war schwarz, »was glaubst du, was geschieht, wenn wir den Staub und Ruß einatmen? Ich möchte, daß du zustimmst, daß wir ein Experiment – «
»Nein, ich werde nicht dafür bezahlen.«
»Stanley – «
»Nein. Du hast mich zu allem anderen gedrängt, aber da wirst du mich nicht herumkriegen.«
George wollte auch etwas Kapital in ein Verfahren investieren, mit dem die Garrard-Brüder in den 1830er Jahren in Cincinnati hochqualitativen Tiegelgußstahl hergestellt hatten. Cyrus McCormick war offensichtlich genug von dem Verfahren überzeugt gewesen, um damit die Sicheln für seine ersten Mähmaschinen herzustellen. Aber während der Regierung Jackson hatte eine Verringerung der Einfuhrabgaben dazu geführt, daß genug europäischer Stahl eingeführt wurde, um die Inlandnachfrage zu sättigen. Die noch in den Kinderschuhen steckende amerikanische Stahlindustrie war somit nicht zum Zug gekommen.
Amerika stellte gegenwärtig nur etwa zweitausend Tonnen harten Kohlestahl pro Jahr her. Mit der zunehmenden Expansion sah George jedoch eine wachsende Nachfrage und größere Absatzmärkte voraus. Das Problem war nicht die Stahlherstellung an und für sich – das Verfahren war seit Jahrhunderten bekannt –, sondern wie rasch man ihn herstellen konnte, damit die Produktion gewinnbringend wurde. Mit dem alten Verfahren dauerte es zehn Tage, bis eine kleine Menge hergestellt war. Die Garrard-Brüder hatten offensichtlich ein besseres Verfahren entdeckt. George gab also in der Koksfrage nach und sparte seine Energien für den Kampf, der ausbrechen mußte, wenn er Stanley vorschlug, das Garrard-Verfahren anzuwenden.
Zweifellos wurde Stanley von Isabel dazu angespornt, auf fast alle Vorschläge seines jüngeren Bruders mit nein zu reagieren. Dies geschah auch, als George seinen Investitionsvorschlag machte. Er wütete tagelang, und erst Constances Ankündigung, daß sie ihr zweites Kind erwartete, konnte seinen Zorn besänftigen.
Im Sommer 1849 erhielten Stanley und seine Frau Besuch von einem Herrn aus Middletown. Der Gast blieb über Nacht. George und Constance wurden nicht zum Abendessen eingeladen, Virgilia war in Philadelphia, und Maude war mit Billy nach New York gefahren. Offensichtlich wollten sie den Besuch geheimhalten.
Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen war es George egal, aber er fragte sich, was wohl der Zweck des Besuchs sein mochte. Er hatte den großen, etwa fünfzigjährigen, würdigen Mann, der aus der Kutsche stieg und dann in Stanleys Haus verschwand, sofort erkannt. Simon Cameron war überall in Pennsylvania bekannt; er hatte im Lauf der Jahre mit Druckereien, Banken, Eisenbahnen und sogar mit Eisenwerken Geld gemacht.
George hatte jedoch das Gefühl, daß er aus ganz andern Gründen nach Lehigh Station gekommen war. Handelte es sich um politische Interessen? Als George später im Bett lag, seine Hand auf Constances Bauch, wurde ihm plötzlich eine Verknüpfung zwischen der Situation von Cameron und einer andern Tatsache klar.
»Um Gottes willen! Ich frage mich, ob er der Empfänger jener Schecks sein könnte?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest, Liebling.«
»Ich hatte noch keine Zeit, es dir zu sagen, aber ich habe vor kurzem entdeckt, daß Stanley in den vergangenen drei Monaten Schecks im Betrag von je 500 Dollar ausgestellt hat. Ohne Namen – bar an den Empfänger. Vielleicht versucht er, Cameron wieder politisch auf die Beine zu helfen.«
»Du meinst, daß er in den Senat zurückkehren kann?«
»Möglich.«
»Als Demokrat?«
»Nein, das nicht. Er hat zu viele Leute verärgert, als er von der Parteilinie abgewichen ist. Der alte Jim Buchanan war besonders wütend. Andererseits wird man Cameron nicht los. indem man einfach nein sagt. Im Gegenteil, das spornt ihn geradezu an. Ich muß herausfinden, ob Stanley ihm Geld gibt, um eine neue Organisation aufzuziehen.«
Sie küßte ihn sanft auf die Wange. »All diese Streitereien mit Stanley machen dich vorschnell alt.«
»Und wie ergeht es dir mit Isabel?«
Sie wandte sich mit einem Achselzucken ab, das zu übertrieben war, um echt zu sein. »Sie läßt mich in Ruhe.«
»Ich erwarte nicht, daß du etwas anderes sagst, aber ich weiß, daß sie dich belästigt.«
»Ja«, sagte Constance. »Sie ist niederträchtig. Gott vergebe mir, aber ich wünsche mir, daß sie beide von der Erde verschluckt würden.« Sie kuschelte sich an ihn, die eine Hand auf seiner Brust, und weinte.
»Ja, ich gebe Cameron Geld«, gab Stanley am nächsten Morgen zu. Er fuchtelte vor seinem Gesicht herum. »Mußt du dieses verdammte Kraut auch hier drin rauchen?«
George paffte weiter an seiner Havanna. »Weich nicht vom Thema ab. Du gibst Geld der Gesellschaft aus, Geld, das im Geschäft bleiben sollte, schlimmer noch, du gibst es einem politischen Mietling.«
»Simon ist kein Mietling. Er hat seinen Dienst in Ehren geleistet.«
»Ach ja? Weshalb wollten die Demokraten ihn denn nicht mehr? Ich muß sagen, es überrascht mich keineswegs. Niemand weiß, wo er steht, oder welche Partei er unterstützt, es sei denn die Partei, die gerade emporstrebt. Wo steht er denn gegenwärtig? Aber du weißt sicher von nichts.«
Stanley hustete heftig, um zu zeigen, daß er mit dem Rauch gar nicht einverstanden war, und um Zeit für eine Antwort zu gewinnen. Draußen rannten Männer in schmutziger Kleidung den Hügel hinunter – die Nachtschicht. Ein kohlebeladener Güterzug knirschte in die andre Richtung.
»Simon baut eine staatliche Organisation auf«, sagte Stanley schließlich. »Er wird diejenigen, die ihm geholfen haben, nicht vergessen.«
»Stanley, der Mann ist ein Opportunist! Du kennst doch den Witz, den man sich über ihn erzählt? Camerons Definition eines ehrlichen Politikers: Einmal korrupt – immer korrupt. Möchtest du wirklich mit einem solchen Menschen etwas zu tun haben?«
Stanley blieb unerschütterlich. »Simon Cameron wird es in Pennsylvania zu Macht und Ansehen bringen. Und auch in der Nation. Er hatte nur einige vorübergehende Mißerfolge.«
»Nun, hilf ihm nicht, sie mit unserm Geld zu überwinden. Wenn du es trotzdem tust, werde ich Mutter in die Angelegenheit einweihen müssen. Bedauerlicherweise scheint dies der einzige Weg zu sein, dich vor dem Allerschlimmsten zu bewahren.«
Sein Bruder glühte und fand die Bemerkung überhaupt nicht lustig. George schüchterte ihn ein. Er biß sich auf die Lippen und sagte dann:
»Na gut. Ich werde deinen Einwand prüfen.«
»Danke«, schnappte George und ging hinaus. Er wußte, daß er gewonnen hatte. Er hatte eine Waffe verwendet, eine Drohung, die er früher nie gebraucht hatte. Er tat es ungern; nur ein Narr demütigte andere Menschen, denn ein gedemütigter Mensch schlug oft auf gemeinere Art und Weise zurück. Dieses Risiko war bei Stanley sehr groß. Aber George hatte hier keine andere Wahl.
Constance hat recht, dachte er, als er den Hügel zu den Hochöfen hinaufging. Die endlosen Wortgefechte laugten ihn aus. Heute morgen beim Rasieren hatte er mehrere graue Haare entdeckt. Und er war noch nicht einmal fünfundzwanzig!
Als Isabel vom letzten Streit erfuhr, explodierte sie.
»Willst du ihn damit durchkommen lassen, Stanley? Wenn der Senator wieder oben ist, wird er sich sicher an deine Großzügigkeit erinnern, und dann bekommst du die politische Stellung, die wir beide haben möchten. Es ist unsere Chance, endlich diesem kleinen, schmierigen Dorf zu entfliehen.«
Stanley sank in einen der Stühle, die im Schlafzimmer standen. Mit einer müden Bewegung löste er seine Krawatte. »Wenn ich nicht mit den Spenden aufhöre, wird George Mutter einweihen.«
Sie grinste hämisch. »Der kleine Junge sucht also Hilfe bei Muttern.«
»Ich kann ihn dafür nicht verurteilen. Solange ich die Finanzen verwalte, hat er keine andere Wahl.« Es sei denn, er ginge mit Fäusten auf mich los, dachte Stanley, und ein Angstschauer lief ihm den Rücken hinunter. George war temperamentvoll. Er hatte im Krieg gekämpft und kannte sich aus. Er konnte sich gut vorstellen, daß er seinen eigenen Bruder angreifen würde, und dieses Risiko wollte Stanley nicht eingehen.
Isabel stürmte wieder auf ihn ein. »Nun, du tätest gut daran, diesem verdammten Schuft keine Kontrolle über die Finanzen zu gewähren.«
»Nein, da werde ich nicht nachgeben«, versprach Stanley. Es ist mein letzter Rest Autorität.
»Und du wirst einen Weg finden, Cameron weiterhin Gelder zu schicken, nicht wahr?«
»Ja, Liebling. Das werde ich.« Stanley seufzte schwer. »Ich fürchte, daß ich meinen eigenen Bruder zu hassen beginne.«
»Oh, ich glaube nicht, daß du so weit gehen solltest«, entgegnete sie, aber im geheimen frohlockte sie.
Er errötete und verschwand hinter einem Wandschirm, um sein Hemd auszuziehen. »Ich weiß, ich meine es auch nicht immer so, bloß manchmal.«
»Das Problem, das zwischen dir und deinem Bruder steht, ist jene Götzendienerin, die er geheiratet hat.« Sie betrachtete sich in einem dekorativen Spiegel, aber sie sah bloß das schöne Gesicht der rothaarigen Herrin von Belvedere. »Diese papstgläubige Hexe! Es ist an der Zeit, daß sie mal von ihrem hohen Roß heruntersteigt.«
Stanley streckte den Kopf hinter dem Wandschirm hervor. »Wie?«
Isabels Antwort war ein eisiges Lächeln.
19
Das ›Moravian Seminary and College for Women‹ befand sich am Ufer des Monocacy Creek, nicht weit von Bethlehem. Es war 1742 gegründet worden und war als erstes Pensionat für junge Frauen in den Kolonien bekannt. Virgilia hatte die Schule während zwei Semestern besucht, war dann aber nach Hause zurückgeschickt worden, weil sie sich weigerte, die Regeln zu befolgen.
Jedes Jahr im September führten die Frauen der Umgebung einen Bazar durch, um Gelder für die Schule zu sammeln. Der Bazar fand auf dem Rasen vor der Colonial Hall statt. Im Sommer begann man bereits mit den Vorbereitungen. Wurde man gebeten, den Vorsitz bei einem der zahlreichen Ausschüsse zu führen, so war dies ein Zeichen dafür, daß man gesellschaftlich akzeptiert worden war. Isabel war im Vorjahr Vorstand eines solchen Komitees gewesen.
Constance war für die Ausbildung von Frauen, soweit es ihnen möglich war, auch wenn sie dadurch in Wettbewerb mit den Männern gerieten. George fand ihre Haltung etwas eigentümlich, widersprach aber nicht. Ihre Schwangerschaft beeinträchtigte sie noch nicht so weit, daß sie nicht mehr auf den rauhen Straßen des Hochlands hätte herumreisen können. George versprach, daß er Stanley auf ihren Wunsch aufmerksam machen würde, aber er vergaß es.
Constance wartete. Sie hatte immer etwas zu tun. Mehrere Stunden am Tag kümmerte sie sich um den kleinen William, weil sie der Meinung war, daß Babies, wenn sie im Säuglingsalter nicht genügend Aufmerksamkeit und körperliche Zuwendung bekamen, zu schwierigen und gestörten Erwachsenen heranwachsen würden. Abgesehen davon liebte sie es, sich um den rundlichen, kleinen Knaben mit der rosa Haut zu kümmern.
Sie hatte auch einiges im Haushalt zu tun. Sie wußte die Angestellten von Belvedere gut zu führen, verstand es, ihre Streitigkeiten auf bestimmte und gerechte Art und Weise zu schlichten, und half ihnen, in kürzerer Zeit mehr zu erledigen, indem sie ihnen zeigte, wie sie ihre Pflichten organisieren und effizienter erfüllen konnten. Sie wurde bald von ihren Angestellten respektiert und bewundert; manche hatten auch etwas Angst vor ihr. Sie hatte ein irisches Temperament, das mit ihr durchging, wenn die Arbeit schlampig erledigt wurde, wenn die Leute vorlaut waren oder schwindelten.
Trotz all ihrer Beschäftigungen dachte Constance jedoch immer noch an den Bazar. Schließlich fragte sie George, ob er ihre Botschaft übermittelt habe. Er schlug sich an die Stirn und stöhnte auf. Constance verzieh seine Vergeßlichkeit, sie würde sich eben direkt an Isabel wenden. Dies machte besondere Vorbereitungen erforderlich, da die beiden Frauen einander außer durch Zufall kaum sahen. Sicherlich war das Isabels Absicht, dachte Constance manchmal etwas pikiert.
Sie lud Maude und Isabel zum Tee ein. Erst redeten sie über ihre Schwangerschaft. Constance sagte, sie sei sicher, daß es diesmal ein Mädchen werden würde; sie und George hatten sich bereits auf den Namen Patricia Flynn Hazard geeinigt. Als sie das hörte, spitzte Isabel die Lippen und starrte ins Weite.
Constance erwähnte, daß sie Interesse am Bazar habe. Maude sagte sofort: »Das ist schön von dir; ich bin sicher, daß die Damen sich freuen werden, wenn du mitmachst. Ich werde ihnen gerne mitteilen, daß du interessiert bist, obwohl ich seit zwei Jahren nicht mehr aktiv bin. Ich hatte den Eindruck, es sei nun an jüngeren Frauen, das Ruder zu übernehmen.«
»Ich werde es erwähnen, Liebste«, sagte Isabel zu Constance, »und zwar bei der Sitzung der für die Organisation zuständigen Gruppe, die sich am nächsten Montag trifft.«
»Danke«, sagte Constance und versuchte herauszufinden, ob Isabels süßes Lächeln aufrichtig war. Aber es gelang ihr nicht.
Isabel erwähnte den Namen ihrer Schwägerin bei jener Sitzung. »Ich dachte, sie könnte vielleicht den Vorsitz im Ausschuß für die Steppdecken – « fing sie an.
»Ausgezeichnet«, sagte eine der Damen.
»Aber als ich die Idee vortrug, lehnte sie ab.«
Diese Bemerkung rief einiges Stirnrunzeln hervor. »Mit welcher Begründung, Isabel?« wollte jemand wissen.
Eine andere Dame fragte: »Ist sie gegen die Ausbildung für Frauen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Isabel. »Sie sagte mir, sie könne nicht teilnehmen, weil die, äh, die religiöse Ausrichtung des Seminars gegen viele Konzepte ihrer Kirche verstoße, die ihrer Meinung nach natürlich die einzig wahre Kirche sei.«
Die Frau, die den Vorsitz führte, sagte: »Nun, das ist das letzte Mal, daß wir sie in Betracht ziehen.«
Isabel schüttelte den Kopf. »Es ist ein Jammer. Constance ist eine kluge Person und hat mehrere gute Eigenschaften. Man hat mir gesagt, daß die Katholiken ein sonderbar bigottes Volk sind, aber ich habe das nie glauben wollen, bis ich sie kennengelernt habe. Ich bin sicher, daß ihre Haltung auf den Einfluß der Priester und Nonnen zurückzuführen ist. Wie kann jemand, der ewig in einer dunklen Zelle lebt, na ja, ganz richtig sein? Und man hört ja auch die entsetzlichen Sachen über Frauenklöster.«
Diese Bemerkung wurde mit weisem Kopfnicken begrüßt. Das Thema war gerade im ganzen Land hochaktuell, und man war geneigt, solche Geschichten zu glauben.
Am nächsten Nachmittag suchte Isabel Constance auf. Ihr Gesicht drückte Enttäuschung aus, als sie sagte:
»Es ist nicht einfach, dir dies mitzuteilen, Liebes. Ich habe dein so großzügiges Angebot vorgetragen, aber die Damen der Organisation lehnten es ab. Es hat nichts mit deiner Person zu tun, bitte versteh mich nicht falsch, aber es geht schließlich um einen Bazar, mit dem Gelder für eine Institution eingeholt werden sollen, die religiös anders orientiert ist als du.«
Constance zupfte an einem Spitzentaschentuch herum. »Du meinst, sie wollen die Hilfe einer Katholikin nicht?«
Isabel seufzte: »Es tut mir ja so leid. Vielleicht nächstes Jahr.« Sie wußte, daß der Gesichtsausdruck ihrer Schwägerin ihr ein Leben lang Freude bereiten würde.
Während des Besuchs von Isabel bei Constance war George zum Schienenwalzwerk unterwegs. Er war von einem verängstigten Vorarbeiter gerufen worden. Ein Streit hatte zu einem Unfall geführt. Stanley delegierte solche Aufgaben immer an seinen Bruder. Mit ausdruckslosem Gesicht sagte er, George sei doch so kontaktfreudig. Hätte Isabel diese Bemerkung fallengelassen, wäre es auf jeden Fall eine Beleidigung gewesen, dachte George.
Der Sommer war außerordentlich heiß gewesen, und der nahe Herbst brachte immer noch keine Abkühlung. In der Hazard-Familie schlugen gelegentlich die Wellen des Temperaments hoch, und George konnte sich vorstellen, wie groß die Spannung im Walzwerk sein mußte, wo es infernalisch heiß war.
Das Walzwerk war nach belgischem Muster organisiert. Der lange Strom des roten, heißen Metalls wurde Schritt für Schritt flachgedrückt und mittels einer Serie von auf Ständern montierten Rollen in die richtige Form gepreßt. Zwischen den Ständern packten stämmige Männer – die sogenannten Fänger – das Metall mit Zangen und führten es zum nächsten Rollenpaar. Es war eine harte, gefährliche Arbeit. Ein großer Teil dieser Arbeit würde wegfallen, wenn es jemandem gelänge, ein Walzwerk zu konzipieren, in dem das Metall kontinuierlich über die Rollen laufen konnte. Vor einigen Jahren hatte ein Walzwerkbesitzer namens Serrell in New York es fast geschafft, aber der Plan wies einige Makel auf. Auch George hatte sich mit dem Problem auseinandergesetzt, bis jetzt jedoch ohne Erfolg.
Er rannte, so schnell er konnte. Die Arbeit im Walzwerk stand still. Das Eisen, das man bereits dem ersten Rollenpaar zugeführt hatte, war schon wieder abgekühlt. Einer der Fänger lag stöhnend auf dem dreckigen Boden. George würgte, als ihm der Geruch von versengten Kleidern und Menschenfleisch in die Nase stieg.
Es handelte sich um einen drahtigen Slawen, dessen Nachnamen man nicht aussprechen konnte. Im Gegensatz zu seinem Mitarbeiter, einem grobschlächtigen Kerl namens Brovnic, war er ein guter Arbeiter.
»Wir haben Dr. Hopple gerufen«, sagte der Vorarbeiter.
»Gut.« George kniete neben dem Verletzten nieder und sah das verzerrte, erkaltete Eisenstück. Offensichtlich war es quer über die rechte Körperhälfte des Mannes gefallen und hatte Hemd, Brust und den nackten Oberarm verbrannt. George versuchte die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Nur Gott wußte, ob der Mann seinen Arm jemals wieder würde brauchen können. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und fragte: »Wie ist es passiert?«
»Ein Unfall«, stieß Brovnic hervor. Sein hervorstehender Unterkiefer sah höchst bedrohlich aus und sollte wohl alle einschüchtern, aber ein schweißtriefender, schmutziger Arbeiter trat vor.
»Unfall, verdammt! Brovnic hat Tonys Frau belästigt. Tony sagte ihm, er solle aufhören und – «
Brovnic fluchte und stürzte vor. Drei Männer packten ihn und hielten ihn zurück, als der Sprecher auf das Eisenstück zeigte. »Brovnic hat ihn niedergeschlagen und hat es dann auf ihn fallen lassen.«
»Verdammter Lügner«, schrie Brovnic und versuchte, sich aus dem Griff der Männer zu befreien. Es wäre ihm gelungen, wenn nicht George auf ihn losgestürmt wäre und ihn an seinem dreckigen Hemd gepackt hätte.
»Seit dem Tag, an dem ich dich eingestellt habe, hast du nichts als Unruhe gestiftet, Brovnic. Hol deinen Lohn und verschwinde, sofort.«
George hatte Herzklopfen. Brovnic schielte auf ihn nieder. »Sie sollten dies lieber bleiben lassen …«
George mußte seinen Kopf zurückbeugen, um dem andern in die Augen zu sehen.
»Ich habe gesagt, sofort.«
»Ich werde dir deinen Teil noch geben«, sagte der Mann, als er davonstapfte.
Eine Minute, nachdem Isabel weggegangen war, brach Constance in Tränen aus. Sie stand neben einem großen Fenster im Wohnzimmer, von dem aus man eine herrliche Sicht über die Stadt und den glitzernden Fluß hatte. Sie sah jedoch nichts davon. Sie hielt sich an den Vorhängen fest, als würde sie sonst umfallen.
Sie schluchzte und verachtete sich dafür, daß sie weinte. Es war nur selten vorgekommen während ihrer Zeit in Texas, aber hier waren die Dinge anders. Manchmal haßte sie Lehigh Station, obwohl sie George liebte; sie haßte Lehigh Station und wollte weg. Statt dessen weinte sie.
Sie war sicher, daß Isabel die Ablehnung provoziert hatte. Stanleys Frau haßte sie; es gab kein anderes Wort dafür. Sobald George nach Hause kam, wollte sie ihm den Vorfall erzählen. Sie versuchte immer, ihren Mann mit ihren Sorgen zu verschonen, aber dies war zuviel für sie. Isabel hatte ihre Religion in den Vordergrund geschoben, aber sicher hatte die arrogante Frau andere Gründe, um sie zu verachten. Isabel war eine verzerrte, unglückliche Person, und sie hatte die Möglichkeit, Constance tief zu verletzen.
»Ma’am, stimmt etwas nicht? Ich dachte, ich hätte etwas gehört …« Das Mädchen hielt inne. Es versuchte, sich wieder zurückzuziehen. Constance war verlegener wegen des Mädchens als wegen sich selbst. Sie wischte die Tränen mit beiden Händen vom Gesicht.
»Tut mir leid, wenn ich dich gestört habe, Bridgit. Ich bin für einen Moment nicht ich selbst gewesen. Bitte, sag niemandem etwas. Würdest du bitte William herunterbringen, wenn er wach ist?«
»Sofort, Ma’am.« Erleichtert zog sich Bridgit zurück.
Kurz darauf, mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm, fühlte sich Constance bereits besser. Sie bedauerte, daß es Isabel gelungen war, sie niederzudrücken. Natürlich würde sie ihrem Mann nichts sagen. Sie würde ihre Kämpfe allein ausfechten, wie sie dies immer tat. Sie hatte beschlossen, in diesem Teil der Welt zu leben, weil sie George liebte, und sie würde es nicht zulassen, daß Isabel oder eine ganze Legion dieser bigotten Hühner sie zerstörten.
Sie war wütend auf sich selbst, daß sie sich auch nur einen Augenblick lang vor Isabel hatte gehenlassen. Sie wußte, daß Stanleys Frau gesehen hatte, daß ihre grausame kleine Strategie erfolgreich gewesen war. Aber es ist das letzte Mal, dieses böse Weib wird niemals wieder eine solche Befriedigung haben, dachte sie, als sie mit William herumkoste.
»Wir sollten uns überlegen, ob wir nicht eine Sommerresidenz kaufen«, sagte Maude. »In den vergangenen Monaten war das Wetter absolut scheußlich.«
»Ich bin einverstanden«, sagte Stanley. »Isabel beklagt sich Tag und Nacht über die Hitze.« George, der über eine Akte gebeugt war, warf ihm einen Blick zu, als wolle er sagen, daß Isabel sich dauernd überdies oder jenes beklage.
»Wir können uns auf jeden Fall ein Sommerhaus leisten«, fuhr Stanley fort. »Hast du irgendwelche Vorstellungen, wo wir uns danach umsehen könnten, Mutter?«
»Die Atlantikküste wäre angenehm.«
In dem kleinen Büro herrschte dicke Luft. Es waren zwei Stunden vergangen, seitdem Brovnic das Walzwerk in aller Eile verlassen hatte. Maude stattete eben ihren wöchentlichen Besuch ab. Sie hatte seit dem Tod ihres Mannes sofort mit dieser Gewohnheit angefangen. Vorher hatte sie nie einen Fuß auf das Werksgelände gesetzt.
Stanley hatte sie zuerst in ihrem Interesse nicht ermutigt und ihr vorgehalten, daß es für eine Frau nicht schicklich sei, sich um Geschäfte zu kümmern. Als George nach Hause kam, fand er bald den wahren Grund für Stanleys Ablehnung heraus. Maude hatte in wenigen Monaten mehr über die Produktion, den Lagerbestand und die Finanzen gelernt, als Stanley in seinem ganzen Leben lernen würde. Ihr instinktives Erfassen der Dinge verunsicherte Stanley und veranlaßte ihn, einen Streit vom Zaun zu brechen.
Aber das half nicht viel. Auf ihre bescheidene Art und Weise war Maude ebenso hart wie das Hazard-Eisen, das mit den Kanalbooten auf den Markt gebracht wurde.
Als Maude die Bemerkung über die Küste machte, sagte George: »Orry hat mir einmal gesagt, daß viele der Pflanzer aus South Carolina den Sommer in Newport verbringen.«
Maude klatschte in die Hände. »Oh, ja, Aquidneck Island. Ich habe gehört, es muß wunderschön sein.«
Stanley wollte eben einen Einwand vorbringen, als die Tür aufflog. Brovnic stand in der Türfüllung. Er stank nach Whiskey und fuchtelte mit einer alten Flinte herum.
Maude erschrak und erstarrte. Stanley warf sich auf den Boden. »Ich hab’s dir gesagt!« schrie Brovnic und schwankte hin und her, den Gewehrlauf auf George richtend. Ohne zu zögern fegte George das Tintenfaß vom Schreibtisch, die Tinte spritzte Brovnic ins Gesicht.
Brovnic brüllte und prallte gegen den Türrahmen zurück. Ein Schuß war dabei losgegangen, aber die Kugel schlug in die Decke. Schon hatte George einen Satz über das Geländer, das das Büro in zwei Abschnitte trennte, gemacht: Er entriß Brovnic die Waffe und schlug ihm den Kolben auf die Nase. Mit einem schrillen Wutschrei versuchte sein tintenbefleckter Gegner ihn zu packen. George wich einen Schritt zurück und gab ihm mit seinen schweren Stiefeln einen Tritt in den Unterleib.
Brovnic schrie und fuchtelte mit den Armen. Dann verlor er das Gleichgewicht und fiel rückwärts die Treppe hinunter. Erst jetzt spürte George seine Panik. Er hielt sich am Türrahmen fest und winkte vier vorbeigehende Arbeiter heran. »Packt den betrunkenen Idioten. Einer soll ins Dorf hinunterrennen und den Polizisten holen.«
Stanley krabbelte wieder auf die Füße. Maude hatte sich während der ganzen Zeit nicht gerührt. Sie sah Stanley an und sagte mit sanfter Stimme: »Du hättest deinem Bruder helfen sollen. Man hätte ihn töten können.«
Stanley wurde rot; er war zu erschrocken, um etwas zu sagen. Zum erstenmal hatte seine Mutter eine Wahl zwischen den beiden Söhnen getroffen; kein gutes Omen.
Als George an jenem Abend nach Belvedere zurückkehrte, zeigte Constance nichts von ihrem Unglück. George plauderte das ganze Abendessen hindurch; er war offensichtlich immer noch von den schrecklichen Ereignissen im Walzwerk beeindruckt. Er hatte dem verletzten Arbeiter einen Besuch zu Hause abgestattet. Dr. Hopple war der Meinung, daß man den Arm retten könne, obwohl nicht sicher war, ob der Mann wieder harte körperliche Arbeit würde verrichten können. Falls nicht, würde George ihm eine leichtere Arbeit im Werk besorgen. Brovnic wurde festgenommen.
Im Haus nebenan war das Abendessen fast vorbei. Maude war nach draußen gegangen, um mit Billy einen Spaziergang zu machen. Virgilia war auf ihrem Zimmer. Isabel hatte den Zwillingen Laban und Levi ihren üblichen fünf Minuten dauernden Besuch abgestattet und war dann ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Sie und Stanley waren jetzt allein. Sie wollte ihm eben von ihrem Triumph über Constance erzählen, als er wieder auf die Szene im Büro zu sprechen kam. Er hatte sie nach seiner Heimkehr kurz erwähnt und war dann in ein moroses Schweigen versunken. Maude hatte eine leichte Konversation geführt, aber das Thema vermieden.
»Mutter hat mich angeschaut, als ob ich der schlimmste Feigling wäre«, sagte er mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck. »Ich komme nicht darüber hinweg.«
»Stanley, ich kann verstehen, daß dich das Ereignis aufgeregt hat, aber ich habe davon gehört. Ich wünschte, du ließest mich etwas sagen.«
Er warf ihr eine zerknüllte Serviette ins Gesicht. »Halt den Mund, du raubgierige Person. Bist du so dumm, daß du nicht siehst, was los ist? George bewirkt, daß Mutter sich gegen uns wendet. Als nächstes wird sie ihm die Kontrolle über die Finanzen übertragen. Und wo bist du dann mit deiner Verschwendungssucht?«
Er schrie so laut, daß das Gehänge am Kerzenleuchter zu klirren anfing. Isabel starrte sprachlos die Serviette an, die ihr ans Kinn und von dort in den leeren Teller geflogen war.
Erst wollte sie ihren Mann wegen seines ungehörigen Betragens zurechtweisen. Doch dann dachte sie rasch, daß er sie bloß anschrie, weil seine Mutter ihn getadelt hatte. Und zu Recht. Stanley war ein Feigling. Es machte nichts, solange er die Autorität in der Familie beibehielt.
Sie überzeugte sich selbst bald davon, daß George der eigentlich Schuldige war. Der streberische, arrogante kleine George. George hatte Stanley in einen solchen Zustand versetzt, daß er sich weigerte, ihren Bericht anzuhören. Natürlich war sie höchst befriedigt zu wissen, daß Constance sich unglücklich fühlte. Aber auch diese Gewißheit wurde einen Augenblick später in Frage gestellt. Von der Wiese beim Belvedere her hörte man fröhliche Stimmen. Isabel trat ans Fenster und sah, wie George und Constance auf dem Rasen in der Dämmerung eine Krocketpartie spielten. Sie lachten und neckten einander wie Kinder.
Stanley redete mit Isabel. Sie ignorierte ihn. Sie starrte auf Maude, die in der Loggia saß und den kleinen William auf ihren Knien hielt. Der kleine Billy lungerte in der Nähe herum. Isabel kochte vor Wut. Maude kümmerte sich nie in dieser Art um ihre Zwillinge.
Constance sah glücklich aus. Glücklich. Ihre Kraft hatte die Niederlage offensichtlich überwunden. Und Isabel war jetzt mehr als klar, daß Constance und ihr Mann alles versuchten, um Maude auf ihre Seite zu bringen. Von diesem Augenblick an haßte Isabel die beiden noch leidenschaftlicher als vorher.
»Wieder ein Zug entgleist«, sagte Constance. »Vier Leute sind dabei ums Leben gekommen. Das ist der dritte Eisenbahnunfall in diesem Monat.« Sie schüttelte den Kopf und faltete die Zeitung zusammen.
George studierte weiterhin die Baupläne, die er auf dem Tisch in der Bibliothek ausgebreitet hatte. Ohne aufzublicken sagte er: »Je mehr Schienenwalzwerke gebaut werden und je mehr Züge es gibt, desto größer sind die Chancen für einen Unfall.«
»Die Erklärung ist sicher zu simpel. Ich habe wiederholt gelesen, daß die Hälfte der Unfälle – oder mehr – verhindert werden könnte.«
»Nun, das mag sein. Es gibt menschliches Versagen, es wird schlechtes Material verwendet. Es wäre gut, wenn die Eisenbahnen sich endlich auf eine Norm einigen könnten.«
Er stand auf, streckte sich und rückte dann sorgfältig den Gegenstand auf dem Tisch zurecht, als ob es sich um eine kostbare Antiquität handelte. Es war jedoch nichts anderes als das Stück Eisenmeteorit, das er in der Nähe von West Point gefunden hatte. Er hütete es wie einen Schatz, weil es, wie er sagte, ein Symbol für die Bedeutung seiner Arbeit war. Sie bemerkte, daß er den Meteoriten kaum einen Millimeter verschoben hatte, und lächelte.
Er ging zu ihrem Stuhl hinüber und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Wie Orry sagen würde, ich glaube, daß der Fortschritt immer seinen Preis hat.«
»Du hast schon lange keinen Brief mehr von Orry bekommen.«
»Sechs Wochen.« George schlenderte zum Fenster. Die Lichter des Orts schimmerten durch die ersten fallenden Schneeflocken. »Ich habe ihm geschrieben und ihm gesagt, er solle nächsten Sommer alle Mains nach Newport mitbringen.«
Im Oktober hatten George und Stanley die Insel in der Narragansett-Bucht aufgesucht und ein großes, weitläufiges Haus mit zehn Hektar Boden in Bath Road gekauft, nicht weit vom Strand. Ein Architekt aus Providence hatte die Pläne für einen großzügigen Umbau des Hauses unterbreitet, und dies waren die Pläne, die sich George eben angeschaut hatte. Der Architekt hatte versprochen, daß der Umbau bis zum Sommer 1850 fertig sein sollte.
»Und seither hast du nichts mehr von ihm gehört?«
»Nein.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Wenn, so weiß ich es nicht.«
»Newport ist ein Ferienort der Nordstaatler. Glaubst du, daß er die Einladung annehmen wird?«
»Ich sehe keinen Grund, weshalb er das nicht sollte. Die Leute aus South Carolina gehen im Sommer immer noch scharenweise dorthin.«
Er war nicht ganz aufrichtig mit seiner Frau. Die seltenen Briefe von Orry, die oberflächlich lustig waren, wiesen einen merkwürdig bitteren Unterton auf. George fiel dies auf, weil er Orry früher als einen fröhlichen Menschen gekannt hatte. Orry hatte in seinen Briefen mehrere Male von seinem ›ewigen Junggesellenleben‹ gesprochen. Nur ab und zu beantwortete er die vorsichtigen Fragen von George bezüglich M. Manchmal hüpfte er unerwartet von einer harmlosen Nachricht auf ein Thema, das bloß als Protest gegen die Bewegungen des Nordens zur Bekämpfung der Sklaverei bezeichnet werden konnte. Er war ein Widersacher jener politischen Gruppierungen, die erreichen wollten, daß in jedem neuen Bundesstaat und in jedem neuen Territorium die Sklaverei automatisch verboten sein sollte. Er übte auch scharfe Kritik an der Wilmot-Klausel. Offenbar würde der Süden noch lange einen Groll darüber hegen.
Obwohl also George seinen Freund gerne wiedergesehen hätte, schreckte etwas in ihm vor einer neuen Begegnung zurück.
Mitte Dezember erhielt er die Nachricht, daß eine solche Begegnung nun doch stattfinden würde. Der Brief erreichte ihn an einem eiskalten Tag. In der Nacht kroch George neben seine hochschwangere Frau ins Bett und begann wie immer damit, die Ereignisse des Tags träge zu besprechen.
»Orry hat einen Brief geschrieben.«
»Endlich! Ist er erfreulich?« Sie atmete schwer beim Sprechen, aber es fiel ihm nicht weiter auf, weshalb.
»Nicht besonders. Aber er sagte, er würde uns im Sommer einen Besuch abstatten und so viele der andern Mains mitbringen, wie er überzeugen könne.«
»Das ist – ausgezeichnet«, keuchte Constance. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt eine Einladung an Dr. Hopple ergehen läßt.«
»Was? Ist es soweit? Jetzt? Mein Gott, deshalb bist du so außer Atem.«
Er sprang aus dem Bett und stellte in der Hast einen Fuß in den Nachttopf, der Gott sei Dank leer war. Trotzdem verlor George das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. »Au!«
»Um Himmels willen«, sagte sie und versuchte aufzustehen. »Wenn du so weiter machst, werden wir nie mehr Kinder haben.«
In der Morgendämmerung kam Patricia Flynn Hazard ohne weitere Schwierigkeiten zur Welt. George erhielt die Nachricht, als er in der Bibliothek war, wo er schläfrig lächelte und seinen bandagierten Fuß rieb.
Billy, der jetzt vierzehn war und mit jedem Tag größer wurde, kam über Weihnachten aus dem Internat nach Hause. Er war sehr von seiner neuen Nichte beeindruckt und verbrachte die meiste Zeit in Belvedere, obwohl er seine Sachen bei Stanley hatte.
Billy fühlte sich erwachsen und unabhängig. Er neckte seine Mutter oft damit, daß er nach Kalifornien auf die Goldfelder gehen würde. Die halbe Nation war dem Goldrausch erlegen, weshalb sollte er nicht auch Gold suchen?
»Weil du das Geld nicht brauchst, junger Mann«, sagte Maude ihm einmal beim Mittagessen.
»Doch, ich hab’ ja keins für mich.« Doch er war des Spiels müde, lief zu ihr hinüber und umarmte sie. »Ich bin eigentlich nicht darauf aus, nach Gold zu graben.«
»Was möchtest du denn?«
»Ich möchte wieder etwas über die Schlacht von Churubusco hören.«
Billy wurde nie müde, sich die Geschichte anzuhören. George landete dabei unweigerlich bei einer langwierigen Beschreibung seiner Tage in West Point. Er wärmte gern die alten Erinnerungen am Kaminfeuer auf, und es war auch eine gute Gelegenheit, seinen jüngeren Bruder für eine Extrastunde von Stanley und Isabel fernzuhalten. Seit dem Ereignis mit Brovnic hatte Stanley ein mürrisches Wesen entwickelt. Isabel war immer noch dasselbe böse Weib, das sie immer gewesen war. George glaubte, daß die beiden einen schlechten Einfluß auf Billy ausübten, und er war froh, daß Billy die meiste Zeit des Jahres im Internat verbrachte.
»Ich glaube, Orry ist ein feiner Mensch«, sagte Billy, nachdem George wieder einmal einen Monolog über die Akademie gehalten hatte.
»Das ist er. Er ist auch mein bester Freund. Ich hoffe, daß du ihn nächsten Sommer kennenlernen wirst.«
»Schlägt er seine Nigger?«
»Warum? Nein, ich glaube nicht.«
»Aber er hat Sklaven?« Billy mißbilligte das offensichtlich. George runzelte die Stirn und griff nach der Weinkaraffe; offenbar war dem Thema nicht auszuweichen.
»Ja, er hat einige wenige Sklaven.«
»Dann ändere ich meine Meinung. Dann glaube ich nicht, daß er ein so guter Mensch ist, wie du sagst.«
George unterdrückte seinen Ärger. »Wohl eher deswegen, weil du beinahe fünfzehn bist. Keiner in deinem Alter ist je mit Erwachsenen einverstanden.«
»O doch«, gab Billy so schnell zurück, daß George in Lachen ausbrechen mußte.
Billy verstand den Scherz nicht. Er fuhr hartnäckig fort: »Ich bin mit all dem, was du über West Point sagst, einverstanden. Es muß ein herrlicher Ort sein.«
George nippte an seinem Wein und hörte auf die vertrauten Geräusche des Hauses. Familien sollten eine Tradition haben, und er hatte sich jetzt eben eine herrliche Tradition vorgestellt. Er wollte dies jedoch einem halsstarrigen Jüngling nicht so direkt mitteilen. Sonst wäre es für Billy zu einfach, nein zu sagen. Er umkreiste das Thema.
»Oh, es gab harte Zeiten, aber man fühlte sich mehr als Mann, wenn man sie überlebte. Es gab auch herrliche Zeiten, und ich habe einige gute Freunde gewonnen. Tom Jackson zum Beispiel – er unterrichtet an einer Militärschule in Virginia, und George Pickett. Gute Freunde«, murmelte er und blickte auf eine kurze Zeitspanne von Jahren zurück, die ihm allerdings sehr viel länger vorkam. »Und es steht ohne Zweifel fest, daß West Point die beste wissenschaftliche Ausbildung von ganz Amerika vermittelt.«
Billy grinste. »Ich bin mehr daran interessiert, in Schlachten zu kämpfen.«
George dachte an das Blutvergießen von Churubusco und daran, daß Orry seinen Arm verloren hatte. Dann begreifst du nicht, wie eine Schlacht wirklich ist. Er lächelte, behielt aber den Gedanken für sich. Er überließ es Billy, die Frage zu stellen, was dieser auch einen Augenblick später etwas zögernd tat:
»Weißt du, George, ich wollte dich eigentlich fragen, welche Chancen ich hätte – «
George zeigte nicht, wie erfreut er war. »Chancen wozu?«
Billys Blick verriet die Bewunderung, die er für seinen älteren Bruder hegte. »Um so wie du die Akademie zu absolvieren.«
»Glaubst du, das würde dir gefallen?«
»Ja, sehr.«
»Großartig.«
Das Soldatenleben war ein hartes und manchmal verdammt abstoßendes Geschäft. Der Krieg hatte ihm jede Illusion geraubt: Er hatte es ekelerregend und unmenschlich gefunden und war auch jetzt noch dieser Meinung. Trotzdem konnte Billy in dieser Zeit und in diesem Land nichts Besseres tun, als sein Erwachsenendasein mit einer Ausbildung in West Point zu beginnen. George erinnerte sich, früher anders darüber gedacht zu haben. Die Tatsache, daß er nun zu dieser Überzeugung gelangt war, zeigte ihm auf überraschende Art und Weise, wie stark er selbst sich inzwischen verändert hatte.
»Es gibt natürlich immer sehr viele Bewerber, und die Aufnahmebedingungen sind hart«, sagte er, »aber du würdest ja erst in, sagen wir, drei Jahren eintreten können. Du wärst siebzehn, wenn du dich für die ›sechsundfünfziger‹ Klasse einschreiben würdest. Ideal. Ich muß mal prüfen, ob für unsern Distrikt noch ein Freiplatz vorhanden ist. Ich werde das gleich erledigen.«
Und das tat er auch.
20
Gegen Ende des Jahres 1849 ging unter den Leuten am Ashley das Gerücht um, daß Orry Mains Bart mit jedem Monat etwas länger, er selbst jedoch immer wortkarger werde.
Orry wollte eigentlich nicht kurz angebunden sein, er wollte sich bloß kurz fassen. Ihm gingen ständig tausend Dinge durch den Kopf, die sorgfältiger Planung bedurften: Familienangelegenheiten, die Leitung der Plantage. Dazu kam, daß er mindestens einmal pro Woche in irgendeiner Krisensituation eingreifen mußte. Kurz: Er hatte sehr wenig Zeit und ging im Gespräch mit andern Menschen äußerst sparsam damit um.
Wenn die lieben Nachbarn und Bekannten ihm dies als Verdrossenheit ankreiden wollten – bitte schön. Der praktische Nutzen war auf jeden Fall nicht zu unterschätzen: Die Leute erwarteten nicht mehr, daß er über sein Privatleben redete, und bedrängten ihn auch nicht mehr mit Fragen zu einem Thema, das ihm besonders lästig geworden war.
Mit einer Ausnahme – sein Vater.
Tillet war jetzt beinahe fünfundfünfzig, gichtgeplagt und streitsüchtig. »Verdammt noch mal, Junge, du wärst eine gute Partie«, sagte er eines Abends in der Bibliothek. »Weshalb weigerst du dich, eine Frau zu suchen?«
Der Dezemberregen prasselte an die Fensterscheiben. Orry stieß einen Seufzer aus und legte seine Schreibfeder nieder. Er war eben dabei gewesen, die Jahresbilanz zu überprüfen. Seit es mit Tillets Gesundheit bergab ging, war Salem Jones für die Buchhaltung verantwortlich. In der Bilanz war die Anzahl Reisfässer aufgeführt, die jedesmal nach Charleston geschickt wurden.
Orry hatte nach der Ernte zufällig einen Blick auf die laufende Rechnung geworfen. Irgendwie stimmten die Zahlen nicht mit seinem Gefühl überein. Auch nicht mit der Anzahl Fässer, die die Plantage verlassen hatten, und schon gar nicht mit der Zahl derjenigen, die auf dem Pier gestapelt waren, wie er sich erinnerte. Schon seit Wochen hatte er sich eine Notiz machen wollen. Das tat er jetzt, bevor er sich seinem Vater zuwandte.
»Darf ich erfahren, was dich bewogen hat, diese Frage, die meines Erachtens längst zur Zufriedenheit aller beantwortet ist, erneut zu stellen?«
»Deine Mutter mag mit der Antwort zufrieden sein, ich nicht.«
Tillet fuchtelte in seinem Stuhl mit Coopers letztem Brief herum. »Dein Bruder führt eine Menge heiratsfähiger Damen zu all diesen Weihnachtsbällen und Veranstaltungen und macht ihnen den Hof. Klar, hätte er jemals ernste Absichten, so würde ihn der Vater des Mädchens wahrscheinlich zum Teufel schicken, weil er immer noch diese komischen Ideen hat. Aber das ist mir ja eigentlich alles egal; ich erwähne deinen Bruder lediglich als Beispiel. Du solltest auch – «
Tillet stöhnte und umklammerte sein ausgestrecktes Bein. Dann fuhr er fort: »Du solltest heiraten und eine Familie gründen.«
Orry schüttelte den Kopf. »Zu beschäftigt.«
»Aber du fühlst dich doch sicher einsam? Ein kräftiger Mann in deinem Alter braucht doch – «
Orry lächelte, worauf sein Vater innehielt. Er sah erleichtert aus. Orry sagte: »Darum kümmere ich mich schon, mach dir keine Sorgen.«
Tillet verzog das Gesicht. »Ja, das habe ich bereits von mehreren Herren der Nachbarschaft vernommen. Aber Frauen dieser Art – ob gewöhnliche oder solche mit einem Tropfen Negerblut – sind nur für etwas zu gebrauchen, heiraten kannst du sie nicht.«
»Will ich auch nicht. Wie ich bereits wiederholt gesagt habe«, er berührte seinen mit einer Nadel befestigten Ärmel mit der Schreibfeder, »betrachte ich mich nicht mehr als heiratsfähig. Und nun möchte ich arbeiten. Ich habe einige merkwürdige Unstimmigkeiten festgestellt, die schon mehr als zweieinhalb Jahre zurückliegen.«
Tillet zuckte die Achseln – seine Art von Einverständnis. Sein Sohn war etwas barsch gewesen, als er sagte, daß er nicht heiratsfähig sei. Tillet hatte die Entschuldigung schon oft gehört, und so ungern er es auch zugeben mochte, etwas Wahres schien dran zu sein. Er wußte, was die Leute am Ashley von Orry dachten. Sie dachten, daß seit dem Krieg etwas mit seinem Kopf nicht mehr ganz in Ordnung war.
Es gab genügend Beweise für diese Behauptung. Die Art und Weise, in der Orry seinen Pflichten in Mont Royal nachging, als ob er sich beweisen müsse, daß er trotz seiner Kriegsverletzung nicht weniger als andere wert sei. Seine Kleider, die für das Klima und die Atmosphäre immer etwas zu schwer und zu düster waren. Seine schroffe Art. Der verdammte Bart, der so lang und dicht war, daß Kohlmeisen darin nisten konnten.
Einmal war Tillet, mit der Kutsche aus Charleston kommend, Orry im Torweg begegnet, als dieser eben wegritt, um etwas zu erledigen. Drei Gärtner, die Unkraut jäteten, hatten Orry angestarrt, als er an ihnen vorbeigaloppierte; die Sklaven hatten einander Blicke zugeworfen, einer hatte den Kopf geschüttelt, und einen andern schauderte es. Tillet hatte dies alles beobachtet und war traurig geworden. Sein Sohn war den andern fremd, ja unheimlich geworden.
Natürlich durfte man nicht übertreiben. Auch wenn Orry eigenartig geworden war, fand Tillet doch mehr Gefallen an ihm als an Cooper.
Cooper kümmerte sich mit Feuereifer um die kleine Schiffsgesellschaft – nicht ohne Erfolg, aber er vertrat weiterhin beleidigende, um nicht zu sagen verräterische Ansichten.
Man hatte in letzter Zeit viel über verschiedene Resolutionen lesen können, die der alte Henry Clay zu Beginn des nächsten Jahres dem Senat vorlegen wollte. Clay hoffte, ein weiteres Auseinanderdriften zwischen Nord und Süd vermeiden zu können. Die dreißig Staaten starke Union befand sich in einem labilen Gleichgewicht: Fünfzehn waren Anhänger und fünfzehn Gegner der Sklaverei. Clay wollte beiden Seiten entgegenkommen. Er schlug vor, den neuen Staat Kalifornien dem Norden anzugliedern, das heißt, die Sklaverei dort zu verbieten. Als Gegenleistung würde man dem Süden zusichern, den zwischenstaatlichen Sklavenhandel nicht zu beeinträchtigen und schärfere Gesetze gegen die Sklavenflucht zu erlassen.
Hätte man Tillet gefragt, was er dem Norden am meisten vorwerfe, dann hätte er spontan das Problem der Sklavenflucht genannt. Der vierte Verfassungsartikel besagte ausdrücklich, daß ein Mann ein Recht auf seinen davongelaufenen Sklaven hatte. Er besagte ebenfalls, daß dieses Gesetz auch für Staaten, die keine Sklaverei betrieben, gültig sei. Dieses Gesetz, der Fugitive Slave Act von 1793, war eine Ausführungsbestimmung zur Verfassung gewesen, und seither hatten die selbstgerechten Heuchler im Norden immer wieder Mittel und Wege gefunden, das Gesetz zu verwässern oder ganz zu umgehen.
Tillet war gegen Clays Kompromißlösung, wie auch die meisten Politiker des Südens, einschließlich die Senatoren Jeff Davis und John Calhoun. Der berühmte und einflußreiche Senator Webster stand hingegen auf Clays Seite, doch hatte er mehrere scharfe Gegner der Sklaverei gegen sich. Für einmal war Tillet diesem Völkchen dankbar.
Cooper war der Ansicht, daß die heiß diskutierte Kompromißlösung sowohl vernünftig als auch dringend notwendig war. Tillet meinte, daß es dringend notwendig sei, Cooper eine Tracht Prügel zu verabreichen.
Während Tillet seinen Gedanken nachhing, sinnierte Orry über die Bemerkung seines Vaters, die Leute in der Nachbarschaft wüßten, daß er Frauen besuche. Dies freute ihn außerordentlich, denn es bedeutete, daß sein Plan funktionierte. Im Lauf des vergangenen Jahres hatte er sich mehrere Mätressen genommen, die letzte eine Mulattin, eine Näherin, der er auf dem Weg nach Charleston begegnet war. Er gab sich Mühe, seinen Umgang diskret, aber nicht geheimzuhalten.
Die Frauen gaben ihm das, was Madeline aufgrund ihrer Vereinbarung nicht geben konnte. Obwohl Tillet anderer Meinung war, hätte Orry sich niemals auf diese Affären eingelassen, nur um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er besuchte verschiedene Frauen, damit es den Leuten auffiel und sie nicht dazu verleitete, zwischen seiner gelegentlichen und unvorhergesehenen Abwesenheit von Mont Royal und Madelines gleichzeitiger Abwesenheit von Resolute eine Verbindung herzustellen. Sosehr er sie regelmäßig sehen wollte, so sehr war ihm daran gelegen, jeglichen Verdacht von ihr fernzuhalten.
Hocherfreut darüber, daß das Täuschungsmanöver erfolgreich war, wandte sich Orry wieder der Bilanz zu. Er war auf etwas gestoßen, das offensichtlich zum Himmel stank, und beschäftigte sich während der nächsten halben Stunde damit, während Tillet in einen genüßlichen Traum hineindöste, in dem Senator Seward vom Pöbel gesteinigt wurde.
Tillet fuhr auf: ein Knall wie von einer Pistole. Orry hatte das Hauptbuch heftig zugeklappt und war ruckartig aufgestanden.
Tillet rieb sich die Augen: »Was ist los?«
»Eine Menge. Wir haben einen Dieb ernährt. Er hat dein Vertrauen und deine Güte mit Betrug vergolten. Ich habe den Schurken nie gemocht und werde ihn jetzt sofort vor die Tür setzen.«
»Wen?« fragte Tillet schläfrig und verwirrt.
Orry drehte sich an der Tür um. »Jones.«
»Aber – ich habe ihn eingestellt, du kannst ihn doch nicht einfach rausschmeißen.«
»Ich erlaube mir, eine andere Meinung zu haben«, sagte Orry mit so harter und leiser Stimme, daß der alte Mann ihn wegen des Regens kaum hören konnte. »Ich leite jetzt diese Plantage, und du wirst mit meinem Entscheid einverstanden sein, wenn ich dir den Beweis vorlege. Aber auch wenn du nicht einverstanden sein solltest: Jones hat verspielt.«
Orry starrte seinen Vater an; nicht wütend, aber eindringlich. Bart, Augen, die große, hagere Gestalt, der leere Ärmel – all dies machte auf Tillet plötzlich einen merkwürdigen Eindruck. Er hatte das Gefühl, daß er mit einem Fremden, und dazu noch mit einem furchteinflößenden, redete.
»Wie du meinst«, murmelte er. Sein Sohn nickte kurz und heftig und ging hinaus.
Das Hauptbuch unter dem Arm schritt Orry mit wehendem Mantel zum Haus des Aufsehers. Regentropfen verfingen sich in Haar und Bart. Er machte weitausholende, entschlossene Schritte und war so auf seine Sache konzentriert, daß er nicht bemerkte, wie Vetter Charles bei der dunklen Tür einer Sklavenhütte herumlungerte.
Jones schlief. Orry weckte ihn mit lauter Stimme und stellte ihn dann in der Küche seines makellos sauberen Hauses zur Rede. Der überraschende Besuch machte den Aufseher nervös: Schweißperlen glitzerten auf seinem kahlen Kopf, und dunkle Ringe zeichneten sich auf seinem Nachthemd ab. Jones hatte seine Reitpeitsche und seinen Knüppel dabei; er trennte sich also offensichtlich auch bei Nacht nicht von ihnen.
»Ein einfacher Plan, nicht wahr?« sagte Orry und knallte das schwere Hauptbuch auf den Küchentisch. Panik flackerte in Jones’ Augen. »Sie haben bei jeder Schiffsladung etwa ein Dutzend Fässer weniger aufgeschrieben, als in Tat und Wahrheit verladen wurden. Unsere Abnehmer bezahlen jedoch für die Zahl der tatsächlich gelieferten Reisfässer. Da Sie auch hierüber Buch führten, mußten Sie lediglich diese Summe der Zahl der verbuchten Fässer anpassen und konnten dann den Rest in die eigene Tasche stecken. Als ich das letzte Mal in Charleston war, habe ich mir die Bücher unserer Abnehmer angesehen. Aus ihnen geht eindeutig hervor, daß uns immer mehr bezahlt wurde, als Sie verbucht haben.«
Jones schluckte leer und preßte den Knüppel gegen seinen Fettwanst, als ob er urplötzlich Schmerzen hätte. »Sie können nicht beweisen, daß ich für den Unterschied verantwortlich bin.«
»Vor Gericht vielleicht nicht, aber ich glaube, daß der Fall ziemlich klarliegt. Bis ich aus Mexiko zurückgekommen bin, haben nur Sie und mein Vater diese Bücher geführt; bedauerlicherweise hat die Gesundheit meines Vaters nachgelassen, und er ist etwas vertrauensselig geworden. Doch ich nehme kaum an, daß mein Vater sich selber betrügen würde.«
»Sie können sagen, was Sie wollen, Sie werden niemals einen Beweis…«
»Was quasseln Sie da von Beweisen. Ich brauche keinen gerichtlichen Entscheid, um Sie zu entlassen. Und mein Entschluß steht fest.«
»Das ist ungerecht«, schrie Jones. »Ich habe alles für diese Plantage gegeben.«
Orrys Gesicht sah im Licht der Lampe häßlich aus. Seine Augen blitzten. »Sie haben auch viel genommen.«
»Ich bin nicht mehr jung, Mr. Main. Bitte, geben Sie mir noch eine Chance …«
»Nein.«
»Ich brauche mindestens«, Jones legte den Knüppel beiseite, »eine Woche, um meine Sachen zu packen.«
»Sie werden dieses Haus bei Tagesanbruch verlassen haben. Ich werde Befehl erteilen, daß alles, was bis morgen früh noch rumsteht, verbrannt wird.«
»Hol Sie der Teufel«, schrie Jones. Der Schatten des erhobenen Knüppels fiel erst auf die Wand, dann auf die Decke, doch bevor er auf Orrys Stirn niedersausen konnte, machte dieser eine leichte Drehung, um seinen rechten Arm besser gebrauchen zu können. Er packte Jones am Handgelenk.
»Ich bin kein Sklave, Mr. Jones. Wenn Sie noch einmal die Stimme oder die Hand gegen mich erheben, werde ich dafür sorgen, daß Sie die Plantage auf einer Tragbahre verlassen.«
Zitternd vor Wut entriß er Jones den Knüppel und klemmte ihn unter die Achsel. Dann griff er behend nach dem Hauptbuch und schritt zur Tür. Er nahm kaum Notiz von Vetter Charles, der draußen in beinahe andächtiger Haltung neben einer Säule stand.
»Was ist los?« fragte Charles. »Hat Jones etwas verbrochen?«
Es nieselte. Orry marschierte an ihm vorbei, und seine schroffe Antwort wurde vom schweren Stiefelschritt übertönt. Vetter Charles glaubte, daß Orry es nicht für nötig befunden hatte, ihm eine Antwort zu geben. Seine Aufregung wandelte sich in Verstimmung.
Vetter Charles lag nackt neben Semiramis. Ihr weicher, warmer Körper strahlte noch einen schwachen Schweißgeruch vom eben vollzogenen Geschlechtsverkehr aus.
Das Mädchen hörte in der Dunkelheit plötzlich dumpfe Laute. Tonk, tonk. Vor jedem Schlag machte Vetter Charles eine heftige Körperbewegung. Immer wieder stieß er sein Jagdmesser in die Holzplanke neben dem Strohsack.
Jedesmal, wenn er wütend war, spielte er mit dem großen Messer herum. Aber er war sicher nicht auf sie wütend, denn ihre Körper hatten sich wie immer lustvoll vereinigt – obwohl, wenn sie sich das jetzt so überlegte, er ungewöhnlich heftig in sie eingedrungen war.
