8

Himmel und Erde sind nicht menschenfreundlich.

Lao-tse, V


Im Zweiten Weltkrieg erlebte der Bundesstaat Oregon als einziger Teil des amerikanischen Festlands einen direkten Angriff. Ein paar japanische Feuerballons setzten ein Stück Wald an der Küste in Brand. Im Ersten Interstellaren Krieg war der einzige Teil des amerikanischen Festlands, der eine Invasion erlebte, der Bundesstaat Oregon. Man hätte den Lokalpolitikern die Schuld daran geben können; die historische Funktion eines Senators aus Oregon besteht darin, alle anderen Senatoren wahnsinnig zu machen, darum wird auf das Brot des Bundesstaats niemals irgendwelche militärische Butter gestrichen. Oregon besaß nichts haufenweise, ausgenommen Heu, keine Raketensilos, keine Stützpunkte der NASA. Es war ganz offenkundig schutzlos. Die Ballistischen Anti-Außerirdische-Raketen, mit denen man das Land verteidigte, wurden von den riesigen unterirdischen Anlagen in Walla Walla, Washington, und Round Valley, Kalifornien aus gestartet. Von Idaho, das zum überwiegenden Teil der amerikanischen Luftwaffe gehörte, rasten die enormen XXTT-9900-Jagdbomber mit Überschallgeschwindigkeit nach Westen, ließen jedes Trommelfell zwischen Boise und Sun Valley platzen und patrouillierten, um nach jedem Raumschiff der Außerirdischen zu suchen, dem es irgendwie gelungen sein mochte, das unfehlbare Netz der BAARs zu durchbrechen.

Von den Schiffen der Außerirdischen, die über eine Vorrichtung verfügten, mit denen sie die Steuerungssysteme der Abwehrraketen beeinflussen konnten, wurden die BAARs einfach übernommen, wendeten irgendwo in der Stratosphäre, kehrten um, landeten und explodierten hier und da im gesamten Bundesstaat Oregon. Die trockenen Osthänge der Cascades wurden von Flammen verwüstet. Feuersbrünste wüteten in Gold Beach und Dalles und vernichteten sie. Portland verzeichnete keine direkten Treffer; aber eine verirrte BAAR mit Atomsprengkopf schlug in der Nähe des alten Kraters in den Mount Hood ein und weckte den erloschenen Vulkan. Dampf und Erdstöße waren die unmittelbare Folge, und um die Mittagszeit des ersten Tages der Invasion der Außerirdischen, dem ersten April, hatte sich am Nordwesthang ein breiter Riß mit einer heftigen Eruption aufgetan. Lavaströme setzten die schneefreien, abgeholzten Hänge in Brand und bedrohten die Ortschaften Zigzag und Rhododendron. Ein Schlackekegel bildete sich, und die gesamte Atmosphäre im vierzig Meilen entfernten Portland wurde bald trüb und grau von Asche. Als der Abend kam und der Wind nach Süden drehte, wurden die unteren Luftschichten ein klein wenig klarer und offenbarten das feierliche orangerote Flackern der Eruption in den Wolkenschichten im Osten. Am von Regen und Asche verhangenen Himmel schossen donnernd ganze Geschwader von XXTT-9900S dahin und suchten vergeblich nach Schiffen der Außerirdischen. Nach wie vor wurden weitere Jagdbombergeschwader und Kampfflugzeuge von der Ostküste und befreundeten Nationen des Pakts entsandt; diese schossen sich mitunter gegenseitig ab. Erdbeben, Raketeneinschläge und abstürzende Kampfjets ließen den Boden erbeben. Eines der außerirdischen Schiffe war keine acht Meilen von der Gemarkungsgrenze entfernt gelandet, darum wurden alle südwestlichen Vororte der Stadt dem Erdboden gleich gemacht, da Jagdbomber das gesamte, elf Quadratmeilen große Areal, in dem das Schiff der Außerirdischen angeblich gelandet sein sollte, verwüsteten. Tatsächlich jedoch waren längst Informationen eingetroffen, daß es sich überhaupt nicht mehr dort aufhielt. Aber schließlich mußte etwas getan werden. Bomben fielen aus Versehen auf viele andere Teile der Stadt, wie es bei Flächenbombardements nun einmal nicht zu vermeiden ist. Im gesamten Stadtzentrum blieb keine einzige Fensterscheibe heil. Statt dessen lagen sie als Scherben und Bruchstücke zwei bis drei Zentimeter hoch in sämtlichen innerstädtischen Straßen. Flüchtlinge aus dem Südwesten von Portland mußten darüber hinweg laufen; Frauen trugen ihre Kinder und marschierten weinend in dünnen Schuhen voller Glassplitter dahin.


