10

Il descend, réveillé, l’autre côté du rêve.

Hugo, Contemplations


Es war erst fünfzehn Uhr, er sollte in sein Büro im Parks Department zurückkehren und die Baupläne für die neuen Spielanlagen in den südöstlichen Vororten fertigstellen; aber er tat es nicht. Er dachte einmal kurz darüber nach und ließ es sein. Obwohl ihm sein Gedächtnis versicherte, daß er diese Position jetzt schon seit fünf Jahren bekleidete, traute er seinem Gedächtnis nicht. Das war keine Arbeit, die er tun mußte. Es war nicht sein Job.

Ihm war eines bewußt, indem er solchermaßen einen großen Teil der Realität, der einzigen Existenz, die er tatsächlich hatte, ins Irreale relegierte, ging er genau dasselbe Risiko ein wie der Verstand eines Geistesgestörten: den Verlust des Gefühls, einen freien Willen zu haben. Er wußte, wenn man leugnet, was ist, dann ist man von dem besessen, was nicht ist, den Hirngespinsten, den Schrecken, die herbeiströmen, um das Nichts zu füllen. Aber das Nichts war da. Diesem Leben fehlte das Reale; es war hohl; der Traum, der schuf, ohne daß etwas geschaffen werden mußte, war dünn und fadenscheinig geworden. Wenn dies das Sein war, dann war das Nichts vielleicht besser. Er würde die Ungeheuer und die Zwänge jenseits der Vernunft akzeptieren. Er würde nach Hause gehen und keine Medikamente einnehmen, aber schlafen und die Träume träumen, die da kommen mochten.

Er stieg in der Innenstadt aus der Seilbahn, nahm jedoch nicht die Straßenbahn, sondern machte sich zu Fuß zu seinem eigenen Distrikt auf; er war immer gern spazierengegangen.

Hinter dem alten Lovejoy Park stand noch ein Stück des alten Freeway, eine riesige Rampe, die vermutlich aus den letzten zwanghaften Zuckungen der Straßenbaumanie in den siebziger Jahren datierte; sie mußte einst zur Marquam Bridge geführt haben, endete jetzt aber zehn Meter über der Front Avenue in der Luft. Sie war nicht zerstört worden, als die Stadt nach den Jahren des Schwarzen Todes gesäubert und neu aufgebaut wurde, was daran liegen mochte, daß sie groß, nutzlos und häßlich, und damit für das amerikanische Auge unsichtbar war. Da stand sie; ein paar Büsche hatten im Straßenbelag Fuß gefaßt, während darunter eng zusammengedrängte Gebäude hochgewachsen waren wie Schwalbennester an einer Felsklippe. In diesem drögen und eher unscheinbaren Teil der Stadt gab es noch kleine Geschäfte, unabhängige Märkte, unappetitliche kleine Restaurants und so weiter, die trotz der strengen Auflagen des allgemeingültigen Gesetzes über die gerechte Rationierung von Endverbraucherprodukten und die erdrückende Konkurrenz der großen WPZ-Supermärkte und Verkaufsstellen, über die neunzig Prozent des gesamten Welthandels abgewickelt wurden, eine karge Existenz fristeten.

Bei einem dieser Geschäfte unter der Rampe handelte es sich um einen Gebrauchtwarenhändler; auf einem Schild über den Schaufenstern stand ANTIQUITÄTEN, während ein auf dem Glas aufgemaltes Plakat mit abblätternder Farbe in mangelhafter Rechtschreibung TRODDEL verkündete. In einem Schaufenster standen primitive handgetöpferte Keramikgefäße, ein alter Schaukelstuhl, über den ein mottenzerfressener Paisleyschal drapiert worden war, in einem anderen, und um diese beiden Schmuckstücke herum ein wahres Durcheinander von kulturellem Tand: ein Hufeisen, eine von Hand aufziehbare Uhr, etwas Rätselhaftes aus einer Molkerei, eine gerahmte Fotografie von Präsident Eisenhower, eine leicht angestoßene Glaskugel mit drei ecuadorianischen Münzen darin, ein mit Krabbenbabys und Seetang bemalter Klodeckel aus Plastik, ein abgegriffener Rosenkranz, ein Stapel alter 45er Singles mit der Aufschrift »Gutr Zust«, aber ganz offensichtlich zerkratzt. Ganz genau die Art von Geschäft, dachte Orr, in dem Heathers Mutter eine Zeitlang gearbeitet haben könnte. Er folgte seiner Eingebung und trat ein.

Im Inneren war es kühl und recht dunkel. Ein Pfeiler der Rampe formte eine Wand, eine hohe, kahle Fläche aus Beton, die der Wand einer unterseeischen Höhle glich. Aus den halbdunklen Gründen von Schatten, klobigem Mobiliar, verblichenen Gemälden und auf antik getrimmten Spinnrädern, die mittlerweile freilich selbst echte Antiquitäten geworden, wenn auch noch genauso nutzlos waren, aus diesen unerforschlichen Abgründen herrenlosen Tinnefs tauchte jetzt eine hünenhafte Gestalt auf, die langsam vorwärts zu schweben schien, lautlos und reptilienhaft: Der Besitzer war ein Außerirdischer.

Er hob den angewinkelten linken Ellbogen. »Guten Tag«, sagte er. »Sie wünschen ein Objekt?«

»Danke. Ich sehe mich nur um.«

»Bitte setzen Sie diese Aktivität fort«, sagte der Besitzer. Er zog sich ein kleines Stück in die Schatten zurück, wo er bewegungslos verharrte. Orr betrachtete das Spiel des Lichts auf ein paar zerschlissenen alten Pfauenfedern, entdeckte einen Heimkinoprojektor aus den 1950er Jahren, ein blauweißes Sake-Geschirr, einen Stapel alter Mad-Hefte, für die ein stolzer Preis verlangt wurde. Er hob einen soliden Stahlhammer hoch und bewunderte dessen Balance; es war ein sorgfältig hergestelltes Werkzeug, etwas Gutes. »Ist dies Ihre eigene Wahl?« erkundigte er sich bei dem Besitzer und fragte sich, was die Außerirdischen wohl an diesem Treibgut der fetten Jahre der amerikanischen Geschichte faszinieren mochte.

»Was kommt, ist akzeptabel«, antwortete der Außerirdische.

Ein kongenialer Standpunkt. »Ich frage mich, ob Sie mir etwas erklären könnten. Was bedeutet in Ihrer Sprache das Wort iahklu’

Der Besitzer trat langsam wieder vor und tastete sich mit seinem breiten, panzerartigen Schutzanzug vorsichtig an zerbrechlichen Gegenständen vorbei.

»Nicht kommunizierbar. Sprache für Kommunikation mit Individual-Personen enthält nicht andere Formen von Beziehungen. Jor Jor.« Die rechte Hand, eine große, grünliche, flossenartige Extremität, wurde langsam und auf womöglich zaghafte Weise ausgestreckt. »Tiua’k Ennbe Ennbe.«

Orr schüttelte ihm die Hand. Der Besitzer verharrte reglos und betrachtete ihn offenbar, obwohl man in dem dunkel getönten, von Dämpfen erfüllten Kopfhelm keine Augen erkennen konnte. Wenn es denn ein Helm war. Gab es in diesem grünen Panzer, diesem mächtigen Schutzanzug, überhaupt eine substantielle Form? Er wußte es nicht. Aber er fühlte sich in Gegenwart von Tiua’k Ennbe Ennbe rundum wohl.

»Ich nehme nicht an«, sagte er und folgte damit wieder einer Eingebung, »daß Sie jemals jemanden namens Lelache gekannt haben?«

»Lelache. Nein. Suchen Sie Lelache.«

»Ich habe Lelache verloren.«

»Kreuzungen im Nebel«, stellte der Außerirdische fest.

»Das kommt etwa hin«, sagte Orr. Er nahm eine weiße, etwa fünf Zentimeter hohe Büste von Franz Schubert, wahrscheinlich das Geschenk einer Klavierlehrerin an einen Schüler, von einem überfüllten Tisch. Auf den Sockel hatte der Schüler geschrieben: »Was, ich mir Sorgen machen?« Schuberts Gesichts sah sanftmütig und geduldig aus, ein kleiner Buddha mit Brille. »Wieviel dafür?« fragte Orr.