Semiramis räkelte sich, fühlte sich jedoch nicht schläfrig. Charles bearbeitete weiterhin die Wand mit seinem Messer. Es war jetzt etwa eine Stunde her, seitdem er zu ihr hereingeschlichen war, um ihr zu sagen, daß er Mr. Orry begegnet war. Die Nachricht von Salem Jones’ Entlassung breitete sich wie ein Lauffeuer in der Sklavensiedlung aus. Das Haus des Aufsehers war hell erleuchtet; er war am Packen. Aus der kühlen Dunkelheit konnte Semiramis Lachen und frohe Stimmen hören. Man war immer noch auf den Beinen und freute sich. Die ganze Sklavensiedlung würde in den nächsten Wochen von einer heiteren Stimmung erfüllt sein.
Die Nachricht von Jones’ Entlassung hatte auch Semiramis in Freude versetzt. Als sich der stramme vierzehnjährige Bursche auf sie gelegt hatte, war sie in einer herrlich gelösten Stimmung gewesen. Charles befriedigte sie zwar immer, doch heute abend wurde ihre Lust noch durch Jones und dadurch, daß Charles zu ihr zurückgekommen war, gesteigert. Sie war die erste gewesen, die ihm gezeigt hatte, was Frauen und Männer zusammen tun, und egal mit wie vielen weißen Mädchen er auch herumspielen mochte, er kam doch immer wieder zu ihr zurück. Sie hatte gehört, daß er sich jüngst mit einem der Smith-Mädchen eingelassen hatte. Sue Marie Smith hieß sie. Hübsch, doch zu höflich für einen solch ungestümen jungen Freier.
Tonk. Die Wand vibrierte. Sie ergriff seine freie Hand und legte sie auf ihr Geschlecht. Er zog sie mit einer heftigen Bewegung zurück.
»Gott im Himmel«, sagte sie mit einem etwas erzwungenen Lachen. »Auf wen bist du denn so wütend?«
»Auf Orry. Er sieht durch mich hindurch, als ob ich ein Fenster wäre. Er weiß gar nicht, daß es mich gibt. Oder es ist ihm egal.«
Tonk.
»Hm. Du mußt ihn ebenso sehr haßen, wie ich seinen Vater dafür hasse, daß er meinen Bruder wie einen Hühnerdieb behandelt hat. Ich fürchte, ich habe mich in Orry geirrt.«
»Was meinst du?«
»Ich glaubte eigentlich, daß du ihn magst.«
Vetter Charles schnaubte verächtlich. »Würdest du jemanden mögen, der glaubt, daß du nichts wert bist, daß du Dreck bist?«
Hunderte von weißen Gesichtern gingen ihr plötzlich durch den Kopf. »O nein, mein Lieber, bestimmt nicht.«
»Dann erwarte das auch nicht von mir.«
Tonk. Diesmal schlug er so hart zu, daß die Klinge summte.
»Ich glaube, du hast dich darüber gefreut, Jones zu entlassen«, sagte Madeline, als sie Orry das nächste Mal bei der Kapelle traf.
»Der Hund! Ich hab’ das nicht eingefädelt, das weißt du.«
»Reg dich nicht so auf, Liebling. Natürlich nicht. Aber ich weiß, was ich meine.«
Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Wange. »Ich kenne dich jetzt. Du hast jetzt schon zuviel Arbeit, aber du nimmst immer noch mehr auf dich. Man hätte Jones in einer Woche oder in einem Monat entlassen können, aber du wolltest unbedingt seine Arbeit auch noch übernehmen, und zwar sofort.« Sie küßte ihn sanft. »Du siehst erschöpft aus. Du bist nicht unverwüstlich, weißt du.«
Er hatte das Gefühl, daß sie mitten in ihn hineinsah, dorthin, wo er die Gefühle und Gedanken verbarg, deren er sich schämte. Ihr Scharfblick ärgerte ihn, aber er konnte ihr wie immer nicht lange böse sein. Vielleicht – die Erkenntnis kam plötzlich – vielleicht war Liebe dann am echtesten, am tiefsten, wenn man einander ins Herz blicken konnte, ohne vor dem zu erschrecken, was man dort sah.
Er lächelte müde. »Ich glaube, du hast mein Geheimnis entdeckt. Harte Arbeit und unsere Treffen sind das einzige, das mich am Leben erhält.«
Obwohl er lächelte, bemerkte sie den Schmerz in seinen Augen. Sie war sich seiner verzweifelten Wahrheit bewußt. Sie hielt ihn eng umschlungen und schwieg.
21
Am 29. Januar 1850 unterbreitete Senator Clay dem Kongreß seine acht Gesetzesentwürfe.
Man hatte sich in Resolute bereits heftig damit auseinandergesetzt. Zwei von Justins Onkeln, beide wohlhabende Geschäftsleute aus Columbia, wurden von den südlicheren LaMottes geächtet, weil die beiden einmal an Justins Tisch gesagt hatten, daß der Süden sich nicht so sehr gegen Kompromisse sträuben solle. Besonders nicht, da der Norden immer mächtiger wurde und nur noch 90 von 234 Kongreßmitgliedern die Sklavenstaaten vertraten.
Tagelang hatte Justin wegen der ketzerischen Äußerungen seiner Onkel gewütet. Er konnte es nicht ausstehen, wenn jemand eine Meinung vertrat, die dem traditionellen Denken – seinem Denken – zuwiderlief. Dies war einer der Gründe dafür, daß Madeline oft daran dachte, wegzugehen.
Es gab jedoch mehrere Dinge, die sie davon abhielten. Sie war immer noch der Ansicht, daß ein solcher Schritt unmoralisch wäre. Abgesehen davon müßte sie allein fliehen, denn sie konnte von Orry nicht verlangen, daß er ihre Schande teilen würde. Das würde jedoch bedeuten, daß sie ihn nie wiedersähe. So konnte sie ihn wenigstens fast jede Woche sehen.
Ein weiterer, beinahe ebenso zwingender Grund, der gegen eine Flucht sprach, hatte sich im Lauf der letzten zwei Jahre herauskristallisiert. Als Madeline nach Resolute gekommen war, war ihr das Landleben noch völlig fremd gewesen. Die auf einer Plantage herrschenden Sitten und Gebräuche waren ihr unbekannt, doch sie war entschlossen, sie zu meistern. Obwohl es nicht lange dauerte, bis ihr die Augen über ihre Heirat aufgingen, minderte dies ihre Entschlossenheit nicht. Im Gegenteil, sie nahm sogar zu, denn es wurde ihr bald klar, daß ein mäßigender Einfluß in Resolute wichtig war. Jemand mußte so gut wie möglich die Interessen der Schwarzen vertreten und ihr unerträgliches Los etwas lindern.
Sie verbündete sich mit den Küchenangestellten, um zusätzliches Essen für die Sklavensiedlung zu beschaffen. Sie zweigte ab und zu etwas von ihrem Haushaltsgeld ab, sparte es zusammen, bis es reichte, um bessere Kleider oder zusätzliche Medikamente für die Krankenstation zu kaufen. Sie lernte, einfache Krankheiten zu diagnostizieren und sie mit traditionellen Heilmitteln zu behandeln, was ja auch ihre Pflicht als Justins Ehefrau war. Auch versuchte sie, ungewöhnlich harte Bestrafungen, die ihr Ehemann verordnete, zu entschärfen – was nicht zu ihren Pflichten gehörte.
Nach der Auseinandersetzung mit seinen Onkeln dürstete Justin danach, seine Wut an jemandem auszulassen. Seine Wahl fiel auf Tom, den vierzehnjährigen Hausburschen. Der Junge hatte einige der Messinggegenstände nicht zu Justins Zufriedenheit poliert.
Als Antwort auf Justins Fragen murmelte der verängstigte Junge nur unverständliches Zeug, was Justin veranlaßte, Tom der Anmaßung zu beschuldigen. Er gab Befehl, daß dem Jungen zwanzig Peitschenschläge verabreicht werden sollten. Madeline protestierte; sie protestierte immer gegen seine Grausamkeit. Justin kümmerte sich wie immer nicht darum, sondern ließ sie mit einer verächtlichen Bemerkung über weibliche Empfindsamkeit stehen. Wenige Minuten später rannte Madeline zur Sklavensiedlung, um den für die Ausführung der Strafe verantwortlichen schwarzen Kutscher zu sprechen.
Es war eine heikle Angelegenheit. Wenn sie sich gegen Justins Befehl stellen würde, würde sie den Kutscher gefährden. Das einzige, das sie tun konnte, war, den großen, pechschwarzen Mann namens Samuel zu bitten, die Schläge so weit zu mildern, ohne daß er selbst auch noch bestraft werden würde.
»Das werde ich tun, aber ich muß ihm noch Schlimmeres als Schläge verabreichen«, sagte Samuel. »Mist’ Justin will, daß ich einen Eimer auf seine Wunden gieße.«
»Einen Eimer mit was?«
Der Fahrer blickte beschämt zur Seite.
»Hast du mich verstanden, Samuel? Was soll in dem Eimer drin sein?«
»Terpentin.«
»O Gott.« Sie preßte die Lippen zusammen. »Das wird ihn umbringen.«
»Mist’ Justin war ziemlich wütend. Ich muß es tun«, sagte Samuel mit einem traurigen Achselzucken.
Sie faltete die Hände über der Brust und sagte nachdenklich: »Wenn dir jemand den Eimer reicht, Samuel, bist du doch nicht für den Inhalt verantwortlich.«
Er blickte sie erst scheu, dann verständnisvoll an. »Sie haben recht, Miz’ Madeline.« Er wollte lächeln, wagte es aber nicht.
»Ich werde den Eimer mit Terpentin selbst holen. Ich werde ihn dir übergeben, und du wirst deine Pflicht erfüllen. Du mußt lediglich dafür besorgt sein, daß wir keine Zuschauer haben, die meinem Mann mitteilen könnten, wonach der Eimer gerochen hat oder eben nicht.«
»Nein, Ma’am, niemand wird zuschauen. Das verlangt Mist’ Justin nicht.«
Tom wurde also ausgepeitscht, statt ausgepeitscht und gefoltert. Aber dies war weder für Madeline noch für den Jungen ein Triumph. Aber sie wußte genau, daß es noch schlimmer wäre, wenn sie davonrennen würde.
Vieles, was Madeline über das Leben auf einer Plantage und die Stellung einer anständigen Frau wußte, hatte sie von einigen Nachbarn, hauptsächlich aber von Clarissa Main gelernt. Obwohl die beiden Frauen einen unterschiedlichen familiären Hintergrund aufwiesen, waren sie sich in ihren Empfindungen doch sehr ähnlich. Und vielleicht spürte Clarissa irgend etwas von den Gefühlen, die ihr Sohn für Justins Frau empfand. Auf jeden Fall verbrachte Clarissa viele Stunden mit Madeline in Mont Royal und führte sie mit viel Geduld in die verschiedensten Tätigkeiten ein; unter anderem in die Rolle der Hebamme.
In einer mondhellen Nacht Anfang Februar wurde Madeline in die Sklavensiedlung gerufen, um einer Feldsklavin namens Jane bei der Geburt zu helfen. Es war Janes erstes und Madelines zehntes Baby.
Mehrere schwarze Frauen hatten sich in Janes Hütte eingefunden; Madeline kniete neben der schwangeren Frau und hielt deren Hände, als sie von den Geburtswehen erfaßt wurde. Zuvor hatte Jane die Hilfe einer anderen Frau ausgeschlagen. Madeline war die Herrin; ihr vertraute man. Ob dies nun half oder nicht, Madeline freute sich auf jeden Fall darüber. Sie half dabei, Janes Knöchel festzubinden, und beobachtete dann, wie die ältere Hebamme, Aunt Belle Nin, mit der hölzernen Zange hantierte. Bei weniger schwierigen Geburten übernahm Madeline diese Arbeit, diesmal jedoch überließ sie Aunt Belle Nin, die man extra geholt hatte, das Feld. Das Baby war in einer falschen Lage; die Hebamme drehte es mit der hölzernen Zange um, und kurz darauf stieß das Kind den ersten Schrei aus.
Aunt Belle Nin war eine rüstige fünfundsechzig-, vielleicht auch siebzigjährige Frau mit einem Achtel Negerblut. Sie lebte allein im entlegenen Sumpfgebiet und kam, wenn sie gerufen wurde, um bei schwierigen Niederkünften zu helfen. Als Entschädigung dafür nahm sie Eßwaren, Kleider und Kautabak an. Sie hielt das feuchte, kakaofarbene Neugeborene im Arm und liebkoste es, als wäre es ihr eigenes.
»Er wird’s schaffen«, sagte sie. »Ich bin sicher. Ich habe Elend, Hurrikane und Ehemänner überlebt. Und wenn ich so stark bin, wie stark muß denn erst dieser kleine, stramme Kerl sein.«
Madeline blickte sich verstohlen in der ärmlichen Hütte um. Die Wände hatten seit Jahren keine Tünche mehr gesehen. Sie fragte sich, wie eine Frau überhaupt noch ein Kind zur Welt bringen konnte, wenn gewiß war, daß das Kind sein Leben in Armut und Sklaverei verbringen würde. In letzter Zeit war ihr mehr und mehr klargeworden, was die Gegner der Sklaverei eigentlich wollten und weshalb.
Jane bat Madeline, das Baby zu halten. Madeline kam ihrem Wunsch nach und dachte dabei, wie gern sie Orry das Kind gezeigt hätte. Später, als sie im Begriff war zu gehen, machte eine gebeugte, verhutzelte Frau mit sorgenvollem Blick eine bittende Geste. Madeline hielt inne.
»Ich bin die Mutter von Tom, des Jungen, der ausgepeitscht wurde, weil er frech war.«
»Ach ja, ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Ja, besser, aber nie mehr gut. Er wird sein Leben lang Narben auf dem Rücken haben. Samuel …« Sie preßte angstvoll die Lippen zusammen. »Samuel hat mir gesagt, was Sie getan haben. Ich danke Ihnen, Miz’ Madeline. Sie sind eine gute Christin.«
Madeline hörte verblüfft zustimmendes Gemurmel. Auch Aunt Belle Nin hatte zugehört. Nachdem sie ihre Tonpfeife angezündet hatte, sagte sie: »Alle sagen das von Ihnen, Mistreß. Ich habe Sie heute nacht beobachtet und glaube, daß die andern recht haben. Sollten Sie je ein Problem haben, bei dem ich Ihnen helfen kann, wissen Sie, wo Sie mich finden.«
»Vielen Dank, Aunt Belle.«
Hocherfreut lief Madeline zum Herrenhaus zurück: Justin betrachtete ein Buch mit Lithographien von Pferderennen. Die Sklaven mochten sie respektieren, er nicht. Dies zeigte sich erneut, als sie ihm sagte, wo sie gewesen war.
»Fein«, sagte er, »wie bezaubernd häuslich du langsam wirst. Du kannst Niggerbabys zur Welt bringen. Schade, daß du nicht fähig bist, ein eigenes Kind zur Welt zu bringen.«
Sie wandte sich ab, gekränkt und verletzt. Er spürte es und doppelte nach.
»Vielleicht brauchst du eine stimulierende Beihilfe. Soll ich einen jener Böcke auswählen, damit er dich deckt? Mir scheint, du hast eine Vorliebe für Nigger – keine für mich.«
Ihr Schmerz wandelte sich in Wut. »Justin, ich habe mich stets bemüht, dir eine gute Frau zu sein, und dies in jeder Hinsicht. Mach mir nicht immer Vorwürfe, daß ich nicht schwanger werde.« Vielleicht solltest du die Schuld bei dir selber suchen.
Er schwang ein Bein über die Armlehne des Sessels. »Wieso nicht? Du bist ja nie sehr lebhaft, wenn wir uns um einen Stammhalter bemühen; abgesehen davon, daß dies immer seltener vorkommt, obwohl ich zugeben muß, daß auch ich nicht unschuldig daran bin. Wie du siehst, lasse ich dich bewußt links liegen. Deine Vorliebe für Nigger geht mir langsam auf die Nerven. Gute Nacht, Liebling.«
Er vertiefte sich wieder in sein Buch.
Madeline war erst vor einer Woche bei der Salvation Chapel gewesen, doch am nächsten Morgen machte sie sich todunglücklich auf den Weg nach Mont Royal, damit Nancy Orry eine Botschaft übermitteln konnte.
»Glaubst du, er weiß etwas von uns?« fragte Orry, als sie sich am folgenden Nachmittag bei der Kapelle trafen. Es herrschte klares, mildes Wetter, was für den Februar im Süden nicht ungewöhnlich war. Orry hatte Mantel und Krawatte abgelegt.
Madeline schüttelte den Kopf. »Wenn ja, würden wir uns die Frage nicht stellen. Justin gehört nicht zu den Menschen, die schweigend leiden.«
Orry klopfte geistesabwesend mit einem Finger auf das Buch, das er mitgebracht hatte. »Warum gibt er sich denn so viel Mühe, dich unglücklich zu machen?«
»Weil keine Kinder da sind; das ist auf jeden Fall der Hauptgrund. Justin gehört zu jenen armen, unglückseligen Menschen, die immer unglücklich sind. Aber anstatt die Ursache mal bei sich selber zu suchen, macht er immer andere Menschen oder Dinge dafür verantwortlich und fängt an, um sich zu schlagen. Manchmal wünschte ich mir, er würde über uns Bescheid wissen. Dann könnte ich meine Gefühle offen zeigen, sowohl ihm als auch dir gegenüber.«
Sie war auf und ab geschritten und hielt jetzt inne. Orry hatte sich auf dem Fundament niedergelassen und scharrte mit den schmutzigen Stiefeln im braunen Gras. Madeline legte ihm den Arm um den Hals und küßte ihn.
»Ich bin wirklich froh, daß du heute gekommen bist; ich hätte es keine Sekunde länger in Resolute ausgehalten.«
Der zweite Kuß fiel bereits etwas heftiger aus. Dann glättete sie ihr Kleid und ging bis zu dem Sumpf. Wie immer, wenn sie sich trafen, erzählte sie von den Ereignissen der vergangenen Tage: die Geburt von Janes Sohn, das Auspeitschen von Tom, und damit stiegen ihre Gefühle über die Sklaverei wieder hoch. Normalerweise vermied sie das Thema, weil sie Orry nicht verletzen wollte, aber heute gelang es ihr nicht.
»Ich glaube, die Südstaatler würden das ganze System irgendwie anders betrachten, wenn sie es mit den Augen der Sklaven sähen.« Sie wandte sich vom Sumpf, in dem die Sonne spiegelte, ab und sah ihn mit ernsten Augen an. »Wie würdest du dich fühlen, wenn du zusehen müßtest, wie ein Mann deiner Mutter Hand- und Fußketten anlegte und sie dann jemandem überließe, der bis zu ihrem Todestag über sie verfügen darf?«
Orry schien leicht irritiert. »Meine Mutter ist eine weiße Frau; der Junge, dem du geholfen hast, ist ein Neger.«
»Ist damit das Verbrechen gerechtfertigt? Oder auch nur annähernd erklärt? Tom ist zwar Neger, aber ist er deswegen kein Mensch?«
»Und ich bin in deinen Augen jetzt ein Verbrecher?«
Einen Augenblick lang erinnerte er sie an Justin, denn sie hatte auch bei ihm das Gefühl, daß sie kein Recht habe, das Thema aufzuwerfen. Sie brachte ihre aufkeimende Wut unter Kontrolle, ging zu ihm zurück und versuchte, ruhig und nicht emotional zu antworten:
»Ich mache dir keinerlei Vorwürfe, Liebling; ich möchte bloß, daß du die Dinge klarer siehst. Du bist vernünftiger als …« Sie hätte beinahe gesagt »dein Vater«, besann sich jedoch rasch eines Besseren, »die meisten Menschen. Die Einstellung der Südstaatler zum ganzen System ist so fürchterlich unlogisch. Jedes Jahr an Weihnachten schenkt ihr euren Sklaven ein neues Hemd, aber ihr versagt ihnen die Freiheit – und dafür sollen sie euch dankbar sein. Und von der Welt erwartet ihr, daß sie euch lobt!«
»Madeline, du redest von einem Mann, der – «
»Weniger wert ist.« Sie warf die Hände hoch. »Diese Ausrede habe ich schon tausendmal gehört. Ich glaube einfach nicht daran. Auf Resolute gibt es schwarze Männer, die wesentlich intelligenter sind als Justin. Aber ihre Intelligenz wird nicht gefördert, und sie dürfen ihren Verstand nicht benützen. Doch lassen wir das. Gehen wir einmal davon aus, daß in der Ausrede ein Körnchen Wahrheit steckt und daß die Weißen aus irgendeinem Grund die wertvolleren Menschen sind. Haben wir deshalb ein Recht, andere Menschen ihrer Freiheit zu berauben? Sollte man sich nicht vielmehr verpflichtet fühlen, ihnen zu helfen, weil sie weniger begünstigt sind? Wäre das nicht eine christliche Haltung?«
»Weiß ich doch nicht, verflixt noch mal.« Orry stand auf und schlug sich mit dem dünnen Buch auf den Schenkel. »Du machst mich ganz konfus mit deinen Ansichten.«
»Tut mir leid.«
Eigentlich tat es ihr nicht leid, sondern sie freute sich. Orry machte keinen Versuch, ihre Argumente zurückzuweisen oder zu widerlegen. Dies könnte bedeuten, daß er darüber nachdachte. Vielleicht würde es ihr nie gelingen, ihn davon zu überzeugen, daß Sklaverei ein Unrecht war, doch wenn sie den einen oder andern Zweifel in ihm hervorriefe, wäre dies bereits ein Erfolg.
Er schwieg eine Weile und zuckte dann die Achseln. »Ich bin nicht gescheit genug, um mich in dieser ganzen Argumentation zurechtzufinden. Abgesehen davon glaubte ich, daß wir lesen würden?«
Er zeigte ihr den in goldenen Lettern geprägten Titel des Buches, das gestern mit dem Boot aus Charleston eingetroffen war.
Madeline brachte ihre Kleider in Ordnung und setzte sich neben ihn. »E. A. Poe. Die Frau von Francis LaMotte hat ihn irgendwann letzte Woche erwähnt. Sie hat einige seiner phantastischen Geschichten gelesen und haßt ihn offenbar. Sie meinte, er gehöre ins Irrenhaus.«
Orry lachte zum erstenmal an diesem Tag. »Die typische Reaktion auf einen Yankee-Schriftsteller. Aber die Gefahr, daß man ihn hinter Schloß und Riegel bringt, besteht nicht mehr. Er ist letztes Jahr in Baltimore gestorben. Er war erst vierzig. Alkoholiker. Im Southern Literary Messenger sind einige Artikel über ihn erschienen, und er war auch eine Zeitlang Redakteur. Was mich jedoch interessiert, ist die Tatsache, daß er in West Point war.«
»War er Kadett?«
»Ein Semester lang; ich glaube im Herbst 1830. Man sagte ihm offenbar eine brillante Karriere voraus. Er war überall unter den ersten, aber irgendwo lief etwas schief, und er wurde wegen grober Pflichtversäumnis vors Kriegsgericht gestellt. Kurz bevor er entlassen wurde, verbrachte er fast seine ganze Zeit bei Benny Haven.«
»Trinkend?«
»Ich nehme an, obwohl die Hauptattraktion bei Benny seit jeher das Essen gewesen ist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie himmlisch Benny Spiegeleier zubereiten konnte! Aber du hast natürlich auch nie in der Offiziersmesse gegessen.«
Mit der Erinnerung war seine Stimme ganz weich geworden, und sein Blick schweifte in die Ferne. Wie sehr er das alles vermißt, dachte sie und hakte sich bei ihm ein. Sie war immer darauf bedacht, sich rechts neben ihn zu setzen, damit sie ihn nicht aus Unachtsamkeit an seine Behinderung erinnerte.
»Sei’s drum«, er schlug das Buch auf, »ich kann Gedichte nicht beurteilen, aber ich mag einige von diesen. Sie sind von einer eigenartigen, wunderbaren Melodik. Sollen wir mit diesem hier beginnen?«
Das Gedicht trug den Titel ›Annabel Lee‹. Sie begann zu lesen:
»Es ist lange her, da lebte am Meer,
Ich sag Euch nicht wo und wie –
Ein Mägdelein zart, von seltener Art,
Mit Namen Annabel Lee.«
Sie hielt am Ende der Zeile inne und deutete ihm damit an, daß er weiterlesen solle.
»Und das Mägdelein lebte für mich allein,
Und ich lebt’ allein für sie.«
Sie waren bereits darauf eingespielt, Gedichte laut zu lesen. Sie hatten vor etwa zwei Monaten damit begonnen, als Orry überraschenderweise einmal mit einem Buch gekommen war. Einige der Gedichte waren nicht besonders gut, aber sie erfreuten sich am Ritual, und auch heute geschah es, daß sie während der Lektüre plötzlich einen Anflug von Erregung verspürte.
Das erste Mal war sie über ihre physische Reaktion erschrocken, aber jetzt freute sie sich schon im voraus darauf. Ihre Stimmen fielen im sanften Wechselspiel der Lektüre in eine Art sexuellen Rhythmus, so, als würden sie voneinander Besitz ergreifen, als liebten sie einander auf die einzige Art, die ihnen gestattet war. Sie hielten das Buch zusammen, und sie streichelte seine Knöchel. Der physische Kontakt schien eine Welle von Wärme durch ihren Körper zu jagen. Sie wandte sich leicht um, damit sie ihn, während sie weiterlasen, direkt anschauen konnte.
Der unbekannte Liebhaber des Gedichts verlor seine Geliebte, und sie erlebten beide diesen Verlust mit, als die Strophen langsam den Höhepunkt erreichten. Ihre Stimme wurde heiser:
»Wenn die Sterne aufgehn, so kann ich drin sehn
Die Äuglein der Annabel Lee.«
Orry wurde schneller:
»Und noch jegliche Nacht hat mir Träume gebracht
Von der lieblichen Annabel Lee.«
Ihr Blick wanderte nervös zwischen dem Gedicht und seinem Gesicht hin und her. Ihre Brüste schmerzten, und ihr schwindelte.
»So ruh’ ich denn, bis der Morgen graut,
Allnächtlich bei – meinem Liebchen traut«
Sie stolperte über ein Wort und mußte schnell einen Blick auf das Buch werfen, um die Zeile zu Ende zu lesen.
»In des schäumenden Grabes Näh’«
»An der See, an der brausenden See«, las er.
Er schloß das Buch und ergriff ihre Hand. Schweigend blickten sie einander an. Doch dann vermochte sie nicht länger an sich zu halten, warf ihm mit einem leisen Schrei die Arme um den Hals und preßte ihren geöffneten Mund auf seine Lippen.
Orry ritt in der frühen Dämmerung des Februarnachmittags nach Hause. Er fühlte sich wie jedesmal, wenn er Madeline getroffen hatte. Die Zeit, die sie zusammen verbrachten, war immer viel zu kurz, und die gemeinsame Lektüre von Gedichten war kein Ersatz für das, was Gott beabsichtigt hatte, als er Mann und Frau erschuf.
Heute waren sie bis zum Äußersten gegangen und hatten sich beinahe von ihrem Hunger überwältigen lassen. Nur äußerste Zurückhaltung und eine übermenschliche Anstrengung, ihre Gefühle zu beherrschen, hatten sie davon abgehalten, sich in das braune Gras neben dem Fundament fallenzulassen. Wohl weil sie einander so nahe gekommen waren, fühlte sich Orry einsamer und frustrierter denn je, als er an einem der Hausdiener vorbeiritt. Der Sklave lächelte und grüßte ihn. Orry antwortete mit einem höflichen Kopfnicken. Was dachte der Neger wohl wirklich? Du schenkst mir jedes Jahr an Weihnachten ein Hemd, versagst mir die Freiheit und erwartest, daß ich dir die Hand küsse. Ich würde sie dir am liebsten ausreißen. Orry hätte Madeline verfluchen mögen, weil sie seinen Kopf mit Zweifeln an einem System angefüllt hatte, das er zeit seines Lebens als moralisch und gerecht betrachtet hatte.
Er ging wütend in die Bibliothek und riß die Vorhänge auf, um die letzten schwachen Sonnenstrahlen hereinzulassen. Es war eine Qual, Madeline immer wieder zu sehen, aber der Gedanke, das Ganze aufzugeben, war ebenso quälend. Was sollte er tun?
Er schenkte sich ein großes Glas Whiskey ein. Die Dunkelheit brach herein, und das Messing auf seiner Säbelscheide blitzte immer weniger häufig auf. Säbel und Uniformmantel hingen an einem Kleiderständer in einer Ecke des Zimmers. Natürlich handelte es sich nicht um den Mantel, den er getragen hatte, als er seinen Arm verlor. Dieser Mantel wies noch beide Ärmel auf. Sowohl die Messingknöpfe wie auch der Säbelgriff waren mit einer grünlichen Schicht überzogen, und auf dem Mantel entdeckte er vereinzelte Schimmelflecke.
Er ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken und brütete über Vergangenes nach. Er mußte diese Erinnerungen loswerden, denn sie mahnten ihn dauernd an den Strich, den man ihm durch seine ehrgeizigen Pläne gemacht hatte. Sie waren umsonst gewesen, wie sein Leben. Sie hatten keinen Sinn, keine Bestimmung gefunden, und er auch nicht. Sie existierten, das war alles.
Gott, wenn dieser Tag in Churubusco doch bloß anders verlaufen wäre! Wenn er doch bloß früher mal nach New Orleans gegangen wäre und Madeline dort getroffen hätte! Wenn doch bloß! Irgendwo mußte es ein Gegengift gegen dieses ›wenn‹ geben. Aber wie war es zu finden?
Er ging stolpernd zum Schrank, um sich noch ein zweites Glas Whiskey einzuschenken. Im Stockwerk über ihm hörte er seine Schwestern streiten, was sie in letzter Zeit dauernd zu tun schienen. Er schloß die Fensterläden und setzte sich wieder. Als er sein Glas langsam leerte, hörte er entfernte Trommeln in seiner Phantasie. Schließlich war die Uniform in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen.
Gegen elf Uhr öffnete Clarissa die Tür und sah ihn schlafend auf dem Boden liegen. Zwei Diener brachten ihn ins Bett.
Obwohl Ashton und Brett langsam zu jungen Damen heranwuchsen, teilten sie sich immer noch ein Schlafzimmer im zweiten Stockwerk. Die vierzehnjährige Ashton, die bereits eine voll entwickelte, strahlend schöne junge Frau war, beklagte sich dauernd über diese Regelung. Weshalb erlaubte man ihr keine Privatsphäre? Weshalb mußte sie dauernd mit einem zwölfjährigen Kind leben, das immer noch flach wie ein Brett war, wie sie sich auszudrücken pflegte.
An diesem Abend war es außerordentlich warm im Zimmer. Ashton, die in der Nähe des Fensters schlief, murrte dauernd. Immer wieder klopfte sie geräuschvoll ihr Kissen zurecht und preßte seufzend den Handrücken auf die feuchte Stirn.
Schließlich sagte ihre Schwester schläfrig und ärgerlich: »Um Himmels willen, sei endlich ruhig und laß mich schlafen!«
»Ich kann nicht, ich bin völlig verspannt.«
»Manchmal versteh’ ich dich nicht, Ashton.«
»Kein Wunder«, sagte ihre Schwester scharf. »Du bist ja noch ein Baby mit milchweißer Haut und weißen Höschen. Wahrscheinlich wirst du dein Leben lang so bleiben.«
»Du – «, sagte Brett und schmiß ein Kissen nach ihr. Von all den Beleidigungen, mit denen Ashton sie bedachte, konnte nichts sie mehr verdrießen als Anspielungen auf die Tatsache, daß sie noch keine Anzeichen vom monatlichen Unwohlsein der Frauen aufwies. Einmal pro Monat stolzierte Ashton im Zimmer auf und ab, um sicherzugehen, daß ihre Schwester ihre blutbefleckte Unterwäsche bemerkte. Brett fühlte sich jedesmal gedemütigt, so wie sie auch unter ihrer mangelnden körperlichen Entwicklung litt.
Aber sie war sich immer noch nicht im klaren darüber, ob sie überhaupt erwachsen werden wollte. Sollte dies bedeuten, daß sie jedem Mann unter dreißig schöne Augen machen und ein zuckersüßes und scheues Wesen an den Tag legen mußte – dann auf keinen Fall. Und wenn Erwachsenwerden bedeutete, jemanden wie den Rechtsanwalt Huntoon zu umschmeicheln, dann kam es schon gar nicht in Frage.
Mit dem Gedanken an Huntoon erinnerte Brett sich wieder an eine ihrer wenigen Möglichkeiten für einen Vergeltungsangriff. Sie ahmte den süßesten Tonfall ihrer Schwester nach und sagte: »Meiner Meinung nach solltest du heute abend eigentlich überglücklich sein. Morgen kommt doch James Huntoon vorbei – er und all jene Politiker, mit denen Papa in letzter Zeit verkehrt. Du magst Mr. Huntoon doch?«
Ashton schmiß das Kissen wieder zurück. »Ich finde, er ist ein Esel, und das weißt du. Er ist ein alter Mann, beinahe zwanzig. Wenn du wissen willst, was ich von ihm halte:«
Sie streckte die Zunge heraus und würgte viermal.
Brett hielt sich lachend das Kissen vor den Bauch.
Im Süden war es immer noch üblich, daß die Eltern darüber befanden, welcher junge Mann als Kavalier für ihre Tochter in Frage kam. Ashton war alt genug, um mehrere Galane zu haben, aber bis jetzt war Huntoon der einzige geblieben, der Tillet Mains Erlaubnis erhalten hatte, seiner Tochter den Hof zu machen.
Brett wollte mit der Neckerei fortfahren, aber auf ein Geräusch von draußen hin stürzten beide Mädchen zum Fenster. In Neugier vereint sahen sie, wie eine gespenstische Gestalt zu Pferd über den Torweg galoppierte, einen Augenblick vom Mondlicht bestrahlt wurde und dann in Richtung Stall verschwand.
»Das war Vetter Charles«, sagte Brett mit ehrfürchtiger Stimme.
»Klar«, sagte Ashton. »Er muß wieder mal bei Sue Marie Smith gewesen sein. Oder bei einer der Negerhuren.«
Brett errötete bei dem Gedanken.
Ashton kicherte. »Wenn Whitney Smith jemals herauskriegt, daß seine Kusine Sue Marie mit Charles herumspielt, wird der Teufel los sein. Sue Marie und Whitney sind verlobt.«
»Wann werden du und Huntoon eure Verlobung bekanntgeben?«
Ashton zerrte ihre Schwester an den Haaren. »Wenn es in der Hölle schneit.«
Brett knuffte Ashton leicht auf die Schulter und verzog sich dann ins Bett. Ashton stellte sich vor das mondhelle Fenster und rieb sich mit beiden Handflächen den Bauch. Brett fand es schamlos.
»Ich befürchte, daß Sue Marie keine große Erleichterung bei Vetter Charles finden wird. Oder bei irgendeinem Knaben. Man sagt, sie sei scharf wie ein Korb voll Schwärmer. Ich weiß, wie ihr zumute sein muß«, sagte Ashton mit einem tiefen Seufzer. »Du hast natürlich keine Ahnung.«
Brett knuffte ihr Kissen und drehte sich eher verletzt als wütend um. Ashton überragte sie an Witz, Schönheit und Talent. Wahrscheinlich würde dies immer so bleiben.
Ashton hatte auch mehr Mut. Sie ging Risiken ein. In dieser Hinsicht war sie Vetter Charles sehr ähnlich. Vielleicht würde Rechtsanwalt Huntoon sie zähmen können. Brett hoffte es. Sie mochte ihre Schwester eigentlich, aber manchmal gingen ihr Ashtons Possen schlichtweg auf die Nerven.
James Huntoon trug eine runde Brille und einen unsichtbaren Mantel aus Selbstgerechtigkeit. Obwohl er bloß sechs Jahre älter war als Ashton, wies er bereits Anzeichen von Fettleibigkeit auf. Seine ansonsten hübschen Gesichtszüge wurden durch den beginnenden Fettansatz verunstaltet.
Huntoons Familie wohnte schon seit langer Zeit im Staat, aber es fehlten ihr ungefähr fünfzig Jahre, um so alt wie die Main-Familie zu sein. Der erste der Huntoons in Carolina, ein des Lesens und Schreibens unkundiger Immigrant, hatte sich in der Hügelregion im Norden des Staates niedergelassen. Ein Mitglied der nächsten Generation war auf den Gedanken gekommen, daß der Weg zum Erfolg nicht über das Dasein eines unwissenden, schmutzigen Farmers führte, und hatte sich an die Küste verzogen, wo er mit harten Handelsgeschäften und einigen glücklichen Landkäufen der Familie zwei Generationen später einen beträchtlichen Wohlstand bescherte. Die Huntoons heirateten immer wieder in berühmte Familien hinein und brachten es so mit der Zeit zu einer ansehnlichen Ahnengalerie.
Die Familie verfügte gegenwärtig kaum noch über eigenen Grundbesitz. Ihr ehemaliger Reichtum war, genau wie bei den LaMottes, durch Mißwirtschaft und einen zu aufwendigen Lebensstil verlorengegangen. Die betagten Eltern von James Huntoon waren auf die Barmherzigkeit der Verwandten angewiesen. Sie wohnten mit fünf Negersklaven im heruntergekommenen Herrenhaus der Plantage. James war sich schon sehr früh in seinem Leben darüber klargeworden, daß er nicht von diesem Landbesitz zehren konnte, wenn er überleben und es zu etwas bringen wollte.
Glücklicherweise konnten die Huntoons immer noch auf eine beeindruckende Zahl von Freunden und Bekannten zählen. Verlor eine Familie in South Carolina ihren Wohlstand, bedeutete dies nicht notwendigerweise den Verlust ihres gesellschaftlichen Ansehens. Nur der Verstoß gegen die sozialen Regeln führte unweigerlich zum Ausschluß aus der Gesellschaft. James wußte also genau, an wen er sich wenden konnte, als er beschloß, es in Charleston zu etwas zu bringen. Er beriet eines der führenden Unternehmen in Rechtsangelegenheiten und hatte vor kurzem eine eigene Praxis in der Stadt eröffnet.
Nach Tillets Auffassung verdienten die meisten Mitglieder des Huntoon-Clans keinerlei Beachtung. Während andere wichtige Familien sich um die Zukunft des Staats sorgten, meckerten die Huntoons bloß über die Vergangenheit und taten, als ob die drängenden Probleme der Gegenwart überhaupt nicht existierten. Doch in James glaubte Tillet ein gewisses Potential zu verspüren, auch wenn der junge Mann vor der manchmal harten Arbeit eines Rechtsanwalts zurückscheute. Auf jeden Fall waren ihm dank seiner vielfältigen Kontaktmöglichkeiten im ganzen Staat alle Chancen für einen Erfolg gesichert.
Huntoon interessierte sich sehr für Politik und war ein geschickter Redner. Ideologisch stand er denjenigen am nächsten, die dem Staat und der Region in einer zunehmend feindseligeren Welt Unabhängigkeit wünschten.
Huntoon hatte Ashton zum erstenmal im vergangenen Winter bei einer Theateraufführung in Charleston getroffen. Clarissa war für die Zeit der gesellschaftlichen Anlässe mit ihren Töchtern in die Stadt gekommen. Kaum hatte der junge Rechtsanwalt seinen ersten Blick auf Ashton Main geworfen, als er von einer verzehrenden Leidenschaft gepackt wurde. Trotz ihrer Jugend war sie schön und bereits sinnlich. Huntoon schickte Clarissa eine Karte, auf der er um die Erlaubnis bat, ihrer Tochter den Hof machen zu dürfen, sobald ihre Eltern der Meinung waren, daß sie im richtigen Alter dafür sei.
Es vergingen mehrere Monate und ein Geburtstag, bis Clarissa mit einem kurzen, höflichen Brief antwortete. Andere Mädchen hatten auch mit vierzehn die ersten Kavaliere, also wollten sie und Tillet sich Ashton nicht in den Weg stellen. Aber sie erließ eine Warnung an den potentiellen Freier: »Mein Gatte ist ein entschiedener Verfechter der Sitte, wonach der Name einer Frau nur zweimal in der Zeitung erscheinen sollte – einmal, wenn sie heiratet, und das zweite Mal, wenn sie stirbt. Ich möchte dies erwähnt haben, damit Sie sich über seine Einstellung zu unangebrachtem Benehmen jeglicher Art im klaren sind.«
Im Bewußtsein dieser Warnung begann Huntoon seine Werbung mit den traditionellen Geschenken: erst Blumen, dann Lederhandschuhe und Pralinen. Er war nun in dem Stadium, in dem er Ashton allein im Haus einen kurzen Besuch abstatten durfte. Allein mit ihr irgendwohin zu gehen oder ohne Anstandsdame mit ihr einen Ausritt zu machen, war immer noch außer Reichweite. Huntoon tat sein möglichstes, um seine Lust zu zügeln. Eines Tages, wenn alles richtig verlief, würde dieser herrliche Körper ihm gehören.
Er mußte sich eingestehen, daß Ashton ihn ein wenig schockierte. Nach außen hin war sie zwar nicht unkonventionell, aber sie war von einer für Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft unverschämten Kühnheit. Er bewunderte ihre Würde, die einige für Arroganz hielten. Er bewunderte auch Tillet Mains Reichtum.
Die andern Familienmitglieder vermochten ihn nicht zu beeindrucken. Clarissa war eine harmlose gute Seele und Ashtons kleinere Schwester eine entsetzlich graue Maus. Huntoon schrak vor jeglichem Kontakt mit Orry – diesem einarmigen Dämon – zurück, und was Cooper Main anbelangte, der in Charleston herumstolzierte, als hätte er irgendein Recht, sich als Südstaatler zu bezeichnen, so war Huntoon der Meinung, daß man ihn exportieren sollte. Die vier ehrwürdigen Herren, die Huntoon an diesem Vormittag nach Mont Royal begleitet hatten, waren derselben Meinung. Einer der Herren war Robert Barnwell Rhett, der einflußreiche Redakteur des Charleston Mercury.
»Die Parteiversammlung ist für Juni einberufen worden«, sagte Huntoon zu ihrem Gastgeber. »In Nashville. Abgeordnete aus sämtlichen Südstaaten werden vertreten sein, um die Resolutionen von Senator Clay zu prüfen und eine gemeinsame Antwort auszuarbeiten.«
»Juni, sagten Sie?« Tillet kratzte sich am Kinn. »Soll bis dahin nicht über die Resolutionen abgestimmt werden?«
Einer der Gäste lachte. »Das scheint mir sehr unwahrscheinlich in Anbetracht der gegenwärtigen Spaltung innerhalb des Parlaments.«
Huntoon spitzte den Mund – eine unbewußte Reaktion auf den forschenden Blick von Orry, der von Tillet irgendwie dazu überredet worden war, an diesem Gespräch teilzunehmen.
Orry tat seine Abneigung kund, indem er nachlässig mit gekreuzten Beinen als stiller Beobachter in einer Ecke saß.
Warum beobachtete ihn der verfluchte Dämon? Die Verehrer seiner Schwester gingen Orry nichts an. Huntoon kam zum Schluß, daß die Aufmerksamkeit, die Orry ihm zollte, auf Antipathie beruhte. Sie war gegenseitig.
»Lohnt es sich überhaupt, diese Versammlung abzuhalten?« fragte Tillet. »Sie haben mir gesagt, daß es sich nicht um einen offiziellen Parteitag – «
Rhett war plötzlich aufgestanden. Der fünfzigjährige Redakteur stand im Mittelpunkt dieser wie auch aller andern Versammlungen,die er besuchte. »Tillet, mein lieber Freund, Sie haben sich schon zu lange nicht mehr um die Politik gekümmert.«
»Ich muß mich um mein Leben kümmern, Robert.«
Die andern lachten. Rhett fuhr fort: »Sie wissen so gut wie ich, daß unsere Gegner seit mehr als zwanzig Jahren eine Doktrin der Feindseligkeit dem Süden gegenüber predigen. Sie haben unsere Empfindsamkeit mit ihren Lügen schwer verletzt und haben uns mit ihren ungerechten Abgaben auf landwirtschaftliche Erzeugnisse systematisch ausgeraubt. Dazu kommt, daß viele unserer schlimmsten Feinde Mitglieder der demokratischen Partei sind. Die Partei hat sich deshalb langsam aus South Carolina zurückgezogen, so daß man sagen kann, daß wir eher Verbündete als aktive Mitglieder der nationalen Organisation sind. Wir können unsere Antipathie für die Ansichten und Praktiken der Partei nicht anders zum Ausdruck bringen.«
Schließlich ergriff Orry das Wort: »Aber wenn wir mit dem Verhalten der Partei nicht einverstanden sind, wäre es dann nicht besser, Änderungen von innen als von außen herbeizuführen?«
Rhett warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. »Mr. Main, meiner Meinung nach ist Ihre Frage eines Mannes, der in diesem Staat geboren und aufgewachsen ist, nicht würdig. Der Süden schließt keine Kompromisse mit seinen erklärten Feinden. Seit fünfundzwanzig Jahren sind wir den Aggressionen des Nordens ausgesetzt. Wäre es nicht ein bißchen dumm von uns, wenn wir, um diese Situation zu klären, uns an dieselben Männer wenden würden, die sie verursacht haben? Es gibt nur einen einzigen Weg zur Behebung der Mißstände – den Weg in die Unabhängigkeit!«
Calhoun lag im Sterben, und es schien sicher, daß Rhett insgeheim bereits als sein Nachfolger im Senat bestimmt worden war. Es ärgerte Tillet, feststellen zu müssen, daß sein Sohn von Rhett überhaupt nicht beeindruckt war, sondern ihm sogar skeptisch gegenüberstand.
»Persönlich bin auch ich der Meinung«, fügte Rhett hinzu, »daß diese Nashville-Versammlung nicht besonders sinnvoll ist, da ich nur schon den Gedanken an eine Kompromißlösung Gift finde. Aber ich werde die Versammlung der Einheit des Südens zuliebe unterstützen.«
»Mit allem Respekt, den ich meinem geschätzten Verwandten gegenüber empfinde«, sagte Huntoon mit einem seiner teuflischen Grinsen, »scheint es so zu sein, daß einige unter uns – obwohl sie für den autonomen Süden sind – nicht ganz mit dem, was Sie und der Mercury in der letzten Zeit vertreten, einiggehen wollen.«
Orry sagte mit einem frostigen Gesichtsausdruck: »Die Auflösung der Union.«
»Genau«, sagte Rhett. Orry glaubte einen siegesbewußten Streithahn vor sich zu haben.
Er wandte sich in offenkundiger Mißbilligung ab. Zwei der Besucher zwinkerten Huntoon zu, denn auch Tillet blickte jetzt skeptisch. Huntoon unterdrückte seine unzüchtigen Gedanken an Ashton, die er noch nicht gesehen hatte, legte schnell die Beine übereinander und übernahm die Gesprächsführung.
»Tillet, wir sind nicht hierhergekommen, um dieses Thema zu erörtern, sondern um Sie um Ihre Unterstützung für die Nashville-Versammlung zu bitten. In der Tat wollten wir Sie um eine ganz konkrete Art der Unterstützung bitten. Sie haben doch vor kurzem Ihr Interesse geäußert, sich wiederum mit Politik zu befassen.« Der alte Mann nickte vorsichtig. Huntoon fuhr hastig fort: »Wenn die Delegation von South Carolina nach Tennessee reist, wird dies gewisse finanzielle Aufwendungen für Reise, Mahlzeiten und Übernachtungen mit sich bringen. Wir haben uns vorgestellt, daß – «
Deshalb sind sie also hierhergekommen, dachte Orry. Geld. Den Rest des Gesprächs verfolgte er nicht mehr. Er hatte der Versammlung beigewohnt, weil er seinem Vater den Wunsch erfüllen wollte. Jetzt bereute er seinen Entschluß.
Tillet war bald für die Idee gewonnen. Er versprach, fünfhundert Dollar zu stiften, um die Delegation zu unterstützen. Angewidert blickte Orry zum Fenster hinaus. Es klopfte. Er sprang erleichtert auf, entschuldigte sich und ging auf die im Flüsterton abgegebene Aufforderung seiner Schwester hin hinaus.
»Was ist los, Ashton?«
Brett stellte sich atemlos hinter ihre Schwester. Die beiden waren schreckensbleich.
»Es ist wegen Vetter Charles«, sagte Ashton. »Er sitzt fürchterlich in der Tinte. Da ist ein Mann, der sich mit ihm duellieren will.«
22
»Wir können Vetter Charles nirgends finden«, sagte Brett, als die drei nach draußen stürmten. »Deshalb hat Ashton dich bei der Sitzung gestört.«
Orry marschierte über den Platz auf den Besucher zu, der neben seinem Pferd wartete. »Das ist das Lächerlichste, das ich je gehört habe. Vetter Charles hat überhaupt keinen Grund, ein Duell auszufechten, er ist ja noch ein Knabe.«
»Ich glaube nicht, daß das für den Herrn dort drüben auch nur den geringsten Unterschied ausmacht«, sagte Ashton atemlos. Orry mußte ihr recht geben. Die übertriebene Art und Weise, in der der junge Stutzer zur Begrüßung an seinen altmodischen Biberhut tippte, zeugte von kaltem Stolz und Feindseligkeit.
»Ihr ergebenster Diener, Mr. Main. Mein Name ist Smith Dawkins.«
»Ich kenne Sie. Was wünschen Sie?«
»Nun, Sir, ich dachte, die jungen Damen hätten Ihnen den Grund meines Besuchs bereits verraten. Ich bin hierhergekommen als Vertreter und Verwandter von Mr. Whitney Smith, der gestern abend Mr. Charles Main von dieser Plantage hier dabei überrascht hat, wie er mit seiner Verlobten Miss Sue Marie Smith herumtändelte. Die beiden Herren haben ein paar Worte miteinander gewechselt, und Mr. Main hat die Hand erhoben, worauf Mr. Smith ihn zum Duell herausforderte. Ich bin hier, um die Abmachungen zu treffen. Ich nehme an, Sie werden Mr. Mains Sekundant sein?«
»Ich habe das Recht, dies bleiben zu lassen. Was Sie vorschlagen, ist gesetzeswidrig.«
Dawkins machte keinen Hehl aus seiner Verachtung. »Sir, Sie wissen so gut wie ich, daß der code duello trotz der Gesetze in South Carolina oft und gern praktiziert wird.«
Der junge Hund stellte eine gemeine Falle, und Vetter Charles konnte ihr nicht ausweichen, ohne als Feigling dazustehen. Nahm er die Herausforderung an, rettete er zwar seine Ehre, lief aber Gefahr, sein Leben zu verlieren. Genau das machte den Kodex so idiotisch. Wäre Mr. Smith Dawkins in Churubusco gewesen, würde er nicht so leichtsinnig mit dem Leben spielen.
Der Besucher drückte sich entschlossen den Hut auf den Kopf. »Würden Sie mich zu Mr. Mains Sekundant, oder besser noch, zu Mr. Main direkt führen.«
Orry seufzte und gab nach. »Ich weiß im Augenblick nicht, wo sich Vetter Charles befindet. Ich werde sein Sekundant sein.«
»Sehr gut, Sir.«
»Ich nehme an, daß wir uns auf die andere Seite des Savannah River begeben müssen, um einer gerichtlichen Verfolgung aus dem Weg zu gehen?«
»Wir werden absolut diskret sein und nur Familienmitglieder als Zeugen zulassen. Wenn Sie dies ebenfalls zusichern können, brauchen wir uns nicht in einen andern Staat zu begeben.«
In Anbetracht der Größe des Smith-Clans konnten unter Umständen Hunderte von Zeugen anwesend sein. Aber Orry ließ es durchgehen und nickte kurz. »Einverstanden, weiter.«
Sie unterhielten sich noch etwa fünf Minuten lang, einigten sich auf die üblichen Duellpistolen und setzten den kommenden Dienstagmorgen, nach Sonnenaufgang, als Termin fest. Das Duell sollte in einer Lichtung, die unter dem Namen Six Oaks bekannt war, etwa zwei Meilen flußaufwärts stattfinden.
Der junge Dawkins tippte hocherfreut nochmals an den Hut und ritt davon. Orry machte ein finsteres Gesicht, als er sich aufmachte, um Charles die schlechte Nachricht mitzuteilen.
Die beiden Mädchen hatten die Szene, hinter einer der Säulen versteckt, beobachtet. Ashton wollte Orry etwas zurufen, aber Brett riß ihre Schwester am Arm und legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen. Für einmal beugte sich Ashton dem Ratschlag eines andern Menschen.
Orry beschloß, Clarissa und Tillet nichts von dem Duell zu sagen. Seine Mutter würde sich sorgen, und sein Vater würde wahrscheinlich dem Duell beiwohnen wollen. Orry hoffte, daß er das Ganze möglichst geheimhalten konnte. Aber viel wichtiger war ihm, daß Charles nicht verletzt wurde.
Gewöhnlich war der Junge um diese Tageszeit in der Nähe der Küchengebäude zu finden, wo er sich Maisgrütze oder ein Stück frisches Brot erbettelte. Doch heute hatte ihn noch keiner der Küchensklaven gesehen. Orry lenkte seinen Schritt in Richtung Stall; wahrscheinlich war es einfacher, Charles zu Pferd zu suchen. Aus der Ferne hörte man einen Schuß.
Er änderte die Richtung und ging mit raschen Schritten die Straße hinunter in Richtung Sklavensiedlung.
Orry schwang erst das eine, dann das andre Bein über den Holzzaun. Am anderen Ende des Stoppelfeldes übte Vetter Charles die Schritte eines Duellanten, der von seinem Gegner wegmarschiert. In seiner Rechten hielt er eine riesige, rostige Pistole, die Orry noch nie zuvor gesehen hatte.
Orry stand reglos da, bis Charles den zehnten Schritt tat und auf dem Absatz kehrtmachte. Der Junge riß die Pistole mit einer wilden, fuchtelnden Bewegung hoch. Als er sich umdrehte, bemerkte er Orry und erkannte ihn an seinem Bart und dem im Wind flatternden leeren Ärmel. Charles riß die Augen auf, aber er führte seine Drehung aus und schoß.
Der Rauch des Pulvers verflog langsam. Orry stürmte los.
»Smith Dawkins war eben beim Herrenhaus«, rief er. Charles sah ihn vorsichtig an, als er mit glühenden Wangen endlich vor ihm stand. »Wir haben Vereinbarungen für dieses herrliche Unterfangen getroffen. Pistolen, nächsten Dienstag. Ich bin offenbar dein Sekundant.«
»Ich glaubte, du seiest gegen Duelle.«
»Bin ich auch. Du und die anderen jungen Herren, ihr habt keine Ahnung, was richtiges Kämpfen heißt.«
Der Junge versuchte es mit einem seiner entwaffnenden Lächeln. »Du redest wie ein richtiger Soldat.«
Als Antwort erhielt er einen starren Blick. Charles hörte auf zu lächeln. »Tut mir leid, daß man dich in die Sache hineingezogen hat, Orry. Ich habe gestern abend die Zeit vergessen und Sue Marie nicht früh genug verlassen, sonst wäre dies nicht passiert.«
»Aber es ist nun mal so, und davon müssen wir ausgehen. Was weißt du über Schießeisen?«
»Nicht viel, aber ich nehme an, daß ich das, was ich wissen muß, lernen kann.«
»Nicht in der Art und Weise, wie du damit umgehst«, sagte Orry und zeigte tadelnd mit dem Finger auf die rostige Pistole. »Woher hast du dieses Ungetüm?«
Charles senkte den Kopf und zuckte die Achseln. »Das spielt keine Rolle.«
Gestohlen, dachte Orry angewidert. »Nun, als erstes werden wir darauf verzichten.« Er schnappte die Pistole und warf sie weit von sich.
»Na, hör mal!« protestierte Charles mit rotem Gesicht. »Ich muß doch üben.«
»Wir werden meine Armeepistole benutzen. Duellpistolen sind zwar üblicherweise etwas anders, aber mit meiner Pistole bist du immer noch besser dran als mit diesem rostigen Ding. Noch etwas: Bei einer Duellpistole wirst du meistens einen Stecher vorfinden. Wenn du dich umdrehst wie vorhin und mit dem Arm wie mit einem gebrochenen Windmühlenflügel wedelst, geht die Duellpistole viel zu früh los. Dann wirst du höchstens die Bäume oder den Himmel treffen und deinem Gegner genügend Zeit lassen, dich zu töten. Du mußt in deinen Bewegungen ruhig und geschmeidig sein.«
Orry ging langsam Richtung Straße zurück. Als Charles ihm nicht folgte, drehte er sich um und winkte. »Nun komm schon, du wirst am Dienstag und nicht erst nächstes Jahr kämpfen.«
»Ich dachte, ich würde dies allein – «
Die Worte verebbten in der leichten Brise, die über das sonnenbeschienene Feld wehte. In Charles’ Gesicht spiegelten sich Zorn und Herausforderung.
»Wenn du dich aus Unwissenheit töten lassen willst«, schrie Orry zurück, »dann kannst du das allein tun.«
Mit bleichen Lippen gab Charles zurück: »Weshalb solltest du mir helfen wollen? Du magst mich doch nicht.«
»Was ich nicht mag, Charles, ist dein Benehmen während des vergangenen Jahres. Wenn du glaubst, daß das dasselbe ist, bitte schön. Aber ich habe immer noch eine Verantwortung für dein Wohlergehen. Ich kann nicht einfach danebenstehen und zusehen, wie Whitney Smith einen Mord begeht. Komm jetzt mit oder laß es bleiben, ganz wie du willst.«
Orry ging weiter über das Feld. Charles stand reglos mit geballten Fäusten da. Doch wie schmelzendes Eis wich die Feindseligkeit langsam aus seinem Gesicht und machte einem scheuen, erstaunten Lächeln Platz.
Sie übten drei Stunden am Tag. Orry beschwor seine Schwestern, kein Wort über das Duell verlauten zu lassen. Aber Ashton ließ die Katze aus dem Sack. Es geschah während des Abendessens, und Charles war überrascht, wie sehr sich Clarissa aufregte. Orry wies darauf hin, daß er Charles unterrichtete und daß der Junge die besten Chancen hatte, mit nur einer leichten oder überhaupt keiner Wunde davonzukommen.
Tillet schloß sich ihm an und machte abfällige Bemerkungen über den Charakter und die Unbeherrschtheit von Whitney Smith. Er wünschte seinem Neffen alles Gute. Alles in allem war es eine überwältigende Erfahrung für Charles. Noch nie hatte jemand soviel Interesse für ihn aufgebracht.