William Haber stand am großen Fenster seines Büros im Oneirologischen Institut von Oregon und betrachtete die lodernden Feuer unten in den Hafenanlagen und den blutroten Lichtschein der Eruption. Er hatte noch Glasscheiben in den Fenstern; beim Washington Park war noch nichts gelandet oder explodiert, und die Erdbeben, die unten bei den Flußufern ganze Gebäudezüge entzwei rissen, hatten hier bislang nichts Schlimmeres angerichtet, als die Scheiben in den Fensterrahmen klirren zu lassen. Ganz leise konnte er die Elefanten im Zoo trompeten hören. Streifen eines ungewöhnlichen purpurroten Lichts zeigten sich gelegentlich im Norden, möglicherweise über der Stelle, wo der Willamette in den Columbia einmündet; in dem ascheschwangeren, dunstigen Zwielicht konnte man nur schwer Genaueres erkennen. Weite Teile der Stadt lagen nach Stromausfällen im Dunkeln; andere Viertel funkelten schwach, obwohl die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet worden war.

Niemand sonst hielt sich im Institut auf.

Haber hatte den ganzen Tag lang versucht, George Orr ausfindig zu machen. Als sich seine Suche als vergeblich herausstellte und Hysterie und zunehmende Verwüstung der Stadt eine Fortsetzung der Suche unmöglich machten, hatte er sich in das Institut zurückgezogen. Er hatte den größten Teil des Wegs zu Fuß zurücklegen müssen, für ihn ein entnervendes Erlebnis. Ein Mann in seiner Position, mit einem so übervollen Terminkalender, fuhr selbstverständlich einen Batteriewagen. Aber die Batterie gab den Geist auf, und wegen den dichten Menschenmassen konnte er keine Ladestation erreichen. Er mußte aussteigen und gegen den Hauptstrom der Masse gehen, direkt in ihrer Mitte. Das erwies sich als beunruhigend. Er mochte Menschenmassen nicht. Doch dann verschwanden die Menschenmassen und er schritt allein über die weiten Rasenflächen und durch Baumgruppen und Wälder des Parks: und das war, wie sich herausstellte, noch viel schlimmer.

Haber betrachtete sich selbst als einsamen Wolf. Er hatte weder eine Ehe noch enge Freundschaften je gewollt, er hatte sich für zeitraubende Forschungen entschieden, die durchgeführt wurden, während andere schliefen, er hatte persönliche Beziehungen vermieden. Sein Sexualleben beschränkte er fast ausschließlich auf Abenteuer für eine Nacht oder Hobbyhuren, manchmal Frauen und manchmal junge Männer; er wußte, in welchen Bars und Kinos und Saunen er finden konnte, was er suchte. Er bekam, was er wollte, und verschwand wieder, bevor er oder die andere Person irgendeine Form von Bedürfnis nach dem anderen entwickeln konnten. Er schätzte seine Unabhängigkeit, seinen freien Willen.

Aber er fand es schrecklich, allein zu sein, ganz allein in dem riesigen, gleichgültigen Park, wo er sich in großer Eile, fast im Laufschritt, dem Institut näherte, weil er sonst nirgendwo hin konnte. Und als er dort eintraf, war es vollkommen still und menschenleer.

Miss Crouch bewahrte ein Transistorradio in der Schreibtischschublade auf. Das holte er und ließ es leise eingeschaltet, damit er die neuesten Berichte hören konnte, oder wenigstens eine menschliche Stimme.

Hier hatte er alles, was er brauchte; Betten, sogar Dutzende davon, Lebensmittel, die Sandwich- und Getränkeautomaten für das Personal der Nachtschicht in den Schlaflabors. Aber er war nicht hungrig. Statt dessen verspürte er eine Art Apathie. Er hörte dem Radio zu, aber das Radio hörte ihm nicht zu. Er war ganz allein, und in der Einsamkeit schien nichts real zu sein. Er brauchte jemanden, irgend jemanden, mit dem er reden, dem er erzählen konnte, was er empfand, damit er selbst überhaupt wußte, daß er etwas empfand. Dieses Grauen vor dem Alleinsein war so stark, daß es ihn fast wieder aus dem Institut hinaus zu den Menschenmassen dort unten getrieben hätte, aber noch war die Apathie stärker als das Grauen. Er unternahm nichts, und die Dunkelheit der Nacht senkte sich langsam herab.