»Fünf neue Cent«, antwortete Tiua’k Ennbe Ennbe.

Orr gab ihm eine VöBu-Münze.

»Gibt es eine Möglichkeit, iahklu’ zu kontrollieren, damit es das tut … was es tun sollte?«

Der Außerirdische nahm die Münze und entschwebte majestätisch zu einer verchromten Registrierkasse, die Orr ebenfalls für eine käufliche Antiquität gehalten hatte. Er gab die Summe mit einem Klingeln in die Registrierkasse ein und blieb eine Weile reglos stehen.

»Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer«, sagte er. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.« Er verstummte wieder und schien offenbar nicht zufrieden zu sein mit diesem Versuch, die Kommunikationskluft zu überwinden. Er blieb eine halbe Minute reglos stehen, dann ging er zum Schaufenster und wählte mit exakten, steifen, sorgfältig bemessenen Bewegungen eine der dort ausgelegten alten Schallplatten und brachte sie Orr. Es war eine Platte der Beatles: »With a Little Help From My Friends«.

»Geschenk«, sagte er. »Ist es akzeptabel?«

»Ja«, sagte Orr und nahm die Platte. »Danke — herzlichen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich bin Ihnen dankbar.«

»Vergnügen«, sagte der Außerirdische. Zwar blieben die mechanisch erzeugte Stimme tonlos und der Panzer ungerührt, aber Orr war sicher, daß sich Tiua’k Ennbe Ennbe tatsächlich freute; er selbst fühlte sich gerührt.

»Ich kann sie auf dem Gerät des Hausmeisters abspielen, der besitzt noch einen alten Plattenspieler«, sagte er. »Recht herzlichen Dank.« Sie schüttelten einander noch einmal die Hände und er ging hinaus.

Eigentlich, dachte er bei sich, während er Richtung Corbett Avenue ging, ist es nicht überraschend, daß die Außerirdischen auf meiner Seite sind. In gewissem Sinne habe ich sie erfunden. Natürlich habe ich keine Ahnung, in welchem Sinne. Aber sie waren eindeutig nicht da, bis ich geträumt habe, daß sie da sind, bis ich sie sein ließ. Also gibt — und gab es immer — eine Verbindung zwischen uns.

Natürlich (nahmen seine Gedankengänge ebenfalls im Schritttempo ihren Lauf), wenn das stimmt, dann müßte die ganze Welt so, wie sie jetzt ist, auf meiner Seite sein; weil ich auch einen großen Teil davon herbeigeträumt habe. Na ja, sie ist ja auch auf meiner Seite. Das heißt, ich bin ein Teil von ihr. Nicht separat davon. Ich schreite auf dem Boden und der Boden wird von mir beschritten, ich atme die Luft und veränderte sie dadurch, ich bin ganz und gar mit der Welt verbunden.

Nur Haber ist anders, und diese Andersartigkeit nimmt mit jedem Traum zu. Er ist gegen mich: meine Beziehung zu ihm ist negativ. Und der Aspekt der Welt, für den er verantwortlich ist, den ich auf seinen Befehl hin erträumt habe, von dem fühle ich mich entfremdet, ohnmächtig …

Es ist nicht so, daß er böse wäre. Er hat recht, man sollte versuchen, anderen Menschen zu helfen. Aber diese Analogie mit dem Schlangengiftserum war falsch. Er hat davon gesprochen, daß eine Person einer anderen Person mit Schmerzen begegnet. Das ist etwas anderes. Vielleicht war das, was ich im April vor vier Jahren gemacht habe … gerechtfertigt … (Aber sein ganzes Denken scheute wie immer vor dieser verbrannten Stelle zurück.) Man muß einer anderen Person helfen. Aber es ist nicht recht, für eine Unzahl von Menschen Gott zu spielen. Um Gott zu sein, muß man wissen, was man tut. Und um Gutes zu tun, reicht es einfach nicht aus, wenn man der Überzeugung ist, daß man recht hat und die eigenen Motive anständig sind. Man muß … in Kontakt sein. Er ist nicht in Kontakt. Niemand anderes, nicht einmal ein anderes Ding, besitzt für ihn eine eigene Existenz; er sieht die ganze Welt nur als Mittel für seine Zwecke. Es spielt keine Rolle, ob seine Zwecke gut sind; wir haben nur Mittel … Er kann nicht akzeptieren, er kann nicht sein lassen, er kann nicht loslassen. Er ist wahnsinnig … er könnte uns alle mit sich nehmen, ohne Kontakt, wenn er so träumen könnte wie ich. Was soll ich nur tun?

Er erreichte das alte Haus in der Corbett Avenue gerade in dem Moment, als er sich diese Frage stellte.

Er machte zuerst einen Abstecher in den Keller und lieh sich von Mannie Ahrens, dem Hausmeister, dessen altmodischen Plattenspieler aus. Das erforderte, eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Mannie machte stets einen Tee für Orr, weil er wußte, daß Orr nie geraucht hatte und nicht inhalieren konnte, ohne zu Husten. Sie unterhielten sich eine Weile über das Weltgeschehen. Mannie haßte die Sportveranstaltungen; er blieb zu Hause und sah sich jeden Nachmittag die WPZ-Bildungsprogramme für Kinder im Vorschulalter an. »Die Alligatormarionette Dooby Doo, die ist echt ein scharfes Teil«, sagte er. Es kam zu langen Pausen in der Unterhaltung, die die klaffenden Leerstellen in der Textur von Mannies Verstand widerspiegelten, der nach Einnahme unzähliger Chemikalien über Jahre hinweg ein wenig durchlöchert war. Aber in seiner unaufgeräumten Kellerwohnung herrschten Frieden und Gemütlichkeit, und der schwache Cannabistee hatte eine gelinde entspannende Wirkung auf Orr. Schließlich schleppte er den Plattenspieler nach oben und schloß ihn an die freie Wandsteckdose seines kargen Wohnzimmers an. Er legte die Platte auf und verharrte einen Moment mit dem Tonarm über der kreisenden Scheibe. Was wollte er eigentlich?

Er wußte es nicht. Vermutlich Hilfe. Na ja, was kam, würde akzeptabel sein, wie Tiua’k Ennbe Ennbe gesagt hatte.

Er senkte die Nadel behutsam auf die äußerste Rille der Platte und ließ sich langsam neben dem Schallplattenspieler auf dem staubigen Boden nieder.

Do you need anybody?

I need somebody to love.

Es handelte sich um ein automatisches Gerät; als die Platte zu Ende war, knisterte es einen Moment leise, dann klackerte es im Inneren und die Nadel setzte wieder in der ersten Rille auf.

I get by, with a little help,

With a little help from my friends.

Beim elften Abspielen schlief Orr tief und fest ein.


Als Heather in dem hohen, kahlen, halbdunklen Raum aufwachte, war sie verwirrt. Wo, um alles in der Welt?

Sie hatte geschlafen. Sie war auf dem Boden sitzend, mit ausgestreckten Beinen und an das Klavier gelehnt eingeschlafen. Marihuana machte sie immer müde, und auch ein wenig albern, aber man konnte Mannie, den liebenswerten alten Kiffer, nicht kränken und es ablehnen. George lag so flach wie ein abgezogenes Katzenfell auf dem Boden, direkt neben dem Plattenspieler, dessen Tonarm auf dem Plattenteller sich langsam durch »With a Little Help« eierte. Sie drehte langsam die Lautstärke herunter, dann stellte sie das Gerät ab. George regte sich nicht einmal; seine Lippen waren leicht geöffnet und die Augen fest geschlossen. Wie seltsam, daß sie beide zu den Klängen dieser Musik eingeschlafen waren. Sie rappelte sich auf die Knie, und ging in die Küche, um nachzusehen, was es zum Abendessen gab.

Schweineleber, um Himmels willen. Die war nahrhaft und hatte vom Gewicht her den größten Gegenwert, den man für drei Fleischmarken bekommen konnte. Sie hatte sie gestern auf dem Markt gekauft. Na ja, hauchdünn geschnitten und mit Speck und Zwiebeln gedünstet … igitt. Ach was, sie war so hungrig, daß sie sogar Schweineleber essen würde, und George war nicht wählerisch. Wenn es sich um anständiges Essen handelte, aß er es mit Genuß, und wenn es sich um lausige Schweineleber handelte, aß er es. Gelobt sei Gott, der uns alle Freuden schenkt, gutmütige Männer eingeschlossen.