»Nein!« war das Wort, das Orry während des Übens am meisten ausstieß. »Du nimmst dir nicht genügend Zeit, um zu zielen. Ich weiß, daß dich die Angst zur Eile antreibt, aber diese Eile wird dich geradewegs ins Grab bringen.«
Er packte Charles am rechten Arm und schüttelte ihn. »Um Gottes willen, du solltest das nicht vergessen. Wenn du dich töten läßt, werde ich wie ein Idiot dastehen.«
Er hatte den letzten Satz gedankenlos ausgesprochen und merkte nicht, wie lächerlich er war, bis Charles zu grinsen anfing. »Nun«, sagte Charles, »wenn ich mich aus irgendeinem Grund töten lassen wollte, dann sicher aus diesem.«
Sein Lächeln fühlte sich plötzlich steif auf seinen Lippen an. Orry war ein strenger Mann, ein harter Lehrmeister. Mit diesem Witz hatte Charles die Grenze überschritten. Er hatte sich durch die Veränderung, die sich in den vergangenen Tagen in ihrer Beziehung vollzogen hatte, einlullen lassen; seine Wut auf Orry hatte einem Gefühl der Brüderlichkeit, ja sogar einem gelegentlichen Aufflammen von Zuneigung Platz gemacht. Offensichtlich dachte Orry nicht, daß er völlig wertlos sei, sonst hätte er nicht so viel Zeit dafür aufgewendet, ihm zu helfen. Aber jetzt war Charles zu weit gegangen.
Und doch tauchte in Orrys verfilztem Bart ein weißer Schimmer auf. Er lächelte.
»Natürlich nicht«, sagte er, und ihm wurde klar, wie töricht seine Bemerkung gewesen war. »Zum Teufel mit deinem Leben! Meine Ehre sollst du retten und meinen Stolz! Schließlich bin ich ein Mann aus dem Süden.«
Nun lachten sie beide herzhaft und ausgiebig. Dann berührte Orry den glänzenden Lauf der Johnson-Pistole. »Wir werden natürlich gar nichts erreichen, wenn wir weiterhin wie junge Eichelhäher schnarren. Ich zähle bis zehn. Du gehst los, drehst dich um und schießt auf diesen Ast. Versuch es diesmal richtig zu machen, wir haben nur noch zwei Tage.«
Eine Kältewelle brach herein. Am Tag des Duells standen Charles und Orry um halb fünf Uhr morgens auf, aßen jeder einen Zwieback, tranken Kaffee und stürzten sich dann in ihre Überzieher. Da Orry Ort und Stunde bestimmt hatte, würden die Waffen von den Smiths geliefert werden.
Sie gingen nach draußen, wo Diener mit Pferden in der Dunkelheit auf sie warteten. Tillet und Clarissa waren ebenfalls da; den Mädchen hatte man nicht erlaubt herunterzukommen.
Nebelschwaden hingen über der Erde; ein trüber Morgen. Vielleicht war es aber auch nur in seinem Herzen trüb, dachte Orry, als er auf sein Pferd stieg.
Tillet gab Charles einen festen Händedruck, Clarissa umarmte ihn. Als sie den Weg hinunterritten, glaubte Orry, im Osten die Morgendämmerung zu sehen. Die Pferde stießen beim Ausatmen lange Dunststreifen aus. Charles räusperte sich.
»Orry?«
»Ja?«
»Was auch immer geschehen mag, ich möchte, daß du weißt, daß ich deine Hilfe sehr geschätzt habe. Ich hätte nie geglaubt, daß sich jemand auch nur im geringsten um mich kümmern würde.«
»Wir alle mögen dich, Charles. Du bist ein Main. Wir sind eine Familie.«
Er meinte es ernst. Er war überrascht, wie sehr sich seine Haltung dem Jungen gegenüber in der bemerkenswert knappen Zeit verändert hatte. Charles war ein wißbegieriger Schüler gewesen und hatte die spöttischen Bemerkungen, die Orry früher so sehr an ihm gehaßt hatte, völlig unterlassen. Natürlich stand diesmal sein eigenes Leben auf dem Spiel. Und doch glaubte Orry, daß die Veränderung in dem jungen Mann noch auf etwas anderes zurückzuführen war: Orry hatte Charles die Hand hingehalten, und er hatte sie wie ein echter Bruder ergriffen. Schade nur, daß sich die Veränderung zu dieser späten Stunde ereignet hatte.
Hunderte von Sternen funkelten blaß in der Morgendämmerung. Charles atmete tief ein.
»Orry?«
»Ja?«
»Ich habe höllisch Angst.«
»Ich auch«, sagte Orry, als sie ihre Pferde auf die Flußstraße lenkten.
Als sie Six Oaks erreichten, hatte das Tageslicht den Nebel aufgefressen. Orry stellte verärgert fest, daß die Smiths mit mehr als zwanzig Mann, verschiedenen männlichen Verwandten aller Altersklassen, aufgekreuzt waren. Bei dieser Anzahl Zuschauer gab es wenigstens genügend junge Männer, die man als Beobachter zur Straße und zum Flußufer abkommandieren konnte. Sie protestierten zwar, weil sie das Schauspiel verpassen würden, waren aber rasch überstimmt.
Orry band die Pferde am Rand der Lichtung fest. Charles entledigte sich seines Überziehers, seiner Jacke, seiner Weste und Krawatte und rollte dann die Ärmel hoch. Der makellos gekleidete Whitney Smith und die anderen seines Clans sahen Charles’ Vorbereitungen mit offensichtlicher Verachtung zu.
Smith Dawkins, Whitneys Verwandter, stolzierte mit einem wunderschönen Pistolenkasten aus Rosenholz auf die Mains zu und öffnete ihn zur Inspektion. Die Waffen machten dem Kasten alle Ehre. Jeder der achteckigen Läufe lag zur Hälfte in einer Einbuchtung auf lackiertem Nußbaumholz, und für den Ladestock war eine kleine Nische ausgespart worden. Die Pistolen zeugten von einem vortrefflichen Handwerk und waren mit dem Namen eines Londoner Büchsenmachers sowie der Jahreszahl 1828 versehen.
»Zufrieden?« erkundigte sich Dawkins.
»Das sage ich Ihnen, nachdem ich sie begutachtet habe.« Orry nahm eine der Pistolen aus ihrem violetten Samtbett heraus.
Auf Charles’ Stirn glitzerten kleine Schweißperlen. Während die Sekundanten die Pistolen luden, schritt er auf und ab. Sie überreichten den beiden Duellanten je eine Pistole und zeigten ihnen dann den vereinbarten Standort. Es verblieben noch fünf Minuten für die letzten Vorbereitungen.
Charles sah ruhig aus. Er konnte seine Spannung nur unter Kontrolle halten, indem er sich immer wieder mit den Handflächen über die Schläfen strich. Orry mußte unbedingt austreten – Nervosität vermutete er –, aber er wollte Charles nicht allein lassen, besonders nicht, da das Rundgesicht Whitney Smith und sein Freund, der Stutzer Dawkins, flüsternd über ihren Gegner witzelten.
Orry kehrte ihnen den Rücken zu. »Ich weiß, daß du Angst hast, Charles. Aber vergiß eins nicht, du hast einen echten Vorteil. Du wirst wissen, was ich meine, wenn du dir den Pfau hinter dir sorgfältig ansiehst. Da er mehr Wert auf Schein als auf Beweglichkeit legt, trägt er immer noch seinen schweren Mantel. Abgesehen davon ist er zu dumm, um Angst zu haben. Männer, die Angst haben, sind vorsichtig. Die Männer von Whitneys Art sind die ersten, die in einer Schlacht fallen.«
Charles wollte eine Antwort geben, aber heraus kam nur ein nervöses Krächzen. Orry drückte seinen Arm. Charles legte seine Hand auf diejenige von Orry und drückte sie kurz.
»Danke«, sagte er.
»Meine Herren, sind Sie bereit?« rief Smith Dawkins. Er schien ungeduldig.
Orry drehte sich behend um. »Fertig.«
Er ging übers Feld, Charles hinter ihm. Die Zuschauer verstummten. Ein Silberreiher segelte über die in der Sonne glänzenden Baumwipfel davon. Der Fluß trieb friedlich und goldglitzernd am Rande der Lichtung dahin.
Whitney und Charles begrüßten einander mit einem Kopfnicken; Whitneys Nicken sah wie eine gnädige Entlassung aus, dachte Orry. Bei näherem Hinsehen konnte man feststellen, daß er eine unreine Haut hatte. Charles, der fünf Jahre jünger war, sah wesentlich reifer und gelassener aus. Als Whitney den Pistolenlauf senkrecht vors Gesicht hielt, zitterte seine Hand. Ein gutes Zeichen, es sei denn, Whitney gehörte zu jenen seltenen Duellanten, die besser zielten, wenn sie nervös waren.
Dawkins räusperte sich und wandte sich an die beiden Gegner, die mit erhobener Pistole Rücken an Rücken standen. »Ich werde erst das Wort los sagen. Auf dieses Signal entfernen Sie sich voneinander, während ich Ihre Schritte zähle. Beim zehnten und letzten Schritt dürfen Sie sich umdrehen und feuern. Fertig? Los.«
Charles schritt in die eine, Whitney in die andere Richtung. Orrys Herz begann wie wild zu klopfen. Er atmete tief ein und hielt dann den Atem an. Er und Dawkins wichen rasch zur Seite. Dawkins stand neben ihm und zählte.
»Drei. Vier. Fünf.«
Charles machte weitausholende, zuversichtliche Schritte. Das durch die Bäume fallende Sonnenlicht blitzte in seinem Haar auf. Er ist so begabt, dachte Orry. Wenn man sein Talent nur zur vollen Entfaltung bringen könnte. Wenn er nur lange genug lebte, damit es jemand versuchte.
»Sieben. Acht.«
Schweiß glänzte auf Whitneys fleckiger Haut. Das Zittern hatte nun auch seine Schultern erfaßt. Würde er schießen oder zusammenbrechen?
»Neun.«
Charles starrte geradeaus. Orry sah, wie er mit der Zungenspitze Schweißtropfen von seinen Lippen leckte, das einzige äußere Anzeichen der Angst, die ihm sicher den Magen umkehrte.
Orry hätte ihm am liebsten zugerufen: »Vergiß nicht, ruhig und geschmeidig.«
»Zehn.«
Whitneys Knie sackten ein, aber er gab nicht nach und schaffte es, sich umzudrehen. Er holte mit derselben Heftigkeit aus, die Orry das erste Mal auf dem Feld bei Charles kritisiert hatte. Das Krachen verblüffte Charles. Er blinzelte so heftig, daß Orry glaubte, er sei getroffen worden. Dann segelte von einem Baum, etwa einen halben Meter hinter Charles, langsam ein Ast herunter.
Auf Whitneys Hose zeichnete sich ein dunkler Fleck ab. Er drehte sich unbeholfen halb um und wollte einen Schritt machen, als von den Zuschauern ein Schnauben und von Dawkins ein zischendes Flüstern kam.
»Du mußt stehenbleiben, Whitney. Stehen!«
Das tat er, nicht ohne Mühe. Der erniedrigende Fleck dehnte sich aus. Whitney zitterte so stark, daß seine Pistole auf und ab schwankte. Charles streckte langsam den Arm aus und zielte. Gelassen über den achteckigen Lauf blickend, feuerte er.
Whitney kreischte wie ein Mädchen. Er taumelte nach links, hielt sich den Arm und fiel. Blut strömte zwischen seinen Fingern hervor, aber Charles hatte ihn nur gestreift. Mehr noch: Er hatte den Punkt, auf den er gezielt hatte, genau getroffen. Orry rannte freudestrahlend auf ihn los.
Dawkins kniete neben dem bewußtlosen Whitney. Die Zuschauer brachen in Beifall aus. Erschöpft vor Anspannung taumelte Charles in Richtung Flußufer. Orry holte ihn ein.
»Du mußt diesen Applaus würdigen. Er ist für dich.«
Der junge Mann starrte Orry wie vom Donner gerührt an. Dann blickte er auf die Smith-Familie. Es stimmte. Sie zollten seiner Treffsicherheit, seinem Mut und seiner Großherzigkeit Beifall; er hatte Whitney nur verwundet, obwohl er ihn hätte töten können. Er hat alle Eigenschaften eines echten Gentlemans aus Carolina, dachte Orry trunken vor Glück. Charles salutierte den Zuschauern mit der Pistole. Aber er konnte immer noch nicht glauben, was geschehen war.
»Ich möchte mich nochmals bei dir bedanken«, sagte Charles, als sie heimwärts ritten. Der durch die Bäume fallende milde Sonnenschein warf Licht- und Schattenstreifen auf die Straße. Die beiden Männer fanden das Leben an diesem strahlenden Wintertag herrlich.
Kaum hatten Tillet, Clarissa und die Mädchen die Pferde erspäht, rannten sie bereits nach draußen. Doch bevor sie ihrer Freude freien Lauf lassen konnten, hörten sie gebannt Orrys Bericht an. Tillet beglückwünschte Charles mit großer Begeisterung, Clarissa schluchzte vor Erleichterung, und die Mädchen sprangen wild herum und baten Orry, die Geschichte von Charles’ gelassenem Mut noch einmal zu erzählen. Nach einer Weile faßte Charles Orry bei der Schulter und sagte: »Als ich früher Schlägereien hatte, fanden dies alle Leute schlecht. Auch du. Weshalb war es heute morgen anders? Es war ja viel gefährlicher als eine gewöhnliche Balgerei! Weshalb hat niemand protestiert?«
Ohne ihm eine Antwort zu geben, zog Orry seinen Vetter in die düstere Bibliothek und zeigte ihm den Kleiderständer mit Uniform, Mantel und Säbel.
»Da hast du deine Antwort.«
Charles sah verdutzt aus. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Männer ziehen in den Krieg. Was tun sie?«
»Kämpfen.«
»Ja, aber mehr noch. Sie tun das auf eine vorher genau vereinbarte Art und Weise. So hart dies auch sein mag, Ehrenmänner kämpfen nach einem Verhaltenskodex. Die Smiths haben dir nicht nur Beifall gezollt, weil du gesiegt, sondern auch, weil du die Regeln befolgt hast. Im Gegensatz zu Whitney. Er wollte deiner Kugel ausweichen. Du hast ihre Reaktion gesehen. Früher hast du nie nach den Regeln gekämpft. Das ist der Unterschied.«
Orry hob den linken Ärmel des Mantels hoch. »Es ist nicht so, daß der Mann, der den Kampf liebt, von der Welt verurteilt wird, sondern er wird ermutigt und manchmal belohnt. Sogar für den ehrenwerten Verlierer fällt etwas vom Glorienschein ab, wenn die Geschichtsbücher geschrieben werden. Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig ist, Kämpfen und Töten zu fördern und zu belohnen, aber so sind die Dinge nun mal. Habe ich damit deine Frage beantwortet?«
Charles nickte bedächtig und starrte auf die Säbelscheide, die Messingknöpfe und den dunkelblauen Mantel, als ob sie eine religiöse Bedeutung bergen würden. Was Orry eben gesagt hatte, war wie eine Offenbarung.
Orry begann in einem Schrank herumzuwühlen. »Hier ist Whiskey. Ich weiß nicht, wie du’s hast, aber ich hab’ einen Mordsdurst.«
»Ich auch.«
Charles ging um den Kleiderständer herum, ohne seinen Blick auch nur einen Augenblick von der Uniform abzuwenden. Auch Orry wurde plötzlich wie von einer Offenbarung erfaßt. Er sah Vetter Charles plötzlich in einem völlig neuen Licht.
Vielleicht ist doch nicht alles verloren. Sieh ihn dir an, wie er die Uniform anstarrt. Er ist fasziniert.
Noch am selben Tag nahm er Vetter Charles unter seine Fittiche.
Er fing mit kleinen Anpassungsversuchen an. Mit sanften, beinahe scheuen Anregungen in bezug auf Aussehen, Manieren, Pünktlichkeit. Nichts, das zu wichtig oder zu fordernd gewesen wäre, denn er erwartete Widerstand. Aber Charles fügte sich sofort und auf beinahe übertriebene Weise. Er tauchte regelmäßig mit geschrubbten Händen und sauberem Gesicht, mit dem Hemd in der Hose und ohne Jagdmesser am Gürtel zu den Mahlzeiten auf.
Als nächstes erteilte Orry seinem Vetter Unterricht in Gesellschaftskunde: Zuvorkommenheit den Damen gegenüber und die allgemein anerkannte richtige Kleidung für familiäre und öffentliche Anlässe. Charles hörte nicht nur aufmerksam zu, sondern schritt gleich von der Theorie zur Praxis. Es dauerte nicht lange, und er behandelte Ashton und Brett mit einer Höflichkeit, die sie schlichtweg verblüffte. Aber sie genossen es, denn Charles war ein hübscher Bursche, und sein höfliches Benehmen wirkte überzeugend.
»Der Junge ist ein geborener Kavalier«, teilte Orry Madeline bei ihrem nächsten Treffen freudig mit. »Er beschämt mich. Er ist gewandt, charmant – und mehr noch, es ist alles natürlich bei ihm. Wo hat er diese Seite seines Charakters bloß all die Jahre hindurch versteckt?«
»Wahrscheinlich unter einer Schicht Dreck und Groll«, sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Ich nehme an, du hast recht. Die Veränderung ist frappant. Alles, was er brauchte, um ein bißchen zu sich selbst zu kommen, war etwas Zuneigung von seiner Familie.«
»Hauptsächlich von dir. Sogar in Resolute ist er das Tagesgespräch. Nancy sagte mir, daß Charles dir überallhin folgt.«
»Den ganzen Tag, wie ein kleiner Hund. Es ist peinlich.«
Doch aus Orrys Gesichtsausdruck war zu schließen, daß er eigentlich nicht gegen die Heldenverehrung war. »Dumm ist nur, daß mit der Lösung des einen Problems bereits wieder ein neues geschaffen ist.«
»Was denn nun? Du hast doch gesagt, daß es mit Charles besser – «
»Genau das meine ich ja. Früher war ich davon überzeugt, daß man ihn eines Tages nach einer Rauferei oder einem Pferderennen tot im Straßengraben auflesen würde. Und jetzt zermartere ich mir den Kopf, was er mit seinem Leben anfangen könnte. Ich muß ihm einen Vorschlag machen, und zwar bald.«
»Das klingt, als wärst du sein Vater.«
»Mach keine Witze. Die Verantwortung ist nicht leicht.«
»Natürlich nicht, und ich mache auch keinen Spaß. Ich habe gelächelt, weil du so glücklich bist. Ich habe dich noch nie in einer solch guten Verfassung gesehen. Du trägst gerne Verantwortung.«
Er blickte sie an. »Ja, du hast recht.«
Jeden Abend nach dem Essen, wenn Orry nichts im Büro zu tun hatte, tranken er und Charles in der Bibliothek einen Whiskey. Manchmal gesellte sich Tillet zu ihnen, doch er war meist ein stiller Gast. Er wußte, daß sich in der Beziehung zwischen seinem Sohn und seinem Neffen eine positive und heilsame Veränderung ergeben hatte und wollte sich nicht einmischen. Es wurde ihm ebenfalls bewußt, daß Orry langsam zum Haupt der Familie aufrückte. Dies machte Tillet stark zu schaffen, aber es freute ihn auch. Wenn Tillet anwesend war, verhielt sich Charles zurückhaltend. War er nicht da, so konnte der junge Mann nicht genug über Orrys Erfahrungen als Kadett hören.
»Du hast dich in West Point wirklich wohl gefühlt, nicht wahr?«
»Nun, nicht nur. Aber ich habe dort mehrere gute Freunde gewonnen, und vor allem habe ich dort meinen besten Freund getroffen.«
»George.«
Als Orry nickte, fragte Charles: »Wolltest du in der Armee bleiben?«
»O ja, aber General Scott hat leider ein so merkwürdiges Vorurteil gegen einarmige Offiziere. Vielleicht, weil er immer noch zwei hat.«
Charles lächelte. Der Witz war etwas unbeholfen, aber es wurde ihm klar, daß es Orry noch nie gelungen war, ungezwungen über seine Verletzung zu reden. Eine bemerkenswerte Veränderung.
Charles starrte wieder auf die Uniform auf dem Kleiderständer. »Ich kann schlichtweg nicht begreifen, daß man kämpfen kann und dafür bezahlt wird.«
Orry hielt den Atem an. War dies der richtige Moment? Er ergriff die Gelegenheit. »Charles, mir geht so ein Gedanke durch den Kopf. Es wäre möglich, daß wir dir einen Platz in der Akademie sichern könnten.«
»Aber – ich bin doch nicht gescheit genug.«
»Doch, das bist du. Du weißt bloß nicht genug, um die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Mit andern Worten, du verfügst zwar über die Intelligenz, aber nicht über das Wissen. Herr Nagel wird dir dies jedoch sicher im Lauf des nächsten Jahres beibringen können. Du müßtest dich zwar selbst bewerben, aber ich weiß, daß du das kannst, wenn du wirklich willst.«
Von den neuen Zukunftsaussichten überwältigt, saß Charles eine Weile schweigend da, bevor er antwortete: »Ja, Sir, ich will.«
»Großartig! Ich werde Nagel morgen abfangen.«
»Was?« rief der Hauslehrer, als er von Orrys Plan hörte. »Unterrichten? Ihn? Ich würde meinen, nein, Herr Main. Wenn ich ihn das erste Mal tadle, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, wird er dieses fürchterliche Messer ziehen und zzzt!« Nagel fuhr blitzschnell mit dem Daumen über die Kehle. »Und hiermit nimmt meine brillante akademische Karriere bei Ihrer Familie ein schmähliches Ende.«
»Charles hat sich verändert«, versicherte ihm Orry. »Geben Sie ihm eine Chance. Ich zahle Ihnen ein Extrahonorar.«
Unter diesen Umständen war Herr Nagel bereit, ein Risiko einzugehen. Am Ende der Woche tauchte er mit einem verblüfften Gesichtsausdruck bei seinem Arbeitgeber auf.
»Sie haben völlig recht. Die Veränderung ist erstaunlich. Er ist zwar manchmal noch widerspenstig und aufbrausend – meistens, weil er nicht mit Dingen vertraut ist, die er schon längst gelernt haben sollte –, aber er hat eine rasche Auffassungsgabe. Ich glaube, daß ich ihn rasch weiterbringen kann, obwohl dies natürlich eine zusätzliche, hm, Anstrengung erfordert.«
»Für die Sie natürlich jede Woche ein Extrahonorar bekommen.«
»Sie sind zu liebenswürdig«, murmelte Herr Nagel, indem er sich verneigte. »Wir werden noch einen Gelehrten aus ihm machen.«
Orrys Stimme klang amüsiert, und seine Augen leuchteten. »Wir wollen lediglich einen West-Point-Kadetten aus ihm machen. Es wird doch noch einen Berufssoldaten in dieser Familie geben.«
Ende der ersten Aprilwoche ging Orry zu seinem Vater. »In zwei oder drei Jahren wird Charles so weit sein, daß er in die Akademie eintreten kann. Ich habe erfahren, daß es bis dahin einen Freiplatz gibt. Ich glaube, es ist nicht zu früh, sich jetzt schon darum zu bewerben. Schreiben wir erst mal einen Brief ans Kriegsministerium. Wir könnten Senator Calhoun bitten, ihn zu übermitteln. Soll ich ihn schreiben, oder möchtest du?«
Tillet zeigte ihm eine Ausgabe des Mercury. »Calhoun ist tot.«
»Um Himmels willen. Wann?«
»Am 31. März, in Washington.«
Eigentlich war es nicht überraschend, dachte Orry. Calhoun war in letzter Zeit nicht mehr erfolgreich gewesen, und vom politischen Standpunkt aus gesehen war der vergangene Monat einer der stürmischsten der jüngsten Vergangenheit gewesen. Henry Clays Kompromißvorschläge waren im Senat debattiert worden. Weil Calhoun der amtsälteste Redner war, sah man seiner Reaktion, obwohl sie vorauszusehen war, von allen Seiten mit gespannter Erwartung entgegen. Aber er war zu krank gewesen, um das Wort zu ergreifen, und Senator Mason hatte an seiner Stelle seinen Kommentar vorgelesen. Calhoun sprach sich natürlich gegen Clays Programm aus und warnte erneut davor, daß der Norden mit seiner Feindseligkeit den Süden in die Sezession treibe. Im Lauf der Jahre hatte sich Calhoun immer weiter von seinem gesamtnationalen Standpunkt entfernt und mehr und mehr der Wohlfahrt des Südens den Vorrang gegeben. Die meisten Südstaatler waren sich darin einig, daß er durch die Bestrebungen der Sklavengegner sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kongresses zu dieser Kirchturmpolitik getrieben worden war.
Drei Tage nachdem Calhouns Rede vorgetragen worden war, vertrat Senator Daniel Webster den Standpunkt der Opposition. Mit brillanter Rhetorik unterstützte er Clays Vorschläge und setzte die Einheit der Union als oberstes Ziel. Für die meisten seiner Kollegen war die Rede jedoch zu optimistisch und zu kompromißbereit, und sie begannen bald darauf, ihn heftig zu kritisieren. Auch Tillet war Websters Ansprache vom 7. März ein Greuel, obschon er völlig andere Gründe dafür ins Feld führte als die Kritiker aus Websters eigenem Lager.
Doch im Augenblick dachte Orry in einem andern Zusammenhang an Calhoun. »Der Senator war einer der treuesten Freunde der Akademie.«
»Das war einmal«, schnappte Tillet, »er war auch ein Freund der Union, wie wir alle. Dann sind die Yankees uns in den Rücken gefallen.«
Tillet schien andeuten zu wollen, daß dies grundlos gewesen war. Orry dachte an Priam, sagte aber nichts. Der überraschende Gewissenskonflikt verunsicherte ihn. Sein Vater fuhr fort: »Nicht nur Alter und Sorgen haben John Calhoun ins Grab gebracht. Es waren Jackson, Garrison, Seward – die ganze verfluchte Bande, die sich ihm, und uns, auf der ganzen Linie entgegenstellten. Sie waren wie eine Meute von Jagdhunden hinter ihm her. Sie haben ihn bis zur Erschöpfung gejagt.« Tillet schmiß die Zeitung auf den Boden. »Wir werden uns daran erinnern.«
Orry schwieg; der unerbittliche Ton seines Vaters beunruhigte ihn.
Einige Wochen später fand Tillet einen neuen Anlaß für einen Wutausbruch. Ein Sklave, der von einer Plantage in der Nähe von Mont Royal geflüchtet war, war in Columbus, Ohio, von einem berufsmäßigen Sklavenhändler wieder eingefangen worden. Der Sklavenfänger hatte den Auftrag vom Besitzer des Sklaven bekommen.
Bevor der Mann und sein Häftling Columbus jedoch verlassen konnten, griffen die Sklavengegner ein. Sie drohten dem Sklavenfänger mit Lynchjustiz und nahmen den schwarzen Flüchtling in Schutzhaft; sie behaupteten, daß das Gericht den gesetzmäßigen Besitzanspruch prüfen müsse. Dies war jedoch nur ein Vorwand, denn sie wußten, daß das Gericht keine Entscheidungsbefugnisse hatte. Doch sie gewannen Zeit, um den Ausreißer entkommen zu lassen. Eine Hintertür war auf mysteriöse Art und Weise nicht abgeschlossen worden, und der Flüchtling konnte sich über die Grenze nach Kanada in Sicherheit bringen, bevor die meisten Leute etwas davon erfuhren. Das plumpe Ränkespiel in Ohio beleidigte den Besitzer des Sklaven und viele seiner Nachbarn schwer.
Mittlerweile teilte Orry sein persönliches Glück mit Madeline. Vetter Charles war ganz in sein Studium bei Herrn Nagel vertieft, und Orry konnte nicht umhin, mit den Fortschritten seines Schützlings zu prahlen.
»Wir werden den Unterricht im Sommer jedoch für zwei Monate unterbrechen müssen.« Es war ein linkischer Versuch, ein anderes Thema, das ihn beschäftigte, zur Sprache zu bringen, aber es mußte sein.
»Geht Charles fort?«
»Ja, mit uns. Ich habe ein Sommerhaus in Newport, in der Nähe von George, gemietet.«
»Ihr werdet euch also endlich wiedersehen.«
»Ja.«
»Oh, Orry, wie aufregend.« Ihre Freude schien echt. War sie enttäuscht, so verbarg sie es gut.
»Wirst du mich nicht vermissen?«
»Sag das nicht, ich werde dich schrecklich vermissen. Diese beiden Monate werden die längsten meines Lebens sein.«
Sie warf ihm die Arme um den Hals und küßte ihn leidenschaftlich. Nachdem sie wieder Luft geholt hatte, sagte sie: »Aber ich werd’s überleben, wenn ich weiß, daß du zu mir zurückkommst. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du dich mit einem Yankee-Mädchen einlassen würdest.«
»Das würde ich nie tun«, antwortete Orry mit seiner humorlosen Aufrichtigkeit, die Madeline manchmal rührend und andere Male unausstehlich fand. »Es ist an der Zeit, daß Charles einen Blick über die Grenzen von South Carolina wirft. Wenn er zur Akademie geht, wird er viele Menschen mit neuen Ideen und andern Ansichten treffen. Das kann wie ein Schock wirken. Mir erging es jedenfalls so. Er muß vorbereitet werden.«
Sie berührte sein Gesicht. »Du klingst mit jedem Tag mehr wie ein Vater.«
»Das macht doch nichts, oder?«
»Nein.« Sie gab ihm einen freundschaftlichen, flüchtigen Kuß auf die Wange. Als sie sich an ihn schmiegte, ging ihr eine Frage durch den Kopf.
»Du sagst, die ganze Familie geht nach Rhode Island?«
»Cooper natürlich nicht.«
»Genau das meinte ich. Lag die Entscheidung, zu Hause zu bleiben, bei deinem Vater oder bei ihm?«
Cooper war vor zwei Tagen nach Mont Royal gekommen. Er und Tillet hatten es nicht geschafft, im selben Zimmer zu bleiben, ohne sich heftig über Clays Vorschläge zu streiten. Orrys Lächeln erlosch.
»Bei beiden«, sagte er.
23
Cooper Main liebte Charleston.
Er liebte die engen Pflastersteinstraßen, die viele Besucher an Europa erinnerten; die eleganten Sachen, die in den Läden zu kaufen waren; das Glockenspiel von den weißen Kirchtürmen, die in all den Jahren der salzigen Luft und den Stürmen standgehalten hatten. Er liebte die politische Beredsamkeit, die in der Saloon-Bar des Charleston Hotels an den Tag gelegt wurde, und das Klappern der Fuhrwerke, deren Kutscher ständig wegen überhöhter Geschwindigkeit Bußen erhielten. Er liebte den warmen Schein der Straßenlaternen, nachdem sie von den beiden städtischen Laternenanzündern oder einem ihrer Sklaven angezündet worden waren. Und er liebte das Haus, das er mit einem Teil des Gewinns aus der Carolina Shipping Company erworben hatte.
Das Haus befand sich in der Tradd Street, ganz in der Nähe der berühmten, alten Heyward-Residenz. Es war eines der typischen Charlestonhäuser, kühl und gemütlich. Auf jedem der drei Stockwerke befand sich eine Veranda, die sich jeweils über die ganze Länge des Gebäudes, das heißt, über etwa zwanzig Meter, erstreckte. Das Haus war sechs Meter tief, was genau eine Zimmerbreite ausmachte, und seine Längsseite grenzte an den Bürgersteig.
Obwohl man von dieser Seite her das Haus betrat, wurde die andere Seite, vor der ein schöner Garten lag, als Portalseite betrachtet. Cooper nannte den Garten sein zweites Büro. Oft arbeitete er hier stundenlang hinter einer hohen Ziegelsteinmauer, umgeben von den der Jahreszeit entsprechenden Blumen und Bäumen, wie Azaleen und Magnolien und dem kontrastreichen Grün der Kreppmyrte und des Yucca. Fast schämte er sich, ganz allein in einem so wunderschönen Haus zu wohnen.
Aber er war zu beschäftigt, um oft daran zu denken. Er hatte sein Scheinexil wie auch die kleine Baumwollversandgesellschaft zu einem triumphalen Erfolg geführt und war jetzt eben dabei, den Lagerraum durch einen zusätzlichen Ankauf zu verdoppeln. Bei solchen Entscheidungen fragte er seinen Vater nie um Rat. Tillet war immer noch der Ansicht, daß die Schiffsgesellschaft eine Last, ein finanzielles Risiko sei, und somit hatte Cooper freie Hand.
Das Hauptgebäude der Gesellschaft, das Warenlager und der Pier befanden sich auf der Concord Street, oberhalb des Zollgebäudes. Das Firmenzeichen, das sowohl auf einem Schild vor dem Gebäude als auch auf den Flaggen der beiden altersschwachen Schiffe zu sehen war, stellte die Buchstaben C.S.C. von einem ovalen Tau umgeben, dar.
Cooper war sich darüber im klaren, daß Charleston niemals der Baumwollhafen sein würde, so wie es früher der Reishafen gewesen war. Die Baumwollproduktion hatte sich nach Alabama und Mississippi verlagert. Doch es wurde immer noch eine beträchtliche Menge von Charleston aus verschifft, und Cooper wollte für die C.S.C. einen noch größeren Anteil. Aus diesem Grund hatte er vor einigen Monaten eine Hypothek auf seinen ganzen Besitz aufgenommen und der Black Diamond Schiffswerft in Brooklyn, New York, den Auftrag für ein moderneres Schiff erteilt.
Es sollte ein Schrauben-, nicht ein Raddampfer sein. Unter den Decks würden drei diagonale Trennwände für vier wasserdichte Abteile sorgen. Sollte der Schiffsrumpf irgendwo auflaufen, würde der Ladung in den unversehrten Abteilen nichts passieren.
Die Trennwände verteuerten das Ganze ungemein. Aber Cooper hatte bereits mit einigen Baumwollfabrikanten über seine Pläne gesprochen, und sie hatten so positiv reagiert, daß er sicher war, daß die Extrakosten sich lohnten. Schiffe liefen zwar nicht so oft auf Grund, aber die Fabrikanten ließen sich bei der Wahl eines Schiffes doch stark von dem beeinflussen, was geschehen könnte.
Ein Bruch im Schiffsrumpf war noch unwahrscheinlicher, weil statt Holz Stahl verwendet wurde, was nicht üblich war. Die Hazard-Werke würden diesen besonderen Stahl für den Rumpf liefern.
Cooper war stolz auf die Bauart des neuen Schiffes, das den Namen Mont Royal erhalten sollte. Bevor er eine Liste mit technischen Details zusammenstellen und nach Brooklyn bringen konnte, hatte er Monate mit der Lektüre von Schiffsarchitektur und dem Skizzieren von Plänen verbracht.
Cooper hatte keine große Mühe, die Finanzierung seines Vorhabens zu sichern. Die Bankiers von Charleston kümmerten sich nicht groß um seine politischen Ansichten, sondern vertrauten seinem Geschäftssinn. Er hatte den Umsatz der C.S.C. bereits um achtzig und den Gewinn um zwanzig Prozent steigern können. Dies war ihm gelungen, indem er die alten Schiffe überholen ließ, so daß sie zuverlässiger waren, und den Fabrikanten, die ein größeres Geschäft mit ihm abschlossen, einen Rabatt anbot.
Neben den Gebäuden in der Concord Street gehörte der C.S.C. jetzt noch ein weiteres Grundstück: vierhundert Hektar Land auf James Island, gegenüber der Halbinsel, auf welcher sich die Stadt befand. Dieses Grundstück lief etwa eine halbe Meile dem Wasser entlang und war nicht weit vom verlassenen Fort Johnson entfernt. Cooper hatte dieses scheinbar wertlose Stück Land im Zuge einer langfristigen Planung erworben, die er geheimhielt. Es machte ihm zwar nichts aus, wenn man sich über ihn lustig machte, aber er war der Meinung, daß ein vorsichtiger Geschäftsmann seine Ideen erst dann öffentlich bekanntgab, wenn dies seinen Interessen diente. In der Dämmerung des ersten Montags im Mai schlenderte er der Battery entlang und blickte auf sein Grundstück jenseits des Wassers. Er war immer noch der Meinung, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. Es mochte Jahre dauern, bevor er das Land nutzen konnte, aber es würde auf jeden Fall einen Vorteil bringen.
Unter dem Arm trug er die letzte Ausgabe des Mercury. Er fühlte sich von der extremen Haltung der Zeitung abgestoßen, aber sie brachte doch viele gute Berichte über städtische und staatliche Ereignisse. Auf der ersten Seite war ein haarsträubender Artikel über eine alte Frau zu lesen, die von zwei Haussklaven, die sie getadelt hatte, erdrosselt worden war. Die Sklaven waren verschwunden und blieben unauffindbar; in einem Leitartikel ließ sich die Zeitung über die rebellischen Tendenzen der Neger aus und wetterte über die Yankee-Propagandisten, die die Stimmung noch anheizten. Wenn er an den großen Anteil der Schwarzen an der Einwohnerschaft dachte, fiel es Cooper nicht schwer, die Nervosität der Sklavenhalter zu verstehen.
Ein weiterer Artikel berichtete über verschiedene neue Feuergesetze. In Charleston wurden dauernd neue Feuergesetze erlassen, um eine weitere Brandkatastrophe wie diejenige, die die Stadt 1838 beinahe dem Erdboden gleichgemacht hatte, zu vermeiden. Auf dem Zeitungsrand hatte sich Cooper eine Liste von Dingen notiert, die er morgen für seine Reise in den Norden benötigte.
Die Bevölkerung von Charleston war auf beinahe 28.000 angewachsen, von denen etwas mehr als die Hälfte Weiße waren. Abgesehen vom alten ›Adel‹ gab es eine beträchtliche Anzahl temperamentvoller Iren, traditionsbewußter Deutscher und orthodoxer Juden. In der Abenddämmerung sahen die durch feste Eichen und Palmettobäume aufgelockerten Hausdächer und Kirchtürme lieblich aus. Die herrliche Aussicht sowie die kräftige Meerluft erinnerten ihn an ein Gelübde, das er vor ein paar Monaten abgelegt hatte: Solange er lebte, sollte dies sein Heim sein – oder zumindest so lange, bis er wegen seiner politischen Ansichten vom Pöbel vertrieben würde.
Mit einem herben Lächeln wanderte sein Blick von der Stadt zum Hafen und dem dahinterliegenden Ozean. Der Hafen von Charleston gehörte immer noch zu einem der wichtigsten Stützpunkte der Bundesregierung. Wohin man auch blickte, war ein Fort zu sehen. Zu seiner Linken lag Fort Moultrie auf Sullivan’s Island. Etwas näher, in einem Sumpfgebiet, konnte er Castle Pinckney entdecken. Geradeaus war der größte Teil von Fort Sumter zu sehen und auf James Island die alten, verlassenen Gebäude von Fort Johnson. Die verschiedenen Forts vermochten Cooper überhaupt nicht zu beeindrucken. Was ihn hingegen tagaus, tagein beschäftigte, war der Dampfschiffverkehr im Hafen. Cooper hatte in relativ kurzer Zeit eine tiefe Liebe zu den Schiffen und zur See entwickelt.
Das Land hinter ihm kam ihm alt und in jahrhundertealten Traditionen erstarrt vor. Das Land gehörte der Vergangenheit an, doch die See mit all den hin- und herfahrenden Dampfschiffen war ein modernes Reich der ungeahnten Möglichkeiten, der Entdeckungen und des Fortschritts. Die See gehörte der Zukunft.
Cooper fuhr mit dem Zug nach New York und verbrachte dort zwei Wochen in einem schäbigen Hotel in Manhattan. Sein Schiff befand sich bereits im Bau, und die Trennwände würden noch vor Ende des Monats fertiggestellt sein.
Er fertigte zahlreiche Zeichnungen des Schiffs und der Werft an und schrieb ganze Notizbücher voll, bevor er mit einem Gefühl der Erleichterung abreiste. Neben den Zwillingsstädten Brooklyn und New York schien Charleston langweilig und rückständig. Die Größe dieser Städte mit ihren geschäftigen, aggressiven Einwohnern schüchterte ihn ein.
Er nahm den Zug nach Pennsylvania. Seitdem er das letzte Mal in New York gewesen war, schienen sich die Eisenbahnlinien verzehnfacht zu haben. Die erste Lokomotive Amerikas, die berühmte ›Best Friend‹ aus Charleston, hatte ihre Jungfernfahrt im Dezember 1830 gemacht, also fast zwanzig Jahre zuvor. Schon drei Jahre später wurde die Charleston & Hamburg-Linie in Betrieb genommen, eine 136 Meilen lange Eisenbahnlinie, die bis zum Hafen am Savannah River führte. Cooper fand es eine traurige Ironie, daß das Eisenbahngeschäft nun gerade in dem Staat, der es am meisten gefördert hatte, ins Hintertreffen geriet. Die Yankees waren dabei, die Könige der Eisenbahn zu werden, so wie sie auch Könige jedes größeren Industriezweigs werden wollten.
Nachdem Cooper in Lehigh Station angekommen war, nahm ihn George mit ins Walzwerk und zeigte ihm den für den Schiffsrumpf der Mont Royal bestimmten Stahl. Durch den tosenden Lärm rief George ihm zu: »Viele Schiffsbauingenieure äußern sich immer noch abfällig über den Schiffsstahl, aber es ist das Geschäft der Zukunft.«
Cooper schrie ihm eine Antwort zu, aber George hörte ihn nicht. »Der britische Ingenieur Brunei«, fuhr er fort, »hat die Great Britain aus Eisen konstruiert, und sie hat den Atlantik mühelos überquert. Brunei will eines Tages ein so großes Stahlschiff konstruieren, daß die Great Britain daneben wie ein Reiskorn aussehen wird. Du befindest dich mit deiner Idee also in guter Gesellschaft.«
»Ich weiß«, schrie Cooper zurück. »Die Mont Royal ist im Grunde eine kleinere Ausgabe von Bruneis Schiff.« Die Idee war Cooper gekommen, als er zum erstenmal eine Beschreibung der Great Britain las.
George zeigte seinem Gast die gesamten Hazard-Werke, die seit Coopers letztem Besuch stark gewachsen waren. Die riesigen Hochöfen, das Walz- und das Stahlwerk, die neuen Eisenbahninstallationen liefen auf Hochtouren, sagte George. Der Fluß des geschmolzenen Eisens, der Tausende von Funken und grelles Licht und eine höllische Hitze abgab, schüchterte Cooper noch mehr ein als die beiden Städte, die er vor kurzem hinter sich gelassen hatte. Im Feuer und Lärm der Hazard-Werke erblickte er erneut die wachsende industrielle Macht des Nordens.
Jene Macht und die wimmelnde Menschenmenge in den Städten ließ die Forderung des Südens nach Unabhängigkeit in einem lächerlichen Licht erscheinen. Weshalb verbrachten die Hitzköpfe aus den beiden Carolinas nicht eine Woche hier oben? Sie würden bald feststellen, daß es der Norden und nur der Norden war, der die meisten ihrer Gebrauchsgegenstände lieferte: vom Baueisen zu den landwirtschaftlichen Geräten, von den Haarnadeln ihrer Frauen und Mätressen bis zum Metall für die Schießeisen, mit denen einige ihre absurden Ansprüche auf einen freien und autonomen Süden zu verteidigen beabsichtigten.
Und doch würde Tillet Main seine Ansichten niemals aufgrund eines solchen Besuches ändern. Sein Vater wollte sich seinen Glauben nicht durch die Wirklichkeit beeinträchtigen lassen. Cooper kannte eine Menge Männer, die ähnlich dachten. Wahrscheinlich gab es auch im Norden einige davon.
Während des Abendessens war er in gedrückter Stimmung. Während er düsteren Gedanken nachhing, setzte er ein Lächeln auf, das nicht aus seinem Innersten kam. Er gab sich redlich Mühe, der Konversation von Georges charmanter irischer Ehefrau und ihrer lebhaften Schwiegermutter zu folgen. Die Kinder von George, William und Patricia, hatten schon früher gegessen. »Es sind gute Kinder«, sagte Constance, »aber manchmal etwas temperamentvoll. Es ist besser, in Ruhe zu essen, ohne jeden Augenblick befürchten zu müssen, daß uns der Nachtisch an den Kopf fliegt.«
Georges Beitrag zum Tischgespräch bestand zur Hauptsache aus einem Monolog über die Notwendigkeit einer besseren und billigeren Methode der Stahlherstellung. Er erklärte einige der technischen Probleme mit einer solchen Klarheit, daß Cooper sich noch lange danach an alle Einzelheiten erinnerte. Constance hatte volles Verständnis für die Sorgen ihres Mannes und unterbrach ihn nicht. Am Ende der Mahlzeit und des Monologs zogen sich die beiden Männer ins Rauchzimmer zurück. George zündete sich eine Zigarre an, und Cooper genehmigte sich einen Brandy.
»Wir werden die Damen in einer Weile wieder im Musikzimmer treffen«, sagte George. Es klang nicht sehr begeistert. »Mein Bruder Billy wird auch herüberkommen, zusammen mit Stanley und seiner Frau. Billy wird die Militärakademie besuchen. Hat Orry dir das nicht gesagt?«
»Nein. Welch herrliche Überraschung. Vielleicht wird es in einem Jahr oder in zwei wieder zu einer Zusammenkunft kommen.«
»Eine Zusammenkunft? Was meinst du damit?«
»Erinnerst du dich an Vetter Charles? Er hat sich stark verändert, seitdem du ihn das letzte Mal gesehen hast. Auch er möchte nach West Point.«
George lehnte sich vor. »Du meinst, es besteht die Möglichkeit, daß ein weiterer Main und ein weiterer Hazard zusammen in West Point sind?« Lächelnd lehnte sich George zurück. »Nun, damit sieht der Abend besser aus.« Er wurde jedoch wieder ernst, als er sagte: »Ich hoffe, daß der Rest für dich nicht unangenehm sein wird.«
»Weshalb denn?«
»Meine Schwester Virgilia wird für einige Tage kommen. Sie ißt selten mit uns zu Abend, aber sie ist hier.«
»Ich kann mich gut an sie erinnern. Ein hübsches Mädchen.« Cooper ließ die Lüge geschickt in die Konversation einfließen.
»Auch eigenwillig. Besonders was das Thema der Abschaffung der Sklaverei betrifft«, sagte George mit einem entschiedenen Blick auf seinen Gast. »Sie hat es in der Tat geschafft, sich die meisten Einwohner von Lehigh Station zum Gegner zu machen. Sie nimmt ein Körnchen Wahrheit und umgibt es mit einer Schale unmöglicher Kommentare und Urteile. So zum Beispiel behauptet sie, daß die Freiheit der Neger mit dem Grundsatz der freien Liebe eine gemeinsame ideologische Basis habe. Der Glaube an das eine verlange den Glauben an das andere. Diese Verknüpfung führt natürlich zu Rassenvermischungen, die ihrer Meinung nach wünschenswert sind.«
Cooper kippte seinen Cognac hinunter und enthielt sich eines Kommentars.
»Ohne auf letzteres eingehen zu wollen«, George kaute an seinem glimmenden Zigarrenstummel, »kann ich ohne weiteres behaupten, daß Virgilias Benehmen eine Menge Feindseligkeiten bei Menschen hervorruft, die ansonsten einigen ihrer Ideen positiv gegenüberstünden. Sie bringt auch Unruhe in unseren Haushalt. Die Geduld meiner Mutter wird aufs äußerste strapaziert, und ich kann dir nicht beschreiben, welche Wirkung Virgilia auf Stanleys Frau ausübt – oh, aber du kennst Isabel noch gar nicht, nicht wahr? Du wirst sie heute abend sehen, und du wirst sie im Sommer kennenlernen.«
»Leider nein«, murmelte Cooper. »Meine Geschäfte halten mich in Charleston zurück.« Eine weitere Lüge, aber diesmal zu seinen Gunsten.
»Das tut mir leid. Wo war ich steckengeblieben?«
»Bei Isabel und deiner Schwester.«
»Ach ja. Von den beiden ist es Virgilia, die mir Sorgen macht. Seitdem sie nach Hause gekommen ist, hat sie bereits zwei gemeine anonyme Briefe erhalten, und neulich wurde sie unten im Dorf mit Dreck beworfen. Nicht auszudenken, was ihr passieren kann, wenn sie weiterhin ihre wilden Ideen verbreitet. Ich nehme an, daß sie heute abend auch kommen wird, und ich fand es angebracht, dich zu warnen.«
Cooper legte ein Bein über das andere und lächelte. »Ich danke dir für deine Besorgnis. Sie wird mich nicht stören.«
»Ich hoffe nicht, aber sei dir nicht zu sicher.«
Cooper fand Stanley Hazard immer noch langweilig. Stanley prahlte dauernd mit Politikern aus Pennsylvania. Dabei sprach er jeden Namen so aus, als ob Cooper ihn kennen und beeindruckt sein müßte.
Von Isabel hatte Cooper den Eindruck einer hinterlistigen Frau. Sie hatte ihre Zwillinge mitgenommen. Sie rutschten unruhig auf ihrem Schoß umher und versuchten, einander mit Schreien zu übertrumpfen. Constance anerbot sich, den einen Jungen auf ihren Schoß zu nehmen, aber Isabel lehnte ab – zu heftig, wie Cooper dachte; offensichtlich mochten die Schwägerinnen einander nicht. Schließlich befahl Stanley seiner Frau, die lärmenden Kinder aus dem Zimmer zu entfernen. Man war allerseits erleichtert.
Billy redete begeistert von den bevorstehenden Ferien in Newport. Er hatte das Internat abgeschlossen und setzte nun sein Studium zu Hause fort, wobei er gelegentlich einen Abstecher nach Philadelphia machte, um sich mit seinem Lehrer zu besprechen. Der Junge war unverkennbar ein Hazard, obwohl er George überhaupt nicht ähnlich sah. Er hatte dunkleres Haar als George, und seine Augen waren von einem tieferen Blau.
Virgilia kam an. Sie ergriff Coopers Hand und schüttelte sie wie ein Mann. Ihre Mutter runzelte die Stirn. Nachdem sie etwas Konversation gemacht hatte, setzte sie sich neben Cooper und startete einen Direktangriff.
»Mr. Main, wie reagiert man bei Ihnen im Süden auf die Vorschläge von Senator Clay?«
Vorsicht, dachte er bei sich, als er ihren feurigen Blick sah. Sie will dich provozieren. Salonpolitik führt meist zu nichts anderem als zu Emotionen, sicherlich nicht zu einem Einvernehmen. Also antwortete er mit einem höflichen Lächeln:
»Wie man das ungefähr erwarten konnte, Miss Hazard. Die meisten Leute in South Carolina widersetzen sich jeglichem Kompromiß, der – «
»Ich auch«, unterbrach sie ihn. Maude ließ ein leises, tadelndes Wort fallen. Cooper war sicher, daß Virgilia es gehört hatte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Wenn es um die menschliche Freiheit geht, dann darf es weder Kompromisse noch Verhandlungen geben. Webster, Clay und die ganze Bande sollten gelyncht werden.«
Cooper lächelte steif. »Ich glaube, John Calhoun reagierte ähnlich, wenn auch etwas weniger heftig, auf jene Herren und ihre Vorschläge, aber aus andern Gründen.«
»Dann wäre ich für einmal mit dem verstorbenen, unbeweinten Mr. Calhoun einverstanden. Ansonsten war er ein Verräter.«
George, der eben ein Streichholz angezündet hatte, warf es gedankenlos auf den Teppich. »Um Himmels willen, Virgilia, benimm dich.«
Maude sprang auf und löschte das Streichholz aus. »George, sieh mal, was du angerichtet hast.« Stanley rümpfte die Nase und kreuzte die Arme. »Das war Virgilias Zunge.«
»Ein Verräter?« wiederholte Cooper. »Sicherlich meinen Sie das nicht so, Miss Hazard.«
»Es gibt keinen anderen Namen für jemanden, der Uneinigkeit befürwortet, um die Sklaverei zu protegieren.« Sie lehnte sich vor, die Hände auf ihren Knien zu Fäusten geballt. »Genauso wie es kein anderes Wort für einen Sklavenbesitzer als Hurenmeister gibt.«
Das unmittelbar darauf folgende Schweigen war so tief, daß man das Lamento von Isabells Zwillingen vom andern Ende des Hauses her hören konnte. Ruhig sagte Cooper: »Wenn ich nicht wüßte, daß Sie unbesonnen gesprochen haben, würde ich dies als eine Beleidigung für meine ganze Familie auffassen. Ich will keineswegs leugnen, daß die Mains Sklaven besitzen, aber sie führen eine Plantage, kein Bordell.« Er hielt den Atem an und wandte sich Maude zu: »Entschuldigen Sie, Mrs. Hazard, ich wollte nicht vulgär werden.« Er brauchte nicht zu sagen, daß die Wut ihn dazu bewogen hatte. Das war mehr als klar.
»Virgilia, entschuldige dich bei unserem Gast«, sagte George.
»Ich – « Sie zupfte nervös an ihrem Taschentuch herum. Ihr vernarbtes Gesicht wurde rot, und auf ihrer Oberlippe zeigten sich Schweißtropfen. »Ich wollte nur eine persönliche Überzeugung zum Ausdruck bringen, Mr. Main. Wenn ich Sie beleidigt habe, so geschah dies nicht mit Absicht.«
Aber das stimmte nicht. Sie tupfte sich mit dem Taschentuch die Lippen und konnte so einen Teil ihres Gesichts verbergen. Aber ihre Augen verrieten sie. Ihr Blick richtete sich mit einer fanatischen Wut auf Cooper.
»Auch ich habe zu heftig reagiert. Tut mir leid.«
Er haßte es, das zu sagen, aber die Höflichkeit verlangte es. George stand auf, ging um das Loch im Teppich herum und riß Cooper praktisch aus dem Stuhl heraus. »Machen wir einen Spaziergang!«
Kaum waren sie draußen, sagte er: »Mein Gott, wie fürchterlich, daß sie all das sagen mußte. Ich weiß nicht, welche Art Vergnügen es ihr bereitet, grob zu sein.«
»Mach dir keine Sorgen.« Cooper ging über die Steinplatten bis an den Rand des aufgeschütteten Rasens. Zu seiner Rechten warfen die drei Hochöfen rote Flammen in den nächtlichen Himmel.
»Ich mache mir aber Sorgen! Ich möchte nicht, daß Virgilia dich beleidigt, und vor allen Dingen möchte ich nicht, daß sie im Sommer deine Familie beleidigt. Ich werde mit ihr reden.« Seine Entschlossenheit machte einer plötzlichen Verwirrung Platz. »Sie ist meine Schwester, aber auch wenn ich mich auf den Kopf stelle, ich verstehe sie nicht. Jedes Mal, wenn sie über die Sklaverei und über den Süden herzieht, tut sie das, na ja, mit sexuellen Begriffen. Irgendwie hat sie es sich in den Kopf gesetzt, daß der ganze Süden ein Sündenpfuhl ist.«
Er schielte rasch auf Cooper, um zu sehen, ob er schockiert war. Cooper dachte nach. Oft verurteilen die Menschen das, was sie sich im geheimen wünschen.
»Sie hat sich zu stark engagiert«, knurrte George. »Manchmal befürchte ich, sie verliere den Verstand.«
Ich fürchte, du könntest recht haben, dachte Cooper, aber er behielt es für sich.
Damit war das Thema abgeschlossen. Cooper reiste am nächsten Morgen ab, ohne Virgilia noch einmal zu sehen. Bald verblaßte die Erinnerung an ihren zornigen Blick etwas, und er überprüfte seine eigene, überraschende Reaktion: Ihre Äußerungen hatten ihn beleidigt; sie hatten ihn als ein Mitglied der Main-Familie und, ja, auch als Südstaatler beleidigt.
Cooper betrachtete sich selbst als einen Mann mit gemäßigtem Temperament. Doch wenn schon er von einer Yankee-Fanatikerin in Harnisch gebracht werden konnte, um wie vieles mehr mußten dann die Hitzköpfe des Südens wütend werden? Und welche heftige Reaktion mußte diese Wut bei ihnen auslösen? Das war der Aspekt, der ihn bei der ganzen Sache am meisten beunruhigte.
Etwa eine Stunde nachdem der Küstendampfer New York in Richtung Charleston verlassen hatte, sah er die junge Frau zum erstenmal auf Deck. Sie war in den Zwanzigern und reiste offensichtlich allein. Sie war groß, mit dünnen Armen und Beinen, einem flachen Busen und einer langen Nase. Unter ihrem Hut quoll eine Fülle von dunkelblondem, gelocktem Haar hervor. Sie ging langsam an der Reling entlang, hielt inne und starrte dann auf den Ozean. Ihre Gelassenheit und Selbstsicherheit verrieten Eigenständigkeit und Vertrautheit mit der Welt. Cooper beobachtete sie heimlich aus respektvoller Entfernung.
Ihr Blick war liebevoll, und sie hatte einen freundlichen Zug um den Mund, als ob sie oft und auf natürliche Art und Weise lächelte. Ein unbeteiligter Beobachter hätte jedoch geurteilt, daß sie im besten Fall gewöhnlich und im schlimmsten Fall häßlich war. Weshalb fand er sie dann etwas so Besonderes? Er wußte es nicht, aber er brauchte auch keine Erklärung.
Kurz darauf bemerkte er, wie ein anderer Mann die junge Frau auf etwas weniger diskrete Art und Weise beobachtete. Der Mann war fett, nicht mehr der Jüngste und trug einen karierten Anzug. Cooper war verärgert und dann enttäuscht, als die junge Frau davonschlenderte. Wenn sie den fetten Mann bemerkt hatte, so ließ sie sich nichts anmerken.
Kurz darauf war sie verschwunden. Cooper wußte, daß er sie unbedingt wiedersehen mußte, aber wie? Ein Gentleman sprach nicht einfach eine junge Dame an, die ihm nicht vorgestellt worden war. Er war immer noch dabei, eine Lösung für das Problem zu finden, als ein schwarzer Steward mit dem Gong zum Abendessen rief.
Im Eßsaal mußte er wütend feststellen, daß der Zufall die junge Frau und den Mann im karierten Anzug an denselben Tisch gesetzt hatte. Der Mann war kein Gentleman. Er rückte mit dem Stuhl näher an sie heran, indem er geflissentlich die hochgezogenen Augenbrauen der vier andern Passagiere, die am selben Tisch saßen, übersah. Während des Essens stieß er wiederholt mit der Hand ihren Unterarm an und lehnte sich öfters plump zu ihr hinüber, wobei er einen Scherz machte, den sie mit einem höflichen Lächeln quittierte. Sie aß rasch und verließ als erste den Tisch. Augenblicke später raste Cooper an Deck, um sie zu suchen.
Er entdeckte sie schließlich an der Steuerbordreling, wie sie die entfernten Dünen der Küste von New Jersey betrachtete. Ich werde es tun, zum Teufel mit dem Risiko, dachte er. Er räusperte sich und straffte die Schultern, doch das kribblige Gefühl in seinem Magen ließ sich nicht verscheuchen. Er ging langsam auf sie zu, mit der festen Absicht, sie anzusprechen. Sie wandte sich um und sah ihn freundlich an. Er hielt inne und wollte seinen Hut ziehen, als er bemerkte, daß er ihn in der Kabine vergessen hatte. Die Anrede blieb ihm im Hals stecken.