Über dem Mount Hood breitete sich der rötliche Widerschein manchmal enorm aus, dann schrumpfte er wieder. Etwas Großes schlug im Südwesten der Stadt ein, von seinem Büro aus nicht zu sehen; doch wenig später wurden die Wolken von einem flackernden Schein von unten angestrahlt, der aus dieser Richtung zu kommen schien. Haber ging auf den Flur hinaus, um zu sehen, ob es etwas zu sehen gab, nahm aber das Radio mit. Leute kamen die Treppe herauf, er hatte sie gar nicht gehört. Einen Moment sah er sie nur an.

»Dr. Haber«, sagte einer von ihnen.

Es war Orr. »Das wurde aber auch Zeit«, sagte Haber verbittert. »Wo, zum Teufel, haben Sie den ganzen Tag gesteckt? kommen Sie!«

Orr kam hinkend näher; die linke Seite seines Gesichts war geschwollen und blutig, die Lippe aufgeplatzt und die Hälfte des vorderen Schneidezahns fehlte. Die Frau an seiner Seite sah nicht ganz so übel mitgenommen, aber dafür erschöpfter aus: Glasige Augen, weiche Knie. Orr ließ sie auf der Couch im Büro Platz nehmen. »Hat sie einen Schlag auf den Kopf bekommen?« fragte Haber mit seiner lauten Medizinerstimme.

»Nein. Es war nur ein langer Tag.«

»Mir geht es gut«, murmelte die Frau, zitterte aber ein wenig. Orr handelte rasch und umsichtig, zog ihr die abstoßend schmutzverkrusteten Schuhe aus und breitete die Kamelhaardecke vom Fußende der Couch über sie; Haber fragte sich, wer sie sein mochte, dachte jedoch nicht weiter darüber nach. Allmählich funktionierte er wieder. »Lassen Sie sie hier liegen, sie wird schon wieder. Kommen Sie her, waschen Sie sich. Ich habe den ganzen Tag nach Ihnen gesucht. Wo sind Sie gewesen?«

»Wir haben versucht, in die Stadt zurückzukehren. Wir sind in eine Art Bombenteppich geraten, sie haben die Straße direkt vor dem Auto gesprengt. Das Auto ist wie verrückt herumgeschlittert. Ist umgekippt, nehme ich an. Heather folgte mir und konnte rechtzeitig bremsen, darum ist ihrem Auto nichts passiert und wir sind damit weitergefahren. Aber wir mußten über den Sunset Highway, weil die 99 gesprengt worden ist, und dann mußten wir das Auto draußen beim Vogelschutzgebiet an einer Straßensperre abstellen. Wir sind zu Fuß durch den Park hergekommen.«

»Wo, zum Teufel, waren Sie?« Haber hatte heißes Wasser in sein persönliches Waschbecken laufen lassen und reichte Orr ein dampfendes Handtuch, das er sich an das blutige Gesicht halten konnte.

»Blockhütte. Im Küstengebirgszug.«

»Was ist mit Ihrem Bein los?«

»Ich nehme an, ich habe es mir verletzt, als das Auto umgestürzt ist. Wie sieht es aus, sind sie schon in der Stadt?«

»Wenn das Militär etwas darüber weiß, rücken sie nicht damit raus. Sie sagen nur, daß die großen Raumschiffe, als sie heute Morgen gelandet sind, in kleinere mobile Einheiten zerlegt wurden, so etwas Ähnliches wie Helikopter, die ausgeschwärmt sind. Sie sind über der gesamten Westhälfte des Bundesstaats. Es wird gemeldet, daß sie sich nur langsam fortbewegen, aber von Abschüssen hat man noch nichts verlautbaren lassen.«

»Wir haben eins gesehen«, Orrs Gesicht kam mit purpurnen Blutergüssen unter dem Handtuch hervor, aber von Schmutz und Blutspuren befreit, sah es nicht mehr ganz so schockierend aus. »Es muß eins gewesen sein. Ein kleines silbernes Ding, etwa zehn Meter über einer Wiese nahe North Plains. Es schien irgendwie entlangzuhüpfen. Sah nicht wie etwas Irdisches aus. Führen die Außerirdischen Krieg gegen uns, schießen sie Flugzeuge ab?«