Während sie den Küchentisch deckte und zwei Kartoffeln und einen halben Kohlkopf zum Kochen aufstellte, hielt sie von Zeit zu Zeit inne: Sie fühlte sich seltsam. Desorientiert. Zweifellos wegen des verdammten Pots und weil sie stundenlang auf dem Fußboden geschlafen hatte.

George kam zerzaust und mit staubigem Hemd herein. Er sah sie an. »Na ja,« sagte sie. »Guten Morgen!«

Er stand da und sah sie lächelnd an, ein breites, strahlendes Lächeln reinster Freude. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so ein schönes Kompliment bekommen; sie konnte diese Freude, deren Ursache sie selbst war, kaum begreifen. »Mein teures Weib«, sagte er und nahm ihre Hände. Er betrachtete die Hände, Handflächen und Handrücken, und drückte sie an sein Gesicht. »Du solltest braun sein«, sagte er, und zu ihrer Bestürzung sah sie Tränen in seinen Augen. Einen Augenblick, aber auch nur diesen einen Augenblick, hatte sie eine Vorstellung davon, was los war; sie erinnerte sich daran, daß sie braun gewesen war, erinnerte sich blitzartig an die nächtliche Stille in der Blockhütte, den rauschenden Bach und viele andere Dinge. Aber George stellte ein dringenderes Problem dar. Sie hielt ihn umarmt, während er sie umarmte. »Du bist erschöpft«, sagte sie, »du bist durcheinander, du bist auf dem Fußboden eingeschlafen. Daran ist dieses Aas Haber schuld. Geh nicht mehr zu ihm. Geh einfach nicht. Mir ist gleich, was er macht, wir gehen damit vor Gericht, wir reichen Klage ein, auch wenn er eine Einweisung gegen dich verfügt und dich in Linnton einsperren läßt, wir besorgen dir einen anderen Seelenklempner und holen dich wieder raus. Du kannst nicht mehr zu ihm gehen, er macht dich kaputt.«

»Niemand macht mich kaputt«, sagte er und lachte leise, tief in der Brust, fast ein Schluchzen. »Solange ich ein wenig Hilfe von meinen Freunden habe. Ich gehe wieder hin, lange wird es sowieso nicht mehr dauern. Ich mache mir keine Sorgen mehr um mich. Aber mach du dir keine Gedanken …« Sie klammerten sich aneinander, berührten sich an allen möglichen Oberflächen, ganz und gar eins, während die Leber und die Zwiebeln in der Pfanne brutzelten. »Ich bin auch eingeschlafen«, sagte sie an seinen Hals. »Ich wurde so benommen, als ich die blöden Briefe des alten Rutti abgetippt habe. Aber eine gute Platte hast du da gekauft. Als ich noch ein Kind war, habe ich die Beatles geliebt, aber die staatlichen Rundfunkanstalten spielen sie leider kaum noch.«

»Es war ein Geschenk«, sagte George, aber in dem Moment spritzte die Leber in der Pfanne, und Heather mußte sich von ihm lösen und danach sehen. Beim Abendessen beobachtete George sie; und sie selbst ließ ihn auch kaum aus den Augen. Sie waren seit sieben Monaten verheiratet. Sie redeten Belangloses.

Sie spülten das Geschirr und gingen ins Bett. Im Bett machten sie Liebe. Liebe sitzt nicht einfach nur so da, wie ein Stein, sie muß gemacht werden, wie Brot; ständig neu gemacht, erneuert werden. Als sie die Liebe gemacht hatten, lagen sie einander schlafend in den Armen und hielten sie fest. In ihrem Schlaf hörte Heather das Rauschen des Bachs, das erfüllt war von den singenden Stimmen ungeborener Kinder.

In seinem Schlaf sah George die Tiefen des offenen Meeres.

Heather arbeitete als Sekretärin bei einem steinalten und verknöcherten Rechtsanwaltsduo, Ponder und Rutti. Als sie am nächsten Tag, am Freitag, gegen sechzehn Uhr dreißig Feierabend machte, fuhr sie nicht mit der Einschienenbahn und der Straßenbahn nach Hause, sondern mit der Seilbahn zum Washington Park hinauf. Sie hatte George gesagt, daß sie vielleicht zu EFMEG kam, da die Therapiesitzung erst für siebzehn Uhr vereinbart worden war, und danach würden sie vielleicht gemeinsam in die Innenstadt zurückkehren und in einem der WPZ-Restaurants auf der International Mall essen. »Alles wird gut«, hatte er zu ihr gesagt, weil er ihre Beweggründe verstand und deutlich machen wollte, daß ihm nichts geschehen würde. »Ich weiß«, hatte sie geantwortet, »aber es wäre doch schön, essen zu gehen, zumal ich ein paar Marken gespart habe. Wir haben das Casa Boliviana noch nicht ausprobiert.«

Sie war früher als er beim EFMEG Tower und wartete auf den breiten Marmorstufen. Er kam mit der nächsten Bahn. Sie sah ihn zusammen mit anderen aussteigen, doch die bemerkte sie nicht einmal. Ein kleiner, adretter Mann, sehr introvertiert, mit einem liebenswerten Gesicht. Seine Haltung war ausgezeichnet, wenn auch etwas gebückt, wie bei den meisten Leuten, die am Schreibtisch arbeiten. Als er sie sah, schienen seine Augen, die klar und leuchtend waren, noch mehr zu leuchten, und er lächelte: wieder dieses herzzerreißende Lächeln ungekünstelter Freude. Sie liebte ihn überschwenglich. Wenn Haber ihm noch einmal wehtat, würde sie da reingehen und Haber in Stücke reißen. Gewalttätige Impulse waren ihr normalerweise fremd, aber nicht, wenn es um George ging. Und heute fühlte sie sich sowieso anders als sonst. Sie fühlte sich kühner, härter. Bei der Arbeit hatte sie zweimal so laut »Scheiße« gesagt, daß der alte Mr. Rutti zusammengezuckt war. Früher hatte sie kaum je einmal gewagt, laut »Scheiße« zu sagen, sie hatte es auch heute beide Male nicht vorgehabt, und dennoch hatte sie es getan, als wäre es eine alte Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen konnte.

»Hallo, George«, sagte sie.

»Hallo«, sagte er und nahm ihre Hände. »Du bist wunderschön, wunderschön.«

Wie konnte jemand denken, daß dieser Mann krank war? Na gut, er hatte seine merkwürdigen Träume. Aber das war immer noch besser als ganz unverhohlen gemein und haßerfüllt zu sein, wie rund ein Viertel der Menschen, denen sie je begegnet war.

»Es ist schon fünf«, sagte sie. »Ich warte hier unten. Wenn es regnet, gehe ich ins Foyer. Mit dem schwarzen Marmor und allem sieht es da freilich aus wie in Napoleons Gruft. Aber hier draußen ist es schön. Man kann die Löwen unten im Zoo brüllen hören.«

»Komm mit mir nach oben«, sagte er. »Es regnet jetzt schon.« An sich meinte er den endlosen warmen Nieselregen des Frühlings — das Eis der Polkappen, das sanft auf die Köpfe der Kinder derer fiel, die für sein Abschmelzen verantwortlich waren. »Er hat ein hübsches Wartezimmer. Du wirst es dir wahrscheinlich mit einer ganzen Meute von hochrangigen VöBu-Beamten und drei oder vier Staatschefs teilen. Die alle dem Direktor von EFMEG ihre Aufwartung machen wollen. Und ich muß zwischen ihnen durchkriechen und werde vor ihnen eingelassen, jedes verdammte Mal. Dr. Habers zahmer Psychopath. Sein Ausstellungsstück. Der Patient seiner Wahl …« Er führte sie durch das riesige Foyer unter der Pantheonkuppel, auf Laufbänder und eine unglaubliche, scheinbar endlose spiralförmige Rolltreppe hinauf. »EFMEG lenkt auch so schon die Geschicke der Welt«, sagte er. »Ich frage mich immer wieder, warum Haber noch eine andere Form von Macht braucht. Er hält doch weiß Gott schon genug in Händen. Warum kann er es nicht dabei bewenden lassen? Ich nehme an, das ist wie bei Alexander dem Großen, der ständig neue Welten zum Erobern brauchte. Ich habe das nie verstanden. Wie war die Arbeit heute?«