Er brachte stotternd einen Gruß hervor – eigentlich war es mehr ein Grunzen – und eilte davon. Idiot. Idiot. Jetzt würde sie nie mit ihm reden, und er konnte ihr keinen Vorwurf machen. Er hatte einen guten ersten Eindruck bei ihr erwecken wollen, ihr irgendwie mitteilen wollen, daß er höflich und sogar schüchtern war – Eigenschaften, die sie seiner Meinung nach sicher gemocht hätte. Aber die mangelnde Erfahrung hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Alles, was sie gesehen hatte, war ein Esel, der nicht grüßte, sondern grunzte.
Er beschloß, nicht an der Abendunterhaltung teilzunehmen, änderte seine Meinung jedoch in letzter Minute und gesellte sich zu den etwa dreißig Leuten im Salon. Der Conférencier, ein fröhlicher Italiener, kündigte an, daß anstelle des ursprünglich vorgesehenen Programms ein Sonderprogramm stattfinden würde. Man hatte herausgefunden, daß sich ein musikalisches Talent unter den Passagieren befand, und hatte es zu einem Vortrag überreden können. Er selber würde sie am Klavier begleiten. Er stellte Miss Judith Stafford aus Boston vor.
Miss Stafford stand auf – sie war die junge Frau von vorhin. Sie war in der ersten Reihe gesessen, wo Cooper sie nicht sehen konnte. Sie trug immer noch das einfach geschnittene Kleid, das er zum erstenmal auf Deck an ihr gesehen hatte.
Er war hingerissen, als sie als erstes eine Arie aus der Normet ankündigte. Sie hatte einen lieblichen Sopran, und ihre Phrasierung, ihre Gestik und Mimik zeugten von einer berufsmäßigen Ausbildung.
Sie gab noch drei Darbietungen, alles Opernarien; die letzte war ein dramatisches Stück aus Verdis Attila.
Cooper verliebte sich mit jeder Note mehr in sie. Er erschrak jedoch, als er bemerkte, wie ein Zuschauer der Wand entlang nach vorne schlich: der Mann im karierten Anzug. Er schwankte leicht, und dies nicht, weil die See rauh gewesen wäre, denn sie war ruhig. Der lüsterne Blick des Kerls verriet, woran er interessiert war. Nicht an Miss Staffords Talent.
Das Publikum beantwortete ihre letzte Arie mit rauschendem Beifall und wollte noch mehr hören. Miss Stafford besprach sich kurz mit dem Conférencier und entzückte dann das Publikum mit einer lebhaften Darbietung von ›Oh! Susanna‹, der von den kalifornischen Goldsuchern übernommenen Negerballade. Wiederum verlangten die Zuhörer eine Zugabe. Sie sang das berühmte Lied: ›Woodman, Spare That Tree‹. Einige der Zuhörer waren zu Tränen gerührt. Nicht aber Herr Karo, wie Cooper ihn insgeheim nannte. In seinen Augen glomm nur Lust.
Nach einer letzten Ovation ging das Publikum auseinander. Der Conférencier bedankte sich bei ihr und trollte sich; sie stand nun allein da und wurde sich unvermittelt der Anwesenheit von Herrn Karo bewußt, der ihr, ein öliges Lächeln auf dem Gesicht, entgegenschwankte. Cooper fühlte sich plötzlich wie von einem Magnet zu den beiden hingezogen. Wahrscheinlich ist er ein Berufsringer. Wenn du dich einmischst, wird er dich zusammenschlagen, und sie wird dich für einen Tölpel halten. Trotz dieser pessimistischen Gedanken eilte er unbeirrt nach vorne. Herr Karo war etwa zwei Meter von Miss Staffords Linker zum Stillstand gekommen und blinzelte dumm. Cooper packte das Mädchen am Ellbogen.
»Das war entzückend, Miss Stafford. Darf ich Sie nun um den Spaziergang bitten, den Sie mir vorhin versprochen haben?«
Sie wird um Hilfe schreien, dachte er. »Augenblick, warten Sie!« rief Herr Karo, eilte auf sie zu und fiel dabei kopfüber über einen großen Ledersessel, den er übersehen hatte.
Judith Stafford wandte sich mit dem ihr eigenen strahlenden Lächeln Cooper zu: »Ja, ich erinnere mich, und ich habe mich darauf gefreut.«
Als sie sich bei ihm unterhakte, stand ihm beinahe das Herz still. Er durfte sie nach draußen geleiten. Sobald sie an Deck waren, drückte sie seinen Unterarm spontan.
»Vielen Dank, diese Blindschleiche hat mich angestarrt, seit wir New York verlassen haben.« Sie zog ihre Hand zurück. »Ich will mich nicht aufdrängen, aber ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. – «
Sie zögerte. Konnte er seinen Ohren trauen?
»Cooper Main aus Charleston. Sind Sie zufällig aus South Carolina?«
»Ja, ich bin in Cheraw geboren. Ich besuche meine Familie. Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Main. Gute Nacht.«
Wenn du sie jetzt verlierst, wirst du sie für immer verloren haben. Er ergriff ihre Hand und bot ihr erneut den Arm an.
»Miss Stafford, ich möchte meine Belohnung, den Spaziergang – um Himmels willen, da ist er. Hier entlang.«
Sie eilten an einem Bullauge vorbei, hinter dem ein deprimierter Herr Karo hervorschielte. Er kam während der restlichen Reise nicht mehr an Deck und belästigte sie auch nicht mehr.
Judith Stafford lachte über Coopers Kühnheit, aber sie drückte seinen Arm, und sie gingen munter im Mondlicht zum Heck des Schiffs. Er war so glücklich, daß er über Bord gesprungen wäre, wenn sie dies von ihm verlangt hätte. Er hätte es getan, obwohl er nicht einmal einen Meter weit schwimmen konnte.
Sie verbrachten fast den ganzen nächsten Tag miteinander. Cooper wußte, daß sie seine Gesellschaft wahrscheinlich suchte, um sich andere, weniger vertrauenswürdige Herren vom Leib zu halten. Er hoffte jedoch, aus der Bekanntschaft werde sich eine Freundschaft entwickeln, bevor sie Charleston erreichten. Sie hatte vor, einen Tag in Charleston zu bleiben, um dort einzukaufen und dann mit Eisenbahn und Postkutsche nach Cheraw weiterzureisen.
Sie war als einziges Kind von Farmern am Fuße der Berge von South Carolina zur Welt gekommen. Ihre Mutter war tot, und ihr Vater lebte nun mit einer Verwandten in Cheraw; durch einen Unfall mit dem Pflug war er vor zwei Jahren zum Krüppel geworden.
»Mein Vater ist ein Waliser, ein Schotte und noch vieles mehr«, sagte sie, als sie am späten Vormittag eine Fleischbrühe löffelten. »Er ist als freier Bauer geboren und wird auch als solcher sterben. Als er noch sein Land bearbeitete, tat er dies ganz allein, es sei denn, Nachbarn, die er später bezahlte, halfen ihm mal. Er haßt die Reis- und Baumwollpflanzer, weil sie nur dank Armeen von Sklaven erfolgreich sein können. Und er haßt sie auch, weil sie eine kleine Minderheit sind und doch den ganzen Staat unter ihrer Kontrolle haben. Diese Macht ist übrigens einer der Gründe dafür, weshalb ich vor fünf Jahren, als ich einundzwanzig war, fortgezogen bin.«
»Es gibt eine Menge Farmer in South Carolina, die ebenso denken wie Ihr Vater, nicht wahr?«
»Tausende. Wenn es nach ihnen ginge, wäre die Sklaverei in einer Minute abgeschafft.«
»Um in der nächsten Minute von einem Aufstand der Schwarzen gefolgt zu werden?«
»Ach, das ist bloß eine Ausrede«, sagte sie mit einem Kopfschütteln.
»Nun, ich höre sie des öfteren.« Er schluckte und eröffnete ihr die Wahrheit: »Seit Generationen baut meine Familie Reis an und hält sich Sklaven.«
Sie stieß einen kleinen Überraschungsschrei aus: »Sie haben mir zwar Ihren Namen gesagt, aber ich habe ihn nicht mit den Mains in Mont Royal in Verbindung gebracht.«
»Weil ich sagte, daß ich in Charleston lebe, was stimmt. Ich bin vor zwei Jahren von zu Hause fortgegangen. Mein Vater und ich sind uns über vieles nicht einig, unter anderem über die Sklaverei.«
»Sie sind also dagegen?«
»Ja, aus praktischen wie auch aus ethischen Gründen.«
»Dann fühlen wir gleich.«
»Ich freue mich, Miss Stafford.« Er merkte, wie er errötete.
Ihre braunen Augen leuchteten, wie er es bis jetzt nur geträumt hatte. Plötzlich war jede Erinnerung an die Feueröfen von Lehigh Station wie weggeblasen, und die Zukunft sah ganz anders aus.
»Bitte«, sagte sie, »Möchten Sie mich nicht Judith nennen?«
Cooper konnte gut reden, wenn es sein mußte, aber er mußte sich anstrengen. Auch sie war eher schüchtern. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Verbundenheit zwischen ihnen so schnell so stark geworden war.
Auf der Reise nach Charleston erzählte er ihr vieles über sich selbst. Sie tat ein gleiches. Ihr Vater war davon überzeugt, daß eine Ausbildung wichtig war, und hatte sein ganzes Leben lang gespart, um ihr dies zu ermöglichen. Sie hatte die beiden letzten Schuljahre im Norden, auf Miss Deardorfs Female Academy in Concord, Massachusetts, verbracht und war nach Abschluß ihres Studiums gebeten worden, als Musik- und Literaturlehrerin dort zu bleiben.
Sie kam also, genau genommen, nicht aus Boston, ging jedoch so oft wie möglich in die Stadt. Sie gehörte der Federal Street Church an und teilte die gemäßigten Ansichten des Sklavereigegners William Ellery Channing.
»Ein Unitarier also«, Cooper grinste. »Man sagt, die meisten von ihnen hätten Haare auf den Zähnen.«
»Nun, die einen sind radikaler als die andern. Aber auf welcher Seite stehen Sie denn?«
»Ich befürchte, ich lasse mich nicht so leicht einordnen. Ich bin ein Gegner der Sklaverei, aber ich werde nie für Gewalt zu ihrer Abschaffung eintreten. Ich bin der Ansicht, daß der Versuch, in einem unabhängigen Süden die Sklaverei beizubehalten, lächerlich ist. Wir müssen uns mit den Yankees verständigen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihnen wäre zu riskant, denn erstens sind sie uns zahlenmäßig überlegen, und zweitens sind wir von ihrer Industrie abhängig. Wenn wir unsere eigenen Wege gingen, so wäre das unser Ende.«
»Nach dem, was ich gelesen habe, sind die meisten Politiker des Südens anderer Meinung.«
»Sie erinnern sich nicht mehr an das, was sie in der Bibel gelernt haben«, entgegnete er mit einem schwachen, bitteren Lächeln. »›Daß die andern dich fürchten, hat dich verführt, und dein Herz ist hochmütig.‹ Jeremias neunundvierzig.«
»Nun, ich denke nicht so – so differenziert wie Sie«, gab sie zur Antwort. »Die Sklaverei ist ein Übel, das mit allen dafür notwendigen Mitteln ausgerottet werden muß. Reverend Channing versucht, an die christlichen Gefühle der Sklavenbesitzer zu appellieren, aber das hat sich bislang als erfolglos erwiesen.«
»Damit wird er auch nie Erfolg haben. Die Stimme des Geldes ist hier im Süden lauter als die Stimme Gottes.«
»Ist das nicht überall so? Aber wie können wir in diesem Land von Freiheit reden, wenn die Hälfte der Bevölkerung in Unfreiheit lebt?«
»Mein Vater sagt, daß die Sklaverei ein Positivum ist.«
»Nichts gegen Ihren Vater, aber Despoten glauben immer, daß sie Wohltäter sind.«
Er lächelte. »Ich sehe, Sie haben Ihren Reverend Weld gelesen.«
»Und Garrison und Douglas. Ich glaube, was sie alle sagen. Wir müssen den Preis für die Emanzipation bezahlen – wie hoch er auch immer sein mag.«
»Ich bin nicht einverstanden, aber vielleicht werde ich es eines Tages sein. Ich stelle fest, daß ich mehr und mehr von der vorherrschenden Meinung abweiche. Wahrscheinlich wird man mich demnächst aus Charleston verjagen. Doch bevor das geschieht, würde ich Ihnen gerne mein Haus zeigen.«
»Was? Ohne Anstandsdame?« neckte sie ihn. Ihre Blicke trafen sich. »Ich würde Ihr Haus sehr gern sehen, Cooper.«
Ermutigt durch ihren ernsten Blick, küßte er sie wenige Minuten später auf der Schwelle ihrer Luxuskabine. Sie erwiderte seinen Kuß leidenschaftlich, entschuldigte sich sofort für ihre Schamlosigkeit und bat ihn dann flüsternd, sie nochmals zu küssen.
Es war eine zauberhafte Reise, und am Schluß gestanden sie sich ihre Liebe zueinander. Als der Dampfer in den Hafen von Charleston einlief, unterhielten sie sich darüber, wie schnell es ihr gelingen würde, ihre Zelte in Concord abzubrechen, und ob sie sich wohl in South Carolina wieder glücklich fühlen könne.
Der Lotse kam bei Sonnenuntergang an Bord. Cooper und Judith standen an der Reling und betrachteten die letzten Sonnenstrahlen auf den Kirchtürmen der Stadt. Cooper war noch nie jemandem begegnet, dem er so fest vertrauen konnte, jemandem, mit dem er reden konnte, ohne Angst, mißverstanden oder verachtet zu werden.
»Die Mains waren seit jeher Landleute, aber ich habe mich in die See verliebt. Vielleicht deshalb, weil das Land untrennbar mit der Sklaverei und deren Elend verbunden ist.« Sein Blick schweifte übers Heck und über den Atlantik. »Für mich bedeutet dieser Ozean eine echte Chance, wie früher frei zu sein. Er ist ein Symbol für die Geschwindigkeit der Dampfschiffe, für eine kleiner werdende Welt, für die Zukunft.« Er zögerte kurz und wurde rot. »Findest du das lächerlich?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bewunderungswürdig und auch realistisch. Aber es dauert lang, bis altmodische Ideen sterben. Das ist ja auch der Grund, weshalb es in letzter Zeit so viel Aufruhr gibt. Eine alte Idee liegt im Sterben, aber die Menschen dieses Staats wollen die unvermeidbare Tatsache nicht akzeptieren. Würden sie dies tun, wäre alles sehr viel einfacher.«
Cooper seufzte. »Ja, aber ihr Widerstand ist begreiflich. Ein Mann gibt vieles auf, wenn er seine Neger aufgibt. Er gibt etwas hin, das ich noch keinen einzigen Sklavenbesitzer habe erwähnen hören, aber es existiert, es ist wesentlich, und es ist das Grundübel des ganzen Systems.« Die Hafenbrise spielte in seinem Haar, als er über den Ozean blickte. »Die totale Macht. Die Sklaverei verleiht einem Menschen die totale Macht über einen andern. Kein Mensch auf der Welt dürfte eine solche Macht haben, kein König, kein Präsident – und sicherlich nicht mein Vater. Macht ist destruktiv, das habe ich schließlich eingesehen. Mein Vater ist immer ein guter und menschlicher Herr gewesen, aber eines Tages wurde er wütend und ordnete an, daß einer unserer Sklaven mit der Katze ausgepeitscht wurde. Weißt du, was das ist?«
Sie erschauerte. »Ja. Ich habe darüber gelesen.«
»Nun, mein Vater ließ es geschehen. Und weil er der Besitzer des Mannes war und als solcher nie in Frage gestellt wurde, konnte nichts ihn daran hindern, sich wie ein Tier zu benehmen und einen andern Menschen wie ein Tier zu behandeln. Deshalb habe ich meine Zweifel an Reverend Channings Methode. Die totale Macht übt eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf die schlechte Seite in uns allen aus.«
Als sie seinen lauteren Gesichtsausdruck sah, war Judith plötzlich kühn genug, um etwas zu tun, von dem sie bisher nur geträumt hatte: die Hand eines Mannes zu ergreifen – in der Öffentlichkeit.
Sanft umschlossen ihre Finger die seinen. Sie freute sich über den Mut, den sie im Laufe dieser Reise an den Tag gelegt hatte. Als sie in Boston abreiste, hätte sie sich dies nie träumen lassen. Zweifellos war diese herrliche neue Freiheit nur ein weiteres Zeichen dafür, daß sie schließlich den Mann gefunden hatte, den sie für den Rest ihres Lebens lieben konnte.
Auch Cooper hatte eine Gefährtin gefunden. Eine anständige, intelligente Frau, die in seinen Augen von überragender Schönheit war. Eine Frau, welche sein differenziertes Denken, viele seiner Überzeugungen und einige seiner Zweifel zu teilen verstand. Mit ihr – sollte sie ihn heiraten wollen – würde er die stürmischen Zeiten, die bestimmt kommen würden, sicher überstehen. Heute abend noch wollte er ihr im Haus in der Tradd Street den Heiratsantrag machen.
Mit dieser Entscheidung breitete sich Ruhe in ihm aus. Ohne sich um die Blicke einiger schockierter Passagiere zu kümmern, hielten sich Judith und Cooper die Hände und blickten einander in die Augen, als Fort Sumter langsam am Bug vorbeiglitt und in der Dunkelheit versank.
24
In jenem Sommer kam es bei den Hazards zu lästigen Streitereien und starken Spannungen. Die Diener wetteten kleine Geldsummen, wer noch mit wem reden würde, wenn die Familie endlich nach Newport aufbrechen würde. Einige der Hausangestellten setzten sogar darauf, daß man überhaupt nicht gehen würde.
George entdeckte, daß Stanley Cameron eine weitere Spende hatte zukommen lassen, diesmal im Betrag von zweitausend Dollar. »Du hast doch versprochen, damit aufzuhören!« Er unterstrich seinen Vorwurf, indem er so hart auf den Schreibtisch schlug, daß das Fenster klirrte. Bevor er antwortete, wich Stanley in die andere Ecke des Zimmers aus. George war zwar klein, aber Stanley hatte Angst vor ihm. Er hatte jedoch noch mehr Angst vor Isabel.
»Ich habe nie gesagt, daß ich endgültig damit aufhören würde. Du mußt mich mißverstanden haben. Abgesehen davon, brauchte Simon dringend – «
»Ach, du nennst ihn schon beim Vornamen. Busenfreunde! Welchen Bären läßt du dir aufbinden? Was ist der Preis?« Stanley wurde rot. George ging wütend auf und ab. »Mit jedem Tag steigen unsere Kosten, und du verschleuderst unser Geld an korrupte Politiker und für private Eisenbahnwaggons.«
Stanley hatte auf eigene Faust einen Vertrag für einen vierachsigen Eisenbahnwaggon mit Wohnzimmer, Schlafabteilen und einer Küche abgeschlossen. Der außergewöhnliche Waggon, einer von wenigen in den Vereinigten Staaten, wurde zum weiteren Ausbau nach Delaware verschickt. Stanley war von seiner Frau zum Kauf gedrängt worden, die immer wieder betonte, daß sie nicht in einem öffentlichen Bahnwagen nach Rhode Island fahren würde.
»Wir könnten dies sicher diskutieren, ohne ausfällig zu werden, George.«
»Diskutieren! Zum Teufel! Für den Eisenbahnwaggon ist es zu spät, aber ich verbiete dir, Cameron auch nur noch einen Cent zu geben!«
»Solange ich die Finanzen unter Kontrolle habe, tue ich, was mir gefällt. Du kannst dich ja mit Mutter unterhalten, wenn’s dir nicht paßt.«
Er hatte nicht den Mut, seinen jüngeren Bruder anzusehen, als er diese Trumpfkarte ausspielte. George gab wütend nach, wie Stanley dies erwartet hatte. George mochte wohl damit drohen, zu Maude zu gehen, aber Stanley wußte jetzt, daß sein Stolz dies nie zulassen würde. Mit einem hämischen Grinsen verließ Stanley das Zimmer. Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloß, ein herausfordernder Schlußpunkt.
George setzte sich fluchend hin. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber es mißlang. Er war in Stanleys Händen, und beide wußten es. Er weigerte sich, zu Maude zu rennen, aber die gegenwärtige Lage war unmöglich, es gab keinen Ausweg. Er griff nach einem Tintenfaß und schleuderte es an die Wand.
»Kindisch«, murmelte er eine Minute später. Aber obwohl das Problem immer noch ungelöst war und die Tinte sein Hemd ruiniert hatte, fühlte er sich jetzt wesentlich besser.
Stanley erzählte Isabel von der Auseinandersetzung: Natürlich war George der Bösewicht und Stanley der Held.
Sie rächte sich mit einem neuen Angriff auf ihre Verwandten. Mit einem falschen Lächeln ›wunderte‹ sie sich – laut – über die religiöse Erziehung von William und Patricia. Sie kramte die alten Horrorgeschichten über die katholischen Priester wieder hervor, die einen schlechten Einfluß auf ihre Pfarrei und folglich auf deren Kinder ausübten. Doch ihre eigentliche Zielscheibe war George. Während Wochen war sein angeblich total fehlender Glaube ein beliebtes Gesprächsthema unter den Frauen der Oberschicht von Lehigh Station.
Nein, George sei nicht katholisch, verkündete Isabel, aber er setze auch keinen Fuß in seine eigene Kirche, die Methodistenkirche. Liefen die armen Kinder nicht Gefahr, gottlos aufzuwachsen? Leute, die sich früher nie Gedanken über dieses Problem oder über Georges Charakter gemacht hatten, redeten plötzlich kaum noch über etwas anderes.
Erst hörte Constance, dann George den Klatsch. Sie wurde traurig, er wütend. Es war ein schwacher Trost für sie, als sie einen Brief von Orry erhielten, in dem stand, daß auch in der Main-Familie Zwietracht herrschte. Cooper hatte seine bevorstehende Heirat mit einer Frau angekündigt, die Unitarierin war und auf der Seite der Sklavereigegner stand. Tillet konnte kaum noch an sich halten. Orry hoffte, daß die Reise nach Newport die Spannungen wenigstens eine Zeitlang mildern würde.
Virgilia reiste für zehn Tage nach Philadelphia, wo sie wiederum eine Rede halten sollte. Maude hatte den Gedanken an eine Anstandsdame schon lange aufgegeben. Virgilia tat, was sie wollte.
Fünf Tage später, als man die ersten Reisevorbereitungen traf, wurde Isabel von einer ihrer Freundinnen angesprochen. Grace Truitt war eben aus Philadelphia zurückgekommen. Sie und ihr Mann hatten dort das Chestnut Street Theater für eine Aufführung des People’s Lawyer besucht, ein uraltes, aber immer noch populäres Stück, in dem ein anscheinend dummer Yankee klügere Leute immer wieder übertölpelte.
»Ihre Schwägerin saß in einer Loge in Begleitung eines gutaussehenden Mannes namens Toby Johnson«, sagte die Besucherin.
»Ich kenne den Herrn nicht.«
»Das wäre auch überraschend, aber in Philadelphia haben alle von ihm gehört oder gelesen. Virgilia und Mr. Johnson waren zusammen an der Versammlung der Gegner der Sklaverei.« Grace Truitt machte eine Pause, bevor sie die Katze aus dem Sack ließ. »Bei diesem Anlaß hat Mr. Johnson von seinen Erfahrungen in North Carolina vor seiner Flucht erzählt.«
»Flucht? Um Himmels willen. Er ist doch nicht etwa ein – Neger?«
»Schokoladenbraun«, sagte die andere nickend. »Sie stolzierten im Theater herum, berührten einander immer wieder und tauschten Blicke aus, die, na ja – « Die Dame betupfte ihre glänzende Oberlippe mit dem Taschentuch. »Man kann sie nur verliebt nennen. Ich hasse es, Ihnen eine solch tragische Nachricht übermitteln zu müssen, aber ich hatte das Gefühl, daß Sie es wissen sollten.«
Isabel wurde übel. »Haben sie mit ihrer Anwesenheit im Theater Aufsehen erregt?«
»Ich würde meinen, ja. Mehrere Paare verließen empört den Saal, bevor der Vorhang hochging. In der ersten Pause hat jemand eine Tüte Dreck in die Loge geschmissen. Ohne Zweifel eine vulgäre Reaktion. Aber Virgilia und ihr Begleiter saßen wie die Ölgötzen da und ignorierten es.«
Isabel ergriff die Hand der Frau. »Bitte behalten Sie das für sich, Grace. Ich werde die Familie zum gegebenen Zeitpunkt, wenn Virgilia nach Hause kommt, unterrichten.«
»Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.«
Aber es war ein leeres Versprechen.
Maude schickte einen Kutscher ins Dorf, um Virgilia vom Boot abzuholen. Nicht weit vom Kanal entfernt wurde sie von zwei herumlungernden Männern mit ihrem Gepäck in der Kutsche bemerkt. Einer der Männer hob einen Stein auf.
»Bring deinen Nigger-Geliebten nicht nach Lehigh Station!«
Er warf den Stein allerdings mit mehr Emotionen als Treffsicherheit, und er flog an Virgilia vorbei. Der Kutscher blickte verdutzt. Sie ignorierte seinen Blick und starrte auf den Angreifer. Als George und seine Familie sich gegen Abend um Stanleys Tisch zum Essen scharten, sprachen schon alle Familienmitglieder über das Ereignis.
Bevor der erste Gang aufgetragen wurde, sagte Maude: »Virgilia, ich habe erfahren, daß heute ein unangenehmer Zwischenfall stattgefunden hat. Was war denn die Ursache?«
Virgilia zuckte die Achseln. »Meine Freundschaft mit Toby Johnson, nehme ich an. Ich bin in Philadelphia mit ihm im Theater gewesen. Klatsch verbreitet sich schnell. Vielleicht hat mich eine engstirnige Person aus Lehigh Station gesehen.«
Es ärgerte Isabel, daß ihr Auftritt verdorben worden war. Aber wenigstens konnte sie versuchen, die Ungeheuerlichkeit von Virgilias Fehltritt zu betonen.
»Falls es jemand nicht wissen sollte, Johnson ist ein Neger.«
Für George war dies nichts Neues; er hatte den Zwischenfall vor einer Stunde mit Constance besprochen. Er kaute wütend auf seinem Zigarrenstummel, da Virgilia, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, die peinliche Verlegenheit der Familie offensichtlich zu genießen schien. Zwar überraschte ihn ihr Benehmen nicht mehr, aber es machte ihn immer noch wütend.
Virgilia schob trotzig das Kinn vor. »Toby Johnson ist ein feiner Mann, und ich werde ihn so oft sehen, wie ich will.«
Billy sah vergnügt aus, alle andern waren aufgeregt. Stanley stotterte, unfähig, klar zu reden. Maude betrachtete ihre Tochter in trauriger Resignation. George ergriff das Wort.
»Wir haben nichts gegen dein Engagement, Virgilia, aber du gehst zu weit. Ich sage dies nicht nur, weil der Mann ein Schwarzer – «
Er schrumpfte unter ihrem Blick zusammen. »Natürlich, George. Sei kein Heuchler.«
»Na schön – vielleicht spielt seine Hautfarbe eine Rolle. Aber ich nehme an, daß ich darüber hinwegsehen könnte, wenn du diesen Mann wirklich liebtest.«
»Wie kannst du es wagen, etwas über meine wirklichen Gefühle –?«
»Virgilia, halt den Mund und laß mich ausreden. Ich glaube, im Grunde möchtest du nur die Aufmerksamkeit auf dich lenken. Du bietest der Welt trotzig die Stirn, weil du – irrtümlicherweise – glaubst, daß sie dir wehgetan hat. Dabei bringst du Schande über deine Mutter und die Familie. Eine anständige Frau tut gewisse Dinge einfach nicht, ob der Mann nun schwarz, weiß oder violett ist.«
Virgilia knüllte ihre Serviette zusammen und schmiß sie beiseite. »Wie entsetzlich selbstgefällig du geworden bist.«
Maude stieß einen leisen Schrei aus und wandte das Gesicht ab.
»Es geht nicht um mich, sondern um dich und dein Benehmen«, entgegnete George. »Wir werden es nicht tolerieren.«
Sie stand auf und sah ihn mit einem kalten Blick an. »Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, Bruderherz. Ich bin eine erwachsene Frau. Es ist meine Sache, mit wem ich schlafe.«
Verlegen schielte Constance zu Billy hinüber. George und Stanley blickten einander an, der Schock und die Wut hatten sie für einmal vereint. Isabel atmete schwer. Virgilia rauschte aus dem Zimmer.
Maude legte die Hand auf ihre Augen, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen.
Als die Familie am nächsten Nachmittag mit zwei Kutschen abreiste, war George schlechter Laune. Eine dritte Kutsche folgte mit dem Gepäck. Die Hazards würden von Philadelphia aus mit ihrem privaten Eisenbahnwaggon weiterfahren.
George war nervös, weil er sich acht Wochen nicht um das Geschäft kümmern konnte. Er hatte seitenweise Instruktionen für die Aufseher und Vorarbeiter hinterlassen und hatte vor, mindestens einmal nach Lehigh Station zurückzufahren. Aber die Familie brauchte seine Hilfe mehr als die Hazard-Werke. Etwas mußte geschehen, um den Frieden wieder herzustellen und um Virgilia daran zu hindern, ihn im Laufe des nächsten Monats wieder zu zerstören.
Isabel blickte Virgilia dauernd scheel von der Seite an. Virgilia blieb unbeeindruckt und schwatzte munter über die Landschaft, das Wetter, alles, bloß nicht über den Zwischenfall. Sie war auf eine unbekümmerte, beinahe arrogante Art fröhlich.
Während des Zwischenhalts in Philadelphia blieb sie ohne Erklärung die ganze Nacht fort. An jenem Abend ging Maude noch vor Sonnenuntergang zu Bett. Am nächsten Morgen jedoch schien sie sich besser zu fühlen, als wäre sie entschlossen, die Situation, so traurig sie auch war, zu akzeptieren. Um vier Uhr nachmittags stiegen die Hazards in den privaten Eisenbahnwagen. Auf jeder Seite des Wagens stand in großen goldenen Lettern Pride of Hazard. Darüber befand sich ein goldener Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Das Innere des Wagens war ebenso luxuriös ausgestattet. Alle staunten über die geschnitzten Fensterrahmen, die glänzenden Messingverzierungen, die mit Intarsien aus Rosenholz ausgestattete Täfelung und die dunkelrote Damasttapete.
Stanley hatte keine Kosten gescheut. Die Sessel waren aus feinstem Plüsch, die Waschschüsseln aus teurem Marmor. George mußte zugeben, daß der Eisenbahnwagen wunderschön war, aber er wagte nicht, nach dem Preis zu fragen. Er wollte zu Hause in einem Sessel sitzen und leicht betrunken sein, wenn er sich die Rechnung ansah.
Für den Sommer hatte man einen schwarzen Koch engagiert. Er stand bereits hinter den Töpfen und bereitete Seezungenfilets fürs Abendessen zu. Virgilia unterhielt sich gut zehn Minuten mit ihm. »Als ob es keinen Unterschied zwischen ihnen gäbe«, zischte Isabel Constance hinter der Hand zu. »Es muß etwas geschehen.« Constance ging nicht auf sie ein. Virgilia kam aus der Küche und verschwand in ihrem Schlafabteil, eine Ausgabe des Liberator unter dem Arm.
Die Jungen, William, Laban und Levi, rannten im Wagen herum, kletterten auf die Möbel, rüttelten an Türklinken und veranstalteten auf der Tretorgel ein höllisches Konzert. Um viertel vor fünf wurde der Wagen an den New-York-Expreß angehängt, der wenige Minuten später losdonnerte.
Die Familie aß das Seezungenfilet und trank teuren französischen Wein, während der Schnellzug nordwärts durch die langweilige Ebene von New Jersey raste. Virgilia war nicht anwesend; sie hatte sich ein Tablett mit ins Schlafabteil genommen.
»Wahrscheinlich wird sie ihren dunklen Freund nach Newport einladen«, sagte Isabel mit schriller Stimme. Sie hatte eine beträchtliche Menge Rotwein getrunken und den Weißwein der übrigen verachtet.
»Wir sollten etwas tun.«
George bemerkte, wie die Augen seiner Frau funkelten, aber es gelang Constance, sich unter Kontrolle zu halten. »Vielleicht sollten wir lediglich Geduld haben. Wenn sie sich nur mit Johnson eingelassen hat, um ihre Unabhängigkeit zu bestätigen, wird das ganze nicht von Dauer sein.«
Unbefriedigt von dieser Antwort sagte Isabel mit weinerlicher Stimme: »Und was sollen wir in der Zwischenzeit tun? Unter der Demütigung leiden? Von der Gesellschaft geächtet werden? Ich sage euch, wir müssen etwas unternehmen!«
»Das hast du schon mal gesagt«, sagte Maude unwirsch. »Was schlägst du vor?«
Isabel öffnete den Mund, schloß ihn wieder und stand mit nervöser Gestik auf.
»Entschuldigt mich bitte, ich glaube, ich habe die Kinder gehört.«
Sie eilte ins Schlafabteil. George suchte unter dem feinen Leinentischtuch nach der Hand seiner Frau und drückte sie mit einem resignierten Blick. Dann schenkte er sich ein weiteres Glas Chardonnay ein und trank es in wenigen Zügen leer.
Gegen Mitternacht wurde der Pride of Hazard im New Yorker Zentralbahnhof vom Zug aus Philadelphia abgekoppelt und an einen nach Providence angehängt. Der Privatwagen befand sich jetzt zwischen den Fracht- und Gepäckwaggons und den Passagierwagen, also genau in der Mitte des Zuges.
Etwa zur selben Zeit griff in einem Weiler namens West Haven an der Connecticut-Küste ein Weichensteller, der eben mit seiner Freundin einen Riesenkrach gehabt hatte, zur Flasche, um seinen Ärger herunterzuspülen. Er trank so schnell und so viel, daß er vergaß, eine Weiche umzustellen, nachdem ein Zug nach New York das Nebengleis verlassen hatte und auf der Hauptlinie weitergefahren war. Dieser Lokalzug hätte auf dem Nebengleis warten müssen, bis der Eilzug nach Boston durchgefahren war.
Der Weichensteller marschierte auf unsicheren Beinen nach New Haven. Wäre er ein zuverlässiger Mann und nüchtern gewesen, so hätte er sich Gedanken über die vergessene Weiche gemacht. Der nächste Zug aus New York würde nun auf das kurze Nebengleis gelenkt werden und in eine Barrikade prallen. Dahinter gähnte eine tiefe Grube.
Constance wand sich unruhig in den Armen ihres Mannes. Der Platz war etwas knapp für zwei, aber sie haßte es, allein in ihrer Koje zu liegen und hatte sich für eine Weile neben ihren Mann gelegt.
»Bevor ich regelmäßig Schlafwagen benütze, muß irgendein Genie eine bessere Schlafgelegenheit erfinden«, murmelte sie ihrem Mann ins Ohr.
»Aber sonst ist es doch recht gemütlich, nicht wahr?« Gerade als er das sagte, spürte er einen Ruck. »Hast du das bemerkt? Als ob wir das Gleis gewechselt hätten.«
Der Führer der vierachsigen Winans-Lokomotive war zu Tode erschrocken. Er hatte die Position der Weiche einige Sekunden zu spät gesehen, und die Maschine war überraschend auf das Nebengleis gelenkt worden. Obwohl er blitzschnell das Notsignal zog, wußte er bereits, daß es den Bremsern nie gelingen würde, den Zug rechtzeitig anzuhalten.
Im Licht der Öllaterne an der Spitze des Zuges sah er die Barrikade auf sich zukommen. »Spring, Fred!« schrie er seinem Gehilfen zu, der bereits auf dem Trittbrett stand.
Dies würde also sein Ende sein, dachte der Lokomotivführer: ein Name in einem Zeitungsbericht über ein weiteres Eisenbahnunglück. Es ereigneten sich so viele, daß die Pfarrer und Politiker sagten, es sollten keine Eisenbahnen mehr gebaut werden.
Er zog wieder am Notsignal; es zerbrach ihm in der Hand. Als letztes sah er die Barrikade auf sich zurasen. Mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern pro Stunde durchbrach die Lokomotive die Barrikade, raste einen kurzen Abhang hinunter und sauste wie ein riesiger Flugkörper in die Tiefe, den Rest des Zuges hinter sich herziehend.
25
»Constance, hol die Kinder. Irgend etwas – «
George konnte die überflüssige Warnung nicht zu Ende sprechen. Constance wußte, daß etwas geschehen war: Der Wagen wurde hin- und hergerüttelt und kippte leicht auf die linke Seite.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl zu schweben. Der Boden unter ihren Füßen war plötzlich schräg, und sie kämpfte sich bis zum Schlafabteil ihrer Kinder vor. Die Lokomotive prallte auf dem Grund der Grube auf. Sekunden bevor sie zerschmettert wurde, erkannte Constance, daß der private Eisenbahnwagen, und wahrscheinlich der ganze Zug, entgleist war.
Sie riß die Zwischentür auf. Als erstes sah sie den rußigen Zylinder einer Lampe, die sie brennengelassen hatte. Der Eisenbahnwagen war ganz mit Holz und Lackarbeit verkleidet. Wenn sie den Aufprall überlebten, würden sie hier drin lebendigen Leibes geröstet werden.
Der langsame Gleitflug schien eine Ewigkeit zu dauern. Mit lautem Geräusch barsten die Eisenkupplungen. Durch den Aufprall der Waggons explodierte der Dampfkessel der Lokomotive, und eine Riesenwolke von heißem Dampf und herumfliegenden Metallstücken entfaltete sich wie eine Blume aus dem Garten eines Wahnsinnigen.
Eisen kreischte, Menschen schrien. Der Hazard-Wagen brach mitten entzwei. Der dahinter folgende Wagen kippte zur Seite und sauste neben dem ineinandergeschachtelten Metallhaufen, auf dem die vordere Hälfte des Pride of Hazard lag, in die Tiefe. Constance hörte, wie verletzte Männer in der Dunkelheit schrien: Die Angestellten der Gepäckwagen saßen im Graben unten in der Falle.
»William? Patricia? Bleibt bei Mutter! Haltet euch an mir fest. Es wird alles gut werden.«
Die Kinder schluchzten, wie auch Dutzende von andern Passagieren in den andern Wagen – ein Chor von zu Tode erschrockenen Menschen, die versuchten, durch das Krachen von Holz, das Klirren von Glas und das Knistern der Flammen hindurch gehört zu werden. Wo war George? In ihrem Schrecken hatte sie ihn aus den Augen verloren. Sie vermutete, daß er ihr Abteil durch die Zwischentür zum Korridor verlassen hatte.
Die Lampen im Hazard-Wagen brannten nicht, und doch war es hell. Vom Feuer. Es erhellte das Gesicht von George, als er wieder in das Abteil kam, wobei er auf der Decke ging, die nun zum Fußboden geworden war.
»Gib mir eins der Kinder.« Er streckte die Arme aus. Hinter ihm erkannte sie Stanley, der sich durch den Korridor kämpfte. Er stieß Maude vor sich her und zog Isabel, die einen Zwilling auf jedem Arm trug, hinter sich her.
Constance überreichte George William. Mit Patricia kletterte sie durch das Abteilfenster, was nun sehr schwierig war, da der Wagen auf dem Dach lag. Sie wagte es nicht, einen Blick auf das sich schnell ausbreitende Feuer zu werfen. Es fraß sich mit sengender Hitze durch die Wand hinter ihr.
»Mach nur, George, ich bin okay.« Mit der noch freien Hand hob sie ihr Nachthemd hoch, damit sie nicht stolpern würde. Sie begann zu husten; der Rauch wurde zusehends dichter.
Sie folgte ihrem Mann in den Korridor, der in der einen Richtung durch Trümmer und in der andern durch Isabel blockiert war. Isabel hatte plötzlich die Nerven verloren. Sie ließ die Zwillinge zu Boden gleiten und brach in hysterische Schreie aus. Ihre beiden Söhne weinten und klammerten sich an die Beine ihrer Mutter, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie nahm keine Notiz von ihnen.
»Wir müssen sie von hier wegkriegen«, schrie Constance und hielt ihrem Mann Patricia entgegen. Er versuchte, William mit einem Arm zu halten und hob seine Tochter auf die Schultern. Constance drückte sich an ihm vorbei, packte Isabel an den Schultern und schüttelte sie. Als das nicht half, versetzte sie ihr eine Ohrfeige. Isabel stolperte gegen Stanley, der sie an den Handgelenken packte und durch den beißenden Rauch zog.
»Laban, Levi«, keuchte Constance und kauerte neben die Zwillinge, während George sich an ihr vorbeiwand. Es blieben ihr nur noch Sekunden. Das Abteil hinter ihr stand in Flammen, das Feuer züngelte bereits durch die Tür. Die plumpen Zwillinge klammerten sich an sie, während sie versuchte, ihre Nerven unter Kontrolle zu halten.
Sie hielt ihnen die Hände hin. »Haltet euch an mir fest!« Sie führte sie in die Richtung, in die George gegangen war, den Korridor hinunter. Er war vom Rauch verschluckt worden – wie alle andern.
Die hölzerne Wand zu ihrer Rechten war mit Blasen bedeckt. Einen Meter vor ihr züngelten plötzlich Flammen an der Wand. Der Ausweg war versperrt. Hinter ihr stand ebenfalls alles in Flammen.
Es blieben noch die Fenster. Sie versuchte, die Scheibe mit ihrem nackten Fuß zu zertrümmern. Das Glas zitterte, zerbrach aber nicht. Sie versuchte es ein zweites Mal. Das Glas zersprang und riß ihr die Fußsohle auf.
Die hereinströmende Luft fachte die Flammen an. Was erwartete sie wohl draußen? Wie tief mochte es sein? Würden sie auf gefährlichen Trümmern landen? Sie konnte nichts sehen, aber es gab keinen andern Ausweg. Sie riß ein Stück Holz aus der verbogenen Wand und vergrößerte die Öffnung, indem sie noch mehr Glas zertrümmerte. Sie spürte keinen Schmerz, merkte aber, daß ihre Handgelenke bluteten. Sie ließ das Holz fallen und hob Laban hoch.
Sie warf erst ihn und dann seinen Bruder durch die Öffnung. Dann sprang sie selbst, nur wenige Augenblicke, bevor der Wagen von einer Wolke aus Feuer und Rauch verschluckt wurde.
Sie landete etwa zwei Meter weiter unten auf einem steinigen Abhang und rollte dann verdutzt ein kleines Stück hinunter. Die brennenden Trümmer über ihr wurden undeutlicher, als sie, nach Luft schnappend und unfähig, sich zu bewegen, beinahe das Bewußtsein verlor.
Schreie überall. Rauchschwaden. Das Dröhnen von Feuer und das schrille Zischen von Dampf, der immer noch aus irgendeinem Ventil der Lokomotive entwich.
Verletzt und benommen wie sie war, gelang es Constance immer noch, die verschiedenen Geräusche voneinander zu unterscheiden: Sie hörte Laban und seinen Bruder in Angst und Schrecken schreien, die Zwillinge mußten ganz in der Nähe sein. Sie brauchten jemanden. Mit letzter Willensanstrengung zwang sie sich aufzustehen, strich sich mit blutigen Händen das Haar aus dem Gesicht und stolperte über den Hang, bis sie die Zwillinge endlich fand. Als sie sie aufhob, kam ein merkwürdig gurrendes Geräusch aus ihrem Mund – ein Ersatz für ein Lachen.
»Jetzt wird alles gut, Jungs.« Sie hielt einen unter jedem Arm und erklomm den Hang. Die spitzen Steine verletzten ihre blutenden Füße noch mehr. »Alles wird gut. Wir werden eure Mutter finden. Wir finden sie.«
Wenn sie nicht tot war.
Würden die kleinen Jungen sich an die Schreie der Opfer erinnern, die unter den Eisenbahnwagen begraben worden waren? Würden sie sich an den gellenden und erstickenden Schrei eines Menschen erinnern, der in einem Wagen gefangen war und lebendig verbrannte? Sie würde es nicht vergessen. Sie würde es nie vergessen, Gott helfe ihr.
Das Massengrab, wie die Katastrophe von West Haven später etwas sensationsgierig von der Presse genannt wurde, hatte zwanzig Tote gefordert: vierzehn Passagiere und sechs Eisenbahnangestellte einschließlich des Lokomotivführers. Die Hazards hatten keine Toten zu beklagen – der schwarze Koch jedoch war gegen eine Wand geschleudert und von einem herausragenden Stück Metall wie von einem Speer durchbohrt worden. Die Zugmitte war offenbar am sichersten gewesen; sämtliche Todesfälle hatten sich vorn und in den zwei letzten Wagen ereignet.
Nach und nach fand Constance die restlichen Familienmitglieder wieder. Erst Billy, dann Maude, die reglos und wie betäubt auf dem Boden saß, George und ihre Kinder und schließlich Stanley, der Isabel, die abwechslungsweise schluchzte und tobte, zu beruhigen und zu trösten versuchte.
Als letzte erblickte sie Virgilia am äußersten Ende des Trümmerhaufens. Georges Schwester hatte ihr Kleid in Streifen gerissen, um Verbände anzulegen. Sie rannte in ihrer Unterwäsche und strotzend vor Dreck wie eine Bergziege die Geröllhalde auf und ab, auf der Jagd nach Überlebenden, die sie zu befreien versuchte. Den Pride of Hazard gab es nicht mehr.
Constance rieb sich die Augen. Sie sah, wie Stanley neben seinen Söhnen kniete und ihre blutigen Füße untersuchte.
»Wie geht es ihnen?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Wie kommt es, daß ihre Füße so fürchterlich zerschunden sind?«
Constance schwieg; sie konnte bloß ihren Kopf schütteln. Der Idiot war wütend auf sie. Es war unglaublich.
»Wer ist zerschunden? Sind meine Kinder verletzt? Laßt mich sehen.«
Isabel, die sich offensichtlich wieder gefaßt hatte, rannte schreiend an Maude vorbei und warf sich neben ihren Zwillingen, die ihre Tränen zurückzuhalten versuchten, auf die Knie. »Laban! Levi! Meine armen Lieblinge! All das Blut, die schrecklichen Wunden! Was hat sie euch angetan?«
Sie umschlang die Knaben und schielte mit einem Blick äußerster Feindseligkeit zwischen ihnen hindurch. »Constance, wenn meine Kinder dauernde Schädigungen davontragen, werde ich es dir nie verzeihen.«
»Dauernde Schädigungen?«
Constance fand das ganze so lächerlich, daß sie nicht weiterreden konnte. Sie warf den Kopf zurück und lachte, ein rauhes und hysterisches Lachen, worauf sich Stanleys und auch Georges Gesicht verfinsterte. »Um Gottes willen, Isabel«, keuchte sie schließlich, »ist dir auch nur im geringsten klar, was du da sagst?«
Isabel ließ die Knaben los und sprang auf die Füße. Haarsträhnen fielen ihr in die Stirn, als sie auf ihre Schwägerin zustolperte. »Natürlich. Sieh sie dir an. Sieh dir ihre Füße an!«
»Es tut mir leid, wenn du nicht zu schätzen weißt, was ich getan habe, Isabel. Aber das tust du ja nie. Ich habe die Zwillinge gerettet. Niemand half ihnen, du schon gar nicht. Du hast hysterisch geschrien und deine Kinder ihrem Schicksal überlassen.«
George redete ihr sanft zu: »Ich glaube, mehr brauchst du nicht zu sagen.«
Constance war klar, daß er nicht schon wieder Streit wollte. Er bat sie darum, damit die Probleme nicht noch größer würden. Sie verstand seine Botschaft, aber ihr war jetzt alles egal. Die Berührung mit dem Tod hatte lange aufgestaute Gefühle hochgebracht.
Den Blick auf Isabel geheftet, sagte sie: »Oh, ja, es gäbe vieles zu sagen. Du solltest ausgepeitscht werden für deine Undankbarkeit. Ich würde es tun, wenn du nicht eine so bedauernswerte Kreatur – «
»Aber – « Stanley wollte etwas sagen, aber Isabels Schrei übertönte ihn: »Du irische Hure!« Sie packte einen spitzen Stein und rannte damit auf Constance los. George stellte sich eilends vor seine Frau, riß Isabel den Stein aus der Hand und schmiß ihn gegen die ineinandergeschachtelten Waggons, die immer noch glühten.
Isabel wollte ihm einen Faustschlag versetzen, aber George packte ihren Unterarm und drückte ihn mit eisernem Griff herunter. Mit erschütterter Stimme sagte er: »Sie hat recht, du bist undankbar. Seit Constance nach Lehigh Station gekommen ist, hast du nichts anderes getan, als ihr dauernd eins auszuwischen. Sie versuchte es zu ignorieren, es dir zu verzeihen – und ich auch. Aber das hier ist zuviel. Sie hat den Zwillingen das Leben gerettet, und statt ihr dankbar zu sein – «
»George, du gehst zu weit«, ließ sich Stanley hinter ihm vernehmen.
George würdigte seinen Bruder keines Blickes. »Halt dich da raus. Isabel, ich werde stets darauf bedacht sein, daß meine Familie dich höflich behandelt, aber das ist alles. Von nun an möchte ich dich nicht mehr in Belvedere sehen. Du wirst nie wieder einen Fuß in mein Haus setzen.«
»Willst du wohl nicht so mit meiner Frau reden«, rief Stanley und packte George an der Schulter. Stanleys impulsive Geste brachte das Faß zum überlaufen. George wirbelte herum, fegte Stanleys Hand weg und trat dann einen Schritt zurück, um seinen Schlag mit großer Treffsicherheit auszuführen.
Stanley redete wild auf ihn ein, doch George schenkte der ersterbenden Stimme der Vernunft kein Gehör und tat, wovon er schon lange geträumt hatte: Mit aller Kraft schlug er Stanley in die Magengrube.
Isabel stieß einen gellenden Schrei aus. Stanley schnappte nach Luft. George auch; er hatte so hart zugeschlagen, daß er glaubte, die Hand gebrochen zu haben.
»Papa«, brüllte einer der Zwillinge. Stanley versuchte, nicht in die Knie zu gehen, aber der Schlag hatte ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Mit rudernden Armen stolperte er rückwärts und landete schließlich auf seinem Hintern. Seine Wangen glänzten rot im Licht der brennenden Eisenbahnwagen. Als er zu seinem jüngeren Bruder aufblickte, war ein hilfloses Bitten in seinen Augen zu lesen. Er keuchte schwer und sah dick, weich und plötzlich alt aus. Hilflos.
O Gott, ich wünschte, ich hätte das nicht getan, dachte George. Aber der Schlag war nicht mehr rückgängig zu machen, er würde ihm und auch den andern stets in peinlicher Erinnerung bleiben. Merkwürdig, daß er gleichzeitig Reue wie auch Erleichterung und einen gewissen Stolz auf seine Tat empfand.
Er ging auf seinen Bruder zu und hielt ihm die Hand hin. »Laß mich dir auf die Beine helfen.«
Stanley packte Georges Unterarm und stand auf. Er nahm die Hilfe mit einem Flattern der Augenlider zur Kenntnis, aber sein Blick verriet keine Dankbarkeit. George hatte auch keine erwartet. Doch da war etwas anderes, ein Gefühl, das George schon früher geahnt hatte und das sich jetzt bestätigte.
Er hat Angst vor mir. Er hat schon immer Angst vor mir gehabt.
Obwohl George die Angst schon früher bemerkt hatte, hatte er nie erkannt, welche Macht sie ihm verlieh; dies wurde ihm erst jetzt klar.
Stanley schwankte an ihm vorbei und versicherte Isabel, daß er in Ordnung war. Dann wandte er sich einem weinenden Zwilling zu, hob den kleinen Jungen hoch und tröstete ihn. George und Constance umarmten ihre Kinder. Billy ging zu Maude hinüber. Während der nächsten Minuten sagte niemand etwas, alle standen wie unter einer Art Schockwirkung. George war sich nicht sicher, ob das Unglück oder der Kampf schuld daran war.
Stanley und Isabel vermieden es, George und seine Familie anzusehen. Georges Schuldgefühle ließen rasch nach. Die Abrechnung mit Stanley war schon längst fällig gewesen.
Etwa zwanzig Minuten später kam Virgilia mit fünf Männern aus dem Weiler West Haven an. Zwei von ihnen trugen Maude auf einer improvisierten Tragbahre davon.
Als die Sonne aufging, schwärmten etwa zweihundert Eisenbahnarbeiter und Freiwillige zur Unglücksstätte. Die Hazards hatten sich unterdessen in ein Hotel nach New Haven begeben. Virgilia beschloß, nach Newport weiterzureisen; es waren bereits mehrere Hausangestellte dort. Gegen Ende des Vormittags war der Eisenbahnverkehr in beiden Richtungen wieder gesichert. Virgilias Zug ging um drei. Da Billy sich freiwillig zur Verfügung stellte, die Kinder zu hüten, während sie schliefen, konnten George und Constance Virgilia zum Bahnhof begleiten und dann noch kurz zum Einkaufen gehen. Bei ihrer Rückkehr ins Hotel schauten sie kurz nach Maude, die immer noch im Bett war. Sie hatte zwei Rippen gebrochen. Aber abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl ging es ihr gut, wie sie sagte.
»Das freut mich, Mutter«, sagte George. »Ich werde mal nachschauen, wo Stanley ist.«
In Maudes Blick war keine Spur von Tadel. »Wo war er den ganzen Vormittag?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er, Isabel und die Kinder haben sich sofort nach dem Frühstück auf ihre Zimmer begeben«, warf Constance ein.
Maude seufzte. »Ich freue mich, daß du mit ihm reden wirst.«
George fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart. »Nicht nur um mich zu entschuldigen. Stanley und ich müssen einiges klarstellen.«
Sie fand sich damit ab und murmelte: »Ich verstehe. Ich habe es schon seit einer Weile kommen sehen, und vielleicht ist dieser Zeitpunkt so gut wie jeder andere.«
Sie schloß die Augen und faltete die Hände auf der sauberen Steppdecke. Er freute sich über ihr Verständnis; es machte ihm die Sache wesentlich leichter.
Er klopfte sanft an die Tür der Suite seines Bruders. Isabel öffnete und teilte ihm mit, daß Stanley unten in der Hotelbar sei. George ging hinunter; Stanley hockte vor einem riesigen Glas Kentucky-Whiskey. George bestellte ebenfalls einen, ließ ihn jedoch stehen. Er versuchte, möglichst ruhig zu bleiben, als er sagte: »Ich werde mich ab jetzt um die finanziellen Angelegenheiten des Geschäfts kümmern.«
»Oh, hast du mit Mutter geredet?« fragte Stanley müde und verbittert.
»Nein. Dies ist eine Sache zwischen dir und mir. Sobald wir in Newport sind, werden wir einen Brief an sämtliche Banken aufsetzen.« Er hatte rasendes Herzklopfen. »Von nun an werden Ausgaben über fünfzig Dollar nur mit meiner Unterschrift getätigt. Für eine Weile wird es keinen privaten Eisenbahnwagen mehr geben.«
Stanley starrte in den Spiegel mit dem Mahagonirahmen, der hinter der Bar hing. Darüber war ein ausgestopfter Hirschkopf mit Geweih befestigt, der sie mit gläsernen Augen gelangweilt anstarrte. Stanley lachte abrupt.
»Ich hab’ mir doch gedacht, daß so was kommen würde; es ist mir scheißegal. Ich hab den Eisenhandel sowieso nie gemocht. Und du warst ja schon immer darauf aus, das Ganze zu übernehmen.«
George unterdrückte seinen Ärger und fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Ich kann dem Geschäft meine volle Aufmerksamkeit widmen, und du kannst andern Interessen nachgehen. Ich könnte mir vorstellen, daß du nichts dagegen hättest, in die Politik einzusteigen.«
»Kann sein«, meinte Stanley. »Auf jeden Fall käme ich so von Lehigh Station weg.« Und von dir.
George ging nicht darauf ein. »Ich freue mich, daß wir uns einig geworden sind. Ich bitte um Entschuldigung für das, was ich gestern abend getan habe.«
Er hielt Stanley die Hand hin. Stanley warf einen Blick darauf, umschloß dann mit den Fingern sein Glas und neigte sich vor, als wolle er es beschützen. »Ich möchte lieber allein trinken, wenn du nichts dagegen hast.«
»Wie du willst.«
George verließ die Bar.
Die andern spürten, daß eine Veränderung in der Familie stattgefunden hatte. Isabel verbarg ihren Groll nicht, aber Stanley zeigte sich ab und zu erleichtert. Er lachte und machte Witze – etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte.
Sie blieben noch einen weiteren Tag in New Haven und stiegen am nächsten Morgen alle etwas nervös in einen Zug nach Rhode Island. Als sie etwa eine Stunde unterwegs waren, ereignete sich ein Zwischenfall, der die Machtverlagerung innerhalb der Familie endgültig besiegelte.
Es ging darum, einen Namen für das Sommerhaus zu finden. Stanley erwähnte, daß sich vor dem Haus eine große und herrliche Rasenfläche befand, und schlug deshalb den Namen Fairlawn vor.
»Sehr hübsch«, sagte Maude. »Was meinst du, George?«
George fand den Namen phantasielos, doch dann erinnerte er sich an einen der Grundsätze von West Point: Es ziemte sich für einen Offizier, dem geschlagenen Gegner Höflichkeit zu erweisen.
»Ich mag den Namen«, sagte er, indem er seinem Bruder zulächelte.
»Ich nehme an, damit hat sich die Sache«, sagte Isabel verächtlich.
Stanley lächelte zufrieden wie ein kleiner Junge.
26
Fairlawn war ein herrliches, geräumiges, dreistöckiges Haus, das soeben strahlend weiß gestrichen worden war. Der Garten sah jedoch etwas verwahrlost aus. In den Blumenbeeten wucherte Unkraut, und totes Geäst verunstaltete die Bäume. Auch die niedrige Ziegelsteinmauer um das Grundstück herum hätte ausgebessert werden müssen. George schlug vor, Stanley solle sich um die Handwerker und Gärtner kümmern. Sein Bruder schien es zu genießen.
Alle Familienmitglieder versuchten sich so weit wie möglich zu beschäftigen, in der Hoffnung, so das Unglück schneller vergessen zu können. Maudes Verletzung erinnerte sie jedoch immer wieder daran. Sie hatte weiterhin Schwindelanfälle und konnte sich wegen der gebrochenen Rippen nur langsam bewegen. Constance litt unter Alpträumen, in denen sie sich jedesmal aus dem brennenden Wagen zu befreien versuchte. Auch William träumte vom Unglück; während zwei Wochen wachte er immer wieder schreiend und um sich schlagend auf.
Die Mains kamen am 5. Juli an, einen Tag, nachdem Präsident Taylor bei einer Nationalfeier zu viele Gurken gegessen und zu viel kalte Milch getrunken hatte und krank geworden war. Am 9. Juli starb er an Cholera morbus. Einige Zeitungen berichteten, daß er in Tat und Wahrheit wegen der Last seines Amtes und den vielen Sorgen gestorben war, insbesondere wegen seinen vielen Widersachern. Am 10. Juli übernahm Millard Fillmore das Amt des Präsidenten.