»Davon wurde im Radio nichts gesagt. Es wurden keinerlei Verluste gemeldet, außer unter der Zivilbevölkerung. Aber jetzt kommen Sie, wir müssen Ihnen Kaffee und etwas zu essen besorgen. Und dann werden wir, bei Gott, eine kleine Therapiesitzung mitten in der Hölle durchführen und diesem idiotischen Schlamassel, das Sie uns da eingebrockt haben, ein Ende machen.« Er hatte eine Dosis Natriumpentothal vorbereitet; jetzt ergriff er Orrs Arm und verabreichte ihm die Spritze ohne Vorwarnung oder Entschuldigung.

»Darum bin ich hergekommen. Aber ich weiß nicht, ob —«

»Sie es können? Sie können es. Kommen Sie!« Orr beugte sich wieder über die Frau. »Ihr geht es gut. Sie schläft, stören Sie sie nicht, genau das braucht sie jetzt. Kommen Sie!« Er begleitete Orr zu den Lebensmittelautomaten und ließ ihm ein Roastbeefsandwich, ein Sandwich mit Ei und Tomate, zwei Äpfel, vier Schokoriegel und dazu zwei Tassen Kaffee heraus. Sie setzten sich an einen Tisch im Schlaflabor Nummer Eins und fegten ein Patiencespiel zur Seite, das aufgegeben worden war, als die Alarmsirenen ertönten. »Okay. Essen Sie. Und wenn Sie glauben, Sie können dieses ganze Chaos nicht wieder beseitigen, vergessen Sie es. Ich habe an dem Verstärker gearbeitet, und der kann es Ihnen abnehmen. Ich besitze jetzt das Templat, das Modell Ihrer Gehirnemissionen beim wirkungsvollen Träumen. Mein Irrtum in den ganzen vergangenen Monaten über war, daß ich nach einer Entität, einer Omegawelle gesucht habe. Es gibt aber keine. Es handelt sich schlicht und einfach um ein Muster, das durch die Kombination anderer Wellen gebildet wird, und in den vergangenen Tagen kam ich schließlich dahinter, bevor hier die Hölle losgebrochen ist. Der Zyklus beträgt siebenundneunzig Sekunden. Das sagt Ihnen natürlich nichts, obwohl Ihr gottverdammtes Gehirn ja die Ursache dafür ist. Drücken wir es einmal so aus, wenn Sie wirkungsvoll träumen, ist Ihr gesamtes Gehirn mit einem komplex synchronisierten Muster von Emissionen daran beteiligt, das siebenundneunzig Sekunden braucht, bis es einmal vollständig durchgelaufen ist und von vorn anfängt, eine Art Kontrapunkteffekt, der sich zu normalen Diagrammen paradoxen Schlafs verhält wie Beethovens Neunte zu Hänschen klein. Es ist unglaublich komplex, und doch ist es konsistent und wiederholt sich immer wieder. Aus diesem Grund kann ich es Ihnen direkt und verstärkt wieder einspeisen. Der Verstärker ist eingestellt, er ist bereit für Sie, er ist endlich ganz und gar auf das eingestimmt, was in Ihrem Kopf vor sich geht! Wenn sie diesmal träumen, dann im ganz großen Maßstab, Baby! In einem so großen Maßstab, daß Sie diese verrückte Invasion beenden und uns fein säuberlich in ein anderes Kontinuum versetzen können, wo wir von vorn anfangen. Das machen Sie nämlich, wissen Sie. Sie verändern keine einzelnen Dinge oder Leben, Sie verschieben das ganze Kontinuum.«

»Es ist schön, daß ich mit Ihnen darüber reden kann«, sagte Orr, oder etwas in der Art; er hatte die Sandwiches trotz aufgeplatzter Lippe und abgebrochenem Schneidezahn unglaublich schnell hinuntergeschlungen und sich über die Schokoriegel hergemacht. Ironie oder etwas Ähnliches schwang in seinen Worten mit, aber Haber war zu beschäftigt, um darauf zu achten.

»Hören Sie. Ist diese Invasion einfach so passiert, oder ist sie passiert, weil Sie eine Sitzung versäumt haben?«

»Ich habe sie geträumt.«

»Sie haben sich zu einem unkontrollierten wirkungsvollen Traum hinreißen lassen?« Haber machte kein Hehl aus seinem rechtschaffenen Zorn. Er war zu zartfühlend, zu zimperlich mit Orr umgesprungen. Orrs Verantwortungslosigkeit war schuld daran, daß so viele unschuldige Menschen ums Leben gekommen waren und Verwüstung und Panik in der Stadt herrschten: er mußte die Verantwortung für sein Tun übernehmen.