Er war nervös, darum redete er soviel; aber er wirkte nicht mehr niedergeschlagen oder verstört, so wie in den vergangenen Wochen. Etwas hatte ihm seine natürliche Gelassenheit wiedergegeben. Sie hatte nie richtig geglaubt, daß er sie jemals auf Dauer verlieren würde, daß er vom Weg abkommen, den Kontakt verlieren könnte; und dennoch hatte er einen elenden Eindruck gemacht, und zwar in zunehmendem Maße. Jetzt nicht mehr, und die Veränderung war so plötzlich und umfassend, daß sie sich wirklich fragte, was die Ursache sein mochte. Als Zeitpunkt konnte sie nur den Moment dingfest machen, als sie sich gestern abend in dem noch unmöblierten Wohnzimmer hingesetzt hatten, um diesen abgefahrenen und subtilen Song der Beatles anzuhören, und beide eingeschlafen waren. Seither schien er wieder ganz der Alte zu sein.

Niemand hielt sich in Habers großem, feudalen Wartezimmer auf. George nannte einem schreibtischartigen Ding an der Tür, einer Autorezeptionistin, wie er ihr erklärte, seinen Namen. Heather machte gerade einen nervösen Scherz darüber, ob es auch Autoerotiker geben mochte, als die Tür aufging und Haber vor ihnen stand.

Heather war ihm nur einmal begegnet, ganz kurz, als er George als Patienten angenommen hatte. Sie hatte vergessen, was für ein großer Mann er war, was für einen großen Bart er hatte, wie ungeheuer eindrucksvoll er aussah. »Kommen Sie herein, George!« donnerte er. Sie erstarrte vor Ehrfurcht. Sie duckte sich. Er bemerkte sie. »Mrs. Orr — wie schön, Sie zu sehen! Wie schön, daß Sie mitgekommen sind! Kommen Sie auch mit herein.«

»Oh, nein. Ich wollte nur —«

»Oh doch. Ist Ihnen nicht bewußt, daß dies wahrscheinlich Georges letzte Sitzung ist? Hat er es Ihnen nicht gesagt? Heute abend machen wir tabula rasa. Da sollten Sie eindeutig dabei sein. Kommen Sie. Ich habe das Personal extra früher nach Hause geschickt. Wahrscheinlich haben Sie das Gedränge auf der Rolltreppe nach unten bemerkt. Ich wollte das Büro heute abend ganz für mich allein haben. Gut so, nehmen Sie dort Platz.« Er fuhr fort; es war nicht nötig, etwas Sinnvolles darauf zu erwidern. Sie war fasziniert von Habers Verhalten, der Hochstimmung, die er ausstrahlte; ihr war nicht mehr in Erinnerung gewesen, was für eine große, geniale Persönlichkeit er sein eigen nannte, zu gut, um wahr zu sein. An sich schien es unglaublich, daß so ein Mann, ein Führer der Welt und grandioser Wissenschaftler, George, der ein Niemand war, so viele Wochen persönlicher Therapie gewidmet hatte.

»Eine letzte Sitzung«, sagte er gerade, während er etwas an einem computerähnlichen Ding in der Wand am Kopfende der Couch einstellte. »Ein letzter kontrollierter Traum, dann haben wir, denke ich, das Problem gelöst. Sind Sie bereit, George?«

Er benutzte den Vornamen ihres Mannes oft. Ihr fiel ein, wie George vor wenigen Wochen einmal gesagt hatte: »Er nennt mich andauernd bei meinem Namen; ich glaube, das macht er, um sich selbst daran zu erinnern, daß noch jemand anderes anwesend ist.«

»Na klar bin ich bereit«, sagte George, setzte sich auf die Couch und hob den Kopf ein wenig; er sah einmal zu Heather und lächelte. Haber begann umgehend, die kleinen Dinger an Drähten an Georges Kopf zu befestigen, wozu er das dichte Haar scheiteln mußte. Heather erinnerte sich von ihrem eigenen Gehirnabdruck an diese Prozedur, die Teil einer ganzen Batterie von Tests und Aufzeichnungen war, die jeder VöBu-Bürger über sich ergehen lassen mußte. Als sie sah, wie die Prozedur an ihrem Mann durchgeführt wurde, verspürte sie ein gewisses Unbehagen. Als wären diese Elektrodendinger kleine Saugnäpfe, die Georges die Gedanken aus dem Kopf lutschten und in Krakel auf Papier verwandelten, das sinnlose Geschreibsel von Verrückten. Georges Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck höchster Konzentration angenommen. Was dachte er?

Haber legte plötzlich die Hand an Georges Hals, als wollte er ihn erdrosseln, streckte die andere Hand aus und schaltete ein Tonband ein, das die von seiner eigenen Stimme gesprochenen Hypnotiseursfloskeln abspielte. »Sie gleiten jetzt in den Hypnosezustand hinüber …« Nach wenigen Sekunden hielt er es wieder an und prüfte die Hypnose. George war hypnotisiert.

»Okay«, sagte Haber und machte eine nachdenkliche Pause. Riesig, wie ein Grislybär auf den Hinterbeinen, stand er zwischen ihr und der zierlichen, reglosen Gestalt auf der Couch.

»Jetzt hören Sie gut zu, George, und prägen Sie sich ein, was ich sage. Sie befinden sich in tiefer Hypnose und werden die Anweisungen, die ich Ihnen gebe, explizit befolgen. Sie werden einschlafen, wenn ich es Ihnen sage, und Sie werden träumen. Sie werden einen wirkungsvollen Traum haben. Sie werden träumen, daß Sie vollkommen normal sind — daß Sie wie alle anderen sind. Sie werden träumen, daß Sie früher die Fähigkeit zum wirkungsvollen Träumen besaßen, oder es sich wenigstens einbildeten, daß das aber nicht mehr so ist. Von jetzt an werden Ihre Träume so wie die von allen anderen auch sein, sie werden nur für Sie selbst einen Sinn ergeben und keinerlei Auswirkungen auf die externe Realität haben. Das alles werden Sie träumen; welche Symbolik Sie auch immer benutzen mögen, um den Traum auszudrücken, sein wirkungsvoller Gehalt wird sein, daß Sie nicht mehr wirkungsvoll träumen können. Es wird ein angenehmer Traum sein, Sie werden aufwachen, wenn ich dreimal Ihren Namen sage, und sich frisch und erholt fühlen. Nach diesem Traum werden Sie nie wieder wirkungsvoll träumen. Legen Sie sich jetzt hin. Machen Sie es sich bequem. Sie schlafen jetzt ein. Sie sind eingeschlafen. Antwerpen!«

Als er dieses letzte Wort aussprach, bewegte George die Lippen und sagte etwas mit der leisen, teilnahmslosen Stimme von jemand, der im Schlaf spricht. Heather konnte nicht hören, was er sagte, mußte aber an die letzte Nacht denken; sie hatte sich an ihn gekuschelt und war fast eingeschlafen, als er laut etwas gesagt hatte: Air per annum, so hatte es sich angehört. »Was?« hatte sie gefragt, aber er hatte nicht geantwortet, er war eingeschlafen. So wie jetzt.

Das Herz wollte ihr in der Brust zerspringen, als sie ihn so mit den reglosen Händen an den Seiten schwach und verwundbar daliegen sah.

Haber war aufgestanden und drückte jetzt einen weißen Knopf an der Seite der Maschine am Kopfende der Couch; einige Kabel der Elektroden führten dort hinein, andere zu der EEG-Maschine, die sie kannte. Dieses Ding in der Wand mußte der Verstärker sein, das Ding, um das sich die ganzen Forschungen drehten.