Bis dahin hatten die Mains sich in ihrem gemieteten Haus ganz in der Nähe, an der Old Beach Road, eingerichtet. Beide Familien machten regen Gebrauch von den zahlreichen Vergnügungsmöglichkeiten, die Newport im Sommer bot. Der Strand von Newport war ganz in der Nähe, aber ziemlich belagert; die Familie zog es vor, sich an einen abgelegeneren Ort am südlichen Ende der Insel zurückzuziehen, von wo aus man einen herrlichen Blick auf einen aus dem Meer herausragenden Felsen, den sogenannten Spouting Rock, hatte.
Zuerst fühlte sich Tillet auf Yankee-Boden nicht wohl. Doch bald erneuerte er seine Bekanntschaft mit andern Familien aus South Carolina einschließlich der Izards, und dann konnte er sich endlich entspannen und die Ferien genießen, außer wenn er die Neuigkeiten aus Washington las.
Fillmore hatte die Absicht, Clays Kompromißvorschläge, die höchstwahrscheinlich noch vor Ende des Jahres angenommen werden würden, zu unterstützen. Unter der Führung von Stephen Douglas aus Illinois hatte eine Gruppe junger Kongreßmitglieder versprochen, dem von der alten Garde geschaffenen Stimmenpatt ein Ende zu setzen.
Die vier jungen Leute waren viel zusammen. Sowohl Ashton als auch Brett verstanden sich gut mit dem untersetzten, kampflustigen und fröhlichen Billy Hazard, der jedoch hauptsächlich an Ashton interessiert war. Er war fünfzehn, sie ein Jahr jünger, und Brett war noch ein zwölfjähriges Kind.
Der vierzehnjährige Charles erweckte den Eindruck, als sei er der Reifste des Quartetts. Seine Größe hatte etwas damit zu tun; er war bereits einen ganzen Kopf größer als Billy. Er war hübsch und lachte gern. Charles und Billy waren so herzlich zueinander, wie man das von zwei Knaben, die sich eben erst kennengelernt hatten, erwarten konnte. Orry und George beobachteten die wachsende Freundschaft mit großem Interesse.
George kaufte eine Jolle, und eines Abends nach dem Essen nahmen die Jungen das Segelboot mit zum Strand, um es auszuprobieren. George und Orry begleiteten sie, um ein Auge auf die Segelanfänger zu werfen. Billy hatte etwas Erfahrung im Umgang mit kleinen Booten, Charles jedoch nicht.
George und Orry saßen einander auf einem großen Felsen gegenüber. Der Atlantik war ruhig, und der Wind war gerade stark genug, um der Küste entlang zu segeln. Orry ließ Sand durch seine Hand rieseln. Er schien sich in den Ferien zu entspannen, doch ab und zu schwang immer noch ein bitterer Unterton in seiner Stimme mit, wie George feststellte. Heute abend jedoch nicht. Orry lächelte, als er auf das Segelboot schaute. »Sieh sie dir an. Ein paar kleine Änderungen, und man könnte sie für uns halten: Stumpf und Stiel II.«
George nickte und paffte an seiner Zigarre. »Ich hoffe, daß sie in West Point ebenso gute Freunde werden, wie wir es waren, auch wenn sie ein Jahr auseinander sind. Charles sieht höllisch gut aus, nicht wahr? Beinahe der perfekte Gentleman aus dem Süden.«
Orry grinste. »Wer hätte es für möglich gehalten, daß aus dem häßlichen Entlein ein schöner Schwan werden würde. Er hat sich gemacht, wie man so sagt.«
»Dein Vater sagt, es sei dein Verdienst.«
Orry zuckte die Achseln. »Charles kämpft gerne. Als er merkte, daß es Mittel und Wege gibt, um zu kämpfen, ohne daß man dafür ins Gefängnis kommt oder alle Menschen gegen sich hat, war er tief beeindruckt. Er hat die Lektion schnell gelernt.«
»Und noch vieles dazu. Ich habe immer geglaubt, daß ich mit Damen gut umzugehen verstehe, aber ich verstehe es nicht, die Hand einer Dame mit so viel Charme zu küssen wie Charles. Als ihr am ersten Abend nach Fairlawn gekommen seid, hat er einen solchen Wirbel um meine Mutter veranstaltet, daß sie wie ein junges Mädchen errötete.«
Vom Wasser her war Kampfgeschrei, fröhliches Lärmen und Platschen zu hören. Billy stieß Charles ins Wasser. George und Orry sprangen auf. Charles kletterte rasch wieder in das kleine Boot. Er zeigte auf etwas Unsichtbares am Horizont, und als Billy sich umdrehte, packte er ihn an Hemd und Gürtel und schmiß ihn ins Wasser. Wenige Augenblicke später saßen die beiden völlig durchnäßt, aber lachend im Boot.
»Ich bin stolz auf die Art und Weise, wie er sich entwickelt«, gab Orry zu, als er sich wieder auf den Felsen setzte. »Ich war ganz verbittert aus Mexiko heimgekehrt. Charles hat mir geholfen, mich etwas davon zu befreien.«
»Die Veränderung zeigte sich auch in deinen Briefen. Ich hab’ mich darüber gefreut.«
»Und ich freue mich über diese Ferien, das heißt – die meiste Zeit über. Ich hab’ mich allerdings immer noch nicht an den Gestank des Krauts, das du rauchst, gewöhnen können.«
George lachte. Orry reckte den rechten Arm und gähnte. Die untergehende Sonne warf die letzten schwachen Strahlen über den Strand. Der Wind nahm zu und berieselte sie sanft mit Sand. George fühlte sich leicht melancholisch, als er sich daran erinnerte, wie schnell die Zeit verging. Auch die in den beiden lachenden Jungen scheinbar wiedergewonnene Jugendzeit war nur eine Illusion; eine Illusion, die sein Verstand als Gegengewicht zur Wirklichkeit schuf, doch vergebens.
Weder die Zeit noch die sich verändernden Dinge konnten jemals aufgehalten werden. Mit dieser Erkenntnis hatte das Leben in letzter Zeit einen bittersüßen Beigeschmack bekommen.
Trotzdem, es war ein guter Moment; einer jener Augenblicke der Ruhe und des Friedens, die in letzter Zeit so selten geworden waren. Auch Orry verspürte es, er schien ganz mild gestimmt. »Und ich sage dir, ich fühle mich so wohl wie schon lange nicht mehr. So wohl, daß ich sogar ganz neue Gefühle meinem älteren Bruder gegenüber entwickle.«
»Wie geht es Cooper?«
»Er ist glücklich. Er ist mit jener liberalen Unitarierin verheiratet. Eine glückliche Ehe. Mein Vater kann sich nicht ganz damit abfinden. Andererseits findet er sich wohl mit dem Ertrag ab, den Cooper aus der Schiffsgesellschaft herauswirtschaftet. Hab’ ich dir schon von unserem neuen Schiff geschrieben? Es wird in einem Monat vom Stapel laufen. Cooper spricht bereits von Neuinvestitionen. Er möchte nach Großbritannien gehen, um sich mit den dortigen Schiffsbaumethoden vertraut zu machen.«
George räusperte sich und stellte endlich die Frage, die ihn schon seit Orrys Ankunft beschäftigte.
»Gibt es etwas Neues von Madeline?«
Orry wandte sich von der Sonne ab und seinem Freund zu. Seine Augen waren umschattet. »Nichts Neues und keine Änderung.«
»Siehst du sie immer noch?«
»So oft ich kann. Mühsam, aber besser als gar nichts.«
Sand umspielte ihre Füße. Dunkelheit legte sich über den Strand. George stand auf und gab den Knaben ein Zeichen. Billy und Charles hievten die Jolle an den Strand, legten den Mast um und nahmen sie auf ihre Schultern. »Aus dir wird noch ein Matrose«, sagte Billy, als sie ihren beiden älteren Brüdern auf die staubige Straße folgten, die nach Hause führte.
Charles grinste. »Ein Matrose, aber hoffentlich nie ein Yankee.«
»Was hast du gegen Yankees?«
»Mr. Hazard, Sir. Das werde ich dir gerne sagen – wenn du heute abend frei bist.«
»Nicht um mir Märchen und Lügen anzuhören.« Der Scherz verdroß Billy etwas. »Reden wir doch über etwas, worüber wir uns einig sind.«
»Mädchen?«
»Mädchen«, sagte Billy genüßlich; seine gute Laune war wiederhergestellt. Er dachte dabei an ein ganz besonderes Mädchen namens Ashton.
George und Orry, die wie zwei violette Schattengestalten in der Abenddämmerung aussahen, lächelten über das Gespräch: Stumpf und Stiel II.
Sobald sie in Fairlawn ankamen, löste sich jedoch die friedliche Stimmung auf. Die Damen hatten es sich in der Veranda gemütlich gemacht und Eistee getrunken – erst ohne Virgilia. Doch sie war jetzt auch anwesend. Sie war zu ihnen gestoßen, nachdem sie eine beträchtliche Menge Rotwein getrunken hatte. Als George und die andern ankamen, ereiferte sie sich eben über die Revision zum Gesetz über Sklavenflucht von 1793, über die zu jener Zeit im Kongreß debattiert wurde.
»Das ganze Manöver soll lediglich dazu dienen, den Süden zu besänftigen«, erklärte sie mit schwerer Zunge.
»Lieber Gott«, seufzte Clarissa. »Ich fühle mich bei solchen Gesprächen immer so verloren.«
»Dann würde ich mich an Ihrer Stelle informieren, Mrs. Main.«
Virgilias Ton ärgerte die andern Frauen der Familie. Ashtons Reaktion war am schärfsten. Sie saß mit einem frischen Glas Tee in der Hand in einem Schaukelstuhl und warf Virgilia haßerfüllte Blicke zu. Virgilia kümmerte sich jedoch nicht darum.
»Es ist ganz einfach. Mit der Revision werden solche Fälle der staatlichen Gesetzgebung entzogen und der Bundesregierung unterstellt. Man könnte jetzt natürlich annehmen, daß somit die Ausreißer begünstigt würden, nicht wahr?«
»Ja, genauso stelle ich es mir vor«, sagte Clarissa.
»Aber genauso ist es nicht. Die Revision beabsichtigt in Tat und Wahrheit, freiheitliche Gesetze, wie zum Beispiel diejenigen von Vermont, zu umgehen. Die Revision ist zugunsten der Sklavenfänger und Sklavenbesitzer. Alles was es braucht, um den Sklavenbesitz nachzuweisen, ist eine eidesstattliche Erklärung, die leicht gefälscht werden kann. Dazu kommt, daß es einem ausgerissenen Sklaven nicht gestattet sein wird, auch nur ein einziges Wort zu seinen Gunsten zu sagen. Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel. Schamlos. Ich werde nie begreifen, weshalb Washington vor dem Süden kriecht.«
Maude hatte so lange wie möglich geschwiegen. Mit fester Stimme sagte sie jetzt zu ihrer Tochter: »Es ist ziemlich unhöflich von dir, bei einem gesellschaftlichen Anlaß eine politische Rede zu halten. Wenn du fertig bist, könntest du dich entschuldigen. Du siehst müde aus.«
Isabel lachte. »Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Das arme Kind hat zuviel getrunken.«
»Isabel – «, sagte Maude, doch bevor sie weiterreden konnte, sprang Ashton auf und rannte wütend auf Virgilia los.
»Wenn Sie die Südstaatler nicht ausstehen können, warum haben Sie uns dann hierher eingeladen?«
Clarissa stand auf.
»Ashton. Genug!« Sie wandte sich den Männern zu, die schweigend dagestanden hatten. »Ich freue mich, daß du zurück bist, Orry. Begleitest du uns bitte nach Hause? Vielen Dank für die Einladung«, sagte sie abschließend, indem sie Maude die Hand entgegenstreckte. Der Besuch endete mit einer peinlichen Note.
Nachdem die Mains gegangen waren, stellte George seine Schwester zur Rede; sie hatte sich auf den Rasen zurückgezogen, um dem Zorn der Familie zu entgehen. »Würdest du mir bitte sagen, weshalb du unsere Gäste dauernd provozierst?«
»Warum soll ich nicht sagen, was ich denke?«
»Wenn ich wirklich glaubte, daß das die Wahrheit wäre, würde ich mich nicht beklagen. Aber deine Offenheit schießt übers Ziel hinaus: Du versuchst, die Menschen zu beleidigen und zu verletzen. Und du tust es mit meinen besten Freunden!«
»Es sind nicht meine Freunde. Sie vertreten einen Lebensstil, der verachtenswert und völlig falsch ist. Es würde mir nichts ausmachen, wenn die Erde sie plötzlich alle verschluckte.«
»Mein Gott, du bist das frechste und rücksichtsloseste – «
Er sprach mit den Glühwürmchen; Virgilia hatte ihn stehengelassen und war ins Haus gegangen.
George mußte drei Zigarren rauchen und einen ausgedehnten Spaziergang durch Newports leere Straßen unternehmen, bevor er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Was nützte es, mit ihr zu diskutieren? Sie war unverbesserlich. O Gott, wie würde bloß der Rest der Ferien werden?
Glücklicherweise wurde Virgilia zwei Tage später durch den Brief eines Gesinnungsgenossen nach Boston geholt. Sie wechselte kaum ein Wort mit jemandem, packte ihre Sachen und begab sich zur Fähre. Maude wirkte erleichtert. Auch George, obwohl er es nicht zeigte.
Die stärkste Reaktion, die seine Schwester letzten Endes in ihm hervorrief, war Mitleid. Sie ging mit zu vielen Menschen äußerst böswillig um. Eines Tages würde jemand zurückschlagen. Es könnte sogar ein Yankee sein. Die Nordstaatler waren bei weitem nicht so tugendhaft, wie Virgilia immer behauptete.
Und wie würde wohl ihre Zukunft aussehen? Worauf konnte sie sich denn freuen? Aufs Unglücklichsein? Zweifellos. Auf eine Tragödie? Durchaus möglich, wie er mit einem Gefühl der Traurigkeit zugeben mußte.
»Verdammt. Was haben wir denn hier?«
»Dem Aussehen nach gehört er zum Ferienpöbel.«
»Ich meine nicht ihn, Oral. Sieh dir die teure Angel und den Fischkorb an.«
Billy hielt sich ruhig in seinem Versteck. Er saß hoch oben in einem Apfelbaum, um an die guten Äpfel heranzukommen. Tief unter ihm waren die vier Dorfjungen durch ein Loch in der Hecke in den Obstgarten hereingekrochen. Drei von ihnen waren weiß, einer schwarz.
Billy und Charles waren nordwärts gewandert, hatten während zwei Stunden erfolglos in der Bucht gefischt und auf ihrem Heimweg einen Umweg über den Obstgarten gemacht. Doch jetzt waren sie in Schwierigkeiten. Die meisten Dörfler der Gegend haßten die Horden von Gästen, die die Insel jeden Sommer überschwemmten. Diese vier waren wohl keine Ausnahme.
Billy kauerte in einer Astgabel. Er hatte sein linkes Bein angezogen, die Ferse drückte gegen seinen Oberschenkel. Die Muskeln taten ihm jetzt schon höllisch weh. Die Kerle hatten ihn nicht gesehen. Sie konzentrierten sich auf die kostspielige Angelausstattung, die neben Charles im Gras lag. Charles saß mit dem Rücken zum Baum, das Kinn auf der Brust, die Augen geschlossen.
»Wenn es dir gefällt, bedien dich«, sagte der schwarze Junge, den man Oral nannte. »Er wird sich nicht aufregen, er schläft.«
Wie der Blitz öffnete Charles die Augen. Einer der Kerle schrie auf. Charles benützte die Gelegenheit und zog sein rechtes Bein an, so daß er den Stiefel, in dem er sein Jagdmesser verbarg, in Griffweite hatte.
»Tut mir leid, ihr habt euch in zweifacher Hinsicht geirrt«, sagte er mit einem breiten Lächeln. Billy blickte auf den Kopf von Charles hinunter, auf sein vom Wind zerzaustes Haar. Es fiel ihm auf, wie Charles so ganz nebenbei seine rechte Hand auf das Knie wenige Zentimeter vom Stiefel legte.
»Verflucht noch mal, das hört sich doch nach einem Südstaatler an«, sagte einer der Dörfler, ein langgesichtiger, schlaksiger Kerl. Er versetzte dem Schwarzen einen Rippenstoß. »Wetten, daß er zu den Leuten gehört, die deine Verwandten unten in Georgia auspeitschen.«
»Bestimmt«, sagte Oral. Er blickte böse. »Wir nehmen ihm die Angelsachen.«
Immer noch lächelnd, legte Charles seine Rechte leicht auf die Wade. »Damit würdet ihr einen schwerwiegenden Fehler begehen, Jungs.«
»Ach ja?« schnappte Oral. »Es sind vier gegen einen.« Er beugte sich vor, um nach Charles’ Weidenkorb zu langen. Plötzlich erspähte das Langgesicht die zweite Angelrute, die am Baumstamm lehnte. »Sieh mal, Oral. Da sind ja zwei Ruten. Wozu soll der zwei haben!«
Doch Oral war so begierig, in den Besitz von Charles’ Sachen zu kommen, daß er den ängstlichen Unterton seines Freundes überhörte. Die beiden andern Jungen blickten sich verdutzt im Obstgarten um. Langsam und leise streckte Billy sein linkes Bein, ohne den Blick auch nur einen Moment von Charles’ rechter Hand abzuwenden. Als dieser nach der Spitze seines Stiefels griff und aufsprang, ließ Billy sich fallen.
»Allmächtiger«, schrie das Langgesicht, eine Sekunde bevor Billy mit seinen schweren Stiefeln auf seinen Schultern landete.
Knochen krachten. Das Langgesicht fiel kopfüber in die Hecke. Charles machte in geduckter Stellung eine langsame Bewegung mit der rechten Hand. Oral starrte auf die Messerspitze, die einen Kreis in die Luft zeichnete. Der schwarze Jüngling begann zu schwitzen.
»Nun, Sir«, sagte Charles zu Oral, »haben Sie etwas gegen alle Südstaatler oder nur etwas gegen Südstaatler, die Diebe nicht ertragen?« Inzwischen war Billy wieder auf den Füßen. Er hatte die beiden andern Burschen für einige Augenblicke aus den Augen verloren. Plötzlich sah er sie durch das Gras rennen. Sie rasten von hinten auf Charles los, jeder einen Ast schwingend.
»Hinter dir!« schrie Billy.
Charles wirbelte herum. Der eine der Angreifer versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf. Das Holz war morsch und zerbrach. Doch durch die Wucht des Schlags fiel Charles gegen Oral, der ihm das Messer mühelos entwand. Oral grinste hämisch, machte einen Schritt zur Seite, packte Charles am Hemdkragen und holte mit der andern Hand aus, um das Messer in Charles’ Brust zu bohren.
Voller Entsetzen warf sich Billy von hinten auf Oral. Das Messer sauste um Haaresbreite an Charles’ Kopf vorbei.
Billy zerrte Oral zu Boden. Charles langte nach der nächstbesten Waffe, seiner Fischerrute, und warf die Leine nach den beiden andern Jungen aus, die eben wieder angreifen wollten, jetzt aber gleich zurückwichen.
Das Langgesicht war inzwischen wieder auf den Füßen und drohte mit einem spitzen Stein. Eine schnelle Reaktion von Charles, und der Angelhaken bohrte sich in den Nacken von Langgesicht. Charles riß die Angel mit einem scharfen Ruck zurück und hielt die Leine mit dem Daumen fest. Der Haken saß fest. Das Langgesicht schrie auf.
Unterdessen wälzte sich Billy hin und her, während Oral auf seiner Brust kniete. Oral war zäh, stark und entschlossen, ihm die Kehle durchzuschneiden. Billy warf den Kopf nach rechts, gerade bevor das Messer an seinem linken Ohr vorbei in den Boden sauste.
»Du weißer Hurensohn«, keuchte Oral und stieß ihm das Knie in den Unterleib.
Billy wurde eine Sekunde schwarz vor Augen. Der Schmerz verlangsamte sein Reaktionsvermögen, und er wußte, daß er dem nächsten Stich nicht würde ausweichen können. Langsam zog Oral das Messer hoch, feierlich wie ein heidnischer Priester vor dem Opfertier.
Die lange Klinge glänzte im Sonnenlicht. Doch dann verschwand das Messer plötzlich aus Orals Hand. Oral riß den Mund auf und fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht seitwärts ins Gras. Mit einer eleganten Bewegung zog Charles das Messer aus Orals rechtem Oberschenkel.
Obwohl er schwer atmete, schien Charles vollkommen ruhig und gefaßt, als er den Dörflern mit einem überlegenen Grinsen sagte: »Jungs, macht euch aus dem Staub, bevor wir euch umbringen. Und wenn ihr jemals wieder meinem Freund oder mir auf der Straße begegnet, so macht kehrt und geht in die entgegengesetzte Richtung. Dies war nur der Anfang.«
Er setzte den rechten Stiefel auf einen Baumstumpf und stützte den Ellbogen aufs Knie. Die beiden unverletzten Angreifer zogen Oral zur Hecke, wobei er Blutspuren im Gras hinterließ.
Billy nahm sein eigenes Messer, um die Leine durchzuschneiden. Der Langgesichtige, dem immer noch der Haken im Nacken steckte, stand starr.
Charles schwang das Messer, das in der Sonne aufblitzte. »Verschwinde!« Das Langgesicht rannte davon.
Erst jetzt atmete Billy auf. »Warum, zum Teufel, haben sie Streit gesucht?«
»Weil ich eine Angel und einen Fischkorb besitze, die sie haben wollten. Weil sie meine Sprache oder meine Herkunft nicht mochten – « Er zuckte die Achseln. »Der menschlichen Bosheit sind keine Grenzen gesetzt. Egal, wir haben’s überstanden. Wir sind ein gutes Team. Vielen Dank für Ihre rechtzeitige Hilfe, Mr. Hazard.«
Billy lächelte weniger selbstsicher als sein Gefährte. »Nicht der Rede wert, Mr. Main. Ich wünschte, ich könnte kämpfen wie Sie. Ich habe Todesängste ausgestanden.«
»Glaubst du, ich nicht? Meine Knie fühlten sich an wie Gummi.«
»Aber man hat es nicht gesehen.«
»Um so besser. Wenn der Gegner nicht merkt, was in dir vorgeht, wird er nervös und fängt an, Fehler zu machen. Das hab’ ich von Orry gelernt.«
»Vielleicht sollte ich auch etwas Unterricht nehmen«, sagte Billy, als sie ihre Sachen zusammenräumten.
»Aber dann müßtest du ja erklären, weshalb.« Charles wurde wieder ernst. »Ich persönlich möchte diese kleine Affäre geheimhalten. Orry, Tante Clarissa und Onkel Tillet glauben, daß ich über diese Art von Rauferei hinausgewachsen bin. Ich möchte ihre Illusion nicht zerstören.« Er streckte die Hand aus: »Abgemacht?«
»Abgemacht.«
Billy ergriff die Hand, um den Geheimbund zu besiegeln. Zum erstenmal hatte er das Gefühl, daß Charles Main sein Freund war.
Das Geheimnis blieb jedoch nicht lange geheim.
Zwei Tage später gingen Ashton und ihre Schwester zum Strand, wo Billy und Charles ausgestreckt im warmen Sand lagen.
Ashton ruhte etwas weiter weg in einer Liege unter einem riesigen, gestreiften Sonnenschirm. Sie trug ein leichtes lila Sommerkleid, das die Brise auf ihre sich entwickelnden Brüste preßte. Die Wirkung war so aufreizend, daß Billy wegblicken mußte.
Er dachte fast permanent an Ashton. In seinen Tagträumen war sie immer nackt. Die Sommerhitze schien solche Phantasien noch zu fördern. Da waren sie also: zwei junge Männer und zwei junge Mädchen, ohne Anstandsdame, an ein und demselben Strand.
Billy glaubte nicht, daß dies rein zufällig war. Brett, der Quälgeist, folgte ihm überall hin. Wahrscheinlich hatte sie ihre Schwester so lange beschwatzt und umschmeichelt, bis sie mit ihr an den Strand gekommen war. Doch leider interessierte sich Ashton nicht für Billy; die meiste Zeit über benahm sie sich so, als ob er Luft wäre.
Er kniete sich hin, begann, eine Sandburg zu bauen, und preßte ein Gemisch aus Wasser und Sand aus seiner Faust heraus, um die Türme zu formen. Er war etwa zehn Minuten damit beschäftigt gewesen, als plötzlich ein Schatten auf das Gewirr von Türmen und Wällen fiel. Brett stand da und nestelte an einem ihrer Zöpfe herum.
»Hallo, Billy.«
»Hallo.«
Sie war zwar nicht häßlich, obwohl die Sommersprossen, die durch die Sonne nur noch dunkler wurden, nicht zu übersehen waren. Da sie so jung war, war sie flach wie ein Brett. Aber das war nicht das einzige an ihr, das ihn ärgerte.
»Ich habe gehört, daß du dich gerauft hast«, sagte sie.
Er machte eine nervöse Handbewegung und schmiß einen Turm um. »Wer sagt das?«
»Gestern bin ich in den Laden gegangen, um etwas Süßholz zu kaufen, und dort erzählte ein Junge, er sei neulich von zwei Raufbolden angegriffen worden.«
»Kennst du den Jungen?«
Brett schüttelte den Kopf.
»Wie sah er aus?«
»Er hatte blondes, fast weißes Haar. Auf seinem Nacken klebte ein schmutziges Pflaster.« Sie zeigte ungefähr die Stelle an, an der Charles den Angelhaken beim Langgesichtigen plaziert hatte.
»Und?«
»Ich hab’ mir die Süßigkeiten angeschaut, bis er mit seiner Geschichte zu Ende war. Er sagte, die Raufbolde seien Sommergäste gewesen. Als er sie beschrieben hatte, war ich sicher, daß es um dich und um Charles ging.«
Billy blickte an ihr vorbei. Ashton ruhte immer noch und würdigte ihn keines Blickes. Verflixt noch mal.
»Du mußt dich geirrt haben, Brett.«
»Um Himmels willen, beiß mir nicht gleich den Kopf ab. Ich weiß, daß du es warst.« Sie sah ihn ernst an. Es ärgerte ihn, und er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Du wirst in Schwierigkeiten geraten, wenn du dich mit Vetter Charles herumtreibst«, fuhr sie fort. »Ich weiß, er ist zwar hübsch und lustig, aber er ist zu sehr auf Streit aus. Er hat einen schlechten Einfluß auf dich.«
Billy warf ihr einen finsteren Blick zu. »Verdammt noch mal, gibst du deine Meinungen immer ungefragt ab?«
»Fluchen solltest du auch nicht.«
Er sprang auf und gab der Sandburg einen Tritt. »Wenn ich deinen Rat brauche, werde ich dich danach fragen. In der Zwischenzeit verbiete ich dir, etwas Böses über Charles zu sagen. Er ist mein Freund.«
Verwirrt sah sie zu, wie er davonstürmte und dem Sand Fußtritte gab. »Ich wollte dir ja bloß helfen. Ich wollte dir bloß ehrlich sagen – «
Der Satz wurde nie zu Ende gesprochen. Sie zog so stark an ihrem Zopf, daß es weh tat. Billy mißverstand sie in allem. Er verstand nicht, daß sie ihm nachlief, weil sie ihn verehrte; daß sie ihn warnte, weil sie ihn gern hatte. Er konnte, genau wie all die andern Jungen, nicht mit Mädchen umgehen, die ehrlich waren.
O ja, sie wußte, daß sie oft schroff mit ihm war, aber das kam daher, weil sie nervös war. Weil sie ein Sehnen verspürte und es nicht auszudrücken verstand. Weshalb konnte er nicht hinter ihre Worte, in ihre Augen und ihre Seele sehen? Weshalb konnte er nicht herausfinden, woran sie den ganzen Tag dachte und worüber sie die ganze Nacht weinte? Weshalb verstand er nicht?
Sie bemerkte, wie er seine Schritte vor dem riesigen, gestreiften Sonnenschirm verlangsamte. Nun hatte sie die Antwort auf all ihre verzweifelten Fragen. Billy verstand sie nicht wegen Ashton.
Ashton war eine Expertin im Umgang mit Jungen. Sie schlug mit der ihr eigenen vornehmen Art die Augen auf, und jeder Junge schmolz dahin. Sie war immer mit der Meinung des Jungen einverstanden, und wenn sie wirklich etwas von ihm wollte, erreichte sie dies auf eine so liebenswürdige und geschickte Art, daß er nie den Verdacht hatte, manipuliert worden zu sein.
Sie hatte noch einen weiteren enormen Vorteil: Sie war älter, beinahe eine Frau.
Brett, die wütend auf Billy, aber noch wütender auf sich selbst war, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte in der entgegengesetzten Richtung los. Haßerfüllt preßte sie die Handfläche gegen ihren flachen Busen, bis es weh tat.
Oh, Billy, Billy, dachte sie. Du wirst nie sehen, wer ich wirklich bin. Du wirst nie verstehen, wie sehr ich dich liebe.
Ashton war, noch während sich Billy mit ihrer Schwester unterhielt, aufgewacht. Sie wußte, daß Brett Billy verehrte, aber sie hatte ihre jüngere Schwester noch nie so direkt und gefühlvoll mit ihm reden sehen. Man konnte den bettelnden Ausdruck auf Bretts Gesicht sogar von weitem sehen.
Arme Kuh, dachte Ashton. Brett hatte keine Ahnung, was das Wort Liebe wirklich bedeutete. Ashton hingegen schon; sie hatte es schon dreimal erfahren. Doch bei keiner dieser drei Erfahrungen war ihr Liebhaber dieser langweilige Huntoon gewesen.
Das erstemal war es schrecklich gewesen, das zweitemal etwas weniger. Sie hatte beide Male kein körperliches Vergnügen bei ihrem Partner finden können, einem jungen Mann der Smith-Familie, der etwa in ihrem Alter und völlig unerfahren war. Nicht, daß es auf die Erfahrung angekommen wäre – Angst und Neugier hatten sie damals verspannt.
Sie war sicher, daß der Junge an ihrer Unfähigkeit, etwas zu fühlen, schuld war. Wenn sie andern Mädchen glauben konnte, die ein bißchen älter als sie waren, mußte Liebe etwas Herrliches sein. Beim drittenmal zeigte sich, daß die andern Mädchen recht hatten: Das Erlebnis war wie eine Offenbarung. Es geschah an einem dunklen, regnerischen Tag in Charleston. Gerade als die Dämmerung hereinbrach und das Gewitter vorbei war, hatte Ashton sich davongeschlichen. Die Straßen waren praktisch menschenleer. Der Mann, den sie zufällig traf, war ein Matrose, grobschlächtig und gute fünfzehn Jahre älter als sie. Sie gingen eine Weile spazieren. Dann willigte sie mit vor Erregung und Angst klopfendem Herzen ein, ihn zu einem schäbigen Gasthof am Fluß zu begleiten. Sie war sich wohl darüber im klaren, daß irgend jemand sie erkennen könnte, aber die Erregung war so stark, daß sie auf keinen Fall umkehren wollte.
Etwa einen Block weit vom Gasthof fing es wieder zu regnen an, und ihr Hut wurde naß. Sie hielt an, um ihn abzunehmen und um sich im Schaufenster eines Trödlerladens zu betrachten.
Die ausgestellte Ware war Tand, einschließlich des Kettchens mit dem Medaillon, auf das ihr Blick gefallen war. Der Matrose war ungeduldig, und es kam ihr plötzlich in den Sinn, seine Geduld auf die Probe zu stellen. Sie deutete auf das Kettchen mit dem Medaillon und machte ihm umständlich und mit einem süßen Lächeln klar, daß das Geschmeide der Preis für ihre Gunst sei. Der Matrose zögerte einen Augenblick und verschwand im Laden, und so entdeckte Ashton, wie leicht manipulierbar ein sexuell erregter Mann war.
Nachdem sie diese wertvolle Lektion gelernt hatte, steigerte sich ihr Vergnügen, als sie sich für den Matrosen in dem billigen Zimmer auszog und merkte, daß sie kaum Angst hatte. Im Gegenteil, sie war feucht und zitterte vor neugieriger Erwartung, als er sich auszog. Sein Organ war enorm; eine Welle der Erregung überflutete sie. Es dauerte nicht lange, bis sie stöhnend von einer Welle von Zuckungen, eine heftiger als die andere, überrascht wurde.
Niemand hatte sie auf einen solchen Genuß vorbereitet. Der ganze Akt war nicht nur ungeheuer praktisch, sondern man konnte ihn auch mit großer Lust genießen. Diese neue Erfahrung war fast zu viel für sie. Das Kettchen mit dem Medaillon warf sie bald weg, aber sie war tagelang glücklich.
Ashton, mit ihrem Erfahrungsvorsprung, bemitleidete ihre dünne, naive, kleine Schwester. Doch jetzt war sie plötzlich auch eifersüchtig auf sie. Ashton machte sich überhaupt nichts aus Billy Hazard, aber sie erwartete von jedem jungen Mann, der ihr über den Weg lief, daß er ihr, und nur ihr, den Hof machte. Obwohl Brett als ernsthafte Rivalin nicht in Frage kam, konnte sie schon jetzt keine Art von Rivalität dulden – und ihre Schwester als Nebenbuhlerin war schlicht undenkbar. Als Billy wütend durch den Sand gestapft kam, war Ashton hellwach und setzte ihr süßestes Lächeln auf.
Sie rief ihn beim Namen und winkte ihm zu. In Sekundenschnelle lag er ihr zu Füßen. »Ich dachte, du schläfst«, sagte er.
»Mit der Zeit wird es langweilig. Wir haben so wenig Gelegenheit gehabt, uns kennenzulernen. Wollen wir nicht ein wenig plaudern?«
»Ja, natürlich. Sofort.«
Seine Fügsamkeit amüsierte sie. Er sah wirklich gut aus in seiner stämmigen, strammen Art. Vielleicht würde sie mehr tun, als ihn nur von Brett abhalten.
Eine Woche später, als sie auf dem Segelschiff waren, sagte Charles zu Billy: »Ich hab’ gesehen, wie du dich gestern abend wieder mit Ashton herumgetrieben hast. Auf der Beach Road. Kann mir gar nicht vorstellen, was dabei so faszinierend ist – es sei denn die Einsamkeit.« Billy lachte.
Billy lehnte sich über den Balken und spielte mit dem Wasser.
»Ich hätte nie geglaubt, daß sich Ashton mit einem Yankee einlassen würde.«
Die scherzhafte Bemerkung über Yankees war der Anlaß zu einem Gespräch über Themen, die in ihren Familien häufig diskutiert wurden. Der Anfang des Gesprächs verlief freundlich, doch bald unterhielten sich die Knaben mit der für ihr Alter typischen Heftigkeit.
»Es ist doch so«, sagte Charles, »daß die höchste Gewalt beim einzelnen Staat liegt.«
»Nicht bei der Union?«
»Auf keinen Fall. Die Union wurde durch Zustimmung der einzelnen Staaten geschaffen. Jeder Staat kann jederzeit seine Zustimmung zurückziehen.«
»Nein, Charles, das Ganze ist ein gesetzlicher Vertrag. Und wenn es in dem Vertrag keine Klausel gibt – «
»Wie gewählt du dich ausdrückst.«
»Laß mich ausreden«, sagte Billy ärgerlich. »Ein Vertrag kann nicht rechtmäßig aufgelöst werden, wenn er keine entsprechende Klausel enthält. Was den Unionsvertrag betrifft, so enthält er keine solche Klausel.«
»Du redest wie ein Rechtsanwalt aus Philadelphia. Es geht ja nicht um eine Vereinbarung zwischen Hausierern. Es geht um einen Pakt zwischen der Regierung und den Bürgern. Das ist etwas ganz anderes. Ich bleibe dabei, daß jeder Staat jederzeit das Recht hat, sich zurückzuziehen.«
Das Segel wurde schlaff. Als Billy ihren Kurs korrigierte, knurrte er: »Das würde ins Chaos führen.«
»Nein, Sir – nur zum Ende einer Tyrannis der Union. Da hast du noch einen weitern gewählten Ausdruck für deine Sammlung.« Er spie die Bemerkung förmlich aus. Billy konnte sich nicht daran erinnern, seinen Freund jemals so heftig und humorlos erlebt zu haben. Er versuchte, der Situation den Ernst zu nehmen, indem er lächelte und sagte: »George sagte mir, daß ihr Südstaatler gerne streitet. Er scheint recht zu haben.«
»Die Südstaatler lieben die Freiheit«, gab Charles zurück. »Und sie lieben sie so sehr, daß sie nicht zusehen können, wie sie langsam zerbröckelt.«
Über dem Meer ertönte ein Donnergrollen. Billy preßte die Lippen zusammen. Charles’ Spott machte ihn plötzlich wütend.
»Du sprichst natürlich von der Freiheit der Weißen.«
Billy wußte, daß er zu weit gegangen war, aber er würde um keinen Preis nachgeben. Charles stierte ihn an und wollte etwas sagen. Dann sah er Sturzwellen am Horizont. Während ihrer Auseinandersetzung war ein Nordostwind aufgekommen.
»Es wird einen Sturm geben«, murmelte Charles. »Wir tun besser daran, zum Ufer zurückzugehen.«
»Einverstanden.«
Für den Rest des Tages gingen sie höflich miteinander um. Keiner entschuldigte sich, und die Diskussion wurde nicht fortgeführt. Sie ließen es einfach dabei bewenden. Langsam vergaßen sie den Streit. Doch in den Augenblicken, in denen sich Billys Phantasie nicht mit Ashton beschäftigte, erinnerte er sich an die Auseinandersetzung und stellte mit Erstaunen fest, daß sie einander beinahe angeschrien hatten. Noch vor zwei Jahren hatte er immer darüber gelacht, wenn Mitglieder seiner Familie sich wegen politischer Probleme in die Haare gerieten. Nun mußte er feststellen, daß er über genau diese Probleme nachdachte und Partei ergriff.
Aber genau das durfte er nicht tun, wenn ihm an Charles’ Freundschaft etwas gelegen war. Von da an enthielt er sich sorgfältig jeder Bemerkung, die eine Kontroverse hätte auslösen können. Charles legte die gleiche Zurückhaltung an den Tag.
Trotzdem hatte sich ihre Beziehung entscheidend verändert. Sie waren sich beide einer Kraft bewußt geworden, die ihre junge Freundschaft zerstören konnte. Obwohl sie beide vorgaben, sich darüber hinwegzusetzen, gelang es ihnen nicht. Die Kraft war immer da, bedrohlich wie der Sturm an jenem Nachmittag, an dem sie sich gestritten hatten.
Ashton führte ihn hinter einen Felsen, der wie ein zwei Meter hohes Ei auf dem Strand saß. Sie lehnte sich, abgeschirmt von beobachtenden Blicken, gegen den Felsen. Billy preßte die Beine zusammen und hoffte, sie würde den Grund dafür nicht erkennen.
Unter dem grauen Himmel grollte die See. Über ihnen das Geschrei von Möwen, die nach Fischen tauchten. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und warf einen Schatten voller Melancholie.
»Ich hasse es, daran zu denken, daß wir morgen abreisen müssen«, sagte sie.
Billy stützte sich auf beiden Seiten ihres Kopfes mit den Handflächen auf den Felsen, als wolle er sie für immer festhalten. Durch den kühlen Wind bekam er eine Gänsehaut auf den nackten Armen. »Ich werde einmal pro Woche schreiben«, versprach er.
»Oh, das ist herrlich.«
»Wirst du mir auch schreiben?«
Ihre roten Lippen glänzten, als sie lächelte. Sie runzelte leicht die Stirn. »Ich werde mir Mühe geben, aber ich werde diesen Herbst fürchterlich beschäftigt sein.«
Wie geschickt sie doch war! Sie gab etwas, hielt aber auch etwas zurück. Sie hielt gerade genug zurück, damit er nicht zufriedengestellt war. Sie tat es im kleinen, aber sie tat es mit ihrem ganzen Wesen. Manchmal haßte er sie dafür. Dann blickte er in ihre dunklen Augen und dachte an nichts anderes mehr, als daran, sie zu besitzen – zu welchen Bedingungen auch immer.
»Wirst du nächsten Sommer wieder hier sein?« fragte er.
»Ich hoffe. Es war so herrlich.«
Er war enttäuscht. »Ist das alles – herrlich?«
Sie starrte über sein nacktes Handgelenk auf das Meer. »Es wäre unanständig, wenn ich mehr sagte. Aber vielleicht findest du mich nicht undamenhaft, wenn ich dir meine Gefühle zeige.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mund. Dann schlängelte sich ihre Zunge zwischen seine Lippen. Billy wurde schwindlig. Von solchen Küssen hatte er bisher nur gehört.
Er fummelte an ihrer Taille und zog sie an sich, so daß sie ihn durch ihre Kleiderschichten hindurch fühlen konnte. Sie gab ein leises Stöhnen von sich. Ein Stöhnen der Freude, dachte er.
Wieviel Erfahrung hatte sie? Um dies herauszufinden – aber nicht nur deswegen –, glitt seine Hand aufwärts. Als er ihre Brust berührte, entwand sie sich ihm, rannte lachend zum Wasser hinunter und rückte ihre Frisur zurecht.
Er lief hinter ihr her, weil er befürchtete, daß er sie verärgert hatte. Aber das war nicht der Fall.
»Billy«, keuchte sie, den Blick dem Meer zugewandt, »so was dürfen wir nicht tun. Bei dir vergesse ich, was Anstand ist.«
Er fühlte sich geschmeichelt, war jedoch verwirrt. Er glaubte ihr nicht. Sie wußte genau, was sie tat. Sie wußte es immer. Das war ein Teil der fürchterlichen Faszination, die sie auf ihn ausübte. Aber das erschütterte ihn nicht lange. Er war zu sehr von der Erinnerung an ihre Umarmung gefesselt.
Ashton ebenfalls; das ärgerte sie. Sie hatte Billy manipuliert, bis zu dem Augenblick, da sie einander küßten. Da hatte er sich gegen sie geworfen, und sie hatte die Kontrolle verloren. Für einen kurzen Moment war sie wirklich verliebt gewesen. Doch das durfte nie geschehen. Sie – und niemals der Mann – mußte immer die Oberhand behalten.
Doch sie fühlte sich machtlos, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Als sie sich auf die Heimreise machten, schlang sie ihre Finger um seine Hand und preßte sie gegen ihren Rock. Sie lehnte ihren Kopf zur Seite, so daß ihre Schläfe seine Schulter berührte. Dann gurrte sie wie ein verliebtes Täubchen: »Ich werde dafür sorgen, daß wir nächsten Sommer mit Orry wieder hierherkommen. Ich möchte dich so gern wiedersehen, Liebling. Ich glaube, ich habe mir noch nie etwas sehnlicher gewünscht.«
27
Cooper ging zum Pier, um die Familie zu Hause zu begrüßen. Sobald sie sich von der Reise erholt hatten, wollte er ihnen mitteilen, daß Judith eine Familienzusammenkunft im Haus an der Tradd Street plante. Er war guter Stimmung, die unerwartete Ankunft von James Huntoon verdarb sie ihm jedoch.
Der junge Rechtsanwalt war von einem großen, pechschwarzen, etwa dreißigjährigen Mann begleitet. Cooper erkannte in ihm einen der wenigen Sklaven, die immer noch im Besitz der Familie Huntoon waren. Sein Name war Grady. Er gehörte der zweiten Generation der Ibos an; sein Vater war gegen 1810, zwei Jahre, nachdem der Kongreß die Einfuhr von Schwarzen verboten hatte, illegal aus Benin importiert worden; wahrscheinlich über Havanna und irgendeinen der Schlupfwinkel an der Küste von Florida. Cooper kam gelegentlich zu Ohren, daß der geheime Sklavenhandel immer noch existiere.
Man hatte Ibos als Sklaven nie besonders geschätzt, weil sie als Ausreißer bekannt waren. Die Huntoons hatten sichergestellt, daß Grady – sollte er jemals auf diesen Gedanken kommen – leicht identifiziert werden konnte: Man hatte ihm die vier oberen Schneidezähne gezogen. Es war nicht unüblich, Sklaven so zu kennzeichnen.
Grady grüßte Cooper höflich, viel höflicher als Huntoon.
»Ich habe Grady mitgenommen, um Ihrer Schwester mit dem Gepäck zu helfen«, erklärte der Rechtsanwalt. Er zeigte auf einige armselig gekleidete schwarze Männer, die in der Nähe standen. »Diese Nigger-Gepäckträger taugen nichts. Ich habe gesehen, wie sie absichtlich einen Koffer fallen ließen, weil der Besitzer ein Weißer war, sie aber als befreite Männer nicht bestrafen konnte.«
Cooper biß sich auf die Zunge. Was um Himmels willen mochte Ashton an diesem Idioten finden?
Der Dampfer wurde wegen irgendwelcher Schwierigkeiten noch eine halbe Stunde aufgehalten. Huntoon begann, gegen Clays Kompromißvorschläge zu wettern. Cooper hatte keine Lust auf eine Diskussion, aber der Rechtsanwalt ging ihm so sehr auf die Nerven, daß er bald mittendrin war. Sie diskutierten darüber, ob ein Staat das Recht habe, sich von der Union zu trennen – ein in letzter Zeit häufiges Gesprächsthema im ganzen Land.
Keiner der beiden konnte sich durchsetzen. Das einzige, was dabei herausschaute, war Verstimmung auf beiden Seiten. Huntoon wünschte sich die nötige körperliche Kraft – und den Mut –, um Cooper zu verdreschen. Aber das kämpferische Talent des Rechtsanwalts war rein verbaler Art, und er wußte es. Er mußte sich damit zufriedengeben, das letzte Wort zu behalten.
»Kein Wunder, daß Sie in der Oberschicht dieses Staates keinen einzigen Freund mehr haben.«
Der Dampfer legte an. Clarissa und Brett winkten und grüßten von der Reling her.
Mit einem Stirnrunzeln sagte Cooper zu Huntoon: »Haben wir in South Carolina eine Oberschicht? Ich hatte den Eindruck, daß wir seit der Revolution auf diese Einrichtung verzichtet haben. Was wird als nächstes wieder auferstehen? Die Idee der Plantagenbesitzer von Gottes Gnaden?«
Der kühle Sarkasmus versetzte den Rechtsanwalt in Rage. Doch Cooper war im Vorteil, denn seine ganze Familie beobachtete die beiden.
Als er in Richtung Gangway ging, die von schwarzen Schiffsjungen heruntergelassen wurde, erspähte er auf dem überfüllten Pier eine vertraute Gestalt: Huntoons Verwandter, Robert Rhett vom Mercury. In seiner Begleitung war ein Mann, auf den man Cooper gestern auf der Straße aufmerksam gemacht hatte, ein Politiker aus Georgia namens Bob Toombs – ein weiterer radikaler Verfechter des Südens.
Toombs und Rhett gingen Arm in Arm. Als sie Cooper erblickten, verschwand ihr Lächeln. Cooper grüßte sie, doch keiner der beiden gab eine Antwort. Sie rauschten an ihm vorbei, geradewegs auf Huntoon zu, schüttelten ihm die Hand und begrüßten ihn so laut, daß es Cooper hören mußte.
Ashton bemerkte, wie Rhett und sein Begleiter ihren Bruder schnitten. Sie war ungern nach Charleston zurückgekehrt, weil es bedeutete, daß Huntoon sie wieder belästigen würde. Und da war er auch schon, der arme Tropf. Er hatte sogar seinen gutaussehenden Nigger mit den fehlenden Zähnen mitgenommen.
Wie weich Huntoon im Vergleich zu Billy Hazard aussah. Wie schwächlich, mit seiner in der Sonne glänzenden Brille. Und doch war sie von der herzlichen Begrüßung, die Rhett dem jungen Rechtsanwalt zuteil werden ließ, beeindruckt.
Ihr Vater deutete auf Rhetts Begleiter: »Das ist Bob Toombs aus Georgia.« Er schien beeindruckt. Sie mußte mehr über den Fremden herausfinden. Sie hatte in letzter Zeit darüber nachgedacht, was es bedeutete, eine Main aus South Carolina zu sein; was es bedeutete, wohlhabend, berühmt, mächtig – und ein Freund der Mächtigen zu sein. Der Unterschied trat zusehends klarer und deutlicher zutage, als ihr bewußt wurde, was es hieß, machtlos zu sein und abseits zu stehen, wie dies eben mit ihrem Bruder der Fall gewesen war.
Macht war seit jeher die Triebfeder in ihrer Beziehung zu Brett gewesen. Ashton wußte sehr wohl, daß sie ein tiefes, wenn auch zum Teil unerklärliches Bedürfnis hatte, immer die Hauptrolle zu spielen. Jetzt verspürte sie plötzlich dieses Bedürfnis gegenüber der Gesellschaft. Auch dort wollte sie diejenige sein, die die Befehle erteilte – und sie wollte als solche anerkannt werden.
Als sie an der Reling stand, wurde ihr nicht nur dieses neue Ziel bewußt, sondern sie erkannte auch, daß sie in ihrem Verhalten berechnender werden mußte, wenn sie dieses Ziel erreichen wollte. Huntoon hatte Beziehungen. Das durfte sie nicht vergessen, was auch immer sie persönlich von ihm hielt. Billy – das war ein Sommer. Huntoon – das war die Zukunft.
Als die Mains den Dampfer verließen, richtete sie es ein, daß ihr Vater sie am Arm nahm, weil sie wußte, daß er geradewegs auf Rhett und die andern zugehen würde. So war es auch. Als sie vor Huntoon stand, begrüßte sie ihn mit einem kühnen Kuß auf die Wange.
»James! Ich hab’ dich ja so vermißt.«
»Wirklich? Wie schön.«
Eine Lüge, aber das dachte sie bloß. Sie war mit sich selbst zufrieden, weil sie allen gezeigt hatte, wo ihre Interessen und ihre Loyalität lagen. Sollte doch Brett auf Cooper zurennen und ihn umarmen, wie sie das eben tat. Brett war keine Gefahr für sie, sie zählte sowieso nicht.
Eines frühen Oktoberabends sagte Constance in Belvedere zu George: »Liebling, erinnerst du dich noch an den Schuppen hinter der Fabrik?«
Er legte das Blatt, auf dem er eben geschrieben hatte, zur Seite. Er war dabei, einen Plan für eine rasche Expansion des Walzwerks zu entwerfen. Im September hatte die Bundesregierung den Eisenbahngesellschaften zum erstenmal öffentliches Land zur Verfügung gestellt, um den Bau von neuen Linien zu fördern. George zahlte einem Rechtsanwalt in Washington jeden Monat eine beträchtliche Summe; dafür wurde er über Entscheidungen, die den Eisenhandel betrafen, vorzeitig informiert. Der Rechtsanwalt hatte ihm vorausgesagt, daß auch im Westen und Süden mit solchen Beihilfen zu rechnen sei. Für George bedeutete dies einen Aufschwung im Eisengeschäft für die nächsten zehn, möglicherweise zwanzig Jahre.
Er hatte bemerkt, daß Constance, bevor sie die Frage stellte, eine Weile geschwiegen hatte. Es mußte etwas Wichtiges sein.
Es war still im Raum und im Haus. Die goldene Wanduhr tickte. Es war schon nach zehn. Er stand auf und reckte sich. »Der Schuppen, in dem wir früher Werkzeug aufbewahrten?« fragte er nickend. »Was ist damit?«
»Dürfte ich ihn benutzen?«
»Wozu?«
Sie gab keine direkte Antwort. »Ich würde ihn nicht oft brauchen. Aber ich möchte, daß du weißt, was dort geschehen könnte.«
»Gott im Himmel, was für eine Geheimniskrämerei. Was ist los?«
Er lächelte, aber sie runzelte die Stirn und schien über seine Reaktion bekümmert. Sie eilte auf ihn zu.
»Ich zeig’s dir. Komm mit.«
»Wohin?«
»Zum Schuppen.«
»Jetzt?«
»Ja, bitte.«
Wenige Minuten später stiegen sie eine steile Straße hinter der Fabrik hinauf. Die Nacht war kühl, der Himmel hell. Der Schuppen war im Sternenlicht klar zu sehen.
George hielt plötzlich inne. Durch eine Ritze in der Bretterwand war ein heller, gelber Lichtstreifen zu sehen.
»Da ist jemand drin.«
»Ja, ich weiß.« Sie nahm seine Hand. »Es besteht keine Gefahr. Komm!«
»Du weißt Bescheid«, fragte er, als sie ihn mitzog. »Würdest du die Güte haben, mir zu erklären, was das alles zu bedeuten –«
»Mr. Beizer«, flüsterte sie, als sie vor der Schuppentür angekommen waren. »Es ist Constance. Sie müssen die Laterne umstellen. Man kann sie von draußen sehen.«
Das Licht verschwand. Beizer war ein Ladenbesitzer aus dem Dorf, ein Quäker. Was um Himmels willen tat er hier oben? Die Tür wurde geöffnet, und George erblickte den mageren, nervösen Kaufmann. Hinter ihm erspähte er eine zweite, in alte Leintücher gehüllte Gestalt, deren Aussehen ihn zutiefst erschreckte und ihm alles erklärte.
Der junge Mann war wahrscheinlich noch nicht einmal zwanzig, aber er war so verängstigt und ausgemergelt, daß er doppelt so alt aussah. Seine Haut war bernsteinfarben.
»Wir hatten keinen andern Ort, an dem wir ihn hätten verstecken können«, sagte Beizer zu George. »Er kam heute früh zu meinem Haus, aber es wird langsam gefährlich für mich, äh… Reisende aufzunehmen. Es wissen zu viele von meiner Tätigkeit. Der Junge mußte unbedingt heute nachmittag in Sicherheit gebracht werden, denn ein Vertreter des neuen Distriktkommissars ist in Lehigh Station angekommen.«
Beizer bezog sich auf den Bundesbeamten, der für die geflohenen Sklaven zuständig war. Präsident Fillmore hatte das Gesetz am 18. September unterzeichnet, und der Verwaltungsapparat zu seiner Einhaltung lief bereits auf Hochtouren.
Der Ausreißer schniefte und nieste dann zweimal. George war immer noch verblüfft und wandte sich seiner Frau zu. »Wie lange befaßt du dich schon mit dieser Tätigkeit?«
»Mr. Beizer hat mich im Frühling darauf angesprochen. Seither habe ich ihm geholfen.«
»Weshalb hast du nichts gesagt?«
»Sei nicht böse, George. Ich wußte nicht, wie du darauf reagieren würdest.«
»Aber du weißt, was ich von der Sklaverei halte. Wenn man hingegen das neue Gesetz zu umgehen oder gar zu verhindern versucht, so ist das ein schweres Vergehen. Wenn man dich dabei erwischt, würdest du wahrscheinlich im Gefängnis landen.«
Constance deutete auf den zitternden Jungen. »Und wohin geht er, wenn er erwischt wird? Geradewegs zurück nach North Carolina; zurück zu weiß Gott welcher Art brutaler Bestrafung.«
»Was hat dich veranlaßt, dich da einzumischen?«
»Weil die Sklavenbesitzer nun sämtliche Vorteile für sich haben. Die Bundesbeamten sollen zwar bei der Beurteilung der einzelnen Fälle neutral sein, aber sie bekommen für jeden Sklaven, den sie zurückschicken, zehn und für jeden, den sie nicht zurückschicken, fünf Dollar. Neutral? Daß ich nicht lache!«
»Es war eine Kompromißlösung«, entgegnete George.
Beizers Stimme klang beinahe scharf, als er sagte: »Sie können es nennen, wie Sie wollen, Mr. Hazard, aber das neue Gesetz ist und bleibt eine Beleidigung Gottes und des nationalen Gewissens. Constance, es tut mir leid, wenn ich Uneinigkeit zwischen Sie und Ihren Mann gebracht habe. Ich glaube, wir haben ihn falsch eingeschätzt. Ich werde versuchen, für Abner einen andern Platz zu finden.«
Betroffen antwortete George: »Einen Augenblick!« Die andern sahen ihn an. »Ich habe nicht nein gesagt, oder?«
Der Zorn in den Augen seiner Frau machte wieder Hoffnung Platz. Sie rannte zu ihrem Mann. »Alles, was wir brauchen, sind einige Vorräte, ein paar Decken, einen Riegel für die Tür und ein oder zwei Schilder mit ›Kein Zutritt‹, um die Leute fernzuhalten. Sollte ich darüber hinaus noch Geld brauchen, werde ich es dir sagen. Ansonsten brauchst du dir keine Sorgen zu machen über das, was hier vor sich geht.«
»Keine Sorgen über Fluchtverstecke auf meinem Grundstück? Ich bin nicht einverstanden.« Er nagte an seiner Unterlippe. »Weshalb um alles in der Welt braucht ihr gerade diesen Ort?«
Beizer antwortete: »Der Ort ist abgelegen und kann leicht vom Wald aus erreicht werden. Die Leute können gefahrlos hier übernachten und nach Kanada weiterfliehen.«
Etwa fünfzehn Sekunden lang starrte George den schniefenden, unterernährten Flüchtling an. Er wußte, daß er keine Wahl hatte.
»Na gut, aber ich muß zum Schutz aller Beteiligten einige Bedingungen – «
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Constance warf sich ihm in die Arme und küßte ihn, während Beizer Abner einige beruhigende Worte zuflüsterte. Abner grinste und bekam erneut einen Niesanfall.
George war stolz auf Constance. Sie zogen Maude ins Vertrauen. Alle drei waren sich darüber einig, daß sonst niemand in der Familie etwas vom Fluchtversteck erfahren durfte. Stanley und Isabel würden Einwände erheben, weil Stanley keine Schwierigkeiten haben wollte. In letzter Zeit verbrachte er bloß zwei oder drei Tage pro Woche zu Hause und machte den Rest der Zeit neuen Freunden in Harrisburg oder Philadelphia seine Aufwartung.
In der Demokratischen Partei des Staats war ein Machtkampf zwischen Stanleys Freund Cameron und dem Parteivorsitzenden Buck Buchanan aus Lancaster ausgebrochen. Nachdem er Polks Staatssekretär gewesen war, hatte sich Buchanan 1848 für das Amt des Präsidenten nominieren lassen wollen. Für seinen Mißerfolg gab er Cameron und dessen Machenschaften die Schuld. Die beiden Männer stellten einander nun öffentlich bloß. Stanley stellte sich hinter Cameron, was George unklug fand.
Aber wer konnte in einer Zeit, in der sich politische Gepflogenheiten innerhalb einer Partei sowie die Parteien selbst über Nacht veränderten, schon seiner Sache sicher sein? Vor kurzem war eine neue politische Gruppierung aufgetaucht, die Freie-Boden-Partei, eine Koalition von Demokraten, früheren Mitgliedern der Freiheitspartei und einigen Radikaldemokraten. George schien es, als wollte diese Partei das Kind mit dem Bade ausschütten. Sie wehrte sich nämlich vehement gegen die nationale Expansion, wenn diese zur Sanktionierung der Sklaverei in den neuen Territorien führen sollte. Virgilia besuchte jede Versammlung der neuen Partei innerhalb des Staats, das heißt jede, bei der Frauen als Beobachterinnen zugelassen waren. Sie schrieb lange Bittschriften, in denen sie eine aktive Beteiligung der Frauen forderte.