»Keineswegs«, begann Orr gerade, als eine besonders heftige Explosion erfolgte. Das ganze Gebäude erbebte, hallte hohl, bekam Risse, die elektronischen Apparate an der Reihe der leeren Betten hüpften in die Höhe, der Kaffee schwappte in den Tassen. »War das der Vulkan oder die Luftwaffe?« fragte Orr, und Haber stellte mitten in dem ganz natürlichen Schrecken fest, mit dem die Explosion ihn erfüllt hatte, daß Orr kein bißchen erschrocken wirkte. Seine Reaktion war vollkommen abnormal. Am Freitag war er noch wegen einer ethischen Lappalie ganz aus dem Häuschen geraten; und heute, am Mittwoch, blieb er mitten im Armageddon völlig ruhig und gleichmütig. Er schien keinerlei Furcht um seine Person zu empfinden. Aber die mußte er empfinden. Wenn Haber Angst hatte, dann mußte Orr sie zweimal haben. Er unterdrückte seine Angst. Oder glaubte er, fragte sich Haber plötzlich, daß die Invasion ein Traum war, nur weil er sie geträumt hatte?

Und wenn ja?

Wessen Traum?

»Wir gehen besser wieder nach oben«, sagte Haber und stand auf. Er wurde immer ungeduldiger und gereizter; die Aufregung wurde zuviel für ihn. »Wer ist diese Frau überhaupt, die Sie da bei sich haben?«

»Das ist Miss Lelache«, sagte Orr und sah ihn dabei seltsam an. »Die Anwältin. Sie war am Freitag hier.«

»Wie kommt es, daß sie bei Ihnen ist?«

»Sie hat nach mir gesucht, ist mir in die Blockhütte gefolgt.«

»Das können Sie mir alles später erklären«, sagte Haber. Sie hatten keine Zeit, sich mit derartig unbedeutenden Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. Sie mußten raus, raus aus dieser explodierenden Welt.

Als sie gerade Habers Büro betraten, barst das Glas des großen Doppelfensters mit einem schrillen, singenden Geräusch und einem gewaltigen Luftsog; beide Männer wurden zu dem Fenster gerissen wie in die Öffnung eines Staubsaugers. Dann wurde alles weiß: Alles. Beide fielen hinaus.

Als Haber wieder sehen konnte, hielt er sich an seinem Schreibtisch fest und rappelte sich mühsam auf. Orr stand schon an der Couch und versuchte, die erschrockene Frau zu beruhigen. Es war kalt in dem Büro: kalte Feuchtigkeit lag in der Frühlingsluft, die durch die leeren Fensteröffnung hereinströmte, und sie roch nach Rauch, verbrannter Isolation, Ozon, Schwefel und Tod. »Wir sollten hinunter in den Keller, finden Sie nicht?« fragte Miss Lelache in gefaßtem Tonfall, obwohl sie am ganzen Körper schlotterte.

»Gehen Sie«, sagte Haber. »Wir müssen noch eine Weile hier oben bleiben.«

»Hierbleiben?«

»Der Verstärker ist hier. Man kann nicht einfach den Stecker rausziehen und wieder reinstecken wie bei einem tragbaren Fernseher. Gehen Sie in den Keller runter, wir kommen zu Ihnen, sobald wir können.«

»Sie wollen ihn jetzt einschlafen lassen?« fragte die Frau, während die Bäume unten am Hügel plötzlich zu hellgelben Feuerbällen explodierten. Die Eruption des Mount Hood wurde von Ereignissen in unmittelbarerer Nähe überschattet; die Erde jedoch bebte schon seit einigen Minuten sanft, eine Art alles beherrschendes Grollen, in dem die eigenen Hände und Gedanken aus reiner Sympathie mitzuvibrieren schienen.