Heather saß tief in einem riesigen gepolsterten Ohrensessel aus Leder versunken, als Haber zu ihr kam. Echtes Leder, sie wußte schon gar nicht mehr, wie sich echtes Leder anfühlte. Es war wie die Vinylleder, faßte sich jedoch interessanter an. Sie hatte Angst. Sie verstand nicht, was vor sich ging. Sie sah scheel zu dem großen Mann auf, der vor ihr stand, dem Bären-Schamanen-Gott.

»Das ist die Kulmination, Mrs. Orr«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »einer langen Abfolge von suggerierten Träumen. Wir arbeiten jetzt schon seit Wochen auf diese Sitzung — diesen Traum — hin. Ich bin froh, daß Sie mitgekommen sind, ich hätte niemals gewagt, Sie darum zu bitten, aber Ihre Anwesenheit trägt noch mehr dazu bei, daß er sich vollkommen sicher fühlt und Vertrauen hat. Er weiß, daß ich keine Tricks riskieren kann, wenn Sie anwesend sind! Richtig? Ich bin ziemlich fest von unserem Erfolg überzeugt. Es wird gelingen. Die Abhängigkeit von Schlafmitteln verschwindet, wenn die zwanghafte Angst vor dem Träumen gelöscht wird. Es ist ausschließlich eine Frage der Konditionierung … Ich muß das EEG im Auge behalten, er wird jetzt träumen.« Er schritt rasch und wie eine Naturgewalt durch den Raum. Sie blieb still sitzen und betrachtete Georges ruhiges Gesicht, von dem der Ausdruck der Konzentration, überhaupt jeder Ausdruck, verschwunden war. So mochte er im Tod aussehen.

Dr. Haber beschäftigte sich mit seinen Maschinen, beschäftigte sich ausschließlich damit, beugte sich darüber, nahm Einstellungen vor, beobachtete sie. George schenkte er überhaupt keine Beachtung.

»Da«, sagte er leise — nicht zu ihr, dachte Heather; er war sein eigenes Publikum. »Das ist es. Jetzt eine kleine Pause, ein Weilchen Schlaf der zweiten Phase, zwischen den Träumen.« Er machte etwas mit der Ausrüstung in der Wand. »Dann führen wir einen kleinen Test durch …« Er kam wieder zu ihr herüber; sie wünschte sich, er würde sie tatsächlich ignorieren, anstatt so zu tun, als redete er mit ihr. Er schien den Nutzen des Schweigens nicht zu kennen. »Ihr Mann ist für unsere Forschungen hier von unschätzbarem Wert gewesen, Mrs. Orr. Ein einzigartiger Patient. Was wir über den Charakter des Träumens und die Anwendung von Träumen bei der positiven und negativen Konditionierungstherapie gelernt haben, wird für praktisch jeden Aspekt des Lebens von unschätzbarer Bedeutung sein. Sie wissen, wofür EFMEG steht: Erforschung und Förderung des menschlichen Gehirnpotentials. Was wir aus diesem Fall gelernt haben, wird von immensem, im wahrsten Sinne des Wortes immensem Nutzen sein. Eine ganz erstaunliche Wendung in einer Angelegenheit, die anfangs nach einem unbedeutenden Fall von Medikamentenmißbrauch ausgesehen hat! Das Erstaunlichste daran ist, daß die Quacksalber von der Uniklinik unten Verstand genug hatten, etwas Besonderes an dem Fall zu bemerken und ihn an mich überwiesen. Bei klinischen Psychologen auf Lehrstühlen findet man diese Umsicht selten.« Er hatte die Uhr die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. »Aber zurück zu Baby«, sagte er jetzt und durchquerte abermals hastig den Raum. Er fummelte wieder an diesem Verstärkerding herum und sagte laut: »George. Sie schlafen noch, aber Sie können mich hören. Sie können mich klar und deutlich hören und verstehen. Nicken Sie ein wenig, wenn Sie mich hören.«

Das gelassene Gesicht veränderte sich nicht, aber der Kopf nickte einmal. Wie der Kopf einer Marionette am Faden.

»Gut. Jetzt hören Sie gut zu. Sie werden noch einen lebhaften Traum haben. Sie werden träumen, daß … daß sich ein großes Wandbild hier in meinem Büro befindet. Ein großes Bild des schneebedeckten Mount Hood. Sie werden träumen, daß Sie das Wandbild dort an der Wand hinter dem Schreibtisch sehen, direkt hier in meinem Büro. Also gut. Jetzt werden Sie schlafen und träumen … Antwerpen.«

Er beugte sich wieder über seine Maschinen und machte sich daran zu schaffen. »So«, hauchte er murmelnd. »Da … okay … gut so.«

Die Maschinen waren still. George lag still. Selbst Haber zappelte und murmelte nicht mehr. Kein Geräusch ertönte in dem großen, spärlich beleuchteten Raum mit dem Wandfenster, das Ausblick in den Regen bot. Haber stand beim EEG und hatte den Kopf zur Wand hinter dem Schreibtisch gedreht.

Nichts geschah.

Heather beschrieb mit den Fingerspitzen der linken Hand einen winzigen Kreis auf der nachgiebigen, körnigen Oberfläche des Ohrensessels, dem Material, das einmal die Haut eines lebendigen Tiers gewesen war, die trennende Oberfläche zwischen einer Kuh und dem Universum. Die Melodie der alten Schallplatte, die sie gestern abgespielt hatten, kam ihr wieder in den Sinn und ließ sich nicht mehr abschütteln.

What do you see when you turn out the light?

I can’t tell you, but I know it’s mine …

Sie hätte nicht gedacht, daß Haber so lange stillhalten und schweigen konnte. Nur einmal griff er mit den Fingern blitzschnell zu einem Schalter. Dann stand er wieder reglos da und betrachtete die leere Wand.

George seufzte, hob schläfrig eine Hand, entspannte sich wieder und wachte auf. Er blinzelte und richtete sich auf. Sofort suchte er Heather mit seinem Blick, als wollte er sich vergewissern, daß sie da war.

Haber runzelte die Stirn und drückte mit einer ruckartigen, nervösen Geste den untersten Knopf des Verstärkers. »Zum Teufel!« sagte er. Er betrachtete den EEG-Monitor, auf dem immer noch lebhafte kleine Linien tanzten. »Der Verstärker hat Ihnen ein REM-Muster eingespeist, wie, zum Teufel, konnten Sie aufwachen?«

»Ich weiß nicht.« George gähnte. »Bin ich eben. Haben Sie mir nicht befohlen, gleich aufzuwachen?«

»Das mache ich generell. Auf das Signal hin. Aber wie, zum Teufel, konnten Sie sich über die Musterstimulation des Verstärkers hinwegsetzen … Ich muß die Energie erhöhen; offenbar bin ich die Sache zu zaghaft angegangen.« Er sprach jetzt mit dem Verstärker selbst, daran konnte kein Zweifel bestehen. Als diese Konversation beendet war, drehte er sich unvermittelt wieder zu George um »Also gut«, sagte er. »Was haben Sie geträumt?«

»Ich habe geträumt, daß ein Wandbild des Mount Hood an der Wand dort hinter meiner Frau hängt.«

Habers Blick huschte zu der Wand mit den kahlen Rotholzpaneelen und wieder zu George zurück.

»Sonst noch etwas? Ein früherer Traum — können Sie sich daran erinnern?«

»Ich glaube schon. Warten Sie einen Moment … Ich glaube, ich habe geträumt, daß ich träume, oder so. Es war verwirrend. Ich befand mich in einem Geschäft. Das ist es — ich war bei Meier und Frank’s und habe mir einen neuen Anzug gekauft, er mußte aus blauem Stoff sein, weil ich einen neuen Job oder so antreten sollte. Ich kann mich nicht erinnern. Jedenfalls hatten sie eine Tabelle, aus der man entnehmen konnte, was man bei einer bestimmten Größe wiegen sollte, und umgekehrt. Und ich war genau in der Mitte der Größenskala und der Gewichtsskala für durchschnittlich gebaute Männer.«

»Normal, mit anderen Worten«, sagte Haber und lachte plötzlich. Er hatte ein gewaltiges Lachen. Nach der Anspannung und der Stille erschreckte es Heather ziemlich heftig.

»Das ist prima, George. Das ist ganz prima.« Er klopfte George auf die Schulter und entfernte die Elektroden von seinem Kopf. »Wir haben es geschafft. Wir sind da. Sie sind frei! Wissen Sie das?«

»Ich glaube ja«, antwortete George gelassen.