Die drei Verbündeten waren sich darüber einig, daß auch Virgilia nichts vom Fluchtversteck erfahren durfte. Sie würde zwar nichts dagegen haben, aber sie könnte das Geheimnis verraten. Und in den Hazard-Werken arbeiteten immer noch viele Männer, die die Schwarzen haßten, weil sie fürchteten, die freien Schwarzen würden ihre Arbeitsplätze gefährden. George wußte, daß dieser Haß von keiner Regierung mit Gesetzen – und schon gar nicht mit einem Appell an die Menschlichkeit – abgeschafft werden konnte, weil er in der Angst und Irrationalität wurzelte. Es würde noch mindestens eine Generation dauern und viel Aufklärung benötigen, bevor diese negativen Einstellungen für immer aus dem Weg geräumt waren.
»Ich glaube nicht, daß es klug wäre, deinen Freunden im Süden davon etwas zu sagen«, meinte Constance.
George runzelte die Stirn. »Du sagst das so, als ob mit ihnen etwas nicht ganz in Ordnung wäre. Ich hatte geglaubt, sie wären auch deine Freunde.«
»Oh, ja, natürlich«, sagte sie hastig. »Aber ich stehe den Mains nicht so nahe wie du. Wenn man mich vor die Wahl stellte, es entweder Orry recht zu machen oder Joel Beizer zu helfen, würde dir mein Entscheid vielleicht nicht ganz passen.«
Er wußte, daß sie ihn weder verärgern noch provozieren wollte. Sie war ehrlich, und doch irritierten ihn ihre Worte. Maude bemerkte dies und befaßte sich mit ihren Händen.
»Weshalb sagst du das«, fragte George nicht ohne Schärfe. »Du wirst niemals vor eine solche Wahl gestellt werden.«
Aber er war sich nicht so sicher, und diese nagende Ungewißheit war der eigentliche Grund seiner Besorgnis und seiner Gereiztheit.
28
Charles hielt den Gegenstand hoch, den er geschnitzt hatte. Er zeigte mit der Spitze seines Jagdmessers auf eine lange Rinne, die er aus dem Holz herausgeschnitzt hatte. »Ein Kanu, wie wir es in Carolina haben. In Louisiana nennt man es, glaube ich, eine Piroge.«
Der vierjährige Laban Hazard saß auf der Vordertreppe von Fairlawn zu Charles’ Füßen. Der Knabe verehrte Charles und hatte ein ganzes Jahr darauf gewartet, ihn wiederzusehen. Die Mains waren am Vormittag in Newport angekommen.
Labans Zwillingsbruder tauchte mit einem Reifen an der Hausecke auf. Er zeigte mit dem Finger auf das Boot. »Für Laban?«
Charles nickte.
Levi machte eine saure Miene. »Ich will eins.«
Charles grinste. Levi schien das Temperament seiner Mutter geerbt zu haben. »Einverstanden«, sagte Charles. »Sobald ich mit dem hier fertig bin.«
Levi schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Mach meins zuerst.«
Charles richtete das Messer auf ihn. »Sei du mal manierlich, Mr. Yankee. Sonst steck’ ich dich auf einen Spieß und servier’ dich zum Abendessen.«
Er sagte es im Spaß, aber Levi schrie und ergriff die Flucht. Laban lachte und lehnte sich an das Knie des von ihm verehrten Helden. Billy kam aus dem Haus.
»Der Kavalier geht schon so früh aus?« fragte Charles. »Die Mädchen werden noch nicht einmal ausgepackt haben.«
Billy ignorierte ihn und nestelte an seiner Krawatte herum. Charles stieß einen Pfiff aus.
»Oho, sieh mal einer an. Ich kann mich nicht erinnern, dich letzten Sommer so schick gesehen zu haben. Wenn das nicht Liebe ist!«
Billy grinste. »Zum Teufel mit dir. Laban, sag deinem Vater nicht, daß ich vor dir geflucht hab’.« Und weg war er. Auf halbem Weg rannte er los. Er machte einen Satz über die Ziegelsteinmauer, so daß die Maurer, die wieder einmal am Ausbessern waren, ihm verdutzt nachblickten.
In jenem Frühling hatten sich bei Brett Main erste Anzeichen von Weiblichkeit gezeigt. Wird er es bemerken, fragte sie sich, als sie sich im Spiegel betrachtete und versuchte, ihren kleinen Busen etwas zu vergrößern, indem sie ihr Kleid und ihre Unterwäsche straffzog.
Voller Freude rief Ashton hinter ihr: »Ach Gott, er ist schon hier. Ich höre ihn mit Orry reden.«
Sie sauste wie ein Pfeil die Treppe hinunter. Brett war nur ein paar Schritte hinter ihr. Aber es nützte nichts. Als Brett in der Hälfte der Treppe war, hatte Orry das Wohnzimmer verlassen, und Billy und Ashton rannten aus dem Haus, ohne sich auch nur einmal nach ihr umzudrehen.
Langsam ging sie den Rest der Treppe hinunter. Eine Hand legte sich ihr von hinten auf die Schulter. Sie stieß einen gellenden Schrei aus.
»Papa!«
»Ich dachte, du würdest dich ausruhen, kleines Fräulein.«
Tillet bemerkte eine Träne auf ihrer Wange. Mit einem leisen Stöhnen und einem Krachen der Kniegelenke setzte er sich auf die unterste Treppenstufe und zog sie neben sich. Er legte ihr den Arm um die Schulter.
»Warum so unglücklich?«
»Ach, Billy Hazard, er ist der aufgeblasenste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich wollte ihm guten Tag sagen, aber er hat mich nicht mal angeschaut.«
»Sei nicht zu hart mit dem Burschen. Er ist in deine Schwester vernarrt. Ich glaube, es ist gegenseitig.«
»Sie kriegt immer alles, was sie will! Sie wird ihn auch bekommen, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Sie sind beide noch ziemlich jung, um schon Heiratspl… Kleines Fräulein, komm zurück, ich wollte dir nicht wehtun.«
Aber sie war schon nach oben gerast und brach in lautes Klagegeheul aus.
Billy und Ashton gingen geradewegs zum Felsen, bei dem sie sich letzten Sommer geküßt hatten. Von dem Augenblick an, da Ashton Billys Arm um sich spürte und den süßen, scheuen Druck seiner Lippen, verflogen sämtliche praktischen Überlegungen.
Wieviel Zeit hatte sie doch mit all jenen tiefschürfenden Plänen verschwendet, die sie im vergangenen Jahr geschmiedet hatte, nachdem sie vom Dampfer aus gesehen hatte, wie Mr. Bob Rhett ihren Bruder geschnitten hatte. Sowohl die Pläne als auch der pathetische Huntoon waren jetzt vollkommen vergessen. Sie würde Billy heiraten und sonst niemanden.
Das ließe sich jedoch sehr hübsch in ihr langfristiges Schema einbauen. Die Hazards waren zwar Yankees, aber reich und berühmt. Sie mußte mit Billy über ihre ehrgeizigen Absichten reden. Aber nicht jetzt. Alles, was sie jetzt wollte, war, sich der Liebe und ihm genüßlich hinzugeben.
Sie drückte sich so fest an ihn, daß er ihre Brüste spüren mußte. »Ich hätte nie geglaubt, daß ich jemanden so vermissen könnte. Ich bin fast gestorben, als ich wochenlang auf deine Briefe wartete.«
»Ich bin nicht gut im Briefeschreiben. Auf einen, den ich abschicke, kommen zehn, die ich zerreiße.«
»Das kannst du jetzt gutmachen, Liebling. Küß mich und hör erst damit auf, wenn ich die Sinne verliere.«
Er kam der Aufforderung mit Begeisterung nach.
Im Sommer 1851 wiegten sich die beiden Familien und die Nation in einem trügerischen Frieden. Die meisten Amerikaner waren vom Krieg und dem Gerangel um die Sklavenfrage erschöpft. Auch wenn der Kompromiß von 1850 keine Dauerlösung herbeigeführt hatte, waren die meisten Leute damit zufrieden. Auf beiden Seiten blieben jedoch einige hartnäckige Mahner, die behaupteten, daß sich wenig verändert habe und nichts gelöst worden sei; auch ein von einem Verband verdecktes Krebsgeschwür blieb ein Geschwür. Aber all die James Huntoons und die Virgilia Hazards hatten während jener warmen Sommermonate große Mühe, ihre militanten Ansichten an den Mann zu bringen. Die Mehrheit der Amerikaner wünschte sich eine Atempause – mindestens für drei Monate oder ein halbes Jahr.
Cooper und Judith hatten am 1. Juni 1850 geheiratet. Die Natur hatte Coopers Plan, eine Reise nach Großbritannien zu machen, durchkreuzt. Genau neun Monate nach der Hochzeit brachte seine Frau Judah Tillet Main, oder J.T. wie ihn der stolze Großvater von Anfang an nannte, zur Welt. Ende Juli 1850 reisten die Eltern, das Baby und eine Amme nach Newport, um zehn Tage mit den Mains zu verbringen.
Einige Stunden nach ihrer Ankunft setzte sich Tillet auf der Veranda des gemieteten Hauses in einen Schaukelstuhl. Cooper setzte sich neben ihn. Tillet blickte stolz auf seinen Enkel, der in eine Decke gehüllt in Coopers Armen lag. Judith spielte mit George, Billy und Ashton ein Kugelspiel auf dem Rasen. Langsam senkte sich die Abenddämmerung auf sie nieder.
Tillet räusperte sich. »Deine Gattin ist eine feine Frau.«
Cooper war überwältigt. Sein Vater hatte ihr noch nie ein Kompliment gemacht. »Danke, da sind wir gleicher Meinung.« Er faltete die Decke so, daß der Kopf seines Sohnes vor dem Wind geschützt war.
Tillet lehnte sich zurück und verschränkte die Hände auf dem Bauch, der mit jedem Jahr dicker wurde. Wie alt er aussieht, dachte Cooper. Wie alt ist er denn jetzt? Fünfundfünfzig? Nein, sechsundfünfzig. Das Alter zeigt sich in seiner runzligen Haut und auch in seinen Augen. Er weiß, daß es schon bald mit ihm zu Ende sein wird. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte Cooper eine starke Liebe für seinen Vater – eine bedingungslose Liebe.
Tillet fuhr fort: »Ich mag Judith zwar, aber nicht alles, was sie sagt. Keineswegs. Doch Familien sollten nicht untereinander streiten.«
»Einverstanden.« Aber es ist verdammt hart, dieses Ideal in unseren Zeiten zu erreichen.
»Du hast die Gesellschaft gut geführt«, sagte sein Vater. »Die Bilanz ist hervorragend. Die Mont Royal ist ein schönes Schiff. Ja, ich weiß, auch ein hervorragendes Geschäft.«
»Wir könnten drei davon brauchen, um all die Geschäfte annehmen zu können, die man uns anbietet. Ich bin dabei, mich umzusehen. Und noch etwas: Man hat mich gebeten, für andere Schiffe zu entwerfen und zu bauen. Auch damit befasse ich mich.«
Tillet kratzte sich am Kinn. »Glaubst du, daß es klug ist, so schnell zu expandieren?«
»Ja, sicher. Ich glaube, daß wir mit Schiffsbau mehr Geld verdienen und ein sichereres Einkommen haben werden, als mit dem Baumwollhandel.«
»Sind das nur Spekulationen?«
»Wenn du wissen möchtest, ob ich bereits feste Zusagen habe, so kann ich die Frage mit Ja beantworten. Eine Anfrage von einer Schiffsgesellschaft in Savannah und eine andere von einer Firma in Baltimore. Wir stehen zwar noch in Verhandlungen, aber beide Firmen möchten ein Schiff wie die Mont Royal – sofern ich liefern kann. Ich möchte es auf jeden Fall versuchen.«
Er lehnte sich begeistert vor. »Ich stelle mir vor, daß eines Tages – vielleicht schon in fünf Jahren – die Main-Dampfer an der Ostküste auf und ab und nach Europa fahren, und dies unter der Flagge von einem Dutzend Gesellschaften. Der Baumwollmarkt mag schrumpfen, aber ich bin davon überzeugt, daß die Nachfrage nach Lagerraum und schnellem Versand aller möglichen Güter nur zunehmen wird.«
»Vielleicht während meines Lebens. Aber langfristig möchte ich mich da nicht festlegen. Die Yankee-Politiker sind unberechenbar; gierig und hinterlistig wie – aber lassen wir das. Ich bin ehrlich überrascht über den Namen, den du dir mit nur einem Schiff gemacht hast.«
»Auf der Mont Royal gibt es viele Neuerungen. Zwei kleinere Erfindungen stammen von mir; ich habe sie patentieren lassen.«
»Könnten diese zwei Gesellschaften sich denn nicht direkt ein Schiff bei der Werft in Brooklyn beschaffen?«
»Doch, aber sie möchten noch etwas mehr. Sie möchten, daß ich den Bau und die Planung überwache. Ich bin rein zufällig einer der wenigen Schiffsbauexperten des Südens geworden.« Cooper lächelte. »Du kennst doch die Definition eines Experten? Jemand, der von anderswoher kommt.«
Tillet lachte. Das Geräusch weckte seinen Enkel, der zu schreien anfing. Cooper streichelte die weiche, warme Wange, bis das Baby wieder ruhig war.
»Sei nicht zu bescheiden«, sagte Tillet zu seinem Sohn. »Du hast harte Arbeit geleistet in Charleston – ich hab’ das von vielen verschiedenen Seiten gehört –, und du arbeitest immer noch hart. Wenn ich mir nur all den Lesestoff betrachte, den du mit in die Ferien genommen hast: Schiffsbau, Eisen und Stahl – Bücher, die ich kaum zu tragen, geschweige denn zu verstehen imstande bin.«
Cooper zuckte die Achseln, aber er sonnte sich im unvermuteten Lob. »Um diesen Lernprozeß zu vervollständigen, werden wir schließlich im November nach Großbritannien gehen.«
»Mein Enkel auch?«
»Ja, wir alle. Der Arzt sagte, daß Judah mit der Amme reisen könne. Brunei will mich empfangen. Stell dir vor, ich kann eine Stunde mit dem Mann verbringen. Sein Talent, seine ungeheure Phantasie – es ist unglaublich. Er und sein Vater haben zusammen den Tunnel unter der Themse gebaut. Wußtest du das?«
»Nein. Aber wozu braucht man einen Tunnel unter einem Fluß? Was ist denn mit den Fähren? Oder mit den Brücken? Und überhaupt, wozu braucht jemand schnellere Schiffe? Ich erinnere mich an etwas, das der Herzog von Wellington über die Eisenbahnen in Europa gesagt hat. Er sagte, sie würden nur zu sozialer Unrast führen, weil die Armen dann auch herumreisen könnten. Ich habe ähnliche Gedanken, wenn ich an all den modernen Firlefanz denke. Zu revolutionär!«
»Das ist genau das Wort, Vater. Wir sind mitten in einer Revolution – eine friedliche Revolution der Industrie und der Erfindungen.«
»Wir sollten für eine Weile damit aufhören.«
»Das ist unmöglich – du kannst das Rad nicht zurückdrehen. Wir können nur noch vorwärts gehen.«
»Das klingt nicht gerade begeistert.« Tillet seufzte. »Aber lassen wir das auch. Du hast sicherlich einen Anspruch auf die Reise. Du hast sogar noch mehr verdient, und ich wollte dir etwas sagen.« Wiederum räusperte er sich. »Ich habe den Rechtsanwälten der Familie den Auftrag gegeben, Dokumente vorzubereiten, wonach die Eigentumsverhältnisse innerhalb der C.S.C. geändert werden sollen. Von nun an wirst du über einundfünfzig Prozent des Gesellschaftskapitals verfügen, und auch einen entsprechenden Prozentsatz vom Ertrag bekommen, und zwar ohne weitere Abzüge. Ich habe jeden Bericht, den du mir geschickt hast, gelesen. Bei dem Tempo, mit dem du Geld hereinholst, wirst du mit der neuen Regelung bald ein sehr reicher Mann sein – und zwar aus eigener Kraft. Auch das ist eine Leistung.«
Es dauerte eine geraume Weile, bis Cooper sich von seiner Überraschung so weit erholt hatte, daß er sagen konnte: »Ich weiß nicht, wie ich dir für dein Vertrauen und für deine Großzügigkeit danken soll.«
Tillet winkte ab. »Du bist mein Sohn. Du hast deinem Erstgeborenen meinen Namen gegeben. Das ist Dank genug. In der Familie sollte es keinen Streit geben.«
Es klang diesmal etwas schärfer. War es eine Bitte? Eine Warnung? Hoffentlich nicht, dachte Cooper. Ich hoffe nicht, daß er sich auf diese Art mein Schweigen oder meine Bejahung seiner Ansichten sichern will. Ich liebe ihn, aber ich bin nicht käuflich.
Dann fragte er sich, ob er undankbar war. Eigentlich wollte er Tillet fragen, was er genau mit der Bemerkung über Familien, die sich nicht streiten sollten, gemeint hatte, aber er wollte den Frieden an jenem Abend nicht zerstören. Er war so zerbrechlich wie der Frieden der Nation. Er würde nicht von Dauer sein.
In beiden Familien wurde der Sommer willkommen geheißen. Es herrschte eine entspannte, freundliche Stimmung, eine Stimmung, zu der jeder nach besten Kräften beitrug. Sogar Constance und Isabel unterhielten sich ab und zu.
Politische Fragen wurden in beiderseitigem Einvernehmen nicht angetastet – mit einer Ausnahme. Virgilia, die eines Abends zu sehr dem Wein zugesprochen hatte, brandmarkte die jüngsten offiziellen Erklärungen von William Yancey, einem Rechtsanwalt aus Georgia und früheren Kongreßmitglied, der das geistige Erbe von Calhouns radikalsten Ansichten angetreten hatte. Der Süden hatte immer noch Ressentiments gegen Senator Seward aus New York. Seward hatte die Wilmot-Klausel mit der Begründung verfochten, sie diene einem höheren Gesetz als der Verfassung, dem Gesetz Gottes, das eines Tages stärker als die Sklaverei sei. Yancey griff den Senator vom Rednerpult aus aufs Heftigste an. Als Virgilia davon hörte, bedachte sie Yancey mit einer Serie von Schimpfnamen einschließlich Zuhälter. Es dauerte nicht lange, und Yancey wurde für sie zum Stellvertreter des Südens. Orry explodierte:
»Was für ein Riesengebäude von Selbstgerechtigkeit Sie doch hier im Norden gezimmert haben, Virgilia. Sündigen tut man nur unterhalb der Mason-Dixon-Linie, und es macht ja nichts, daß Iowa jeden freien Neger, der es auch nur wagt, einen Fuß in den Staat zu setzen, schärfstens bestraft. Auch die Heuchelei ist nur im Süden zu finden, und es macht ja nichts, daß Kalifornien, das von euren Politikern so eifrig als freier Staat in die Union gezerrt wurde, Männer in den Senat schickt, die für die Sklaverei sind. Sie, Virgilia, würden so was nie zugeben. Sie machen einfach die Augen zu und speien Gift.«
Er schmiß seine Serviette zur Seite und verließ den Tisch. Zehn Minuten später stellte George seine Schwester zur Rede und schrie auf sie ein, bis sie versprach, sich zu entschuldigen. Sie tat es mit großem Widerwillen.
Mit Ausnahme dieses einen Ausrutschers verstrichen die warmen, euphorischen Tage weiterhin friedlich. Brett entzückte jedermann mit ihrem Klavierspiel. George schien im Krocket unschlagbar. Auf der Veranda diskutierte man lebhaft über die eifrigen Bemühungen einiger Prediger, den unzüchtigen Roman ›Der scharlachrote Buchstabe‹ von Hawthorne auf die schwarze Liste zu setzen. Einer der geistlichen Würdenträger nannte das Buch ›die Vermarktung der Lust‹.
Isabel und Tillet waren sich darüber einig, daß solche Schundliteratur von Gesetzes wegen verboten sein sollte. George meinte, daß jeder, der diese Ansicht teilte, nichts von Redefreiheit wisse. Clarissa warf schüchtern ein, daß der Roman zwar sicher unanständig sei, George aber grundsätzlich recht habe.
»Weib«, brüllte Tillet, »du weißt nicht, worüber du sprichst.« Glücklicherweise wurde die Diskussion gleich darauf in andere Bahnen gelenkt, weil Ashton, Billy und Vetter Charles auf dem Rasen vor dem Haus der Mains auftauchten.
Die jungen Leute waren gerade auf dem Weg zum Strand. Sie gingen fast jeden Abend dorthin, mit Charles als Anstandsdame. Das amüsierte Orry. Charles hatte sich zwar verändert, aber es erweckte doch den Anschein, als hätte man den Teufel als Missionar engagiert.
George sah zu, wie die jungen Leute langsam im Mondlicht verschwanden. Dann sagte er zu Orry: »Mir scheint, als hätte sich deine Schwester Billy auserkoren.«
»Nicht so schnell, George«, rief Constance halb scherzend, halb ernst. »Billy wird nächsten Sommer zur Akademie gehen. Für vier Jahre.«
»Trotzdem«, warf Orry ein, »ich glaube, George hat recht.«
Er befand es nicht für nötig, zu sagen, daß er jedoch Zweifel an einer Heirat hegte. Ashton war zu unbeständig. Aber sie könnte sich natürlich noch ändern – wie Charles. In der Erwägung dieser Möglichkeit fügte er hinzu: »Ihr solltet mit Billy nach South Carolina kommen.«
»Oh, ja, wir würden uns freuen, euch bei uns begrüßen zu dürfen – euch alle«, sagte Clarissa. Virgilia, die am andern Ende der Veranda saß, blickte skeptisch.
»Ich würde Mont Royal gerne sehen«, sagte Constance.
Orry lehnte sich vor. »Weshalb nicht im Herbst? Der Oktober ist bei uns einer der schönsten Monate. Cooper würde sich freuen, euch Charleston zu zeigen, und danach könntet ihr für einen langen Besuch zu uns kommen.«
»Einverstanden«, sagte George, nachdem Constance seine Hand gedrückt hatte, um ihm Mut zu machen.
Einen Augenblick später schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Virgilia beobachtete und verfolgte das ganze mit großem Interesse. Wenn sie sie mitnähmen, würden die Mains ihr gastfreundliches Angebot vielleicht bereuen.
Charles lehnte sich gegen den feuchten Felsen; das Mondlicht streichelte seine Augenlider, während er sich nackte Oberschenkel in allen möglichen Schattierungen von rosa bis braun vorstellte. Er dachte besonders an diejenigen von Cynthia Lackey, einem drallen und willigen Mädchen. Charles hatte sie in der ersten Sommerwoche getroffen, als er im Kolonialwarenladen ihres Vaters Süßigkeiten eingekauft hatte.
Zu seiner Linken hörte er Gelächter. Er öffnete die Augen und sah zwei Gestalten aus dem Schatten der Klippen auftauchen, zwei Gestalten, die eher wie eine aussahen. Eng umschlungen gingen sie über den im Mond schimmernden Sand.
»Paß auf, da ist unsere Anstandsdame«, sagte Billy. Ashton kicherte. Der Schatten teilte sich. Charles verscheuchte den letzten Rest seiner erotischen Phantasien, doch die Spannung in der Leistengegend blieb. Es war Zeit, Cynthia wieder mal aufzusuchen.
Ashton glättete sich das Haar. Billy stopfte das Hemd in die Hose. Charles hatte Mitleid mit seinem Freund. Er war zwar nicht genau darüber im Bild, wie erfahren Ashton war, aber er hatte seinen Verdacht. Zweifellos würde sie es glänzend verstehen, ihren Bewerber so lange aufzureizen und zu erregen, bis er vor lauter Frustration einen glasigen Blick bekäme. Charles stellte genau diesen Blick an Billy fest.
Auf dem Heimweg schmiedete Ashton Pläne für den folgenden Abend: erst Muscheln suchen, dann ein Treibholzfeuer am Strand und dann…
»Tut mir leid, das geht morgen abend nicht«, unterbrach sie Charles. »Billy und ich müssen einer schon längst fälligen Verpflichtung am andern Ende der Insel nachkommen.«
Verblüfft sagte Billy: »Tatsächlich? Ich erinnere mich nicht – « Charles deutete ihm mit einem Rippenstoß an, daß er schweigen solle.
Ashton schmollte und wurde ihnen mit ihrer Quengelei lästig. Doch Charles lächelte und blieb unnachgiebig. Nachdem Billy Ashton bis zur Tür des Hauses an der Beach Road begleitet hatte, stürzte er auf die Veranda, wo Charles im Mondlicht saß, ein Bein auf dem Geländer.
»Was zum Teufel soll diese blöde Abmachung am andern Ende der Insel?«
»Mein Junge, das ist überhaupt nicht blöde. Ich werde dich Miß Cynthia Lackey und ihrer Schwester Sophie vorstellen. Aus sicherer Quelle weiß ich, daß Sophie ihrer Schwester Cynthia in keiner Weise nachsteht, wenn es darum geht, Jungen zu verwöhnen und sich von ihnen verwöhnen zu lassen. Hast du schon mal mit einem Mädchen geschlafen?«
»Natürlich.«
»Mit wie vielen?«
Charles blickte Billy unverwandt an, und Billy gab schließlich zu: »Na schön, ich hab’ noch nie.«
»Das hab’ ich mir gedacht. Du wirst dich an diesen Sommer erinnern.«
Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Abgesehen davon weiß ich, daß die liebe Ashton für ihre Gefallsucht bekannt ist. Ich habe euch zwei so oft allein gelassen, daß ich glaube, daß dir ein Abend mit Miß Sophie die sicher nötige Erleichterung verschaffen wird.«
Am nächsten Abend fuhren sie mit einer Ponykutsche zu den Lackeys. Morgens um zwei fuhren sie nach Newport zurück; Billy bedankte sich bei seinem Freund und meinte, daß er diesen Sommer bestimmt nicht vergessen würde.
»Aber ich möchte den Süden kennenlernen«, sagte Virgilia zu George. »Und ich bin eingeladen worden.«
»Sie haben dich aus Gründen der Höflichkeit eingeladen, das ist alles.« Seit zwei Tagen waren sie wieder in Lehigh Station. Dies war ihre vierte Auseinandersetzung wegen der Reise. »Sie sind nicht darauf erpicht, daß du sie dort unten dauernd kritisierst und dich Tag und Nacht über ihren Lebensstil lustig machst«, sagte George. »Wahrscheinlich würdest du hiermit in Mont Royal herumstolzieren wollen.« Er hob mit einer heftigen Bewegung das breite Satinband auf, das sie mit ins Arbeitszimmer gebracht hatte. Sie würde das Band am Samstag bei einer Parade der Freie-Boden-Partei in Harrisburg tragen. Auf dem Band war der Parteislogan zu lesen: Freiheit des Bodens – Freiheit der Rede – Freiheit der Arbeiter – und Freiheit für die Menschheit. »Dich mitzunehmen hieße, mit einer brennenden Fackel durch einen dürren Wald zu laufen. Ich wäre ein Idiot, wenn ich ja sagte.«
»Und wenn ich dir verspreche, daß ich mein allerbestes Verhalten an den Tag lege? Ich glaube, es wäre gut, wenn ich den Süden mit eigenen Augen sehen könnte. Wenn du mich mitnimmst, werde ich kreuzbrav sein. Ich werde nicht ein Wort über Bodenfreiheit oder irgend etwas sagen, das die Mains beleidigen könnte.«
Er starrte sie durch den Zigarrenrauch an. »Ist dir das ernst? Wärst du die ganze Zeit über höflich?«
»Ja, ich verspreche es. Ich schwör’ es dir auf die Bibel, wenn du möchtest.«
Es gelang ihm, ein Lächeln aufzusetzen. »Das ist nicht nötig.« Er spitzte den Mund, stieß eine Rauchwolke aus und erwog das Risiko.
»Also einverstanden. Aber beim ersten Ausrutscher schicke ich dich nach Hause.«
Sie warf ihm die Arme um den Hals und bedankte sich überschwenglich. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so jungmädchenhaft benommen. Einen Augenblick lang glaubte er, wieder eine Schwester zu haben.
Als Virgilia an jenem Abend zu Bett ging, war sie zu aufgeregt, um schlafen zu können. Als der Schlaf sie schließlich übermannte, träumte sie von schwarzen Männerkörpern.
29
Die Reisegesellschaft der Hazards setzte sich aus acht Mitgliedern zusammen: Maude, George und Constance, die Kinder, das Kindermädchen, Billy und Virgilia. Alle außer Billy wurden auf der stürmischen Reise nach Charleston seekrank. Nach einigen Tagen der Erholung in Coopers Haus ging es ihnen rasch wieder besser.
Die Mont Royal lag zufällig im Hafen und wurde mit Baumwolle beladen, die nach New York verfrachtet werden sollte. Cooper zeigte ihnen das ganze Schiff, wobei er sie auf jede Einzelheit aufmerksam machte, vom schlanken Bug bis zur modernen Propellerschraube. Da die Gäste nicht so viel von den technischen Neuerungen verstanden wie ihr Gastgeber, konnten sie auch nicht ganz so begeistert sein, doch alle vermochten die äußere Form des Schiffes zu würdigen. Es war schlank, elegant und unverkennbar modern.
Als nächstes nahm Cooper sie mit nach James Island, zu dem Grundstück, das er früher erworben hatte. »Ich möchte hier mit meinen Erträgen aus der C.S.C. eine Werft bauen. Für Handelsschiffe. Die Werft soll die beste an der Ostküste werden.«
»Du redest beinahe schon wie ein Yankee«, sagte George. Sie lachten beide.
Cooper und Judith zeigten ihnen die Sehenswürdigkeiten von Charleston, einschließlich der Marmor-Gedenktafel auf dem Grab von Calhoun auf dem St. Philip-Friedhof. Dann machte Cooper den Vorschlag, daß man – sofern Interesse vorhanden – zu einer Versammlung der sogenannten Charleston-Koalition für die Rechte des Südens ginge.
»Ist das eine politische Partei?« fragte George.
»Das weiß man nicht so genau«, antwortete Cooper. »Noch nicht. Andererseits verschwinden die traditionellen Parteien schneller, als ich hinschauen kann. Die Liberalen und Demokraten haben hier unten fast keine Bedeutung mehr.«
»Wer ist an ihre Stelle getreten?« wollte Virgilia wissen.
»Gruppierungen, die sich in zwei Lager teilen. Auf der einen Seite befinden sich die Unionisten mit Männern wie Bob Toombs aus Georgia, die den Süden lieben, aber die bittere Pille der Sezession nicht schlucken können; auf der anderen Seite stehen die Radikalen: Yancey, Rhett, Ashtons Freund Huntoon – übrigens wird er einer der Redner bei der Versammlung sein. Wahrscheinlich werden Sie sich über das, was Sie zu hören bekommen, nicht freuen«, die liebenswürdige Anspielung brachte ein steifes und humorloses Lächeln auf Virgilias Lippen, »aber Sie werden eine Vorstellung davon bekommen, wie man in Charleston denkt.«
Nur George und seine Schwester nahmen seine Einladung an. George befürchtete, daß Virgilia trotz ihres Versprechens eine Szene machen würde, ja vielleicht sogar einen der Redner mit Beleidigungen unterbrechen würde. Doch sie schien sich nicht groß um die Reden zu kümmern, sondern in Gedanken versunken. Als Huntoon am Rednerpult auf die Notwendigkeit ›einer großen Sklavenbesitzenden Republik vom Potomac bis zu den südlichen Gefilden‹ hinwies, flüsterte sie George zu, daß sie frische Luft brauche, und ging hinaus.
Sie rannte durch das düstere Treppenhaus ins Foyer. Und da war er auch – er lungerte mit den andern Kutschern vor dem Haupteingang herum – ein außerordentlich gutaussehender Schwarzer in einer Samtlivree. Sie war schon früher auf ihn aufmerksam geworden, als er seinem Herrn die Kutschentür öffnete – Huntoon, wie ihr plötzlich klarwurde.
Ihr Busen fühlte sich straff und schwer an, als sie auf und ab ging und sich mit ihrem Spitzentaschentuch Luft zufächelte, damit alle sahen, weshalb sie den Saal verlassen hatte. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Oberlippe. Immer wieder mußte sie den Neger ansehen.
Durch die offene Tür hinter ihr vernahm sie die donnernde Stimme Huntoons: »Unsere Sitten und Gebräuche müssen der amerikanischen Flagge folgen, wo sie auch immer wehen mag. Wenn unser System sich nicht stetig ausbreiten kann, wäre dies gleichbedeutend mit einer Niederlage. Das werden wir nicht zulassen.«
An dieser Stelle wurde er von begeistertem Applaus und lauten Zurufen unterbrochen. Das Publikum stampfte wie wild. Das Getöse strömte vom Saal her auf sie zu, überwältigte sie und steigerte ihr Verlangen. Hinter dem Rücken eines anderen Kutschers versuchte sie den Blick des großen Schwarzen zu erhaschen.
Er bemerkte sie, wagte es jedoch nicht, einer weißen Frau gegenüber Gefühle zu zeigen, aus Angst, dafür bestraft zu werden. Sie verstand und versuchte, ihr Verständnis und noch etwas anderes mit einem langandauernden Blick zu übermitteln. Überrascht zog er die Brauen hoch. Dann lächelte er sie über die Schulter des andern Kutschers hinweg an. Sie hielt den Atem an. Vier seiner Vorderzähne fehlten. Er war einer jener Unglücklichen, die von ihren Besitzern auf diese entwürdigende Art und Weise markiert wurden.
Eine Sekunde lang blickte er mit seinen dunklen, schimmernden Augen auf ihre Brüste. Sie glaubte das Bewußtsein verlieren zu müssen.
Er verstand! Ein andrer Kutscher bemerkte seinen starren Blick und drehte sich nach dem Gegenstand seiner Aufmerksamkeit um. Angesichts der weißen Haut von Virgilia sah er seinen Gefährten schockiert und ungläubig an.
»Da bist du«, rief George und eilte auf sie zu. »Du bist so schnell verschwunden, daß ich mir Sorgen machte. Ist dir übel?«
»Nein, es war bloß zu heiß da drin. Jetzt geht es mir besser.« Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn in den Saal.
Es gelang ihr nicht, ihre Gedanken von dem großen Schwarzen loszureißen. Auf dem Weg zurück zur Tradd Street erkundigte sie sich, ob es irgend etwas Besonderes bedeute, wenn einem Sklaven mehrere Zähne fehlten. »Ich habe einen solchen Mann draußen vor dem Saal gesehen.«
George wurde nervös, während Cooper den möglichen Grund für das Ausziehen der Zähne erläuterte. Virgilia reagierte, als ob sie noch nie etwas davon gehört hätte, aber sie verhielt sich ruhig. Dann sagte Cooper: »Der Mann, den Sie gesehen haben, muß der Sklave von Huntoon sein, Grady. Groß? Gutaussehend?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, log Virgilia und preßte die Beine unter ihrem Kleid zusammen. Sie hatte die Information, die sie benötigte.
Grady. Sie sprach den Namen genußvoll vor sich hin, bevor sie an jenem Abend in den Schlaf sank. Vom duftenden Garten her wehte eine warme Brise. Der süße Duft und die feuchte Nacht steigerten ihr Verlangen, bis es schmerzte.
»Grady«, flüsterte sie im Dunkeln. Sie wußte, daß sie ihn nie wiedersehen würde, aber sie wünschte sich, es wäre anders.
Gerade als die Hazards in Mont Royal ankamen, wurde das Wetter kühler. Das klare, weiche Oktoberlicht verlieh den Tagen eine melancholische Schönheit, doch Billy bemerkte sie nicht. Er bemerkte überhaupt kaum etwas oder jemanden außer Ashton.
Er verbrachte jede freie Minute mit ihr. Sie ritt oft mit ihm auf der Plantage herum, aber er hatte den Verdacht, daß das meiste, was sie ihm darüber erzählte, erfunden war. Er spürte, daß sie wenig Verständnis oder Interesse für den Reisanbau aufbrachte.
Die Sklavensiedlung faszinierte Billy auf eine fast morbide Art und Weise. In den Augen der Neger sah er Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit; ab und zu war ein Lachen zu hören, aber nicht oft. Zum erstenmal begann er zu begreifen, weshalb Virgilia, Constance und die übrige Familie dieses System ablehnten.
Früher hatte er mehr oder weniger ihre Haltung übernommen – sie war korrekt und emotionslos. Als er jedoch durch die schmutzigen Straßen zwischen den schäbigen Hütten hindurchritt, veränderte sich plötzlich etwas in ihm. Wenn die Sklaven so sorglos und glücklich waren, wie die Südstaatler behaupteten, so war auf dieser Plantage jedenfalls nichts davon zu sehen. Wut stieg in ihm auf. Das Unrecht war himmelschreiend. Es war, als hätte er einen Splitter in seinem Fuß: Die Wunde war nicht tief genug, um etwas dagegen zu unternehmen, erinnerte ihn jedoch dauernd an das Unrecht.
Auch in seiner Beziehung zu Ashton erging es ihm ähnlich, doch es war ihm anfangs nicht klar, weshalb er sich in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlte. Sie erregte ihn immer noch, auch wenn der Sex kein Geheimnis mehr für ihn war, nachdem er mit dem Newport-Mädchen herumgespielt hatte. Erst war er in Verlegenheit geraten, als er sich auszog, doch dann hatte er die Stunde mit Sophie genossen.
Körperlich war und blieb Ashton eines der perfektesten Geschöpfe, das er je gesehen hatte. Auch wenn sie nicht unbedingt intelligent war, so zeichnete sie sich durch eine angeborene Gewandtheit und Schlagfertigkeit aus. Was ihn beunruhigte, wie er am Ende seiner ersten Woche in Mont Royal feststellte, war die Art, wie sie ihn küßte, sein Gesicht berührte oder ihn ansah – erwachsen; es gab kein anderes Wort dafür. Und doch war sie dieses Jahr erst fünfzehn geworden.
Zu Ehren der Gäste veranstaltete Orry am Samstagabend ein Picknick. Verwandte und Nachbarn strömten in der kühlen Dämmerung herbei. Unter den Gästen befand sich eine hübsche Frau namens Mrs. LaMotte, der Orry mit äußerster Zuvorkommenheit begegnete. Sie verbrachte fast die ganze Zeit ohne ihren Mann, der sich in Männergesellschaft befand und, den gedämpften Stimmen und dem schallenden Gelächter nach zu schließen, Zoten erzählte.
Als die Dunkelheit hereinbrach, wurden Fackeln angezündet, die gleichzeitig die Insekten abhielten. Billy und Ashton verließen die Gesellschaft und stahlen sich, Hand in Hand, zum Fluß davon.
»Es ist herrlich, daß du hier bist«, sagte sie, als sie sich zum Pier begaben und auf das dunkle, windgekräuselte Wasser blickten. »Wirst du lange bleiben?«
»George sagt, noch etwa eine Woche.«
»Ich freue mich sehr darüber. Aber es macht mich auch traurig.«
»Traurig? Warum?«
»Wenn du in meiner Nähe bist – «
Sie wandte sich ihm zu, ihre Augen sahen im Fackellicht hart aus. Gäste bewegten sich schemenhaft im rauchigen Licht.
»Ja?« sagte er.
»Wenn wir zusammen sind, muß ich dauernd gegen meine Gefühle ankämpfen. Ich möchte noch näher bei dir sein.« Sie schmiegte ihren Oberkörper, ihren Mund und dann ihren ganzen Körper gegen ihn. Er spürte die Bewegungen ihrer Lippen, als sie flüsterte: »Näher als erlaubt.«
Er wollte sie gerade küssen, als er etwas unterhalb der Taille spürte. Gott im Himmel! Sie faßte ihn durch seine Hose und Unterwäsche hindurch an. Hätte sich die Erde unter seinen Füßen aufgetan, die Überraschung wäre nicht größer gewesen.
Sie murmelte seinen Namen, umschloß ihn mit der Hand und küßte ihn wild. Schnell überwand er seine Überraschung und sein Zögern und erwiderte den Kuß. Mit dem linken Arm hielt sie seinen Hals umschlungen, und mit der rechten Hand drückte und drückte sie. Das Spiel der Lippen und Hände führte bald zu einem peinlichen Höhepunkt. Sie fühlte, wie er in ihren Armen erstarrte.
Sie sprang zurück und preßte die Handflächen auf die Lippen. »Um Himmels willen, habe ich…?«
Er fühlte sich entsetzlich gedemütigt und war unfähig zu sprechen. Er starrte auf den Fluß.
»Billy, es tut mir ja so leid. Es war stärker als ich.«
»Schon gut«, murmelte er.
Fünf Minuten später schlenderten Brett und Charles über den Rasen daher, auf der Suche nach ihnen. Billy mußte sie damit konfrontieren, ob er wollte oder nicht. Glücklicherweise trug er eine wollene, gemusterte Hose; sollte also jemand so unhöflich sein und ihn fragen, was geschehen war, könnte er lügen und sagen, daß er eine Tasse Punsch ausgeleert habe.
Sie gesellten sich wieder zu den andern. Es kamen keine Fragen. Doch Ashtons Verhalten ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war zu erfahren. Dies waren die Worte, die sich die halbe Nacht und noch einige Tage lang in seinem Kopf herumdrehten. Sie war viel zu jung, um bereits so erfahren zu sein.
Wie war es dazu gekommen? Als er sich verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ, wurde er von Eifersucht gepackt. Er hätte gerne gewußt, wie und wo sie ihre Erfahrungen gesammelt hatte. Aber irgendwie war es ihm auch gleichgültig. Er wußte, daß sich ihre Beziehung dem Ende zuneigte. Es machte ihn traurig, erleichterte ihn aber auch.
Das Wetter wurde grau. Zwischen Billy und Ashton kam es zu kleineren Reibereien. So zum Beispiel verstand sie etwas nicht, das er sagte, obwohl er es zweimal wiederholte. Oder er hatte einen Kiesel im Schuh und konnte nicht so schnell gehen, wie sie es gewünscht hätte. Kleinigkeiten, die sie verärgerten und ihnen die Stimmung verdarben.
Das Ende kam an einem stillen Samstag. Sie waren unfähig, sich auf etwas zu einigen, das ihnen die Langeweile vertreiben würde. Schließlich schlenderten sie über den Uferdamm, der die Felder vom Fluß abtrennte. Nach zehn Minuten setzte sich Ashton; es kümmerte sie nicht, ob ihr Kleid dabei dreckig wurde oder nicht. Als er sich neben sie setzte, sagte sie ohne Umschweife:
»Freust du dich darauf, nächstes Jahr zur Akademie zu gehen?«
»Ja.«
»Ich glaube, ein Mann könnte Gescheiteres tun.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Was kümmert dich das? Du bist ja kein Mann.«
Sie sah ihn an, nicht gerade feindselig, aber auch nicht mit der Wärme, die er während des Sommers gesehen hatte.
»Nein, aber ich werde einen Mann heiraten«, sagte sie.
»Und du weißt bereits, was du von ihm erwartest, ja?«
»Ich weiß, was ich für mich erwarte. Ich weiß, was ich haben möchte, und er muß es mir geben.«
Das Gespräch wurde zusehends unfreundlicher; ahnte sie, daß er sich zurückziehen wollte? Er mochte jedoch nicht mit ihr streiten und lächelte, in der Hoffnung, die Spannung dadurch zu mildern. Er klopfte sich mit einem unsichtbaren Bleistift auf die Handfläche.
»Wie sieht denn Ihre Wunschliste aus, Miss Main?«
»Mach dich nicht lustig, Billy. Ich bin fünfzehn. In fünf Jahren wird mein Leben zur Hälfte vorbei sein. Deins auch.«
»Das stimmt«, sagte er ernüchtert.
»Wenn du planlos durchs Leben gehst, wirst du es zu nichts bringen. Ich möchte einen Mann mit Geld heiraten, mindestens muß er genug Geld haben, damit ich weiß, daß er nicht auf meins aus ist. Aber was noch wichtiger ist, es darf nicht irgend jemand sein. Er muß ein Senator oder Gouverneur sein. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn er Präsident wäre. Es wäre an der Zeit, daß wir einen neuen Präsidenten aus dem Süden bekämen.«
»Der alte Zach Taylor kam aus Louisiana.«
»Pah. Er war ein größerer Yankee als du. Wie dem auch sei, ich möchte die Frau eines Mannes sein, der Macht und Bedeutung hat.«
Der Rest war klar, auch wenn sie ihn nicht aussprach. Der Mann, den sie heiraten würde, müßte ihre Ziele verwirklichen, selbst wenn er andere Ziele hätte. Ihre dunklen Augen sprühten, als sie sagte: »Es kann natürlich sein, daß es ein Soldat zu Berühmtheit bringt, wie zum Beispiel General Scott oder jener Yankee aus New Hampshire, der vielleicht Präsident wird. Wie war sein Name doch?«
»Pierce. General Franklin Pierce.«
Sie lächelte provozierend. »Wirst du ein solcher Soldat werden?«
Es war aus. Er wußte es. »Nein«, sagte er.
Sie war nicht auf eine solch offene und endgültige Antwort gefaßt gewesen. Sie setzte ein scheues Lächeln auf, lehnte sich an ihn, wobei sie mit ihrem Busen seinen Arm leicht streifte, als wollte sie ihn daran erinnern, was sie einem Mann zu geben wußte.
»Ich wette, du könntest es, wenn du wolltest.«
»Ich habe nicht den Ehrgeiz dazu.« Er stand auf und klopfte sich den Staub vom Hosenboden. »Wollen wir zurückgehen? Es sieht aus, als ob es demnächst regnen würde.«
Schweigend gingen sie zum Herrenhaus zurück. Sie war verblüfft und verdrossen. In Billy breitete sich ein neues Gefühl der Ruhe aus. Sie hatte sich ihm angeboten und den Preis genannt. Sie war unergründlich und zu gefährlich für ihn. Er war vom Rand des Abgrunds zurückgetreten und fühlte sich erleichtert.
Der aufkommende Wind beraubte die neben dem Haus stehenden Eichen einiger ihrer Blätter, die um die jungen Leute herumwirbelten, als sie auf Orry stießen; er überwachte ein halbes Dutzend Sklaven, die die Fensterläden festnagelten.
»Cooper hat eben einen seiner Männer mit dem Pferd aus Charleston hierhergeschickt«, sagte Orry. »Einlaufenden Schiffen zufolge soll sich etwa 150 Kilometer vor der Küste ein schwerer Sturm zusammenbrauen. Ich habe Leute losgeschickt, um die andern Plantagenbesitzer zu warnen. Es könnte einen Hurrikan geben.«
Ashton hob den Rock hoch und rannte ins Haus. Orry beobachtete sie und kratzte sich dann im Bart. »Es sieht aus, als ob wir bereits einen Hurrikan im Haus hätten.«
Billys Lächeln war neutral. »Hast du Charles gesehen?«
Am nächsten Morgen war Ashton wieder die Liebenswürdigkeit in Person. Sie rauschte ins Eßzimmer und setzte sich neben Billy, der sich eben das letzte Stück geräucherten Schinkens einverleibte. Sie tätschelte seine Hand.
»Was machen wir heute?«
Er stand auf. »Ich geh mit Charles auf die Jagd, mit Pfeil und Bogen. Bis heute abend.«
Als er gegangen war, zog sich ihr Magen zu einem schmerzhaften Klumpen zusammen. Sie bereute das, was sie ihm am Fluß gesagt hatte. Sie hatte ihn eigentlich prüfen wollen, hatte wissen wollen, aus welchem Holz er geschnitzt war und wie weit sie ihn herumkriegen konnte. Nicht, daß es wichtig gewesen wäre – sie liebte Billy. Auch wenn er sein ganzes Leben lang ein Leutnant wäre, würde sie ihn immer noch lieben. Für ihn würde sie ihre Träume, ihren Ehrgeiz – ja alles – hingeben.
Aber sie hatte das Gefühl, daß es zu spät war.
Billy lehnte sich schielend über den Hals seines Pferdes. Es goß in Strömen, und er sah kaum einen Meter weit. Bäume krachten, Äste knackten und segelten davon. Obwohl es kaum später als vier Uhr sein mochte, war der Himmel von einem unheimlichen, dunklen Grau überzogen.
»Da ist das Haus«, schrie ihm Charles, der vor ihm ritt, zu. Billy konnte nur den hin- und herschlagenden Schweif des Pferdes sehen. Ohne Charles wäre er verloren gewesen. Der Ritt durch den heftigen Wind hatte ihn erschöpft. Charles schrie noch irgend etwas, aber es ging in einem ohrenbetäubenden Krachen unter. Als Billy aufblickte, sah er, wie sich ein riesiger Ast von einer Eiche löste und geradewegs auf ihn zufiel. Er gab dem Pferd die Sporen. Er wurde von kleineren Zweigen getroffen, aber der schwerste Teil des Astes verschonte Roß und Reiter.
Das Pferd geriet in Panik und bäumte sich auf. Eine Hand kam aus der Dunkelheit hervor, streichelte das Tier und beruhigte es. Als der Schrecken nachgelassen hatte, fragte Charles:
»Ist alles in Ordnung?«
Billy schluckte und nickte.
Fünf Minuten später waren sie im Stall. Die andern Pferde waren unruhig. Billy und Charles übergaben ihre Pferde den verängstigten Stallburschen und legten Pfeile und Köcher auf einen Ballen Heu. Zwei nasse, müde und unglückliche Jäger. Sie hatten den ganzen Tag nur einen einzigen Rehbock gesehen. Charles hatte Billy den Vortritt gelassen, doch Billys Pfeil flog zu weit, und der Bock flüchtete. Daraufhin hatte Charles Billys Hemdzipfel entzweigeschnitten – die traditionelle Kennzeichnung eines Anfängers, der sein Ziel verfehlt hatte.
Billy war zwar verstimmt, aber der Mißerfolg überraschte ihn nicht. Den ganzen Tag war er von Gedanken an Ashton abgelenkt worden. Er sah sie jetzt realistischer und nicht mehr durch Emotionen verzerrt. Sie war immer noch ein schönes Mädchen, in mancherlei Hinsicht begehrenswert, aber sie war nichts für ihn. Er war dankbar, daß er dies gerade noch rechtzeitig entdeckt hatte.
»Gott sei Dank ist die Ernte schon eingebracht worden«, schrie Charles, als sie in Richtung Haus rannten. »Manchmal dringt das Salzwasser durch den Sturm bis hierher, und die Felder werden verseucht.«
»Ich dachte, die großen Stürme kämen im August oder im September.«
»Normalerweise ja, aber sie können auch später kommen, manchmal bis in den November hinein.«
Sie erreichten das Haus. Keuchend vor Erleichterung rannten sie hinein und sahen sich verdutzt in der Halle einer ängstlichen Gruppe von Familienmitgliedern gegenüber. »Nun, zumindest seid ihr beide sicher«, sagte George mit angespannter Stimme. Billy strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Was ist?«
Orry antwortete. »Deine Schwester wollte heute vormittag ausreiten. Ich habe ihr einen meiner Sklaven mitgegeben. Sie sind immer noch nicht zurück.«
Billy bemerkte Brett neben der Treppe. Sie blickte ihn angstvoll an, als er zu Orry sagte: »Sollen wir nochmals satteln und sie suchen gehen?«
»Ich habe die gleiche Frage gestellt«, sagte George, »aber Orry ist dagegen.«
»Mit gutem Grund.« Orry klang gereizt, als hätte ihn die leichte Kritik von George verletzt. »Virgilia kann irgendwo auf einem der Dutzend Pfade und Wege herumreiten. Ich wüßte nicht, wo ich sie zuerst suchen sollte. Abgesehen davon ist der Sturm bereits so stark, daß wir weniger als zehn Meter an ihr vorbeireiten könnten, ohne sie zu sehen. Aber wenn du möchtest, George, dann gehe ich.«
»Nein, nicht, wenn es riskant ist. Ich wollte nicht heftig sein.«
»Cuffey ist ein zuverlässiger Bursche«, sagte Orry zu den andern. »Er wird sicher einen Unterschlupf finden. Ich bin sicher, daß ihnen nichts geschehen wird.«
Irgendwo über ihnen riß der Wind einen Fensterladen weg und fegte durch ein Zimmer; Möbel fielen um, und Glas klirrte. Clarissa eilte besorgt die Treppen hoch, gefolgt von Maude und drei Hausmädchen. Brett rannte zu Charles hinüber. Billy bemerkte etwas spät, daß Ashton nicht anwesend war.
»Ich bin froh, daß ihr beide zurück seid«, sagte Brett, indem sie Orrys Arm berührte, aber Billy ansah. Er blinzelte und sah sie buchstäblich zum erstenmal. Ihre Besorgnis überraschte und freute ihn.
Tillet schlug den beiden Jägern vor, mit ihm ein Glas Whiskey zu trinken, um sich aufzuwärmen. Charles willigte begeistert ein, und Billy schlenderte hinter ihnen her. Als er an Brett vorbeikam, ruhten seine Augen einen Augenblick auf ihr. Sie war jung, aber hübsch. Ihr Gesicht hatte im Gegensatz zu demjenigen von Ashton etwas Sanftes. Er fand sie äußerst anziehend.
Vielleicht hatte er seine Aufmerksamkeit dem falschen Mädchen geschenkt.
»Miss, wir täten besser daran umzukehren«, sagte Cuffey etwa eine Stunde, nachdem sie Mont Royal verlassen hatten.
»Nein, das hier ist so aufregend«, sagte Virgilia durch den brausenden Wind.
Cuffey schnitt eine Grimasse, aber da er sich vor ihr auf einem alten Maultier abmühte, konnte sie seine Reaktion nicht sehen.
Virgilia ritt im Damensattel. Sie hatte den jungen Schwarzen gebeten, ihr malerische Plätze am Fluß zu zeigen. Sie ritten auf einem engen, schlammigen Waldpfad. Die dichtgewachsenen Bäume hielten zwar das bereits schwächer werdende Licht ab, ließen jedoch den Regen durch.
Der Wind hatte an Heftigkeit zugenommen. Virgilia hatte noch nie einen Hurrikan erlebt, der aufkommende Sturm erregte sie jedoch auf eine vollkommen unerwartete Weise: Sie begann unter ihrem Reitkleid zu schwitzen. Ihr Korsett schmerzte sie.
»Cuffey, du hast die Frage nicht beantwortet, die ich dir vor einer Weile gestellt habe.«
»Ich mach’ mir Sorgen wegen des Sturms, Miss. Ich hab’ die Frage vergessen.«
Lügner, dachte sie eher mitleidig als wütend. Irgendwo hinter ihnen wurde ein Baum entwurzelt und krachte ins Unterholz. Der Boden zitterte.
»Können Sie hier eine Minute warten, Miss? Ich möchte schnell nachsehen, ob der Reitpfad nicht blockiert ist.«
Er spornte sein Maultier mit nackten Fersen an, warf einen nervösen Blick zurück und ritt davon. Ein hübscher Bursche, etwa im gleichen Alter wie Charles. Er war auch intelligent – tat aber sein Möglichstes, es zu verbergen. Er hatte offensichtlich Angst vor den Fragen, mit denen sie ihn in der letzten halben Stunde bombardiert hatte. Die Mains hatten ihn so eingeschüchtert, daß er seine scharfe, natürliche Intelligenz verleugnete und unterdrückte. Dies war ein weiterer Grund dafür, weshalb sie die Familie und die ganze verdammte Sklavokratie haßte.
Um nach South Carolina kommen und sich das System mit eigenen Augen ansehen zu dürfen, hatte sie Freundlichkeit vorschützen und ihre Überzeugungen, Emotionen und Wünsche unterdrücken müssen. Es war ihr nicht immer gelungen. Als der hochnäsige Orry Main sie heute von ihrem Ausritt hatte abhalten wollen, hatte sie ihm höflich die Stirn geboten. Sie hatte es grundsätzlich getan und auch deshalb, weil sie sich allein mit einem Sklaven hatte unterhalten wollen. Auf seinem eigenen Grund und Boden, sozusagen. Bis jetzt war das Gespräch aber eher einseitig verlaufen.
Cuffey kam zurück und trieb sein Maultier mit einem Knüppel an. Er schien sich vor einer erneuten Gesellschaft mit ihr zu fürchten und außerdem andere Sorgen zu haben.
»Miss, jener Baum ist gerade auf ein Nest von Mokassinschlangen gefallen, die nun über den ganzen Pfad ausschwärmen. Sie haben Angst vor dem Sturm und sind gefährlich. Wir können nicht auf dem Weg zurückreiten, sondern wir müssen einen andern Weg nehmen. Es wird etwa eine Stunde länger dauern.«
»Das macht nichts. Du bist ein ausgezeichneter Führer.«
Sie lehnte sich lächelnd vor, um seine Hand zu tätscheln, doch er zog sie zurück, als ob er Feuer berührt hätte. Dann gab er dem Maultier die Fersen. »Wir können nichts anderes tun, als bis zur Straße am Fluß reiten«, murmelte er.
»Da es eine Weile dauern wird, bis wir nach Hause kommen, kannst du ja unterdessen meine Frage beantworten. Ich möchte wissen, ob du weißt, was das Wort Freiheit bedeutet.«
Schweigen. Nur der Regen war zu hören. Sekunden wurden zu Minuten. »Nun sag schon, Cuffey«, doppelte sie nach.
»Ich glaube schon«, erwiderte er, ohne sich nach ihr umzudrehen.
»Hast du eine Ahnung, wie dein Leben aussehen würde, wenn du frei wärst?«
»Nein, Miss, ich mach’ mir keine Gedanken darüber. Ich bin glücklich hier.«
»Sieh mich an und sag das noch einmal.«
Er tat keines von beidem.
»Cuffey, ich könnte dir Geld geben, wenn du fliehen möchtest.«
Als er das hörte, wirbelte er mit seinem Maultier herum; er warf wilde Blicke um sich, als ob er den Regen durchbohren wolle.
Der arme Kerl befürchtete, daß jemand mitten im Wald zuhören könnte. Verdammt sollten sie sein! Zum Teufel mit jedem einzelnen Main, mit jedem Südstaatler, zum Teufel auch mit ihrem Bruder George. Er wurde ein richtiger Gimpel – ein Yankee mit Sympathie für den Süden. Sie würde alles hingeben, um die ganze Bande bestraft zu sehen.
Cuffey starrte sie mit großen, bittenden Augen an. »Ich würde nie davonlaufen, Miss. Mist’ Tillet und Mist’ Orry behandeln mich gut. Ich bin ein glücklicher Nigger.«
Wie verzweifelt das klang! Sie winkte höflich ab.
»Na gut. Geh’n wir weiter. Es gießt.«
Der Pfad führte sie tief in den Wald hinein, und es wurde zusehends dunkler. Hatte es anfänglich bloß stark geregnet, so goß es jetzt in Strömen, und sie war völlig durchnäßt. Sie erblickte zwei Hirsche, die sich nach Westen davonmachten. Das Dickicht belebte sich mit Rascheln und Knistern, als die Tiere vor dem dräuenden Sturm flüchteten.