»Da haben Sie verdammt recht, das werde ich. Gehen Sie. Gehen Sie runter in den Keller, ich brauche die Couch. Legen Sie sich hin, George … Hören Sie, Sie da, im Keller werden Sie gleich hinter der Tür zum Raum des Hausmeisters eine Tür mit der Aufschrift ›Notstromgenerator‹ sehen. Gehen Sie da rein und suchen Sie den Hebel mit der Aufschrift EIN. Legen Sie die Hand darauf, und falls das Licht ausgeht, schalten Sie den Generator ein. Dazu müssen Sie den Hebel mit aller Kraft nach oben drücken. Gehen Sie!«

Sie ging. Sie schlotterte immer noch, und lächelte, und auf dem Weg nahm sie kurz Orrs Hand und sagte: »Träumen Sie süß, George.«

»Keine Bange«, sagte Orr. »Alles wird gut.«

»Halten Sie den Mund« fuhr Haber ihn an. Er hatte das Hypnosetonband eingeschaltet, das er höchstpersönlich aufgezeichnet hatte, aber Orr schenkte ihm keinerlei Beachtung, und wegen des Lärms der Explosionen und brennenden Gegenstände war es ohnehin kaum zu hören. »Machen Sie die Augen zu!« befahl Haber, legte eine Hand an den Hals des Patienten und drehte die Lautstärke hoch. »ENTSPANNEN«, sagte seine eigene gewaltige Stimme. »SIE FÜHLEN SICH BEHAGLICH UND ENTSPANNT. SIE GLEITEN HINÜBER IN —« Das ganze Gebäude hüpfte wie ein Lamm im Frühling und setzte sich windschief wieder ab. Etwas tauchte aus dem schmutzigroten, trüben Widerschein vor dem glaslosen Fenster auf: ein ovales, großes Objekt, das sich auf eine Art hüpfender Weise durch die Luft bewegte. Es kam direkt auf das Fenster zu. »Wir müssen hier raus!« schrie Haber über seine eigene Stimme hinweg, doch dann wurde ihm klar, daß Orr schon hypnotisiert war. Er schaltete das Tonband ab und beugte sich hinunter, so daß er Orr ins Ohr sprechen konnte. »Beenden Sie die Invasion!« brüllte er. »Frieden, Frieden, träumen Sie, daß wir in Frieden mit allen leben! Und jetzt schlafen Sie! Antwerpen!« und er schaltete den Verstärker ein.

Aber er hatte keine Zeit mehr, einen Blick auf Orrs EEG zu werfen. Der ovale Umriß schwebte unmittelbar vor dem Fenster. Der stumpfe Bug, der grell von Spiegelungen der brennenden Stadt erhellt wurde, zeigte direkt auf Haber. Er kauerte sich bei der Couch nieder, fühlte sich schrecklich verletzbar, wie auf dem Präsentierteller, gab sich alle Mühe, den Verstärker mit seinem unzureichenden Fleisch zu beschützen und breitete die Arme davor aus. Er warf einen Blick über die Schulter und beobachtete das Schiff der Außerirdischen. Es kam näher. Der Bug, der wie ölverschmierter Stahl aussah, silbern, mit violetten Streifen und Lichtspielen, füllte das Fenster ganz aus. Ein knirschendes, berstendes Geräusch ertönte, als es sich im Rahmen verkeilte. Haber schluchzte laut vor Entsetzen, blieb aber mit ausgebreiteten Armen zwischen dem Außerirdischen und dem Verstärker stehen.

Aus dem zum Stillstand gekommenen Bug streckte sich ein langer, dünner Tentakel und bewegte sich prüfend durch die Luft. Sein Ende, das wie eine Kobra aufragte, zeigte willkürlich hierhin und dorthin und pendelte sich schließlich in Habers Richtung ein. Etwa drei Meter von ihm entfernt verharrte der Tentakel in der Luft und zeigte rund zehn Sekunden lang auf ihn. Dann wurde er mit einem Zischen und einem Schnappen wie das flexible Stahlmaßband eines Zimmermanns wieder eingezogen und ein hohes, summendes Geräusch ging von dem Schiff aus. Der Metallsims des Fensters wurde mit einem Kreischen verbogen. Der Bug des Schiffs wirbelte herum und fiel zu Boden. Aus der dunklen Öffnung, die dahinter klaffte, kam etwas heraus.

Es war, dachte Haber von emotionslosem Grauen gepackt, eine Riesenschildkröte. Dann wurde ihm klar, daß es sich um eine Art von Schutzanzug handelte, der dem Wesen dieses klobige, grünliche, gepanzerte, unförmige Aussehen einer riesigen Meeresschildkröte verlieh, die auf den Hinterbeinen stand.