»Die schwere Last wurde von Ihren Schultern genommen. Richtig?«

»Und auf Ihre geladen?«

»Und auf meine geladen. Richtig.« Wieder das gewaltige, polternde Lachen, ein wenig zu lang. Heather fragte sich, ob Haber immer so sein mochte oder sich nur in einem Zustand extremer Erregung befand.

»Dr. Haber«, sagte ihr Mann, »haben Sie je mit einem Außerirdischen über Träume gesprochen?«

»Einem Aldebaraner, meinen Sie? Nein. Forde in Washington hat eine Reihe von unseren Tests an ihnen versucht, zusammen mit einer ganzen Reihe psychologischer Tests, aber die Ergebnisse waren sinnlos. Diesbezüglich haben wir das Kommunikationsproblem einfach noch nicht geknackt. Sie sind intelligent, aber Irchewsky, unser bester Xenobiologe, ist der Meinung, daß sie möglicherweise nicht rational sind, und ihr vorgebliches sozial integratives Verhalten unter Menschen nichts weiter als eine Art instinktiver Mimikry ist. Mit Sicherheit kann man es nicht sagen. Wir können kein EEG von ihnen machen, und ehrlich gesagt, können wir nicht herausfinden, ob sie schlafen oder nicht, geschweige denn träumen.«

»Ist Ihnen der Ausdruck iahklu’ vertraut?«

Haber verharrte einen Moment. »Hab ich schon mal gehört. Unübersetzbar. Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, daß er ›Traum‹ bedeutet, hm?«

George schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was er bedeutet. Ich will nicht so tun, als würde ich über Kenntnisse verfügen, die Sie nicht haben, aber ich finde, bevor Sie mit der Anwendung dieser neuen Technik beginnen, Dr. Haber, bevor Sie träumen, sollten Sie mit einem der Außerirdischen reden.«

»Mit welchem?« Der ironische Unterton war nicht zu überhören.

»Irgend einem. Das spielt keine Rolle.«

Haber lachte. »Worüber reden, George?«

Heather sah, wie die hellen Augen ihres Mannes blitzten, als er zu dem größeren Mann aufschaute. »Über mich. Über das Träumen. Über iahklu’. Es spielt keine Rolle. Wenn Sie nur zuhören. Sie werden wissen, worauf Sie hinauswollen, darin haben sie wesentlich mehr Erfahrung als wir.«

»Worin?«

»Im Träumen — in dem, wovon das Träumen ein Aspekt ist. Sie machen es schon lange Zeit. Schon immer, nehme ich an. Sie kommen aus der Traumzeit. Ich verstehe es nicht, ich kann es nicht mit Worten ausdrücken. Alles träumt. Das Spiel der Formen, des Daseins, besteht im Träumen von Substanz. Felsen haben ihre Träume, und die Erde verändert sich … Aber wenn der Verstand sich bewußt wird, wenn sich das Tempo der Evolution beschleunigt, dann muß man sich hüten. Sich vor der Welt hüten. Man muß den Weg lernen. Man muß die Fertigkeiten, die Kunst, die Grenzen lernen. Ein bewußter Verstand muß Teil des Ganzen sein, absichtlich und umsichtig — wie der Felsen unbewußt ein Teil des Ganzen ist. Verstehen Sie? Sagt Ihnen das alles etwas?«

»Neu ist das nicht für mich, wenn Sie das meinen. Weltseele und so weiter. Vorwissenschaftliche Synthese. Mystizismus ist eine Annäherungsweise an die Natur des Träumens, oder der Realität, allerdings inakzeptabel für jene, die willens sind, von der Vernunft Gebrauch zu machen und es auch können.«

»Ich weiß nicht, ob das stimmt«, sagte George ohne die geringste Spur von Verstimmung, aber er machte einen sehr ernsten Eindruck. »Aber versuchen Sie allein aus wissenschaftlicher Neugier einmal folgendes: Bevor Sie den Verstärker an sich selbst erproben, bevor Sie ihn einschalten, wenn Sie Ihre Autosuggestion beginnen, sagen sie das: Er’ perrehnne. Laut oder im Geiste. Einmal. Deutlich. Versuchen Sie es.«

»Warum?«

»Weil es funktioniert.«

»Wie funktioniert?«

»Sie bekommen ein wenig Hilfe von Ihren Freunden«, sagte George. Er stand auf. Heather sah ihn voller Entsetzen an. Seine Worte hörten sich verrückt an — Habers Heilung hatte ihn wahnsinnig gemacht, sie hatte es immer befürchtet. Aber Haber reagierte nicht so — richtig? —, wie er auf zusammenhangloses oder psychotisches Geschwätz reagieren sollte.

»Iahklu’ ist zuviel für eine einzelne Person«, sagte George gerade, »es läuft aus dem Ruder. Sie wissen, was erforderlich ist, es zu kontrollieren. Oder vielmehr, nicht exakt zu kontrollieren, das ist nicht das richtige Wort; es dort zu lassen, wo es hingehört, den richtigen Weg zu gehen … Ich verstehe es nicht. Vielleicht können Sie es ja. Bitten Sie sie um Hilfe. Sagen Sie Er’ perrehnne, bevor Sie … bevor Sie auf den EIN-Knopf drücken.«

»Vielleicht haben Sie gar nicht so Unrecht«, sagte Haber. »Vielleicht lohnt sich eine Untersuchung. Ich kümmere mich darum, George. Ich lasse einen Aldebaraner aus dem Kulturzentrum raufkommen und werde zusehen, ob ich ein paar Informationen darüber bekommen kann … Für Sie ist das alles Fachchinesisch, Mrs. Orr, hm? Ihr Mann hätte in die Psychologie gehen sollen, in die Forschung; es ist eine Verschwendung, daß er sein Dasein als Bauzeichner fristet.« Warum sagte er das? George entwarf als Landschaftsarchitekt Parks und Spielplätze. »Er besitzt ein Händchen dafür, er ist ein Naturtalent. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, die Aldebaraner mit ins Boot zu nehmen, aber damit könnte er wirklich und wahrhaftig recht haben. Sie sind wahrscheinlich froh, daß er kein Seelenklempner ist, hm? Schrecklich, wenn der Liebste einem am Eßzimmertisch die unterbewußten Begierden analysiert, was?« Er lachte polternd und donnernd und führte sie hinaus. Heather war bestürzt und den Tränen nahe. »Ich hasse ihn«, sagte sie nachdrücklich, als sie auf der spiralförmigen Rolltreppe nach unten fuhren. »Er ist ein gräßlicher Mann. Falsch. Ein großer Blender!«

George nahm ihren Arm. Er sagte nichts.

»Hast du es überstanden? Wirklich überstanden? Du mußt keine Medikamente mehr nehmen und du mußt nicht mehr zu diesen schrecklichen Sitzungen?«

»Ich denke ja. Er wird meine Papiere einschicken, und in sechs Wochen bekomme ich meine Freigabe. Wenn ich mich gut führe.« Er lächelte ein wenig müde. »Das war hart für dich, Liebes, aber nicht für mich. Diesmal nicht. Aber ich habe Hunger. Wohin gehen wir zum Essen? Casa Boliviana?«

»Chinatown«, sagte sie und erstarrte. »Ha-ha«, fügte sie hinzu. Das alte Chinesenviertel war zusammen mit dem Rest der Innenstadt abgerissen worden, vor mindestens zehn Jahren. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie das einen Moment ganz vergessen. »Ich meine Ruby Loo’s«, sagte sie verwirrt.

George zog ihren Arm ein wenig dichter an sich. »Prima«, sagte er.

Es war leicht zu finden; die Seilbahn hielt auf der anderen Seite des Flusses im alten Lloyd Center, einst das größte Einkaufszentrum der Welt vor dem Zusammenbruch. Heute waren die vielgeschossigen Parkhäuser so ausgestorben wie die Dinosaurier; viele Geschäfte und Läden an der zweistöckigen Promenade geschlossen und vernagelt. Die Eisbahn war seit zwanzig Jahren nicht mehr gefüllt worden. Kein Wasser floß in den bizarren, romantischen Brunnen aus Schmiedeeisen. Aus kleinen Zierbäumchen waren enorme Bäume geworden, deren Wurzeln den Asphalt Meter um die zylinderförmigen Umrandungen herum sprengten. Stimmen und Schritte hallten übertrieben laut und ein wenig hohl, wenn man durch diese langen, unzureichend beleuchteten und halb verfallenen Arkaden ging.