Mit dem zunehmend heftigeren Wind wuchs auch Virgilias Wut. Sie hatte sich verstellt und falsche Versprechen abgegeben, um George dahin zu bringen, daß er sie mit in den Süden nahm. Jetzt war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie den Rest der Ferien durchstehen konnte, ohne diejenigen, die Cuffeys Lebensgeister im Keim erstickt und seinen Mut beschnitten hatten, zu denunzieren. Sie wollte sie schlagen, verletzen…
»Was zum Teufel tust du hier, Nigger?«
Cuffey mußte am Waldrand angekommen sein. Er schrie jemanden an, den sie nicht sehen konnte. Sie ritt rasch an seine Seite und erblickte eine schöne Kutsche, die mit den Hinterrädern bis zur Nabe im Schlamm stak.
Der Kutscher saß immer noch auf dem Bock. Der Regen trommelte auf seinen kahlen Schädel, und er schwenkte das handgeschriebene Kärtchen, das er an einer Schnur um den Hals trug.
»Schrei mich nicht an, Nigger. Ich hab meinen Passierschein.«
Virgilia saß regungslos da. Das Gesicht des Kutschers war verzerrt, als ob er so den Regen abhalten könne. Wegen der Grimasse wurden seine Zähne sichtbar – die vier Vorderzähne fehlten. Etwas weniger feindselig sagte Cuffey: »Hab’ dich nicht erkannt, Grady. Was ist geschehen?«
»Wonach, zum Teufel, sieht’s denn aus? Die alte Mrs. Huntoon wollte, daß ich nach Charleston zurückfahre, damit Mr. Jim die Kutsche hat. Ich hab’ ihr gesagt, daß der Sturm die Straßen aufweichen würde, aber sie wollte nicht auf mich hören.«
Virgilia hörte Empörung, ja sogar unterdrückte Wut aus diesen letzten Worten. Die Besitzer von Grady hatten ihn seiner Männlichkeit nicht berauben können!
Cuffey bemerkte, wie der andere Sklave Virgilia mit großem Interesse anstarrte. Eine leise Warnung lag in seiner Stimme. »Diese Dame ist ein Gast von Mont Royal. Wir sind über den Reitweg gekommen, aber er ist jetzt voller Schlangen, und wir müssen einen Umweg machen.«
»Aber jetzt lieber nicht«, empfahl ihm Grady. »Zumindest die Dame nicht. Der Sturm ist zu heftig. Sie sollte in der Kutsche warten, und ich halte Wache. Und du reitest schnell wie der Wind nach Mont Royal und sagst ihnen, daß es ihr gut geht.«
Cuffey nagte an seiner Lippe. »Ich finde, du solltest gehen.«
»Du kennst den Weg besser als ich. Geh du!«
Cuffey sah elend aus. Er hatte offensichtlich Angst, bestraft zu werden, wenn dem Besuch etwas zustieß. Aber Grady war älter und stärker und schüchterte Cuffey ein. Doch dieser gab nicht nach, bis Virgilia ihre Stimme über das Wüten des Windes und das Klatschen des Regens erhob. »Ja, Cuffey, geh! Sie werden sich Sorgen machen. Ich bin bei diesem Mann in Sicherheit!«
»Einverstanden«, sagte er. »Aber paß gut auf sie auf, Grady. Ich komm’ so rasch wie möglich mit einigen Herren zurück.«
Er ritt davon. Als der Sturm das letzte Plopp der Hufe im Schlamm verschluckt hatte, kletterte Grady vom Bock herunter. Ohne den Blick auch nur eine Sekunde von Virgilia abzuwenden, ging er zur Kutschentür.
»Ich weiß nicht, ob Sie hier drinnen Schutz suchen möchten, Miss? Es könnte naß und schlammig sein.«
»Ja, besonders wenn die Tür nicht gut schließt.« Sie versuchte ihm mit ihrer Mimik und ihren Blicken zu zeigen, daß er keine Angst zu haben brauchte.
Er blickte sie kurz und prüfend an und packte dann mit beiden Händen den Türrahmen. Er zog heftig. Als er losließ, fiel die Tür in den Schlamm und war nur noch durch die unterste Angel mit der Kutsche verbunden. Die zwei anderen Angeln waren losgerissen.
Er zeigte mit dem Finger darauf. »Jetzt schließt sie bestimmt nicht mehr. Und das Wasser wird auch eindringen.«
»Was ist – « – sie schluckte – »was ist, wenn Cuffey sich daran erinnert, daß die Tür vorher nicht kaputt war?«
»Er ist zu aufgeregt, um sich an etwas zu erinnern. Und wenn doch, wird er nichts sagen. Dafür werde ich sorgen.«
Ihr schwindelte beinahe vor Erregung. »Wo können wir hin?«
»Nicht weit von hier ist eine alte, verlassene Mühle. Ich werde Wache stehen, wenn die andern wieder auftauchen, aber das wird mindestens noch ein paar Stunden dauern.« Er blickte sie noch einmal lange an, ergriff dann die Zügel ihres Pferdes und ging in Richtung Straße.
»Ich heiße Grady.«
»Ja, ich weiß.«
Er drehte sich um und lächelte ihr zu.
Die alte Mühle war voller Spinnweben, und es roch nach Schimmel. Das Dach hingegen war noch dicht und bot einen ausgezeichneten Schutz.
Virgilia war nervös wie ein Schulmädchen beim ersten Walzer – eine für sie ungewöhnliche Reaktion. Der Grund war Grady: Er sah so wild und doch so edel aus. Edel, obwohl seine Hände und Füße schmutzig und seine Kleider zerrissen waren.
Mit einem zynischen Blick fragte er: »Weshalb wollen Sie es tun?«
»Grady, Grady«, sie fuhr ihm mit der Handfläche über den kräftigen, nassen Unterarm, »sieh mich nicht so an. Ich will dir helfen.«
»Es gibt keinen weißen Mann und auch keine weiße Frau, die einem Nigger helfen würde. Nicht in South Carolina.«
»Im Norden ist es anders.«
»Kommen Sie von dort?«
»Ja. Im Norden haßt man die Sklaverei. Ich hasse die Sklaverei. Ich gehöre Organisationen an, die geflüchteten Sklaven helfen, ein neues Leben anzufangen. Ein Leben als freie Menschen.«
»Ich habe mir ein- oder zweimal überlegt, ob ich in den Norden gehen sollte. War mir nicht sicher, ob das Risiko es wert ist.«
Sie ergriff mit beiden Händen seinen Arm und preßte ihn stark. »Glaub mir, es lohnt sich.«
»Sie wollen mir also bloß helfen? Ist das alles?«
»Nein«, flüsterte sie, »du weißt, daß das nicht alles ist.«
Er grinste. »Aber ich frage mich immer noch warum. Bin ich Ihr erster Nigger?«
»Sei nicht so eingebildet!«
Ihre etwas heftige Reaktion provozierte ein polterndes Lachen. »Nun, Sie sind nicht gerade die hübscheste Frau, die mir je begegnet wäre…«
Sie biß sich auf die Lippen und quittierte die Beleidigung mit einem Lächeln. Er stellte die Machtverhältnisse klar.
»… aber dafür haben Sie den wärmsten Blick.« Er streichelte mit den Fingerknöcheln sanft ihre Wangen. »Ich hätte nichts dagegen, mehr von Ihnen zu sehen.«
Einen Augenblick später entledigte sich Virgilia ihrer Beinkleider. Mit beiden Händen hob sie ihr Reitkleid und ihren Unterrock hoch. Grady lächelte nicht mehr.
»Oh! Ich glaube, ich war vorhin nicht besonders liebenswürdig. Sie sind doch hübsch!«
»Nein, bin ich nicht. Aber das macht nichts.«
»Aber ich muß Ihnen die Wahrheit sagen, Miss Virgilia. Ich bin noch nie mit einer weißen Frau zusammengewesen.«
»Dann komm«, sagte sie und wippte leicht mit dem Kleid.
Die Zeit existierte nicht mehr für sie, als sie ihn wieder und wieder in sich aufnahm. Und der Hurrikan tobte.
Auf die von Wind und Regen geschüttelte Nacht folgte ein sanftes, leises Morgenrot. Als es tagte, kamen George, Billy und Cuffey zur Mühle geritten. Grady stand draußen Wache.
»Wir haben stundenlang gesucht!« schrie Orry vorwurfsvoll. »Weshalb sind Sie nicht bei der Kutsche geblieben?«
Grady antwortete respektvoll: »Sir, wollt’ ich tun. So wie ich es auch Ihrem Nigger gesagt hab’. Aber die Kutschentür ging kaputt, und Wasser und Schlamm drangen ein. Kein geeigneter, trockener Platz für ‘ne weiße Dame. Ich erinnerte mich an diese alte Mühle, und wir kamen hierher, gerade bevor der Sturm so richtig losging. Ich wußte, daß Sie ‘n bißchen Schwierigkeiten haben würden, uns zu finden, aber ich wußte auch, Sie würden hier lang kommen, und Sie würden mich seh’n oder ich Sie. Bin die ganze Nacht hier Wache gestanden. Die Dame ist drin, und es geht ihr gut. Sie wird Hunger haben, aber sonst geht es ihr gut.«
Innerlich lachte er. Immer wenn er mit einem weißen Mann redete, verschluckte er Silben. Sie hatten dann das Gefühl, daß sie es mit einem dieser dummen, treuherzigen Neger zu tun hatten. Das Täuschungsmanöver funktionierte hervorragend.
Virgilia trat aus der Mühle heraus und gab vor, sehr erleichtert zu sein. Sie bedankte sich bei Grady für seine Höflichkeit und Loyalität. George sah erleichtert aus, als sie wieder hineinging, um ihre nassen Schuhe und Strümpfe zu holen – das einzige, das sie zum Schlafen ausgezogen hatte, wie sie sagte.
Der Sturm hatte der Küste entlang am schlimmsten gewütet. Als er über den Ashley und Mont Royal hinweggefegt war, hatte er zwar Bäume entwurzelt und Straßen blockiert, die Häuser aber nur leicht beschädigt. Die Sturmflut war nicht heftig genug gewesen, um das Salzwasser bis zu den Reisplantagen flußaufwärts zu treiben. Alles in allem konnten die Mains dankbar sein, daß ihnen das Schlimmste wieder einmal erspart geblieben war.
Am Mittwoch der letzten Ferienwoche der Hazards kündigte Virgilia an. daß sie mit der Schaluppe nach Charleston fahren würde, um einige Einkäufe zu erledigen, und bat um ein Hausmädchen als Begleiterin. Virgilias Verhalten war Maude ein Rätsel. Aber schließlich hatte sie sich während der ganzen Reise merkwürdig benommen, dachte Maude. Nun, vielleicht wollte sie nach Charleston, um für die Mains Geschenke zu kaufen? Maude hatte vor, ihre Geschenke von Lehigh Station abzuschicken. Wenn es ihrer Tochter ein Bedürfnis war, ihre Dankbarkeit schon vor der Rückkehr nach Hause auszudrücken, so wollte sie sie beileibe nicht daran hindern. Die Änderung in Virgilias Benehmen war viel zu positiv, als daß sie hätte eingreifen mögen.
Es erwies sich als doch nicht so einfach, von ihrer Anstandsdame wegzukommen, wie Virgilia sich vorgestellt hatte. Sie mußte warten, bis das Mädchen eingeschlafen war, was länger dauerte als erwartet. Schließlich schlich sich Virgilia aus dem Zimmer und die Hoteltreppe hinunter.
Die weiße Frau, die allein zu später Stunde durch die Meeting Street hastete, lenkte natürlich Blicke auf sich, aber sie würde diese Menschen ja nie wiedersehen. Ihre vor kurzem entbrannte Leidenschaft war stärker als ihre Angst vor einem möglichen Entdecktwerden. Sie traf Grady, der im Dunkel eines Torbogens kauerte, in einer Allee in der Nähe des Dock-Street-Theaters. Sie hatten in der Mühle Ort, Tag und Stunde ihres Treffens vereinbart. Er schnauzte sie an: »Du bist zu spät!«
»Es ging nicht anders. Hattest du Schwierigkeiten, dich aus dem Haus zu schleichen?«
»Nein, das war nicht schwierig, aber für Nigger begann vor einer halben Stunde Ausgehverbot. Mein Passierschein ist seit zwei Wochen nicht mehr gültig. Wir hätten uns tagsüber treffen sollen.«
»Bei Tageslicht könnten wir dies nicht tun.« Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn wild. »Wir hätten Monate warten müssen, bis sich eine Gelegenheit geboten hätte. Aber wir haben beschlossen, daß es heute sein sollte, und wir haben die Entscheidung zusammen getroffen, erinnerst du dich?«
»Ja.«
Sie küßte ihn wieder und öffnete dann ihre Handtasche. »Da. Das ist alles Geld, das ich habe. Auf diesem Stück Papier steht eine Adresse für Philadelphia. Ein sicheres Haus, das von Quäkern geführt wird. Von Freunden«, verbesserte sie sich, als sie merkte, daß er den andern Begriff nicht verstand.
Er befingerte schüchtern den Zettel. »Das kann ich nicht lesen. Ich kann überhaupt nicht lesen.«
»O Gott, daran hab’ ich nicht gedacht.«
»Aber in klaren Nächten finde ich immer den Polarstern.«
»Natürlich! Frag bei einer Kirche nach, wenn du dich verlaufen hast. Kirchen sind zwar nicht immer der geeignete Ort für Ausreißer, aber ich weiß im Moment nichts Besseres – oder etwas, das leichter zu erkennen wäre. Nun zum Essen. Kennst du die Zahlen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Es kann also sein, daß man versucht, dich zu betrügen, wenn du Essen kaufst und nicht mit dem Geld umgehen kannst. Das könnte sogar Verdacht erregen. Stehlen wäre vielleicht weniger riskant, aber das mußt du selbst entscheiden.«
Er vernahm die Angst in ihrer Stimme und klopfte ihr sanft auf die Schulter. »Ich werde mir schon zu helfen wissen. Mach dir keine Sorgen. Jetzt habe ich einen guten Grund, um nach Norden zu gehen.«
Sie umarmten sich wieder, lange und innig. Sie preßte die Wange gegen sein sauberes Arbeitshemd. »Du hast mehr als nur einen Grund, Grady. Ich werde dir im Norden Schreiben und Rechnen beibringen. Du wirst neue Zähne bekommen, und dann bist du der schönste Mann der Welt.«
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn im schwachen Lichtschein der Allee. »Ach, ich hab’ dich so gern.«
Es überraschte sie. Weshalb war es so gekommen? Weil sie den Mains und Konsorten eins auswischen wollte? Weil sie sich total für eine Sache engagieren wollte? Es war beides und noch etwas mehr.
Mit einem verlegenen Lächeln flüsterte er: »Manchmal habe ich das Gefühl, daß wir beide einmal in der Hölle büßen müssen.«
Es klang eher traurig. Sie versuchte ihn aufzumuntern. »In der Hölle des weißen oder jener des schwarzen Manns?«
»In der Hölle der Weißen. Ich habe gehört, dort soll es viel netter sein. Aber es kommt letzten Endes wohl auf dasselbe heraus.«
»Nein. Wir werden ein glückliches und sinnvolles Leben zusammen führen.«
Und George oder wer auch immer soll ja nicht versuchen, uns davon abzuhalten.
Ein Schatten tauchte am Ende der Allee auf. Eine Laterne blitzte auf.
»Wer ist das?«
»Lauf, Grady!« flüsterte sie ihm zu. Er verschwand in der Dunkelheit.
Sie zählte bis zehn. Ihr Herz klopfte wie rasend, als der Schatten sich näherte. Sie schmiß ihre Handtasche weg und rief: »Polizist? Bitte hierher. Ein Junge hat meine Handtasche geschnappt, und ich habe ihn verfolgt.«
Sie hatte Grady ihr ganzes Geld gegeben. Die Geschichte würde einleuchten. Der schwerfällige Polizist kam keuchend auf sie zu und leuchtete mit der Laterne in ihre Augen.
»Ein Nigger?«
»Nein, ein Weißer. Etwa fünfzehn, schätze ich. Am linken Ohrläppchen trug er einen kleinen Goldring. Ich mache jede Wette, daß er ein Schiffsjunge auf einem der Dampfer dort drüben ist. Bitte leuchten Sie mit Ihrer Laterne mal dort hinüber – ich glaube, ich sehe etwas.«
Einen Augenblick später zeigte sie ihm die Handtasche.
»Alles Geld weg. Es war dumm von mir, das Hotel zu verlassen, um frische Luft zu schnappen. Ich dachte, Charleston wäre für weiße Frauen nach der Sperrstunde für Sklaven sicher.«
Der Polizist fiel auf ihr geschicktes Täuschungsmanöver herein. Er stellte keine weiteren Fragen und begleitete sie sogar zum Hotel zurück.
Zwei Tage später tauchte der Besitzer von Grady in Mont Royal auf.
30
Als der Besucher angekündigt wurde, hatten sich Orry und die andern gerade um den Eßzimmertisch versammelt, wo Virgilia die Geschenke für die Familie ausgebreitet hatte. Bis jetzt hatte bloß Tillet sein Geschenk ausgepackt: eine teure Seidenkrawatte.
Orry stand auf. »Entschuldigt mich bitte, ich will nachsehen, was er will.«
»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Tillet. »Glaubst du, es könnte etwas mit Gradys Flucht zu tun haben?«
»Wieso?« entgegnete Clarissa. Dann bemerkte sie, wie ihr Gatte Virgilia anstarrte, die sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, am Kopfende des Tisches niedergelassen hatte. Sie schürzte in eigenartiger Weise die Lippen. Blasiert, dachte Clarissa im geheimen. Auch George fiel es auf, und er runzelte die Stirn.
Orry ging in die Halle hinaus. »James, guten Morgen.«
Er ergriff Huntoons Hand, die sich wie gewöhnlich weich anfühlte und zudem überraschend feucht war. Trotz des kühlen Wetters schwitzte der Besucher stark. Seine Brillengläser waren beschlagen. Als er sie an einem Zipfel seines Mantels abwischte und mit einer ruckartigen Bewegung wieder aufsetzte, wunderte sich Orry, wie Ashton es mit einem solchen Weichling aushalten konnte.»Was führt Sie hierher?« fragte Orry.
»Ich komme nicht aus gesellschaftlichen Gründen. Ist Ihnen bekannt, daß einer meiner Nigger davongerannt ist?«
»Ja. Grady. Wir haben es vernommen. Tut mir leid.«
»Es scheint mir kein reiner Zufall zu sein, daß ein Nigger, der früher nie die leisesten Anzeichen von Unzufriedenheit zeigte, gerade dann ausreißt, wenn Sie Besuch aus dem Norden haben.«
Orry nahm eine straffe Haltung ein. »James, Sie wollen doch nicht etwa unterstellen – «
»Ich unterstelle gar nichts«, unterbrach ihn Huntoon. »Ich sage es geradeheraus.«
Durch die offene Tür hatte er die Mains und ihre Gäste erspäht, und seine Stimme war so laut, daß man ihn hören konnte. Und schon wurde ein Stuhl beiseite geschoben. Orry erkannte den schweren Tritt seines Vaters.
Huntoon fuhr fort: »Ich bin überzeugt, daß jemand Grady dazu ermutigt hat, fortzurennen. Mehr noch, ich glaube, daß dieser Jemand in diesem Haus zu Gast ist.«
Tillet tauchte auf, gefolgt von den andern. Huntoon warf ihnen finstere Blicke zu.
»Orry, es ist allgemein bekannt, daß einer Ihrer Gäste aus dem Norden sich für die Befreiung der Nigger im Süden einsetzt. In jener Nacht, als der Sturm wütete, hat Grady bei eben diesem Gast angeblich Wache gehalten.« Huntoon schritt an ihm vorbei. »Ich möchte mich direkt an Sie wenden, Miss Hazard. Haben Sie meinem Sklaven zur Flucht verholfen?«
Orry packte Huntoon am Arm. »Moment mal, James. Sie können nicht hier hereinplatzen und meine Gäste ins Kreuzverhör nehmen. Es ist mir klar, daß Sie einen finanziellen Verlust erlitten haben, aber das ist keine Entschuldigung für – «
»Sie soll antworten«, entgegnete Huntoon unwirsch.
Die andern standen im Halbkreis um ihn herum. Ashton betrachtete Virgilia mit unverhohlener Feindseligkeit. Billy war ebenfalls wütend, aber auf Huntoon. Tillet blickte unglücklich, Clarissa war verwirrt, George bestürzt, Virgilia hatte trotzig das Kinn vorgeschoben.
Orry faßte sich und sagte: »Nein, James. Nicht bevor Sie uns einen Grund genannt haben.«
Huntoons Wangen röteten sich. »Wozu?«
»Es fällt mir schwer zu glauben, daß Sie nur wegen einer Vermutung gekommen sind, um gerade hier nach dem Schuldigen zu suchen.«
Blitzschnell antwortete Huntoon: »Es ist mehr als eine Vermutung. Erstens hat Miss Hazard, wie bereits gesagt, eine ganze Nacht in Begleitung meines Niggers verbracht – etwas, auf das sich eine weiße Frau aus dem Süden nie einlassen würde, aber das ist ja nebensächlich. Ich nehme an, sie hat Grady irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt – «
»Virgilia, bist du dir im klaren darüber, was dieser Mann sagt«, unterbrach ihn George.
Sie lächelte unbeirrt. »Völlig.«
»Dann sag ihm um Himmels willen, daß es nicht stimmt.«
»Weshalb sollte ich? Weshalb sollte ich auf sein Gewäsch eingehen?«
Orry bekam Magenschmerzen. Sie hatte nicht gesagt, daß sie ohne Schuld sei. Auch George war das klar, und er sah dementsprechend aus.
»Nun«, sagte Huntoon selbstgefällig, »da haben wir ein weiteres Beweisstück. Aus verläßlicher Quelle weiß ich, daß Miß Hazard an dem Abend in der Stadt war, als Grady aus Charleston flüchtete; er trug einen alten Passierschein bei sich, den ich leider zu vernichten vergessen habe.«
Das stimmte, erinnerte sich Orry.
Huntoons Stimme wurde lauter. »Sie war nur von einem Niggermädchen dieser Plantage begleitet, einem Mädchen, das wegen seiner rassentypischen Dummheit leicht getäuscht werden kann. Ferner bin ich informiert worden, daß dieses Mädchen an dem fraglichen Abend kurz nach neun aufgewacht ist und dabei entdeckt hat, daß Miß Hazard nicht mehr im Hotelzimmer war. Was, glauben Sie, hat sie zu so später Stunde anderes draußen getan, als meinem Sklaven zur Flucht verholfen?«
Huntoon ging energisch auf Virgilia zu. »Weshalb geben Sie darauf keine Antwort, Miß Hazard?«
»Ja, warum nicht«, sagte Ashton. »Es ist an der Zeit, daß Sie unsere Gastfreundschaft mit der Wahrheit entgelten.«
Tillet zupfte seine Tochter am Ärmel. »Halt dich da raus.« Aber sie war schon an ihm vorbeigeschlüpft und hatte sich, offensichtlich Partei ergreifend, bei Huntoon eingehakt.
Orry starrte seine Schwester an und begriff nun endlich, weshalb Huntoon ausgerechnet nach Mont Royal gekommen war. Ashton, die sich in ihrem Verdacht durch einige bruchstückhafte Informationen bestätigt sah, hatte ihn dazu aufgefordert. Ihr Benehmen schockierte ihn zwar, aber es überraschte ihn keineswegs. Es war längst klar gewesen, daß Ashton Virgilia nicht leiden konnte.
Orry erging es ähnlich. Virgilia trug immer noch eine blasierte Miene zur Schau. Er räusperte sich. »Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie James’ Frage beantworten würden, Virgilia.«
»Beantworten? Wie?«
»Indem du sagst, daß es nicht stimmt!« platzte George heraus.
»Weshalb sollte ich?«
»Verdammt noch mal, Virgilia, hör endlich auf zu lächeln!« George achtete nicht darauf, wie seine Frau hörbar Atem holte. »Verdirb nicht alles. Sag, daß es nicht stimmt!«
»Das werde ich nicht.« Sie stampfte. »Ich lasse mich von diesem Mann nicht einschüchtern und tyrannisieren, wenn er selber Dreck am Stecken hat. Wie kann er etwas von Schuld faseln, wenn er sich Leibeigene hält?«
In einem Anflug von Verzweiflung sagte Constance: »Es stellt ja niemand deine Prinzipien in Frage. Aber sei doch vernünftig und vergelte die Großzügigkeit der Mains nicht mit Feindseligkeit und schlechten Manieren.«
»Tut mir leid, Constance, aber ich tue, was mein Gewissen mir sagt.«
Sie ist ebenso verrückt wie Huntoon, dachte Orry. Der Rechtsanwalt trat dicht an Virgilia heran.
»Sie haben es getan, nicht wahr? Deshalb wollen Sie es nicht leugnen.«
»Das werden Sie nie erfahren, Mr. Huntoon«, sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln.
»Was haben Sie meinem Nigger sonst noch alles gegeben? Ihre Gunst? Haben Sie mit ihm gevögelt, um ihm Ihre egalitäre Haltung zu beweisen? Das würde mich bei einer Abolitionistenhure nicht wundern.«
Billy und seine Schwester waren einander noch nie sehr nahe gestanden, aber das war zu viel für ihn. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Huntoon.
Ashton kreischte und versuchte Billy wegzuschubsen. Aber er war zu stark für sie. Huntoon sprang zurück, so daß Billy seine Gurgel verfehlte und ihm lediglich die Brille von der Nase riß. Sie fiel zu Boden, und die Gläser funkelten im Licht. Als George dazwischensprang, um Billy am Arm zu packen, wurden sie zermalmt.
»Hör auf! Reiß dich zusammen! Laß ihn!«
»Aber er beschimpft Virgilia!« keuchte Billy.
George stellte sich vor seinen Bruder hin und hob seinen linken Arm wie eine Eisenbahnschranke. Tillet hob die kaputte Brille auf und hielt sie Huntoon mit spitzen Fingern hin.
»Bitte gehen Sie, James«, sagte er. »Sofort.«
Huntoon fuchtelte mit der kaputten Brille in Virgilias Richtung. »Sie hat dazu beigetragen, daß ich mein Eigentum verloren habe. Und der junge Raufbold hat mich angegriffen. Ich fordere Genugtuung. Mein Sekundant wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen.«
»Es wird kein Duell geben«, sagte Orry. Vetter Charles, der schweigend im Hintergrund stand, war enttäuscht.
Billy schüttelte seinen Bruder am Arm. »Warum nicht? Ich will mit ihm kämpfen. Ich bring’ den verdammten Hurensohn um.«
Huntoon schluckte hörbar. Ashton warf Billy einen überraschten, beinahe bewundernden Blick zu, drehte sich dann um und drängte ihren Freier zur Tür. Er schimpfte und tobte, doch einige Augenblicke später saß er in seiner Kutsche. Der erschrockene Kutscher gab dem Gespann die Peitsche.
Eine Staubwolke wirbelte auf, und Orry sagte den Hazards unumwunden, was gesagt werden mußte:
»Wenn Huntoons Anschuldigungen bekanntwerden, wird die Nachbarschaft stark darauf reagieren. Es wäre weise, wenn Sie noch heute nach Charleston abreisen würden.«
»In einer Stunde sind wir soweit«, sagte George.
Er schob Billy zur Treppe. Virgilia folgte ihren Brüdern geräuschlos; sie trug immer noch ihr königlich arrogantes Lächeln zur Schau. Was Orry am meisten beunruhigte, war die Reaktion seines Freundes auf die Warnung. George schien verärgert. Orry schüttelte den Kopf, fluchte und ging nach draußen, um frische Luft zu schnappen.
Dreiviertel Stunden später machte sich George, etwas ruhiger geworden, auf die Suche nach seinem Freund. Er fand Orry in einem Schaukelstuhl auf der Veranda. Die Kutsche stand auf dem Torweg bereit, und die Hausbediensteten waren dabei, das Gepäck auf dem Dach zu verstauen.
Orry hatte den einen Fuß auf einen Stuhl gelegt und die Augen mit der rechten Hand abgeschirmt. Seine Haltung drückte ein Gefühl der Niederlage aus. George drehte verlegen den Hut in seinen Händen.
»Vor unserer Abreise hat mir Virgilia versprochen, daß sie dich und deine Familie in keiner Weise kompromittieren würde. Nun hat sie ihr Versprechen gebrochen, aber vielleicht wollte sie das schon von Anfang an. Tatsache ist, daß ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich habe eben mit ihr gesprochen, aber sie zeigt kein bißchen Reue; sie scheint eher noch stolz auf ihr Benehmen zu sein, was meiner Meinung nach unverzeihlich ist.«
»Ich schließe mich deiner Meinung an.«
Orrys direkte Antwort bewirkte, daß George die Schamröte ins Gesicht schoß. Orry stand abrupt auf; er schien jetzt gar nicht mehr niedergedrückt. »Nun ja, ich weiß, daß du nichts damit zu tun hast, und Grady wird man ohnehin bald erwischen. Es tut mir leid, daß es geschehen ist, aber es ist nun mal so, und wir können nichts daran ändern.«
»Außer, daß meine Schwester in Zukunft nicht mehr nach South Carolina kommt.«
»Ja, das wäre nicht schlecht.«
George sprach für beide, als er sagte: »Wir leben in einer schlimmen Zeit. Die Unruhe wird mit jedem Tag größer – und wir stoßen immer wieder auf Fragen, auf die es offensichtlich keine Antwort gibt. Ich möchte jedoch nicht, daß diese Fragen einen Keil zwischen unsere Familien treiben.«
Orry seufzte. »Ich auch nicht. Und ich mache dich auch nicht für das Betragen deiner Schwester verantwortlich.« Aber irgendwo blieb ein bitteres Gefühl zurück.
»Wirst du nächsten Sommer mit deiner Familie wieder nach Newport kommen? Ich werde dafür besorgt sein, daß Virgilia anderswo ist.«
Orry zögerte mit der Antwort: »Wenn sich bis dahin nichts verändert hat – ja, ich will’s versuchen.«
»Schön!«
Die beiden Freunde umarmten einander. George setzte den Hut auf. »Wir tun besser daran zu verschwinden, bevor Huntoon mit einer ganzen Meute anrückt, um uns zu lynchen.«
»Wir kennen keine Lynchjustiz im Süden!«
»Beruhige dich, Orry. Es war bloß ein Scherz.«
Orry wurde rot. »Tut mir leid. Ich bin im Moment etwas empfindlich. Das scheint in letzter Zeit im Süden an der Tagesordnung zu sein.«
Maude und Constance traten, gefolgt von der Amme und den Kindern, aus dem Haus. »Sind alle bereit?« fragte George seine Frau.
»Nicht ganz«, antwortete sie, »wir können Billy nicht finden.«
Billy hastete eben durch den Verbindungsgang zwischen dem Herrenhaus und dem Küchengebäude. Eines der Hausmädchen hatte ihm gesagt, daß Brett beim Backen half.
»Billy?« Einen Augenblick lang dachte er, es sei Brett, doch dann sah er Ashton um die Ecke biegen. »Ich habe dich überall gesucht.«
Sie ließ ihren Reifrock, den sie beim Laufen hochgehoben hatte, fallen und betrachtete ihn prüfend. »Oh, wie hübsch du in deinem Reiseanzug aussiehst.«
»Es tut mir leid, daß wir unter diesen Umständen abreisen müssen.« Er hatte Mühe, die Worte hervorzubringen, und fühlte sich in ihrer Anwesenheit höchst unbequem. »Ich weiß, daß Virgilia euer Vertrauen mißbraucht hat, aber ich konnte einfach nicht zusehen, wie dein Freund sie beschimpfte.«
Er hatte erwartet, daß Ashton ihm widersprechen würde, und war überrascht, als sie nickte. »Auch mein Temperament ist mit mir durchgebrannt. Ich hätte nicht – ich weiß nicht, warum ich es getan habe. James Huntoon ist mir völlig wurst.«
Die Spannung wich etwas, und Billy gelang es zu lächeln. »Dann bist du aber eine gute Schauspielerin.« Natürlich war ihm das schon längst klar. »Ich wünschte, dein Bruder und George hätten mir gestattet, mit Huntoon zu kämpfen. Ich gehe nicht schlecht mit der Pistole um.«
»Ach, James ist viel zu hasenfüßig für ein Duell. Nichts als Schall und Rauch – wie die meisten Politiker, mit denen er herumrennt. Du bist anders – «
Sie fingerte unter der Samtmanschette an seinem Handgelenk herum. »Du bist tapfer. Ich bewundere Tapferkeit bei einem Gentleman. Tapferkeit und Stärke – «
Ihr Zeigefinger spielte mit dem Haar auf seinem Handgelenk. Sie wollte ihn und versuchte, ihm dies mit ihrem Blick, ihrem Mund und ihrem Streicheln zu sagen. Sie versuchte, ihn zu sich zurückzuholen. Der Versuch scheiterte.
»Danke für deine Worte, Ashton, aber ich muß jetzt gehen. Ich hab’ noch etwas in der Küche zu erledigen.«
»Oh, hast du Hunger?« fragte sie mit einem spröden Lächeln. »Man sagt, daß junge Burschen immer Hunger haben.« Sie betonte das Wort junge.
Die Beleidigung brachte ihn zum Erröten. »Entschuldige mich jetzt bitte.« Er drehte sich um und eilte davon. Es war aus mit ihm. Der abrupte Abschied hatte auch die geringste Hoffnung zerstört. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie vergeblich zurückzuhalten versuchte.
Billy kam sich irgendwie idiotisch vor, als er auf der Suche nach der einen vor der andern Schwester flüchtete. Aber er war entschlossen, Brett zu finden. Wie würde sie reagieren? Wütend? Mit Verachtung? Er konnte sich nur das eine oder das andere vorstellen, und doch rannte er geradewegs in die dampfende und lärmige Küche hinein, wo eine stattliche Anzahl Haussklaven an den verschiedensten Töpfen herumhantierten. Auf dem Herd brodelte Suppe in riesigen Kesseln. Ab und zu drang ein Windstoß durch den Kamin und erfüllte den Raum mit beißendem Rauch. Durch eine solche Rauchwolke hindurch sah er Brett beim Teigkneten.
»Sir, was kann ich für Sie tun?« fragte eine dralle Köchin mit Schielaugen, offensichtlich hatte sie etwas dagegen, daß ein Fremder in ihr Revier einbrach.
»Ich möchte Miss Main sprechen.«
Brett schaute auf, sah ihn und wurde nervös. Mit der Schürze wischte sie sich das Mehl von der Wange. Als sie um den Tisch mit dem großen Hackbrett herumhastete, tauschten die Köche und Gehilfen verstohlen amüsierte Blicke.
»Ich wollte dir noch auf Wiedersehen sagen«, sagte Billy.
Sie strich sich einige Haarsträhnen aus der Stirn. »Ich dachte, du würdest dich von Ashton verabschieden.«
»Sie ist die Freundin von Mr. Huntoon.« Der Rauch reizte ihn so stark, daß er husten mußte. Brett ergriff spontan seine Hand.
»Komm, wir gehen nach draußen. Es ist höllisch heiß hier drinnen.« Das Wort höllisch ließ vermuten, daß sie entweder kühn oder nervös war. Billy entschied sich für letzteres.
Der kühle Herbstwind wirkte erfrischend. Langsam wich die Röte aus Bretts Gesicht. »Ich sehe bestimmt schrecklich aus. Ich hatte nicht erwartet, daß mich jemand aufsuchen würde.«
»Ich mußte dich einfach vor der Abreise noch sehen. Virgilia hat diese Ferien zwar verdorben, aber ich möchte nicht, daß damit auch die Freundschaft zwischen unsern Familien zugrunde geht. Wir sind ja erst dabei, uns kennenzulernen.«
»Wirklich? Du meinst – «
Sie wäre am liebsten auf der Stelle gestorben. Im entsetzlichen Bewußtsein ihres totalen Mangels weiblicher Grazie konnte sie kaum zwei Worte hintereinander aussprechen. Wie häßlich sie aussehen mußte, mit all dem Mehl und der Hefe im Gesicht. Aber sie war wirklich nicht auf diesen Besuch gefaßt gewesen, und das hatte sie ihm gesagt. Sie hatte zwar oft davon geträumt, daß er sie bemerken würde – aber um Himmels willen nicht, wenn sie schwitzend in der Küche stand.
»Ich hoffe, wir sind, wir werden – « Auch bei Billy war die Verlegenheit stärker. Er gab auf und lachte, und damit war das Eis gebrochen.
»Niemand macht dich für das Benehmen deiner Schwester verantwortlich«, sagte Brett.
Er betrachtete ihre Augen. Wie hübsch sie waren, und ganz ohne Falschheit. Sie war nicht so aufregend attraktiv wie Ashton und würde es auch niemals sein. Und doch strahlte sie eine gewisse Schönheit aus, dachte er, eine einfache und natürliche Schönheit, die teils auf ihren scheuen, sanften Blick und teils auf ihr liebevolles Lächeln zurückzuführen war. Es war eine Schönheit, die – im Gegensatz zu derjenigen ihrer Schwester – dem Alter standhalten würde. Es war eine Schönheit, die wie ein klarer, ruhiger Strom direkt zu ihrem Herzen führte.
So sah er es wenigstens durch sein romantisches Auge.
»Es ist lieb von dir, dies zu sagen, Brett. Virgilia hat sich völlig unmöglich benommen. Aber wir alle möchten, daß ihr nächsten Sommer wieder nach Newport kommt. Ich habe mich gefragt, ob – «
Die Hintertür des Herrenhauses öffnete sich, und das Kindermädchen streckte den Kopf durch die Tür.
»Master Billy? Wir haben Sie gesucht. Wir sind startbereit.«
»Ich komme.«
Die Tür wurde wieder geschlossen. Er ließ alle Vorsicht fahren. »Wenn Orry nach Newport kommen sollte, kommst du dann auch?«
»Ich hoffe es.«
»Inzwischen – ich kann zwar nicht gut schreiben – könnte ich dir vielleicht ab und zu einen Brief schicken?«
»Das wäre schön.«
Ihr Lächeln war so sanft, daß eine Welle der Freude ihn durchflutete. Durfte er sie küssen? Doch statt seinem Impuls nachzugeben und ihr einen Kuß auf die Wange zu drücken, bückte er sich, ergriff ihre Hand und drückte wie ein romantischer Ritter seine Lippen darauf. Dann rannte er wie der Teufel los – hauptsächlich, um seinen knallroten Kopf zu verbergen. Brett drückte ihre Hände auf den Busen und starrte ihm glückstrahlend nach. Endlich wandte sie sich um und ging ins Haus zurück.
In jenem Moment wurden die Sonnenstrahlen von den Fensterscheiben rotgolden reflektiert. Es war unmöglich festzustellen, ob jemand am Fenster stand. Aber Ashton konnte das nicht wissen. Da sie befürchtete, von ihrer Schwester entdeckt zu werden, zog sie rasch ihren Kopf von der Scheibe weg, durch die sie das ganze widerliche Schauspiel zwischen ihrer Schwester und Billy Hazard betrachtet hatte.
Brett war bald aus ihrem Blickfeld verschwunden, aber Ashton starrte noch lange regungslos auf das Fenster. Das durch den Spitzenvorhang fallende Sonnenlicht warf ein Schattenmuster auf ihr Gesicht – wie ein Spinnennetz. Doch ihre harte Mundlinie und die halb geschlossenen Augen verrieten ihre Wut.
»Papa, was wollte der Mann mit dem Schnurrbart?«
Die Frage kam von dem kleinen William Hazard, der sich an die Beine seines Vaters schmiegte. Patricia saß auf Georges Schoß, die Arme um seinen Hals und den Kopf müde auf seiner Schulter. Die beiden Kinder trugen Nachthemden aus Flanell.
In Belvedere roch es weihnachtlich nach frischen Tannenzweigen. Im Wohnzimmer vermischte sich der Duft mit demjenigen des Apfelbaumholzes im Kamin und dem Geruch von frischer Seife, der von den Kindern kam.
»Er wollte, daß ich wieder Soldat werde«, sagte George.
William wurde ganz aufgeregt. »Wirst du wieder Soldat werden?«
»Nein. Einmal ist genug. Ins Bett mit euch beiden.«
Er gab jedem Kind einen herzhaften Kuß und einen Klaps auf den Po, damit sie sich beeilten. Constance wartete auf sie in der Halle. Sie warf George ein Kußhändchen zu, krümmte die Zeigefinger vor der Stirn und meckerte wie ein Ziegenbock. Die Kinder kreischten vor Vergnügen und rannten davon. Sie liebten die abendliche Verfolgungsjagd. Manchmal spielte Constance einen Elefanten, manchmal einen Löwen, manchmal einen Frosch. Die Kinder erfreuten sich an ihrer Phantasie. Das überraschte George nicht. Auch er war entzückt.
Doch an diesem Abend war er, obwohl er mit den Kindern gespielt hatte, etwas desorientiert. Der Besucher hatte den Generaladjutanten der Miliz von Pennsylvania vertreten. Er hatte das Gespräch mit der Äußerung eröffnet, die Miliz brauche qualifizierte Offiziere, um sich auf den Krieg, der mit Gewißheit in den kommenden Jahren ausbrechen würde, vorbereiten zu können.
»Welcher Krieg?« wollte George wissen.
»Der Krieg, mit dem die verräterischen Äußerungen im Süden zum Schweigen gebracht werden können. Der Krieg, mit dem die persönliche Freiheit in den neugewonnenen Territorien der Nation garantiert werden soll.« Der Besucher entpuppte sich folglich als ein Befürworter der Freie-Boden-Partei. Würde George der Miliz beitreten, könnte er bestimmt mit einem Hauptmannsrang rechnen, erklärte der Besucher. »Meine Gewährsleute in Lehigh Station haben mir gesagt, daß Sie beliebt sind. Ich bin sicher, daß damit der Nachteil Ihrer West-Point-Ausbildung wettgemacht wäre.«
Er sagte dies mit einer solchen Herablassung, daß George ihn beinahe in den Schnee hinausgeworfen hätte. Die Erinnerungen an den Krieg in Mexiko verblaßten langsam, und die Öffentlichkeit kehrte zu ihrem alten Mißtrauen gegenüber dem Militär zurück – und zu ihrer Abneigung gegenüber der Militärakademie.
Der Besucher war hartnäckig, und George mußte sein Angebot dreimal ausschlagen. Beim dritten Mal war er so verärgert, daß er sagte, die Sklaverei dürfte nur mit friedlichen Mitteln abgeschafft werden.
George hatte die Disziplin des Soldatenlebens schon immer verabscheut und gehofft, ihm für immer entronnen zu sein. Noch mehr aber verabscheute er den Besucher und dessen spöttische Anspielung, daß George zu wenig patriotisch war, weil er andere Amerikaner nicht töten wollte. Als George daraufhin grob wurde, verließ der Mann abrupt das Haus.
Doch mit dem Besucher waren auch die alten, unbequemen Fragen wieder aufgetaucht. Wie konnte die Sklaverei im Süden abgeschafft werden, ohne zu Gewalt Zuflucht nehmen zu müssen? George wußte es nicht. Niemand wußte es. Und bei den meisten Gesprächen, die vielleicht zu einer Antwort geführt hätten, wurde die Vernunft meistens von den Emotionen beiseitegeschoben. Der Streit war zu tief verwurzelt und dauerte schon zu lange. Er war so alt wie die Missouri-Kompromißlinie von 1820. So alt wie die erste Schiffsladung voller Neger.
Er erinnerte sich an den Brief, den er schon seit einigen Tagen hatte schreiben wollen. Vielleicht war er deshalb liegengeblieben, weil er es haßte, nicht die ganze Wahrheit schreiben zu können. In gedrückter Stimmung setzte er sich an sein Pult und starrte etwa zehn Minuten auf das leere Blatt vor ihm, bevor er die ersten Zeilen schrieb:
Mein lieber Orry
Vielleicht kann ich die düsteren Erinnerungen an den vergangenen Herbst etwas abschwächen, wenn ich dir mitteile, daß meine Schwester auf meine Aufforderung hin ausgezogen ist. Virgilias Benehmen in ihren verschiedenen Abolitionistenvereinen wurde für uns alle unerträglich.
Mehr sagte er nicht. Er schrieb nichts darüber, daß Grady sicher in Philadelphia angekommen war, und daß Virgilia mit dem geflohenen Sklaven überall hinging. Sie hatte neue künstliche Zähne für ihn besorgt, und diese Angelegenheit hatte sie und George endgültig entzweit.
Sie hatte George um ein Darlehen für die neuen Zähne gebeten. Er war – unter einer Bedingung – einverstanden gewesen: daß sie damit aufhörte, mit Grady herumzustolzieren. Der Streit, der darauf folgte, war kurz, laut und bitter. Er endete damit, daß George ihr befahl, Lehigh Station zu verlassen. Stanley unterstützte für einmal seinen Bruder.
Virgilia und ihr Liebhaber lebten nun in Philadelphia. Vermutlich im Elend, dachte George. Es gab wohl einige Hausbesitzer, die gewillt waren, einem unverheirateten Paar eine anständige Unterkunft zu vermieten, aber niemals dann, wenn die Frau eine Weiße und der Mann ein Schwarzer war.
Über Gradys Vergangenheit war bis jetzt nichts bekanntgeworden. Virgilia war aber bereits in Konflikt mit sich selbst geraten, weil sie einerseits ihren Freund schützen und ihn andererseits für ihre Sache einsetzen wollte. Grady war bereits zweimal aufgefordert worden, in der Öffentlichkeit zu reden, hatte dies jedoch abgelehnt.
Der Ausreißer hatte jedoch vor Privatleuten in Philadelphia eine Rede gehalten, und einer der Abolitionisten war ein Geschäftsfreund von George. Entsetzt berichtete der Mann George, daß Grady zur Abschaffung der Sklaverei durch ›Rebellion, Brandstiftung, Terror oder andere wirkungsvolle Mittel‹ aufgerufen hatte. George hegte den Verdacht, daß die Rede zum größten Teil oder ganz von Virgilia geschrieben worden war. Nur die Götter mochten wissen, welche irrsinnigen Pläne sie und Grady ausheckten.
Was für ein Heuchler ich doch bin, dachte George. Er scherte sich einen Dreck um Virgilias Beziehung mit dem ehemaligen Sklaven, und doch beschützte er sie und protegierte einen Neger, der geflohen war. Aber es war wie ein Zwang, und doch hatte er ein ungutes Gefühl dabei, das Gefühl, seinen Freund zu verraten.
Gott, wie er diese unruhigen Zeiten haßte. Genau wie die Nation fühlte er sich immer mehr gespalten.
31
In jenem Winter kam Brett zu einem neuen Kavalier, obwohl sie ihn nicht eigentlich ausgewählt hatte.
In der Familie von Francis LaMotte mußte irgendwann mal jemand sportliche Züge gehabt haben, die in Forbes LaMotte zum Durchbruch gekommen waren. Er war weitaus größer als sein Vater, sah wesentlich besser aus und war zu einem strammen Mann herangewachsen, mit blondem Haar, stolzem Gang und einer Neigung zur Trägheit – außer wenn es ums Trinken, um Pferderennen oder um Schürzenjagd ging. Francis hatte die Hoffnung gehegt, daß sein Sohn die 1842 gegründete West-Point-Kopie, The Citadel, absolvieren würde. Doch Forbes wurde bereits nach einem Semester wegen mangelnder akademischer Leistungen von der Militärschule in Charleston gewiesen.
Forbes, der allzu leichten Mädchen der niederen Klassen überdrüssig und an Ashton Main nicht interessiert, hatte sein Augenmerk auf Brett gerichtet. Brett würde 1852 ihren vierzehnten Geburtstag feiern. Sie reifte rasch zur Frau heran und wurde zusehends ausgeglichener. Gleichzeitig war sie sich auch ihrer Anziehungskraft auf Männer bewußt geworden.
Forbes ritt nach Mont Royal, wo er um die Erlaubnis bat, Brett zu sehen. Normalerweise hätte er das Haupt der Familie um die Erlaubnis bitten müssen, aber mit Tillets Gesundheit ging es in letzter Zeit mehr und mehr bergab. Tillet litt an Atemnot und war die meiste Zeit ans Bett gefesselt. Orry war nun praktisch für alles verantwortlich.
Forbes hatte in der Nachbarschaft Gerüchte gehört, Brett erhalte ab und zu einen Brief von jenem Burschen aus Pennsylvania, der im Herbst auf der Plantage zu Besuch gewesen war. Forbes betrachtete Billy Hazard jedoch nicht als einen Rivalen; er war weit weg, und langfristig würde er ohnedies vom Temperament her nicht mit einem Mädchen aus dem Süden auskommen. Sollte Billy doch jemals eine ernsthafte Bedrohung darstellen, so würde Forbes, der kräftiger war, ihm ein paar runterhauen und ihn verscheuchen.
Orry hatte gegen Forbes zwar weniger einzuwenden als gegen die meisten LaMottes, aber er mochte ihn auch nicht besonders. Trotzdem erteilte er ihm die Erlaubnis, Brett zu besuchen, was ja noch lange nicht bedeutete, daß er sie auch heiraten würde. Abgesehen davon glaubte er nicht, daß Brett Forbes’ Geschenken oder ihm selber große Aufmerksamkeit widmen würde.
Brett überraschte ihren Bruder jedoch, und sie hatte ihre Gründe dafür.
Auch wenn sie Billy nicht gekannt hätte, wäre Forbes nie ernsthaft als Heiratskandidat in Frage gekommen. Wie die meisten LaMottes betrachtete er seine eigenen Ansichten als die einzig richtigen und wurde schnell wütend, wenn jemand seine Meinung nicht teilte. Er konnte jedoch charmant sein, wenn er nüchtern und guter Laune war.
Brett war sich über die Ernsthaftigkeit von Billys Absichten nicht im klaren. Zwischen seinen kurzen, unbeholfen formulierten Briefen lagen lange Pausen, und Brett stellte sich vor, daß er sich sozusagen über Nacht mit einem Mädchen aus dem Norden einlassen könnte. Sie hoffte folglich, indem sie Forbes ab und zu sah, einer möglichen Enttäuschung vorzubeugen. Sie liebte Billy mehr, als sie es sich zugestand.
Forbes war fünf Jahre älter als Brett und drei Jahre jünger als der blasse Frosch Huntoon. Es gab nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen den beiden Kavalieren – Ashtons Freund war wie ein Hund an der Leine, Forbes aber war ein eigenständiger Mann, was Brett freute.
Dauernd mußte sie Forbes abwehren. »Laß das!« waren die Worte, die sie am häufigsten zu ihm sagte, nie barsch, aber immer unmißverständlich. Auch jetzt wieder, als er über ihre Schulter lehnte, während sie Klavier spielte. Anstatt ihr die Noten umzublättern, faßte er sanft ihre Brust an.
»Laß das, Forbes, hab’ ich gesagt!« wiederholte sie, als er die Hand nicht zurückzog. Sie nahm ihren Fächer und gab ihm eins auf die Finger. »Weshalb behandelst du mich wie eine jener Dirnen aus Charleston, hinter denen du her bist?«
Er grinste. »Weil du zehnmal hübscher bist als sie alle und weil ich dich zehnmal mehr begehre.«
»Begehren ist ein Wort nur für Ehemänner«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Oh, du hast aber eine ganz schön starke Sprache für ein Mädchen in deinem zarten Alter!«
Aber er genoß es. Sie offenbar auch, denn sie fuhr mit der Neckerei fort: »Wenn du dir schon Gedanken über mein zartes Alter machst, weshalb fummelst du dann so an mir herum, als ob ich eine alte Henne wäre?«
»Ich kann nicht anders«, sagte er und wechselte ans andre Ende des Klaviers hinüber, stützte den Ellbogen auf und blickte auf sie herunter. Sie wand sich unter seinem überraschend ernsten Blick. »Du weißt, daß ich nach dir verrückt bin, Brett. Bald werden wir beide heiraten.«
»Sei nicht so sicher«, entgegnete sie ihm, indem sie aufsprang. »Du bringst mir ja nicht einmal die Geschenke, um die ich dich bitte.«
»Na hör mal, verflixt und zugenäht, in Charleston verkauft niemand die National Era. Zudem möchte ich nicht umgebracht werden, weil ich ein Abolitionistenblatt gekauft habe.«
»Aber Forbes – in allen Zeitungen und Zeitschriften wird der Roman von Mrs. Stowe abgedruckt. Ich möchte einen Teil davon lesen.« Sogar Orry hatte Interesse an dem neuen Roman bekundet.
»Lesen!« äffte Forbes sie verachtungsvoll nach. »Mädchen sollen nicht lesen. Ich nehme an, daß Godey’s und die Gedichte von Mr. Timrod zwar keinen Schaden anrichten, aber wenn Gott gebildete Frauen gewollt hätte, würde er dafür sorgen, daß sie nach Harvard gehen könnten. Aber sie werden nicht zugelassen, und somit nehme ich an, daß die Dinge klargestellt sind.«
»Idiotisch, was du da sagst. Idiotisch und konservativ.«
»Zum Teufel damit. Onkel Justin leidet schwer, weil Tante Maddie so viel liest. Du solltest mal den Schund sehen, den sie aus New York kommen läßt. Justin schäumt vor Wut.«
»In deiner Familie kriegt jeder gleich einen Wutanfall, wenn ihm etwas nicht paßt. Gute Nacht, Forbes«, sagte sie in sehr bestimmtem Tonfall und ging hinaus.
Wie vom Donner gerührt stand er da und starrte auf die Tür. »Brett? Warte, verdammt noch mal! Ich wollte nicht – «
Es hatte keinen Sinn; sie war schon die Treppe hochgerannt.
Verärgert ließ er seine rechte Faust auf seine linke Handfläche klatschen. Als er aufblickte, bemerkte er Ashton und Huntoon in der Halle. Ashtons Kavalier hatte kaum je Gelegenheit, jemandem eins auszuwischen, der so kräftig wie Forbes war. Diese Chance durfte er sich nicht entgehen lassen.
»Sie fluchen, lieber Freund? Aber, aber! Das ist nicht die richtige Art, mit einer Dame umzugehen. Sie sollten – « Huntoon schluckte den Rest hinunter, denn Forbes war auf ihn losgestürmt.
»Ein Wort mehr, und ich schlag’ Ihnen in die Schweineblase, die Sie Ihr Gesicht nennen.« Er packte Huntoon am Hemdkragen. »Überall auf Ihren feinen Kleidern wird Blut sein. Wahrscheinlich könnten Sie den Anblick nicht ertragen und würden in Ohnmacht fallen.«
Er drehte sich abrupt um und zerriß dabei Huntoons Kragen. Dann nahm er Hut, Stock und Handschuhe und stapfte in den milden Februarabend hinaus. »Nigger, mein Pferd!«
Ashton schüttelte sich vor Ekel. »Er ist wie ein Tier.«
»Absolut«, pflichtete ihr Huntoon bei und nestelte an seinem zerrissenen Kragen herum. »Ich begreife nicht, wie deine Schwester das aushalten kann.«
Ashton warf einen Seitenblick auf die fettig glänzenden Wangen Huntoons und unterdrückte ein Schaudern. Darauf nahm sie ihn lächelnd am Arm.
»Sie hat keinen Ehrgeiz. Sie rennt einem miesen Burschen nach dem andern nach.«
Darunter einem, den ich haben will.
Forbes und Brett söhnten sich bald darauf wieder aus. Dies war hauptsächlich Bretts Verdienst. Sie hatte nämlich beschlossen, nichts von dem, was Forbes sagte, ernst zu nehmen.
In jenem Winter stattete Huntoon Mont Royal mindestens zweimal pro Woche einen Besuch ab, aber Ashton fühlte sich trotzdem nicht glücklich. Ihre Gedanken drehten sich um jemand anderen. Eines Nachmittags verfolgte sie ihre Schwester bis zum Weidenkorb, in dem die eingegangene Post aufbewahrt wurde. Da sie als erste ankam, schnappte sie sich einen versiegelten Briefumschlag. »Oh, da ist ja schon wieder ein Brief von Billy! Das ist bereits der zweite diesen Monat. Er macht sich!«
Brett langte nach dem Brief. Die Eifersucht in den Augen ihrer Schwester war nicht zu übersehen. »Ashton, der gehört mir!«
Das ältere Mädchen lachte und schwenkte den Brief hoch über ihrem Kopf. »Was gibst du mir dafür?«
»Wenn du mich weiterhin foppst, ein blaues Auge.«
»Du meine Güte! Das hört sich ja mehr und mehr wie Mr. LaMotte an.« Sie schmiß den Brief zu Boden. »Weiß Billy etwas von ihm?«
Bretts Stimme zitterte. »Scher dich zum Teufel!«
Ashton war völlig verblüfft. Noch nie hatte ihre Schwester einen auch nur annähernd so profanen Ausdruck verwendet. Vielleicht war sie doch zu weit gegangen. Aber sie konnte nicht anders. Sie fühlte sich elend, und die Besuche von Huntoon verstärkten dieses Gefühl nur. Er versuchte jedesmal, sie in eine stille Ecke zu drängen und an ihr herumzufummeln. Wenn sie Widerstand leistete, greinte er jedesmal verletzt: »Weshalb behandelst du mich so, Ashton?«
»Weil wir noch nicht verheiratet sind. Bloß weil Orry und du euch über die Mitgift einig geworden seid, glaubst du wohl, du könntest dir jetzt schon sämtliche Freiheiten nehmen.«
Ihr unberechenbares Benehmen stellte ihn immer wieder vor ein Rätsel. Oft schien sie Gefallen an seinen Avancen zu finden, obwohl er nie zu weit gehen durfte. Doch dann wies sie ihn wieder mit einer beinah eifrigen Prüderie ab. Das alles verwirrte ihn sehr, besonders wenn er an die Gerüchte dachte, die sie mit einem männlichen Mitglied der Smith-Familie in Verbindung brachten.
»Aber manchmal gibst du mir gewisse Rechte«, beklagte er sich.
»Ja, aber jetzt nicht. Und ich hab’ auch keine Lust, mich mit dir darüber zu streiten.«
Huntoon hatte plötzlich Flecken im Gesicht. »Hast du die Absicht, dich so nach unsrer Heirat zu benehmen?«
»Du wirst es abwarten müssen.«
Sie bemerkte, daß sie ihn verärgert hatte. In ihrem eifrigen Bemühen, ihn immer wieder wissen zu lassen, wer in ihrer Beziehung das Zepter führte, war sie zu weit gegangen. Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß. »Beruhige dich, James. Du weißt, daß ich dich heiraten möchte. Und wenn wir verheiratet sind, wirst du eine brillante Karriere machen.«
»Gemäß den Plänen, die du bereits für mich geschmiedet hast?«
Jetzt war er es, der zu weit ging. Sie erblaßte und erstarrte und trat zurück. »Mein Lieber, das klingt aber sauertöpfisch. Wenn du deine Meinung über die Dinge, die wir besprochen haben, geändert haben solltest – «
Sie brach ab. Es war genau die richtige Taktik. Panikartig ergriff er ihre Hand.