Ruby Loo’s lag auf der oberen Etage. Die Zweige einer Roßkastanie verdeckten die Glasfassade beinahe. Der Himmel über ihnen hatte eine zarte, aber auffällige grüne Färbung, die Farbe, die man kurz an einem Frühlingsabend sehen kann, wenn es nach einem Regenguß aufgeklart hat. Heather schaute zu dem fernen, unglaublich friedlichen Jadehimmel auf; das Herz ging ihr auf und sie spürte, wie alle Ängste von ihr abfielen wie eine abgestreifte Schlangenhaut. Aber das war nicht von Dauer. Es folgte eine seltsame Umkehr, eine Verlagerung. Etwas schien sie einfangen, sie festhalten zu wollen. Sie blieb beinahe stehen und wandte den Blick von dem Himmel aus Jade auf die verlassenen, langen, halbdunklen Gehwege vor sich. Dies war ein merkwürdiger Ort. »Es ist gruselig hier oben«, sagte sie.

George zuckte die Achseln, aber sein Gesicht sah angespannt und recht grimmig aus.

Wind war aufgekommen, zu warm für den April vergangener Zeiten, ein feuchter, heißer Wind, der die großen Zweige der Kastanie mit ihren grünen Fingern in Bewegung versetzte und weiter unten in den langen, menschenleeren Fluren Abfall aufwirbelte. Das rote Neonschild hinter den zuckenden Zweigen schien im Wind trüber zu werden und zu schwanken, seine Form zu verändern; es verkündete nicht Ruby Loo’s, es verkündete überhaupt nichts mehr. Nichts verkündete mehr etwas. Nichts hatte einen Sinn. Der Wind wehte hohl durch leere Innenhöfe. Heather wandte sich von George ab und ging zur nächsten Wand; sie war in Tränen ausgebrochen. In ihrem Schmerz war ihr erster Instinkt, sich zu verstecken, sich in die Ecke einer Mauer zu verkriechen und sich zu verstecken.

»Was ist denn, Liebes … Schon gut. Nicht aufgeben, es wird alles wieder gut.«

Ich verliere den Verstand, dachte sie; es war nicht George, es war die ganze Zeit nicht George, ich war es.

»Alles wird gut«, flüsterte er nochmals, aber sie hörte an seiner Stimme, daß er es selbst nicht glaubte. Sie spürte an seinen Händen, daß er es nicht glaubte.

»Was ist nur los?« rief sie verzweifelt. »Was ist denn nur los?«

»Ich weiß nicht«, sagte er fast achtlos. Er hatte den Kopf gehoben und sich ein wenig von ihr abgewendet, drückte sie aber immer noch an sich, um ihren Weinkrampf zu beenden. Er schien zu beobachten, zu horchen. Sie spürte, wie sein Herz heftig und regelmäßig in seiner Brust schlug.

»Heather, hör mir zu. Ich muß zurück.«

»Wohin zurück? Was ist denn nur los?« Ihre Stimme klang dünn und schrill.

»Zu Haber. Ich muß gehen. Sofort. Warte auf mich — im Restaurant. Warte auf mich, Heather. Komm mir nicht hinterher.« Er verschwand. Sie mußte ihm folgen. Er ging, ohne sich umzusehen, hastig die lange Treppe hinunter, unter den Arkaden hindurch, an dem trockenen Brunnen vorbei, zur Haltestelle der Seilbahnstation hinaus. Dort wartete eine Kabine am Ende des Seils; er sprang hinein. Sie lief weiter, das Atmen tat ihr in der Brust weh, als sich die Kabine gerade in Bewegung setzte. »Was soll das alles, George?«

»Es tut mir leid.« Er keuchte ebenfalls. »Ich muß dorthin. Ich wollte dich da nicht mit reinziehen.«

»Wo rein?« Sie haßte ihn. Sie saßen auf gegenüberliegenden Sitzen und schnauften sich an. »Warum führst du dich auf wie ein Verrückter? Warum gehst du wieder dorthin zurück?«

»Haber —« Georges Stimme versagte einen Moment. »Er träumt«, sagte er. Eine übermächtige, panische Angst überkam Heather; sie achtete nicht darauf.

»Träumt was? Na und?«

»Schau zum Fenster hinaus.«

Sie hatte nur ihn angesehen, während sie liefen und seit sie in die Kabine eingestiegen waren. Jetzt überquerte die Seilbahn den Fluß hoch über dem Wasser. Aber es gab kein Wasser mehr. Der Fluß war ausgetrocknet. Das Flußbett lag rissig und verschlammt im Scheinwerferlicht der Brücken, übelriechend, voller Unrat, Schlick, Gebeine und verlorene Werkzeuge, sterbende Fische. Die großen Schiffe lagen umgestürzt und rostend an den hoch aufragenden, verschlickten Docks.

Die Gebäude der Innenstadt von Portland, Hauptstadt der Welt, die hohen, neuen, hübschen Kuben aus Stein und Glas mit den angemessenen Grünanlagen dazwischen, die Festungen der Regierung — Forschung und Förderung, Kommunikation, Industrie, Wirtschaftsplanung, Umweltschutzbehörde — schmolzen. Sie wurden weich und schwankten wie Wackelpudding, der zu lange in der Sonne gestanden hat. Die Kanten waren bereits an den Seiten hinabgeflossen und hatten riesige, beigefarbene Schlieren hinterlassen.

Die Seilbahn fuhr sehr schnell und hielt nicht mehr an den Haltestellen: mit dem Kabel mußte etwas nicht im Ordnung sein, dachte Heather ohne eine Spur persönlicher Anteilnahme. Sie rasten weiter über die in Auflösung begriffene Stadt hinweg, tief genug, daß sie das Rumoren und die Schreie hören konnten.

Als die Kabine höher stieg, wurde der Mount Hood hinter George sichtbar, der ihr gegenüber saß. Wahrscheinlich bemerkte er den roten Widerschein als Spiegelung in ihrem Gesicht oder ihren Augen, denn er drehte sich sofort um und sah den riesigen inversen Feuerkegel.

Die Kabine schwankte wie wild zwischen der verfallenden Stadt und dem formlosen Himmel.

»Heute scheint überhaupt nichts richtig zu funktionieren«, sagte eine Frau hinten in der Kabine mit lauter, bebender Stimme.

Das Licht der Eruption war schrecklich und atemberaubend.

Ihre enorme materielle und geologische Kraft wirkte beruhigend im Vergleich zu dem leeren Gebiet, das jetzt am Ende des Seils vor der Kabine lag.

Die Vorahnung, die Heather überkommen hatte, als sie von dem Jadehimmel herabsah, war jetzt Wirklichkeit geworden. Da war es. Es war ein Gebiet, möglicherweise auch eine zeitliche Periode, einer Art von Leere. Es war die Gegenwart der Abwesenheit: eine nichtmeßbare Einheit ohne Eigenschaften, in die alles hineinfiel und aus der nichts mehr herauskam. Es war schrecklich und es war das Nichts. Es war der falsche Weg.

Dort hinein ging George, als die Seilbahn an ihrer Endhaltestelle zum Stillstand kam. Unterwegs drehte er sich zu ihr um und rief: »Warte auf mich, Heather! Komm mir nicht nach, bitte komm mir nicht nach!«

Aber so sehr sie versuchte, ihm zu gehorchen, es kam zu ihr. Es breitete sich rasch vom Zentrum her aus. Sie stellte fest, daß alles verschwunden war, daß sie panisch durch die Dunkelheit irrte und ohne Stimme und trostlos den Namen ihres Mannes rief, bis sie um das Zentrum ihres eigenen Wesens herum zusammengerollt niederstürzte und für immer und ewig durch den trockenen Abgrund fiel.