»Nein, nein, ich habe meine Meinung überhaupt nicht geändert. Ich möchte, daß du unsre Zukunft planst. Ich bin nicht wie die engstirnigen LaMottes, sondern ich bin dafür, daß die Ehefrau eine Partnerin ihres Mannes sein soll. Besonders wenn der Mann im öffentlichen Leben eine Rolle spielen will.«
»Deine guten Absichten freuen mich, James. Du hast bereits berühmte Freunde, und du wirst noch mehr haben. Sollen die LaMottes ihr Leben mit Würfelspielen und Pferderennen verbringen – man wird sie vergessen, noch bevor sie gestorben sind. Nicht aber Mr. und Mrs. James Huntoon aus South Carolina!«
Er lachte, wenn auch etwas nervös. »Ashton, du bist einfach wundervoll. Ich wette, daß ich – wäre ich nicht meines eigenen Schicksals Schmied – mich ganz dir überlassen könnte, wenn ich das wollte; daß du jede Entscheidung für mich treffen könntest und der Erfolg mir immer noch gewiß wäre.«
Immer noch? Der eingebildete Kerl glaubte doch wohl nicht daran, daß er es aus eigener Kraft zu einem durchschlagenden Erfolg bringen könnte? Oh, er würde nicht ganz erfolglos sein, aber ohne sie würde er nie berühmt werden. Und dies würde er bald kapieren.
»Du hast recht, Liebling.« Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. Dann küßte sie ihn und öffnete den Mund, als sich ihre Lippen berührten.
Er war ihrer Wahrheit zu sehr auf die Schliche gekommen. Sie würde ihn heiraten, aber die Ehe würde nach den von ihr gesetzten Bedingungen ablaufen. Der arme Dummkopf hatte dies geahnt und sich ihr bereits ergeben. Doch wenn er zu sehr darauf herumreiten würde, könnte das ganze unangenehm werden.
Gott sei Dank wußte sie, wie er abzulenken war. Während sie einander küßten, legte sie die Handfläche auf die Innenseite seines Hosenbeins und machte träge kreisförmige Bewegungen.
Der Frühling rückte näher. Eines Abends im März zog sich Orry mit einem Brief von Billy, den er dreimal gelesen hatte, in die Bibliothek zurück. Aber auch nach dem dritten Mal wußte er noch nicht, wie er reagieren sollte.
Er saß gedankenverloren da, den Brief immer noch in der Hand haltend. Die Schatten wurden länger. In der ihm gegenüberliegenden Ecke befand sich der Kleiderständer mit seiner Uniform und seinem Säbel. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hörte er Hufgeklapper, und wenige Augenblicke später platzte Charles schwitzend herein. Er grinste.
»Wo warst du?« fragte Orry, obwohl er sich das denken konnte.
»Bin mit Minx am Fluß unten geritten.«
»Du hast bestimmt mal wieder ein Rennen veranstaltet.«
Charles ließ sich in einen tiefen Sessel fallen und schwang ein Bein über die Lehne. »Ja, Sir. Ich habe Forbes und auch Clinch Smith geschlagen. Minx hat die beiden einen halben Kilometer hinter sich gelassen. Und zwanzig Dollar hab’ ich auch gewonnen.«
Er zeigte ein paar Goldstücke, ließ sie in der Hand klinken und sprang dann auf. »Ich habe einen Bärenhunger. Du solltest ein Licht anzünden. Es ist finster wie in einer Höhle.«
Wahrscheinlich nützte der Ratschlag nichts, dachte Charles. Wenn Orry in eine seiner düsteren Stimmungen versank, konnte er stundenlang in der finsteren Bibliothek sitzen. Meistens fanden ihn die Hausbediensteten bei Sonnenaufgang schnarchend in seinem Stuhl. Nicht ohne einen Krug mit Whiskey und ein leeres Glas.
Charles zeigte auf den Brief. »Irgendeine schlechte Nachricht?«
»Ich glaube nicht. Der Brief ist von Billy.« Orry streckte Charles die Hand mit dem Brief hin.
Orrys Worte verwirrten Charles. Er zündete eine Lampe an und las den kurzen, förmlichen Brief seines Freundes. Bevor er im Juni auf die Militärakademie ging, wollte Billy nach Mont Royal zurückkehren, und, gemäß den herrschenden Sitten, formell um die Erlaubnis bitten, um Brett freien zu dürfen.
»Das ist ja großartig«, rief Charles schließlich aus. Er klang plötzlich ernüchtert: »Würde es Probleme geben, wenn Billy hierherkäme – wegen der Huntoons, meine ich?«
»Nein. Ich habe ihnen schon vor langem tausenddreihundertfünfzig Dollar für Grady gegeben, um Schwierigkeiten vorzubeugen.«
Charles stieß einen leisen Pfiff aus und sank im Stuhl zurück. »Davon hatte ich keine Ahnung.«
Orry zuckte die Schultern: »Ich fühlte mich für ihren Verlust irgendwie schuldig und wollte, daß George wieder einmal nach Mont Royal zu Besuch kommen kann, ohne daß es deswegen Probleme gibt. Außer den Huntoons und meinem Vater weiß niemand etwas davon. Behalt es für dich.«
»Selbstverständlich.«
Charles schwenkte den Brief. »Weiß Brett etwas davon?«
»Noch nicht.«
»Du schreibst Billy, daß er kommen darf, nicht wahr? Und du wirst ihm erlauben, ihr den Hof zu machen?«
»Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich die Fragen beantworten soll. Billy ist ein feiner junger Mann, aber er will Offizier werden.«
»Ich auch. Ich werde im Sommer in einem Jahr nach West Point gehen, erinnerst du dich? Guter Gott, Orry – du hast das arrangiert. Du hast mich dazu ermutigt!«
»Ja, ja, ich weiß«, sagte Orry schnell. »Und ich freue mich, daß du gehst. Aber seit unseren ersten Gesprächen über die Akademie hat sich die politische Lage verändert. Zum Schlechten. Sollte es Schwierigkeiten geben, glaube ich, daß du in erster Linie deinem Heimatstaat gegenüber loyal bist. Und Billy ist ein Yankee.«
Sanft fragte Charles: »Glaubst du, daß es Schwierigkeiten geben wird?«
»Manchmal ja. Ich weiß nur nicht, welcher Art und wie ernst sie sein werden.«
»Na und? Sind die Hazards und die Mains nicht trotz allem gute Freunde? Wenn du nicht davon überzeugt wärst, hättest du die Huntoons nicht ausbezahlt.«
»Ich glaube, du hast recht. Aber ich will Brett auch nicht ins Unglück stürzen.«
Charles sagte frostig: »Ich nehme an, daß es ihre eigene Entscheidung ist.«
»Es ist auch meine. Jetzt, da Vater kaum noch aufstehen kann, bin ich das Oberhaupt der Familie.«
Orry sah, daß er vielleicht etwas zu pessimistisch gewesen war. Obwohl es tatsächlich viele Anzeichen für eine Spaltung gab, zeigten ebenso viele Anzeichen auf eine andere Entwicklung hin. Die Südstaatler spielten immer noch eine führende Rolle im Leben der Nation. General Scott, ein Mann aus Virginia, war immer noch der Oberbefehlshaber der Armee, und Orry hatte vor kurzem gelesen, daß Robert Lee, der gute Chancen hatte, Scotts Nachfolger zu werden, wahrscheinlich bald zum Superintendenten von West Point ernannt würde. Die meisten hervorragenden Persönlichkeiten des Offizierskorps der Armee waren Südstaatler.
Cooper behauptete, in der ganzen Region gebe es Anzeichen für ein wachsendes Interesse an der Industrialisierung. Die durch Sklavenarbeit gewonnene Baumwolle war zwar immer noch das wichtigste Produkt, aber die Eisenbahnlinien des Südens wurden ausgebaut und verbessert. Die Mont Royal hatte zu viele Frachtaufträge für ihre Kapazität. Cooper war voller Enthusiasmus aus Großbritannien zurückgekehrt: Er glaubte an eine Zukunft für den Handel im Süden im allgemeinen und für seine Frachtlinie im besonderen. Vielleicht würden diese neuen Strömungen die alten allmählich ersetzen, vielleicht würden Männer guten Willens die Rhetts und Huntoons verdrängen und die Schwierigkeiten aus dem Wege schaffen…
Aber irgendwie war Orry davon nicht überzeugt.
»Orry?«
Er wurde aus seiner Träumerei gerissen. »Ja?«
»Du beantwortest beide Fragen mit Ja, nicht wahr? Du wirst Billy einladen und ihm die Erlaubnis geben, um Brett zu werben?«
»Ich werde Brett den Brief geben und darüber nachdenken. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun.«
Niedergeschlagen verließ Charles das Zimmer.
»Er hat mir verboten, den Roman zu lesen«, ärgerte sich Madeline. »Er riß ihn mir aus den Händen und befahl, ihn zu verbrennen – wie ein Kind hat er mich behandelt!«
Sie ging bis zum Ufer des Sumpfs. Orry blieb auf dem Kalkfundament sitzen und trommelte mit den Fingern auf das Buch, das er mitgebracht hatte. Es war von einem Journalisten aus dem Norden namens Whitman; in einer eigenartigen neuen Versform. Cooper lobte die unzusammenhängenden Gedichte, die seiner Meinung nach den Rhythmus des Maschinenzeitalters wiedergaben. Orry fand sie holprig, obwohl sicher ein Rhythmus darin war. Für ihn war es wie der Schlegel einer Trommel.
»Ich werde George bitten, mir ein Exemplar zu schicken«, sagte Orry. »Aber es ist mir ein Rätsel, wieso du einen solch aufwieglerischen Schund lesen willst?«
Sie wirbelte herum. »Fang um Gottes willen nicht an, wie Justin zu reden. Mrs. Stowes Roman ist der Erfolg des Jahres.«
Sie hatte recht. George hatte geschrieben, daß seine ganze Familie die sentimentale Geschichte über Sklaven und Sklavenbesitzer gelesen hatte, zuerst als Fortsetzungsroman und dann noch einmal als Buch, das erst vor kurzem in zwei Bänden erschienen war. Trotz all der Beachtung, die dem Roman geschenkt wurde, war Orry jedoch überhaupt nicht am Leben der Ärmsten unter den Armen interessiert. Er wurde Tag für Tag Zeuge dieses Lebens und brauchte sich dessen Härte nicht von Mrs. Stowe beschreiben zu lassen. Er machte sich in letzter Zeit selbst genügend Gedanken darüber.
Als Antwort auf Madelines Bemerkung brummte er: »In diesem Teil des Landes ist es nicht der Erfolg des Jahres. Ein passenderer Ausdruck dafür wäre Skandal.«
Sie hätte sich gekränkt fühlen können, aber sie war es nicht, denn sie wußte, daß er sich wegen Billy Hazards Brief Sorgen machte, über den er lange mit ihr gesprochen hatte. Sie legte den Arm um seine Taille und küßte ihn.
»Ihr Männer hier seid solche Hitzköpfe. Ich vergesse das immer wieder – zu meinem eigenen Nachteil.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, daß die Konsequenzen außerordentlich unangenehm waren, als Justin Onkel Toms Hütte letzte Woche entdeckte.«
»Er wurde zornig…«
»Er tobte. Aber das war nicht das Schlimmste. Er entdeckte das Buch kurz vor dem Abendessen. Francis war an jenem Abend bei uns, und so ließen sich beide fast während des ganzen Essens über die Notwendigkeit eines freien und unabhängigen Südens aus.«
»Es tut mir leid, daß du das über dich ergehen lassen mußtest.«
Sie betrachtete ihre Hände. »Das tat ich eben nicht. Ich sagte, daß solche Sprüche für eine Wahlrede äußerst geeignet, in der Praxis jedoch völlig lächerlich sind. Ich weiß, daß es ein Fehler war, etwas zu sagen, aber bei diesen zwei kann ich einfach den Mund nicht halten. Justin ist jedoch fest entschlossen, mir meinen angestammten Rang klarzumachen – und der schließt aus, daß ich meine Meinung über etwas Wichtigeres als die neueste – «, ihre Kehle war zugeschnürt, und sie konnte den Satz nicht beenden. Orry bemerkte, daß ihr die Erinnerung sehr weh tat. Mit schwacher Stimme fuhr sie fort: »– die neueste Stickereimode äußere.«
Er legte das Buch von Whitman beiseite und ergriff ihre Hand. »Wie reagierte Justin auf deine Äußerung?«
»Schlimm. Er sperrte mich für einen Tag und eine Nacht in meinem Zimmer ein. Nancy mußte mir alle Bücher wegnehmen und das Essen hinstellen. Sie war die einzige Person, die ich während der ganzen Zeit sah. Ich mußte ihr sogar den Nachttopf hinausreichen – «
Madeline senkte den Kopf und verdeckte die Augen. »Mein Gott, war das erniedrigend.«
»Dieses Schwein. Ich sollte ihn umbringen.«
Rasch strich sie sich die Tränen von den Wangen. »Ich möchte dir keine Sorgen machen. Ich kann nur mit niemandem sonst darüber reden.«
»Ich wäre zorniger, wenn du es mir nicht gesagt hättest. Ich möchte dich von diesem verdammten Platz entführen. Resolute ist kein Heim, es ist ein Gefängnis.«
»Das stimmt. Es wird immer schwieriger, Justin und meine eigene Stellung zu akzeptieren. Früher einmal hatte ich edle eigene Vorstellungen über Ehre und die heilige ›Verpflichtung‹ des Eheversprechens.« Sie verzog den Mund, aber das Lächeln mißlang. »Justin hat aus jeder einzelnen einen Witz gemacht.«
Sie hielt seine Taille umschlungen und schaute ihn mit Tränen in den Augen an. Dann umarmte sie ihn heftig; sie hatte ein wenig Zuneigung und Trost bitter nötig. Sie küßte ihn immer wieder.
Er versteckte sein Gesicht in ihrem Haar und kostete die bittere Liebe voll aus. Wie immer verriet ihn sein Körper. Sie spürte, daß er sie wollte, und preßte ihn noch mehr an sich, um ihm zu zeigen, daß auch sie ihn wollte. Die Spannung, die durch ihre selbstauferlegte Zurückhaltung entstand, war immer qualvoll, aber heute war sie kaum noch zu ertragen.
Sie öffnete ihr Korsett und zog an ihrer Unterwäsche. Sie drückte ihn fest an sich und warf den Kopf in den Nacken. Mit geschlossenen Augen genoß sie in vollen Zügen, wie er ihre Brüste liebkoste und küßte.
Nie zuvor waren sie so weit gegangen. Nur äußerste Willensanstrengung hielt sie zurück, den letzten Schritt zu gehen.
»Orry, wir dürfen nicht.« Ihre Stimme war heiser.
»Nein.«
Aber er wußte nicht, wie lange er es noch aushalten würde, sie zu lieben, sie zu begehren und dies zu unterdrücken.
Einige Tage später gingen Orry und Charles nach dem Abendessen auf die Veranda, um einen Whiskey zu trinken. Dunst verschleierte die Sonne und verlieh dem Licht eine schwache rosa Färbung. Orry starrte auf das Lichtspiel auf dem Fluß, während Charles in einer Ausgabe des Mercury blätterte. Seit einiger Zeit verbrachte er jeden Tag ein paar Minuten damit, ein weiteres Zeichen dafür, daß er erwachsen wurde.
Seit seinem letzten Treffen mit Madeline litt Orry wieder unter körperlicher Frustration. Es war wieder einmal Zeit für einen nächtlichen Besuch bei einer nicht gerade schönen, aber feurigen Witwe, mit der er eine Abmachung getroffen hatte. Er war sich seiner Antwort Billy gegenüber immer noch nicht im klaren, und auch jetzt konnte er sich nicht entscheiden.
Charles legte die Zeitung nieder. »Hast du sie schon gelesen?«
Orry schüttelte den Kopf.
»Huntoon hat schon wieder eine Rede gehalten.«
»Wo?«
»In Atlanta. Was ist Volkssouv…? Da, sprich das Wort für mich aus.«
Orry lehnte sich hinüber, um das Wort zu sehen, auf das Charles zeigte. »Souveränität. Senator Douglas prägte es. Es bedeutet, daß die Leute in neuerworbenen Territorien das Recht haben, sich für oder gegen die Sklaverei zu entscheiden.«
»Huntoon sagt, daß dies nicht annehmbar sei, genauso wie die Freie-Boden-Doktrin. Die kenne ich auch nicht.«
»Die Freie-Boden-Doktrin besagt, daß der Kongreß die moralische Verpflichtung hat, Sklaverei in den neuen Territorien zu verbieten, ohne den Volkswillen zu berücksichtigen. Ich kann mir die Rede von James gut vorstellen.« Orry spreizte die Finger und preßte die Spitzen wie ein Redner auf die Brust. Die Stimme war pompös: »Ich bekenne mich zum großen Calhoun. Unsere Institutionen müssen der Flagge folgen. Es ist die heilige Pflicht des Kongresses, alles Eigentum in einem Territorium zu beschützen – «
An diesem Punkt hielt er mit seiner Mimik inne. »Eigentum bedeutet Sklaven. Das ist die einzige territoriale Doktrin, die von unseren Nachbarn akzeptiert wird.«
»Was ist deine Meinung?«
Orry überlegte kurz. »Ich glaube, ich bin mit Douglas einverstanden. George vermutlich auch.«
»Tja, ich habe versucht, mich über diese Dinge zu informieren. Ich glaube, ich werde es brauchen können, denn in West Point werde ich schließlich Leute aus allen Landesteilen treffen.«
»Wahrscheinlich wird sich die Territorialfrage schon viel eher zuspitzen. Vielleicht schon, wenn wir im Herbst einen neuen Präsidenten wählen. Die Bevölkerung im Westen nimmt rasant zu, die Loyalität wird auf eine harte Probe gestellt werden. Auch diejenige innerhalb der Familien«, schloß er mit einem strengen Blick auf Charles.
Der jüngere Mann streckte seine Beine aus und sah auf den Fluß hinaus, in dem nur noch vereinzelt rosa Lichtflecken aufleuchteten. »Du machst dir immer noch Sorgen darüber, nicht wahr? Hast du deshalb Billy noch nicht geschrieben?«
Orry runzelte die Stirn. »Woher weißt du, daß ich noch nicht geantwortet habe?«
»Sonst würde Brett nicht mit dieser Leichenbittermiene herumlaufen. Ich weiß, ich sollte mich da nicht einmischen, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß du Billy nur aus einem einzigen Grund eine Absage erteilen willst: Weil er ein Yankee ist. Das ist genau wie – « Er schluckte. Jetzt brauchte es Mut. »Genau wie Huntoon. Oder wie Virgilia Hazard. Sie schmeißen jeden, der auf der andern Seite steht, in den gleichen Topf.«
Es fuchste Orry in der Tat, daß Charles ein Werturteil abgegeben hatte, aber es dauerte nur einige Sekunden, bis seine Vernunft schließlich die Oberhand gewann. Vernunft und Gefühl, denn wenn Billy um die Hand seiner Schwester anhielt, würde das die Bande zwischen den beiden Familien stärken. Virgilia hatte sie beinahe zerstört.
Ein Lächeln kämpfte sich durch Orrys dichten Bart. »Charles, du entwickelst dich zu einem klugen jungen Mann. Das freut mich.« Er holte tief Atem. »Ich werde heute abend einen Brief an Billy aufsetzen. Einen Brief, über den er sich freuen wird. Vielleicht hast du Lust, Brett zu informieren?«
Charles stieß einen Freudenschrei aus, schüttelte Orry die Hand, daß ihm Hören und Sehen verging, und rannte ins Haus.
Orry schrieb den Brief tatsächlich an jenem Abend. Billy sei herzlich willkommen in Mont Royal und sollte alle Hazards mitbringen. Außer Virgilia, dachte er, aber es war nicht nötig, das zu schreiben. Er würde ein Fest oder einen Ball organisieren, um den unglücklichen Ausgang des letzten Besuchs wettzumachen.
Dieser Brief tat Orry gut. Es war zwar ein kleiner, aber ein positiver Schritt. Wenn es Freunden aus Nord und Süd nicht gelang, Eintracht zu bewahren, wie konnte man es dann von den Männern in Washington erwarten?
32
Die Hazards nahmen Orrys Einladung an und trafen am Mittwoch der dritten Maiwoche ein. Maude war nicht dabei; sie hatte sich bei der Gartenarbeit den Fuß verrenkt und war nicht reisefähig.
Am Samstag würde in Mont Royal ein Ball abgehalten werden. Man hatte Einladungen an die ganze Nachbarschaft verschickt. »In Anbetracht der Herkunft eurer Gäste wird Justin es vorziehen, zu Hause zu bleiben«, hatte Madeline Orry bei ihrem letzten Rendez-vous gesagt.
Er küßte ihren Hals. »Laß ihn. Aber du kommst.«
»Wäre das nicht himmlisch? Aber ich befürchte, daß uns dieses Glück nicht beschieden sein wird. Justin wird anwesend sein. Er hat nämlich Angst, daß übel über ihn geredet wird, wenn er eine Einladung der Mains ausschlägt. Aber rechne nicht damit, daß er guter Laune sein wird.«
Am ersten Abend versammelten sich Damen und Herren nach dem Abendessen getrennt. George genoß Whiskey und Zigarre und sagte: »Während der Eisenbahnfahrt durch Virginia und North Carolina habe ich nur zwei Gesprächsthemen gehört: Der Roman von Mrs. Stowe« – Tillet tat geräuschvoll seine Verachtung kund –»und die Sezession.«
»Die Idee rast wie ein Sturmwind durch unsern Staat«, sagte Orry. »Das geschieht alle paar Jahre.«
»Aber diesmal scheint es ernster zu sein«, warf Charles ein.
Cooper schwenkte sein Whiskeyglas. Er war etwa gegen siebzehn Uhr mit seiner Frau und dem kleinen Judah eingetroffen. »Es ist wirklich ein Sturm. Und er wird unser Haus niederreißen. Einige Südstaatler scheinen das begriffen zu haben, vor allem Alexander Stephens. Doch die meisten Idioten sind von ihrer eigenen Rhetorik geblendet und merken nicht, daß die Union nicht so einfach gespalten werden kann wie ein Stück Holz. Zu vieles steht auf dem Spiel, wirtschaftlich und politisch, als daß die Bundesregierung einfach zusehen könnte. In Charleston reden die Leute von einer friedlichen Sezession. Absurd. Ein totaler Widerspruch.«
»Du bist natürlich ein Experte in der ganzen Angelegenheit«, gab Tillet von Sarkasmus triefend zurück. Cooper entschied sich dafür, den Inhalt seines Glases zu betrachten. Tillet fuhr fort: »Eine Trennung mit friedlichen Mitteln wäre ideal, aber wenn das unmöglich ist – wie du behauptest –, dann gibt es nur noch Trennung mit Waffengewalt. Es gibt einige Wahrheiten, die ewig gültig sind, Cooper. Tod ist besser als Tyrannei.«
Cooper blickte seinen Vater ruhig an und sagte mit sanfter Stimme: »Das sagen auch die Neger, wenn sie dir davonrennen.«
Tillet stand auf. »Entschuldigt mich bitte. Ich dachte, dies sei ein gesellschaftliches Treffen.«
Mit langsamen, zögernden Schritten verließ er das Zimmer und knallte die Tür zu.
George blickte ganz verdattert. »Es tut mir leid. Daran bin ich schuld.«
Billy erhob Protest. Orry ebenfalls: »Sind wir nun schon so weit, daß wir uns nicht einmal mehr eine normale Meinungsverschiedenheit erlauben dürfen?«
Cooper lachte, jedoch ohne Humor. »Wir haben dieses Stadium schon vor Jahren in diesem Haushalt erreicht. Ich sage mir zwar immer wieder, daß sich die Dinge ändern können, aber sie ändern sich nie.«
Er hielt Orry sein Glas hin. Orry sah den Schmerz hinter dem trockenen Lächeln seines Bruders.
»Schenk mir noch einen ein, bitte.«
Constance klatschte in die Hände. »Das ist eine herrliche Nachricht, Judith.«
Die andern schlossen sich ihr an, außer Ashton, die gelangweilt die Decke anstarrte. Die Damen hatten sich im Musikzimmer versammelt und tranken Sherry. Brett hatte man nur starken Tee erlaubt. Als eines der Hausmädchen die leeren Gläser abräumte, fragte Clarissa: »Wann rechnest du mit der Niederkunft, Liebes?«
»Ungefähr in sechseinhalb Monaten«, sagte Judith. »Der Arzt hat mir bereits das Reisen verboten, und Cooper hat sich seiner Meinung angeschlossen. Dein Sohn ist manchmal wirklich konservativ«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Er wird leider diesen Sommer allein nach England gehen.«
»Schon wieder nach England?« rief Brett. »Ihr beide seid doch eben erst zurückgekommen.«
»Ja«, antwortete Judith, »aber du weißt ja, daß Cooper sehr von Brunei, dem berühmten Ingenieur, eingenommen ist. Sie haben sich das erste Mal herrlich verstanden, und Brunei hat Cooper für einen zweiten längeren Besuch eingeladen. Cooper träumt ja davon – «
Sie hörten jemanden murren und fluchen. Clarissa eilte zur Tür. Schließlich war Tillets verärgerte Stimme nicht mehr zu hören.
»Du meine Güte«, sagte sie, als sie sich wieder setzte. »Mein Mann. Ich wette, es gab wieder mal ein politisches Gespräch.«
»Ja, die Politik verdirbt heutzutage alles«, sagte Judith mit einem Seufzer.
Clarissa hatte plötzlich einen entschlossenen Zug um den Mund. »Ich möchte nicht, daß sie eure Ferien verdirbt. Und ich will auch nicht, daß sie den Ball verdirbt. Es wird ein fröhliches Fest werden, an das wir uns alle gerne erinnern werden. Und da die Männer nicht dafür besorgt sind, müssen wir uns eben darum kümmern.«
Alle waren einverstanden. Ashton mußte sich ihnen wohl oder übel anschließen. Aber ein Ball zu Ehren von Billy Hazard und seiner Familie, zu Ehren von Brett, ließ in ihr eine ätzende Wut hochsteigen. Und diese Wut gebar den Wunsch auf Rache an all denen, die ihr Unrecht getan hatten.
»Mh, mh, stoß ihn rein.«
»Ashton, ich«, – er keuchte ebenso stark wie sie – »möchte dir nicht weh tun.«
»Verdammt, Forbes, stoß ihn rein. Ganz tief. Oh! Ja!«
Die letzten Worte gingen in einem Stöhnen unter. Wie aus weiter Ferne hörte Ashton das Orchester und die eintreffenden Kutschen. Forbes war mit seiner Familie unter den ersten Gästen gewesen. Ashton hatte ihm aufgelauert und ihn gleich in diese dunkle und abgeschiedene Stallecke gelockt.
Sie war wild darauf gewesen, mit einem Mann zu schlafen. Aber nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit demjenigen, dessen Brett sich entledigen wollte. Dies war aber nicht der einzige Grund, weshalb sie sich sofort auf Forbes gestürzt hatte. Es war ihr nämlich zu Ohren gekommen, daß er ein hervorragender Liebhaber war. In dieser Hinsicht enttäuschte er sie nicht. Sie hatte das Gefühl, ein Kanonenrohr in sich zu haben.
Sie standen einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie lehnte mit dem Rücken gegen die Stallwand. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie sie ihren Rock hochgehoben und sich ihrer Beinkleider entledigt hatte. Der rasende Rhythmus warf sie immer wieder gegen die Stallwand. Ihr rechtes Bein lag auf Forbes’ Hüfte, und sie hatte das Gefühl, daß das linke Bein jeden Augenblick unter ihr nachgeben würde.
Als sie den Höhepunkt erreichten, mußte sie sich auf die Unterlippe beißen, um ihre Schreie etwas zu dämpfen. Ihre Fingernägel gruben sich in Forbes’ Nacken. Als er etwas später Blutflecken auf seinem Taschentuch entdeckte, sagte er: »Wie zum Teufel soll ich das erklären?«
Er stand mit heruntergelassener Hose da, während Ashton bereits wieder ihre diversen Röcke glattstrich. »Du wirst dir schon etwas einfallen lassen, Lieber. Wie wär’s mit den Moskitos? Sie sind heute abend besonders schlimm. Ich bin bereits zweimal gestochen worden.«
»Klar, das ist’s. Moskitos.« Er betupfte sich nochmals den Nacken und grinste dann halb bewundernd, halb respektvoll: »Ashton, du bist wirklich Klasse.«
»Es tut dir also nicht leid, daß du hierhergekommen bist?«
»Um keinen Preis. Das war – na, seien wir ehrlich – fast das Beste, was ich je erlebt habe.«
Sie zog einen Schmollmund. »Ist das alles? Fast?«
Er lachte. »Eingebildet bist du auch nicht, du Dirnchen.« Er spielte liebevoll mit ihrer Brust. »Einverstanden, das Beste also.«
»Danke, Forbes. Aber laß bitte die Hände von meinem Kleid, sonst seh’ ich wieder ganz unordentlich aus.«
Sie brachte emsig und geschickt ihre Kleider wieder in Ordnung. Sie hätte dasselbe sagen können wie Forbes. Noch nie zuvor war sie so sehr erregt und hinterher so befriedigt gewesen. Er war grob, er hatte ihr weh getan, aber sie hatte jede Sekunde genossen.
Sie wagte es ihm jedoch nicht zu sagen. Es würde ihm bloß in den Kopf steigen. Sollte er doch schmachten. Sie summte vor sich hin.
Schließlich platzte er heraus: »Darf ich dich wiedersehen? Ich meine, auf diese Art?«
»Heute abend nicht mehr. Ich muß schließlich nett sein mit all den Yankees.«
»Natürlich nicht heute abend. Ich meinte so lange, bis du Jim Huntoon heiratest.«
Sie trat geräuschlos mit wippendem Kleid an ihn heran. »Forbes, es ist wichtig, daß du etwas klarsiehst: Meine Beziehung mit Mr. James Huntoon ist – na, sagen wir – geschäftlicher Art. Dies hier ist Vergnügen. Solange man diskret ist, gibt es keinen Grund dafür, weshalb das Vergnügen nicht unbegrenzt weitergehen soll.«
»Du meinst also auch, nachdem du und Huntoon – «
»Warum nicht? Es sei denn, du würdest wieder mal zuviel trinken und mich mit deiner lockeren Zunge in Verlegenheit bringen. Sollte das auch nur einmal geschehen, wirst du mich nie wiedersehen.«
»Ich schwöre dir, ich werde schweigen wie ein Grab. Verlange von mir, was du willst, Ashton, und ich werde es tun. O Gott, du bist wirklich ein Biest.«
Bevor sie den Stall in zwei verschiedenen Richtungen verließen, durfte er sie nochmals küssen. Bis jetzt war sie durchaus mit sich zufrieden. Forbes hatte ihr etwas von der fürchterlichen Spannung, die sich in letzter Zeit in ihr gestaut hatte, genommen. Doch was nicht minder wichtig war, er hatte sich ihr ganz unterworfen. Sie hatte das Gefühl, Besitzerin eines neuen Sklaven geworden zu sein.
Als sie über den Rasen in Richtung des hell erleuchteten Herrenhauses eilte, war ein Lächeln auf ihren roten Lippen zu sehen. Es war nicht unwahrscheinlich, daß aus Mr. Forbes LaMotte ein wertvoller Verbündeter würde.
An jenem Abend standen hinter jedem Fenster Kandelaber, und der Rasen war mit Lampions übersät. Das Haus war zu klein für all die Gäste, die mit Kutsche und Pferd eingetroffen waren, und sie hielten sich draußen unter den Bäumen auf oder fanden sich in kleinen Grüppchen.
Mit Ausnahme der Stühle hatte man im Erdgeschoß alle Möbel entfernt. Im Eßzimmer wurde zu der Musik von ›Grabow’s Orchestra‹ aus Charleston getanzt. Orry hatte die Eutaw gemietet, um die vierzehn Musiker und ihre Instrumente auf die Plantage zu befördern. Um Mitternacht würde der Flußdampfer, falls das Wetter günstig blieb, eine kleine Fahrt mit den Gästen machen, wobei man an Bord speisen würde.
Auf der Wiese vor dem Fluß waren Tische mit Speise und Trank aufgestellt worden. Sklavenjungen versuchten, mit Wedeln die Insekten von Schinken, Lamm, gebratenem Rindfleisch, Huhn, Austern, Krabben und andern Meeresfrüchten fernzuhalten. Es waren fast hundert Kilo Schinken und ebensoviel von den anderen Leckereien für das Fest eingekauft worden. Man trank Champagner, französischen und deutschen Wein.
Die Gäste hatten sich dem Anlaß entsprechend elegant gekleidet, und es duftete nach teuren Parfüms. Es war noch keine Stunde vergangen, und doch wußte Orry bereits, daß das Fest ein Riesenerfolg war.
Obwohl ihm sehr heiß war, genoß Orry den Abend. Das Fest war für ihn ein Symbol all dessen, was sein Heimatstaat an Eleganz und Positivem zu bieten hatte. Die Lichter, Essen, Wein und Musik verbreiteten eine wohlige Atmosphäre. Ein magischer Zauber lag über dem Abend.
Tillet und George erzählten Geschichten und brachen immer wieder in lautes Gelächter aus, als hätten sie die Diskussion über die Sezession völlig vergessen. Orry sah, wie sie ihre Gläser auffüllten und Arm in Arm davonschlenderten.
Constance stolperte eben mit rotem Gesicht, atemlos und kichernd, von der Tanzfläche. Einer der Smiths hatte sie zu einer Polka aufgefordert und ihrem anfänglichen Zögern schließlich mit Charme den Garaus gemacht. Es waren viele Damen und Herren namens Smith anwesend, aber niemand war mit Whitney Smith verwandt.
Constance hatte schnell und viel getanzt und von ihrem Partner ein Kompliment bekommen. Clarissa umarmte sie und sagte: »Sie tanzen wie eine Frau aus dem Süden. Sind Sie sicher, daß Sie nicht ganz hierherziehen wollen?«
»Es ist ein so herrliches Fest mit so vielen herrlichen Menschen, daß ich mich noch überzeugen lassen könnte, Clarissa.«
Orry schlenderte wieder nach draußen. Er lehnte sich an eine weiße Säule, nippte an seinem Glas und lächelte jedermann zu. Er fühlte sich etwas umnebelt, aber herrlich. Nicht alle waren jedoch so euphorisch gestimmt. Cooper war immer noch über das Verhalten seines Vaters vom vergangenen Abend verstimmt, wie sein finsterer Gesichtsausdruck bewies.
Orry ging auf ihn zu und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, wobei er etwas Champagner verschüttete.
»Na, komm, genieß es doch für einmal! Du mußt zugeben, daß es ein verflucht schönes Fest ist.«
»Ja«, sagte Cooper ohne große Begeisterung. »Es wäre herrlich, wenn die Leute sich den Yankees gegenüber immer so großherzig benehmen würden.«
Orry war etwas verdutzt. »Wenn dir das Fest gefällt, warum lächelst du dann nicht?«
»Ich muß immer wieder an den Aufwand denken, den ein solches Fest verlangt. Nicht alle Menschen hier können sich vergnügen, wie du siehst.«
Mit einer langsamen, majestätischen Bewegung lenkte er Orrys Blick auf einen Mann, der sich schwitzend, zwei schwere Weinkisten auf den Schultern, durch das Gewühl kämpfte. Der Mann war ein Haussklave, achtundsechzig Jahre alt.
Wütend drehte Orry sich um und ging.
Von diesem Augenblick an verdüsterte sich seine Stimmung. Alles was er sah und hörte, steigerte sein Unbehagen und seine Melancholie.
Einer der Jungen der Bull-Familie riß eine Schnur mit Papierlaternen herunter; eine davon fing Feuer und hätte beinahe den Reifrock von Tante Betsy Bull entflammt. Sie schnauzte ihren jungen Verwandten an und empfahl ihm, seinen Kopf in eine Pferdetränke zu stecken, bis er wieder nüchtern sei. Der Junge machte ein ernstes Gesicht, als ob er sich den Tadel zu Herzen genommen hätte. Aber es war nicht ein reumütiges Herz, das an dem veränderten Gesichtsausdruck schuld war, sondern ein durch zuviel Alkohol in Aufruhr geratener Magen. Der Junge mußte sich vor Tante Betsy erbrechen. Einige Zuschauer ergriffen angewidert die Flucht; einem wurde beinahe übel. Die Dinge schienen plötzlich einen schlechten Lauf zu nehmen. Etwas später begegnete er Justin LaMotte in dem überfüllten Haus. Justin hatte einen Stuhl für sich in Anspruch genommen, indem er seinen in einem glänzenden Stiefel steckenden Fuß darauf stützte. Alle andern Stühle rund herum waren besetzt.
»– ist mir ehrlich gesagt egal, wen die Partei nominiert«, sagte er eben. »Yancey hatte recht. Die traditionelle Loyalität der Partei gegenüber ist am Verrotten. Wählt man die Whigs, wählt man eine kranke, wenn nicht tote Partei. Wählt man die Demokraten, steht man auf Seiten einer politischen Organisation, die nicht mehr die Interessen der Region vertritt. Ich persönlich bin für die Amerikanische Partei. Keine Immigranten. Kein Pfaffentum. Und demnächst auch ›keine Abolition‹.«
Orry starrte unmißverständlich auf Justins Stiefel. Justin blickte seinen Gastgeber verächtlich an und fuhr unbeirrt mit seinen dramatischen Ausführungen fort. Orry wandte sich angewidert ab.
Zehn Minuten später lehnte er an der Eßzimmerwand und sah George und Madeline beim Walzer zu. George schien es zu genießen.
Als Orry sein Glas hob, verschüttete er etwas Champagner und bemerkte, daß er betrunken war. Aber es war ihm egal. Es war ein Viertel nach elf Uhr und das Fest lief auf vollen Touren.
Orry betrachtete Madeline. Wie schön sie aussah, und wie anmutig sie mit seinem besten Freund tanzte. Ihr Busen hob sich milchweiß gegen ihr smaragdgrünes Kleid ab. Die Farbe paßte gut zu ihrem dunklen Haar und den dunklen Augen.
George tanzte gekonnt und mit Schneid. Kein Wunder, dachte Orry, und genehmigte sich ein weiteres Glas, er hatte ja noch alle nötigen Glieder zur Verfügung.
Ach, wie sehr wünschte er sich, ein ganzer Mann zu sein, Madeline um einen Tanz zu bitten und die Liebe, die ihn erfüllte, nicht mehr verstecken zu müssen! Er preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. Seine dunklen Augen verrieten seine Wut. Er hielt sein Glas hin, ohne hinzusehen. Und genau wie er es erwartet hatte, war ein Sklave zur Stelle, um ihm neu einzuschenken.
»Sie ist eine charmante Partnerin«, sagte George, als er nach dem Tanz Madeline zu Orry geleitete. »Äußerst charmant. Aber ich sehe, daß Constance nach mir auf der Suche ist. Du entschuldigst mich, Orry, ja? Ich bedanke mich, Mrs. LaMotte.«
Und weg war er. Madeline errötete und stand nervös neben Orry.
»Ich verstehe, weshalb du ihn gern hast«, sagte sie. »Er ist lieb, intelligent und amüsant.« Sie öffnete ihren Spitzenfächer. »Es ist ein wundervoller Abend. Schade, daß die Zeit so schnell vergeht.«
Er blickte ihr tief in die Augen; betrunken wie er war, machte es ihm nichts aus, ob jemand sie sah.
»Alles geht so schnell vorbei, Madeline. Die Monate. Die Zeit, die uns bleibt…«
Sie klappte den Fächer so ruckartig zu, daß eine der Rippen brach. Sie schloß die Augen und sagte schweigend und inständig: Bitte nicht!
Zu seiner Überraschung trat sie plötzlich zurück. Sie kam ihm wie eine Marionette vor. »Ja, die Zeit vergeht wirklich schnell. Und bevor wir uns versehen, sind wir plötzlich alt.« Weshalb redete sie so laut? »Weißt du, wie der Junge von Francis, Forbes, mich jetzt nennt? Tante Maddie!« Sie lachte, aber er wußte, daß sie am liebsten geweint hätte.
»Da bist du ja, Liebling!«
Sie drehten sich um. Es war Justins Stimme. »Jemand sagte mir, daß du mit einem Yankee getanzt hast. Ich hoffe, es ist nichts davon hängengeblieben.«
Justins Gesicht spiegelte eine Mischung aus Langeweile und süßlichem Humor. Seine Bemerkung war offensichtlich als Beleidigung von Orrys Gast gemeint. Obwohl Orry wütend war, konnte er nichts dagegen tun. Justin lächelte, und Orry mußte die Bemerkung als Witz nehmen.
Justin hielt seiner Frau den Arm hin. »Sollen wir uns einige der Leckerbissen genehmigen, die unser Gastgeber bereitgestellt hat, Liebling?«
»Geh du nur, Justin, ich habe bereits genügend – «
»Ich bestehe darauf.« Er packte sie an der rechten Hand und zwang sie, seinen Arm zu nehmen. Sie fühlte sich gedemütigt und errötete. Als Justin sie wegführte, warf sie Orry heimlich einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Er fühlte die gleiche Sehnsucht; es war beinahe unerträglich. Das kann nicht so weitergehen. Es muß etwas geschehen.
Irgendeine Intuition sagte ihm, daß eine Änderung zwar vielleicht nicht sofort, aber doch irgendwann eintreten mußte. Es würde etwas geschehen. Würde es zu ihren Gunsten oder zu ihrem Nachteil sein?
Billy und Brett wirbelten walzertanzend an Orry vorbei. Sie bemerkten weder seinen verwirrten Gesichtsausdruck noch sonst etwas, sondern lebten ganz in ihrer momentanen Gefühlswelt. Billy wünschte sich, daß die Musik und die Nacht nie ein Ende nähmen.
»Die Kamelien kamen gerade, bevor ich heruntergekommen bin«, sagte Brett. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war das erste Mal, daß sie etwas von dem Geschenk sagte. »Es sind so viele! Das Arrangement muß ein Vermögen gekostet haben«, fügte sie hinzu.
»Die Hazards werden sich das wohl leisten können.«
Nun fühlte er sich wie ein Idiot. Die Bemerkung war hochtrabend. Gott im Himmel, wie sehr sie ihn doch mit ihren leuchtenden Augen, ihrem geneigten Kopf und ihren Lippen verwirrte! George hatte ihm einmal gesagt, daß viele Kadetten in West Point sich gegen eine Romanze aussprachen, weil die Liebe einem den Kopf verdrehte und dies wiederum nicht mit dem Studium zu vereinbaren sei. Billy konnte eine solche Einstellung begreifen, aber jetzt war es für ihn schon zu spät.
»Auf jeden Fall sind die Blumen wundervoll – genau wie der Gedanke, der dahinter steckt.«
»Danke. Es gibt Mädchen, die so was nicht bemerken würden.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Aber es stimmt. Deshalb bist du anders als die andern. Du flirtest nicht und läßt den andern nicht im dunkeln herumtappen. Du sagst, was du denkst. Das gehört zu den Dingen, die ich an dir so sehr liebe…« – er schluckte das Wort hinunter und wurde rot – »…so sehr mag.«
»Früher hatte ich den Eindruck, daß dir gerade das nicht gefiel.«
Er grinste. »Es ist vielleicht besser, wenn wir uns nicht über meine vergangenen Fehler unterhalten. Es gibt nämlich so viele, daß uns kaum noch Zeit für etwas anderes bleiben würde.«
»Oh, du machst nicht viele Fehler. Auf jeden Fall keine schwerwiegenden.«
»O doch.« Wie durch einen Schleier hindurch sah er das blasse Gesicht von Ashton. Sie stand neben Huntoon und beobachtete ihn. »Manchmal mache ich auch etwas richtig. Zum Beispiel, als ich Orry gebeten habe, um dich werben zu dürfen. Ich wünschte, ich könnte dich öfters als nur einmal im Jahr besuchen.«
»Aber ich freue mich, daß du ihn gefragt hast, und ich freue mich, daß er ja gesagt hat.« Sie drückte seine Hand. »Ich werde dir eine Menge Briefe schreiben. Und vielleicht darf ich dich mit Orry einmal in West Point besuchen. Es ist doch ein berühmter Ferienort, nicht wahr?«
»Ich glaube ja. Aber du wirst hier ja wahrscheinlich nicht zu einsam sein. Der LaMotte-Bursche wird dir wahrscheinlich den Hof machen.«
»Nicht mehr. Forbes ist ein gut aussehender Mann, aber er benimmt sich, na ja, zu alt. Er wird mich nicht mehr besuchen«, sagte sie betont.
»Weiß er das?«
»Ja, ich habe es ihm vor einigen Minuten gesagt. Ich fand es nötig, da du mir Kamelien geschickt hast und – « Ihr Gesicht wurde puterrot. »Billy, sieh mich bitte nicht so an! Ich verschmelze. Wie ungeschickt von mir, das so offen zu sagen, aber ich kann nicht anders – « Sie preßte einen Augenblick ihre Wange an die seinige und flüsterte: »Ich mag dich schon so lange! Ich dachte, du würdest mich nie bemerken.«
Er lehnte etwas zurück und blickte wieder in ihre Augen. Diesmal fiel es ihm nicht schwer, die richtigen Worte zu finden:
»Ich werde nie eine andere bemerken. Nie!«
Mit einem halbleeren Glas in der Hand sah Forbes LaMotte Billy und Brett beim Tanzen zu. Der Anblick ihrer verliebten Gesichter widerte ihn an und machte ihn wütend. Er bemerkte nicht, daß Ashton sich an seine Seite stahl. Als sie sich bei ihm einhakte, erschrak er.
»Forbes, Liebling, du siehst stinkwütend aus.«
»So fühle ich mich auch.« Er blickte auf die Menge hinter ihr. »Wo ist Huntoon?«
»Ich habe ihn für eine Weile fortgeschickt. Ich wollte mich mit dir unterhalten.«
»Schön. Ich bin es müde, mir die beiden dort anzusehen.«
Er kehrte der Tanzfläche den Rücken zu und führte Ashton durch das Gewühl. Sie lächelte, nickte geschickt nach rechts und links und unterhielt sich dabei die ganze Zeit über mit ihm im Flüsterton.
»Was ist? Ich dachte, du genießt das Fest?«
»Hab’ ich auch. Bis deine liebe Schwester mir mitteilte, daß sie es vorziehen würde, mich nicht mehr zu sehen.«
»Ah, ja? Und wie fühlst du dich jetzt?«
»Ich bin verdammt beleidigt.«
»Das kann ich begreifen.«
»Versteh mich nicht falsch, Ashton. Brett ist nicht die einzige Frau, die – ich meine, sie ist nicht die einzige Frau auf der Welt.«
Sie drückte lächelnd seinen Arm. »Ich weiß, was du sagen möchtest, du Bengel. Du hast heute abend eine andere gefunden, nicht wahr?«
Er grinste wollüstig. »Gewiß. Aber ein Mann muß schließlich auch ans Heiraten denken. Ich hätte mir Brett gut als Ehefrau vorstellen können. Ihre Absage macht mir nicht eitel Freude.«
»Und wie, glaubst du, fühle ich mich, nachdem Mr. Hazard mich sitzengelassen hat!«
»Ich nehme an, genauso wie ich. Wolltest du darüber mit mir sprechen?«
»Genau. Hier ist die Punschbowle. Bitte, hol mir ein Glas.«
Er stürzte sich förmlich darauf. Bevor sie hinausgingen, leerte er rasch sein Glas und füllte es erneut. Vor dem Haus trank er den Punsch in großen Schlucken und schmiß das Glas mitten in einen Azaleenstrauch hinein. Manchmal fand ihn Ashton wirklich abstoßend. Aber er würde ihren Zwecken dienlich sein, sowohl den körperlichen als auch den andern.
Sie verließen den Hof und gingen über den Rasen. »Ehrlich gesagt, Forbes, deine Mitteilung überrascht mich keineswegs. Ich habe irgendwie geahnt, daß Brett heute abend mit dir reden würde.«
»Wieso?«
»Sie hat es erwähnt, als wir uns umgezogen haben. Sie schnatterte wie eine Ente. Total aufgeregt wegen Billy – «
»Gott im Himmel«, knurrte er. »Ich verstehe nicht, wie Orry einem Yankee erlauben kann, deiner Schwester den Hof zu machen.«
»Ach, er ist doch in den ganzen Clan verliebt.«
»Wenn Brett unbedingt einen Soldaten möchte, weshalb denn nicht einen von The Citadel? Und wie in Teufels Namen soll Hazard ihr den Hof machen, wenn er Tausende von Meilen weit weg ist?«
»Forbes, hör auf zu fluchen! Du wirst die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Es wird unsrer Sache mehr nützen, wenn die Leute uns nicht zusammen sehen; jetzt nicht, und in Zukunft nicht.«
»Unsere Sache?« wiederholte Forbes. »Was meinst du?«
»Nun, die Abrechnung mit Billy und Brett.«
Er blieb stehen, blickte sie an, warf den Kopf in den Nacken und lachte.
»Donnerwetter, du bist wirklich einzigartig. Eine echte, unverschämte Hure.«
Sie klopfte ihm mit dem Fächer auf das Kinn. Ein leichter Schlag, aber er saß – wie sie erwartet hatte. Sie lächelte zwar immer noch, aber ihre Augen sprühten Gift.
»Ich fasse das als Kompliment auf. Aber wenn du noch einmal fluchst oder die Stimme erhebst, wirst du das, was du so heiß begehrst, nie mehr zu sehen kriegen.«
»Schon gut, schon gut, tut mir leid.«
»Das klingt schon besser.«
Sie lenkten ihre Schritte in Richtung Fluß. Die mit Laternen geschmückte Eutaw hatte eben ihre nächtliche Fahrt begonnen. Das Orchester spielte, und die fröhliche Musik drang über das dunkle Wasser bis ans Ufer.
»Nun«, sagte Ashton mit fröhlicher Stimme, »laß uns unser Gespräch fortsetzen. Gehe ich richtig in der Annahme, daß du einer kleinen Rache nicht abgeneigt bist?«
»Du gottverd… äh – ja.« Ihn schauerte. Sie konnte einem wirklich Angst machen.
»Na herrlich. Ich möchte sicher sein. Wir werden geheime Verbündete sein. Wahrscheinlich werde ich demnächst James heiraten, aber ein Mann und ein Verbündeter sind nicht ein und dasselbe. Abgesehen davon, daß unser Bündnis ja noch ein gewisses Extra – «
Mit geschlossenem Fächer streichelte sie sanft seinen Handrücken. »Natürlich nur, sofern du dich benimmst.«
Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. »Ich verstehe. Aber du bist nicht betrunken, oder?«
Sie trat empört zur Seite. »Was zum Teufel willst du damit sagen?«
»Du sprichst davon, etwas gegen deine eigene Schwester zu unternehmen.«
»Richtig.« Sie lächelte wieder. »Ich hasse sie.«
Er erblaßte. »Wieso zum Teufel – « Er vermochte den Ausdruck nicht zu unterdrücken. »Na schön, ich wollte mich nur vergewissern.«
Er hatte das Gefühl, wegrennen zu müssen. Doch dann dachte er an das, was sich im Stall ereignet hatte. Er bot ihr wieder den Arm an. »Könntest du mir vielleicht sagen, wie wir«, – er schluckte – »das tun werden, worüber wir uns unterhalten?«
»Nein, ich weiß es noch nicht. Wir müssen unsern Plan den Umständen anpassen, aber wir werden den richtigen Augenblick erkennen. Wir dürfen nichts überstürzen. Wir müssen lächeln und abwarten, und eines Tages, wenn Billy Hazard und meine Schwester am wenigsten darauf gefaßt sind, werden wir es ihnen heimzahlen.«
Forbes lächelte, obwohl er Bedenken hatte. Es war ein etwas trübes Lächeln, aber Ashton fand es trotzdem charmant.
»Ja, das werden wir«, sagte er. Er deutete auf das festlich erleuchtete Haus. »Darf ich um einen Tanz bitten, um das ganze zu besiegeln?«
»Du darfst, Mr. LaMotte. Bitte geh vor.«
33
Am 1. Juni 1852 betrat Billy das Norddock in West Point. Über dem Fluß und den Hügeln lag heißer, grauer Dunst. Billy versuchte die Akademie zu erspähen, aber sie war von einem steilen Abhang, der sich hinter dem Dock erhob, verdeckt. Wie hatte sich sein Bruder wohl am ersten Tag gefühlt? Auch so nervös? Auch so aufgeregt?
Billy war fest entschlossen, sich während der nächsten vier Jahre anzustrengen. Er wollte zu den Pioniertruppen, und das bedeutete, daß er ausgezeichnete Noten haben mußte. Er wußte, daß er sie mit Fleiß und ein wenig Glück auch bekommen würde. Er hatte schon mit den Vorbereitungen begonnen und vor und während der Reise stark gebüffelt. Seine große Reisetasche war fast ausschließlich mit Büchern gefüllt: gebrauchte Algebra-, Geometrie- und Trigonometriebücher, darstellende Geometrie – alle von Professor Davies der Militärakademie überarbeitet und erweitert.
»Sir, stehen Sie nicht so rum und glotzen Sie nicht so in der Weltgeschichte herum. Sind Sie der einzige Neuankömmling? Sehr gut, Sir. Stellen Sie Ihr Gepäck auf den Karren, Sir.«
Die Stimme und der irische Akzent gehörten zu einem runzligen, eher häßlichen kleinen Mann in einer verschmutzten Armeeuniform. Er legte eine Hand stolz auf das Heft seines Säbels. Der Mann sah nicht gerade so aus, wie man sich einen idealen Soldaten vorstellte, aber er beeindruckte Billy; er strahlte etwas von der Tradition dieses Ortes aus. Billy war stolz, dort zu sein, wo sein Bruder vor zehn Jahren gewesen war. Während Jacksons Zeit hatte die Akademie einen schlechten Ruf genossen, aber George sagte, daß dies langsam am Abklingen sei und die Akademie nun zusammen mit Woolwich und Sandhurst in Großbritannien, St. Cyr und der École Polytechnique in Frankreich eine der führenden Militärschulen sei. Der alte Thayer hatte sich bei der Umstrukturierung des Lehrplans von West Point am Modell der französischen École Polytechnique orientiert.
»Sir, ich sage Ihnen nicht noch einmal, daß Sie vorwärts machen sollen. Ich bin Sergeant Owens. Vergessen Sie nicht, daß Sie sich nun auf Militärgebiet befinden. Benehmen Sie sich entsprechend!«
»Ja, Sir«, sagte Billy und eilte ihm nach.
Hauptmann Elkanah Bent saß da und zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe. Schweiß tropfte von seinem Kinn auf die offene Akte. Obwohl alle Fenster des altmodischen Backsteinhauses weit offen standen, kam der fettleibige Offizier vor Hitze fast um.
Das Haus stand am westlichen Ende des President-Park. In acht Monaten würde ein neuer Mann in die Residenz in der Mitte des bewaldeten Parks ziehen. Die Demokraten hatten bei der 49. Abstimmung Franklin Pierce von New Hampshire nominiert. Nach seiner Ernennung zum General im Mexiko-Krieg wurde Pierce sogleich als einer jener unfähigen Politiker verschrien, die unbedingt auch noch einen militärischen Rang haben müssen. Aber er stellte sich als überraschend kompetenter Befehlshaber heraus, und viele Berufsoffiziere begrüßten seine Wahl.
Die Republikaner ihrerseits hatten sich für den Oberbefehlshaber selbst entschieden. General Scott hatte sich schon 1848 nominieren lassen wollen, wurde damals aber gezwungen, weitere vier Jahre zu warten. Diesmal hatte er es nach der dreiundfünfzigsten Abstimmung geschafft, nachdem Präsident Fillmore die Nomination durch seine eigene Partei verweigert worden war – sofern die Republikaner überhaupt noch als lebensfähige Partei bezeichnet werden konnten.
Nun gut. Das Land würde also auf jeden Fall einen Präsidenten mit militärischer Erfahrung sehen. Vielleicht würde ein solcher Mann begreifen, daß die Hauptaufgabe der Regierung darin lag, sich auf einen Krieg gegen die Verräter im Süden vorzubereiten.
Bent war vor etwas weniger als vier Wochen zum Kriegsministerium gekommen. Er hatte jetzt schon genug von der Hauptstadt, aber darüber war er sich schon im klaren gewesen, als er die Versetzung akzeptierte. Washington war eine permanente Baugrube. Der Stil der bereits gebauten Häuser und die Ansichten der meisten Leute entsprachen denen des Südens, und die Stadt war voll von Fliegen, Ratten und anderen unangenehmen Kreaturen. Er haßte die freien Neger, die in der Öffentlichkeit herumstolzierten und sich so benahmen, als seien sie gleich viel wert wie die Weißen. Er haßte auch die Bürokraten, diese Hosenscheißer, die immer hin und her rannten, als müßten sie beweisen, daß es ohne sie nicht ginge.
Trotz aller Widerwärtigkeiten war die Versetzung ein wichtiger und schon längst fälliger Schritt, denn die Stabsarbeit war eine notwendige Erfahrung. Die letzten vierunddreißig Monate hatte Bent an einem unwichtigen Posten in der Carlisle-Kaserne verbracht. Diese neue Aufgabe könnte einen Wendepunkt in seiner Karriere bedeuten, die bis jetzt – auch für friedliche Zeiten – viel zu langsam vorwärtsgegangen war. Er wußte, wer daran schuld war.
Durch das Büro des Generaladjutanten liefen alle persönlichen Akten der Armee. Kurz nach seinem Eintreffen hatte Bent die Liste durchgesehen, auf der alle bestätigten Akademiebewerber des nächsten Jahres aufgeführt waren. Dabei entdeckte er Charles Main aus South Carolina. Nachforschungen ergaben, daß dieser Charles Main der Vetter eines ehemaligen Offiziers war – einer von Bents Bekannten.
Und gerade heute war mit der offiziellen Post die endgültige Liste der im Juni Eingetretenen, die schon im Camp waren, und auch diejenige der Nachzügler, die erst im Herbst eintreten würden, eingetroffen. Ein Name stach ihm sofort in die Augen: William Hazard II, Lehigh Station, Pennsylvania.
Er mußte zur selben Familie gehören.
Bent konnte seine Freude kaum unter Kontrolle halten. Er hatte Orry Main und George Hazard aus den Augen verloren, woran auch der Druck seiner eigenen Karriere nicht ganz unschuldig war. Zudem waren ja beide nicht mehr in der Armee und hatten sich so seinem Einfluß entzogen.
Am äußersten Ende von Bents Schreibtisch tauchte eine kleine, haarige Raupe auf, die sich langsam zur geschlossenen Akte vorkämpfte. Aus lauter Gewohnheit fielen Bent, als er an seine alten Gegner dachte, deren Spitznamen ein. Hatten Stumpf und Stiel das Versprechen vergessen, das er ihnen gegeben hatte? Wenn ja, um so besser, denn Diskretion und Überraschung erwiesen sich sowohl bei privaten als auch bei militärischen Manövern als äußerst wertvoll.
»Hauptmann Bent?« Aus dem Hauptbüro drang die Stimme des Generalsadjutanten. »Bitte kommen Sie einen Augenblick hierher.«
»Sofort, Sir.«
Elkanah Bent hievte sich aus dem Stuhl, machte einen Schritt, blieb stehen, hielt seine Hand über die Raupe und drückte seinen Daumen kräftig nieder. Als das Insekt tot und vom Schreibtisch gefegt war, polterte Bent los, um der Aufforderung nachzukommen.