Durch reine Willenskraft, die wahrlich groß ist, wenn man sie zur richtigen Zeit in der richtigen Weise einsetzt, spürte George Orr unter seinen Füßen die soliden Marmorstufen, die zum EFMEG Tower führten. Er ging vorwärts, während seine Augen ihm sagten, daß er auf Nebel ging, auf Schlamm, auf verwesenden Leichen, auf zahllosen winzigen Kröten. Es war sehr kalt, aber dennoch roch es nach glühendem Metall und brennendem Haar oder Fleisch. Er durchquerte das Foyer; die goldenen Buchstaben des Aphorismus rund um die Kuppel herum sprangen vorübergehend hoch: MENSCH MENSCHHEIT MEN E E E. Die Es versuchten, ihn zu Fall zu bringen. Er trat auf ein Laufband, obwohl er es mit den Augen nicht sehen konnte; er trat auf die spiralförmige Rolltreppe, die er nur durch seinen unablässigen und eisernen Willen aufrecht hielt, und fuhr hinauf ins Nichts. Er machte nicht einmal die Augen zu.

Auf der obersten Etage bestand der Boden aus Eis. Es war etwa einen Fingerbreit dick und weitgehend durchsichtig. Durch dieses Eis hindurch konnte er die Sterne der südlichen Hemisphäre sehen. Orr trat auf das Eis, worauf sämtliche Sterne laut und falsch ertönten, wie gesprungene Glocken. Der üble Geruch war hier so stark, daß Orr würgen mußte. Er ging weiter und streckte die Hand aus. Die Holzplatte der Tür von Habers Büro harrte seiner Berührung; er konnte sie nicht sehen, ertastete sie jedoch. Ein Wolf heulte. Die Lava wälzte sich der Stadt entgegen.

Er ging weiter und kam zur letzten Tür. Er stieß sie auf. Auf der anderen Seite wartete das Nichts.

»Helft mir«, sagte er laut, denn die Leere zerrte an ihm, sog ihn ein. Seine Kraft allein reichte nicht aus, durch das Nichts auf die andere Seite zu gehen.

In seinem Kopf regte sich dumpf etwas; er dachte an Tiua’k Ennbe Ennbe, an die Büste von Schubert und Heather, die mit wütender Stimme sagte: »Was ist denn nur los, George?« Das schien rein alles zu sein, womit er das Nichts durchqueren mußte. Er ging vorwärts. Er wußte, während er ging, daß er alles verlieren würde, was er besaß.

Er betrat das Auge des Alptraums.

Es war eine kalte, vage in Bewegung befindliche, kreisende, aus Angst bestehende Dunkelheit, die ihn zur Seite zog, ihn zerriß. Er wußte, wo der Verstärker stand. Er streckte seine sterbliche Hand in die Richtung aus, die alle Dinge gehen. Er berührte ihn; tastete nach dem untersten Knopf und drückte einmal darauf.

Dann kauerte er sich nieder, bedeckte die Augen und duckte sich, denn die Angst hatte von seinem Verstand Besitz ergriffen. Als er den Kopf hob und hinsah, existierte die Welt wieder. Sie war in keiner guten Verfassung, aber sie war da.

Sie befanden sich nicht im EFMEG Tower, sondern in einem schäbigeren, gewöhnlicheren Büro, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Haber lag ausgestreckt und massiv auf der Couch, und sein Bart stand in die Höhe. Wieder ein rotbrauner Bart, und weiße Haut, keine graue mehr. Die Augen waren halb offen, sahen jedoch nichts.

Orr nahm die Elektroden ab, deren Kabel wie Fadenwürmer zwischen Habers Schädel und dem Verstärker verliefen. Orr betrachtete die Maschine, deren Türen allesamt offenstanden; sie sollte zerstört werden, dachte er. Aber er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, und auch nicht den Willen dazu. Zerstörung lag nicht in seiner Natur; und eine Maschine ist sogar noch unschuldiger und freier von Sünde als ein Tier. Sie kennt keinerlei Absichten, außer unseren eigenen.

»Dr. Haber«, sagte er und schüttelte die schweren, breiten Schultern ein wenig. »Haber! Wachen Sie auf!«

Nach einer Weile kam Bewegung in die massige Gestalt, und sie richtete sich auf. Sie war ganz schlaff und haltlos. Der massive, aber hübsche Kopf hing zwischen den Schultern. Der Mund stand offen. Die Augen blickten starr geradeaus in die Dunkelheit, in die Leere, in das Nicht-Sein im Zentrum von William Haber; sie waren nicht mehr milchig, sie waren leer.

Orr verspürte Angst vor ihm, Angst um Leib und Leben, und wich zurück.

Ich muß Hilfe herbeiholen, dachte Orr, allein werde ich nicht damit fertig … Er ging aus dem Büro, durchquerte ein unbekanntes Wartezimmer, lief die Treppe hinunter. Er war noch nie in diesem Gebäude gewesen und hatte keine Ahnung, was es sein mochte oder wo es sich befand. Als er draußen auf der Straße anlangte, wußte er, daß es sich um eine Straße in Portland handelte, mehr aber auch nicht. Er befand sich nicht einmal in der Nähe des Washington Park oder der Hügel im Westen. Diese Straße hatte er noch niemals vorher betreten.

Die Leere von Habers Wesen, sein wirkungsvoller Alptraum, der sich von dem träumenden Gehirn nach außen ausdehnte, hatte Verbindungen zerstört. Die Kontinuität, die stets zwischen den Welten oder Zeitverläufen von Orrs Träumen geherrscht hatte, war jetzt unterbrochen worden. Das Chaos hatte seinen Einzug gehalten. Er besaß wenig und zusammenhanglose Erinnerungen an die Existenz, in der er sich jetzt befand; sein gesamtes Wissen stammte fast ausschließlich aus den anderen Erinnerungen, den anderen Traumzeiten.

Andere Menschen, die nicht über sein Wissen verfügten, mochten besser für diese Veränderung der Existenz gewappnet sein: aber sie würden auch mehr Angst verspüren, da sie keine Erklärung dafür hatten. Sie würden feststellen, daß sich die Welt radikal, sinnlos und urplötzlich verändert hatte, ohne eine denkbare rationale Ursache für die Veränderung. Dr. Habers Traum würde in hohem Maße Tod und Schrecken nach sich ziehen.

Und Verlust. Und Verlust.

Er wußte, daß er sie verloren hatte; hatte es gewußt, seit er mit ihrer Hilfe in die schreckliche Leere um den Träumenden herum hinausgetreten war. Sie war ebenso unwiederbringlich dahin wie die Welt der grauen Menschen und das riesige, unechte Gebäude, in das er hineingelaufen war, nachdem er sie allein im Verfall und der Auflösung des Alptraums zurückgelassen hatte. Sie war fort.

Er versuchte nicht, Hilfe für Haber zu finden. Für Haber gab es keine Hilfe. Auch nicht für ihn selbst. Er hatte alles getan, was er jemals tun würde. Er wanderte weiter durch die fremden Straßen. Anhand der Anlage der Straßen konnte er erkennen, daß er sich im nordöstlichen Teil von Portland befand, eine Gegend, in der er sich nie besonders gut ausgekannt hatte. Die Häuser waren niedrig, und an den Straßenecken konnte er manchmal einen Blick auf die Berge werfen. Mount Hood ragte dunkelviolett und erloschen in den zunehmend dunkleren Aprilhimmel. Der Berg schlief.

Träumte, träumte.

Orr ging ziellos eine Straße entlang und dann die nächste; war so erschöpft, daß er sich manchmal einfach direkt auf dem Bürgersteig hinlegen und eine Weile ausruhen wollte, aber dennoch ging er weiter. Jetzt näherte er sich dem Industriegebiet, das näher am Fluß lag. In der halb zerstörten und halb verwandelten Stadt, einem Durcheinander und einem Chaos grandioser Pläne und unvollständiger Erinnerungen, herrschte die Regsamkeit eines Tollhauses; Feuer und Wahnsinn sprangen von Haus zu Haus über. Und dennoch gingen die Menschen wie eh und je ihren Verrichtungen nach: Zwei Männer raubten einen Juwelierladen aus, und dahinter kam eine Frau, die mit einem plärrenden, im Gesicht knallroten Säugling auf den Armen zielstrebig nach Hause ging.

Wo immer zu Hause sein mochte.

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