Es stand ganz still neben Habers Schreibtisch. Sehr langsam hob es den linken Arm und richtete ein metallisches Instrument mit Mündung auf Haber.

Er sah dem Tod ins Auge.

Eine nüchterne, tonlose Stimme kam aus dem Ellbogengelenk. »Was du nicht willst, daß man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu«, sagte sie.

Haber sah mit klopfendem Herzen hin.

Der riesige, schwere Metallarm wurde erneut gehoben. »Wir versuchen, friedliche Ankunft durchzuführen«, sagte der Ellbogen in einer einzigen Tonlage. »Bitte andere informieren, daß dies friedliche Ankunft ist. Wir besitzen keine Waffen. Große Selbstzerstörung folgt unbegründeter Angst. Bitte Zerstörung von selbst und anderen beenden. Wir besitzen keine Waffen. Wir nichtaggressives, nichtkämpfendes Volk.«

»Ich … ich … ich … kann der Luftwaffe nichts befehlen«, stammelte Haber.

»Personen in fliegenden Vehikeln werden derzeit kontaktiert«, sagte das Ellbogengelenk des außerirdischen Wesens. »Ist dies militärische Einrichtung?«

Aus der Abfolge der Worte ergab sich, daß es sich um eine Frage handelte. »Nein«, sagte Haber. »Nein, nichts Derartiges —«

»Dann bitte ungerechtfertigtes Eindringen entschuldigen.« Die riesige gepanzerte Gestalt surrte leicht und schien zu zögern. »Was ist Apparat?« fragte sie und zeigte mit dem rechten Ellbogengelenk auf die Maschinerie, die mit dem Kopf des schlafenden Mannes verbunden war.

»Ein Elektroenzephalograph, eine Maschine, die die elektrische Aktivität des Gehirns aufzeichnet —«

»Würdig«, sagte der Außerirdische und machte einen gemessenen Schritt auf die Couch zu, als würde er alles gern näher betrachten. »Die Individual-Person ist iahklu’. Diese Aufzeichnungsmaschine zeichnet das vielleicht auf. Ist die gesamte Spezies zu iahklu’ fähig?«

»Ich kenne — kenne diesen Ausdruck nicht, können Sie beschreiben —«

Die Gestalt surrte abermals ein wenig, hob den linken Ellbogen über den Kopf (der, wie bei einer Schildkröte, kaum über die breiten, hängenden Schultern des Panzers hinausragte) und sagte: »Bitte entschuldigen. Nicht kommunizierbar durch in jüngster Vergangenheit hastig konstruierte Kommunikationsmaschine. Bitte entschuldigen. Es ist notwendig, uns in sehr naher Zukunft anderen verantwortlichen Individual-Personen in Panik zu nähern, die selbst und andere zerstören können. Vielen Dank.« Damit kroch er in den Bug des Schiffs zurück.

Haber verfolgte, wie die großen, runden Sohlen seiner Füße in der dunklen Höhlung verschwanden.

Die Bugspitze schnellte vom Boden hoch und schraubte sich selbst wieder fein säuberlich fest: Haber hatte den deutlichen Eindruck, daß es sich dabei nicht um einen mechanischen Vorgang handelte, sondern um einen zeitlichen; das vorherige Geschehen wurde in umgekehrter Folge wiederholt, genau wie bei einem rückwärts abgespielten Film. Das außerirdische Schiff zog ab, ließ das gesamte Büro erbeben, riß den Rest des Fensterrahmens mit einem gräßlichen Geräusch heraus und verschwand in dem lodernden Dunst draußen.

Das Crescendo der Explosionen, stellte Haber jetzt fest, hatte aufgehört; tatsächlich schien es vergleichsweise still zu sein. Alles bebte ein wenig, aber das lag am Berg, nicht an den Bomben. Sirenen tönten, weit entfernt und trostlos, über den Fluß.

George Orr lag reglos auf der Couch, atmete unregelmäßig, und die Blutergüsse und Schnittwunden in seinem Gesicht sahen durch die Blässe besonders häßlich aus. Asche und Rauch wurden immer noch mit der kalten, beißenden Nachtluft durch das zerschmetterte Fenster hereingeweht. Nichts hatte sich verändert. Er hatte noch nichts rückgängig gemacht. Hatte er überhaupt schon etwas beeinflußt? Unter den geschlossenen Lidern konnte man eine schwache Bewegung der Augen erkennen; er träumte noch; er konnte gar nicht anders, da der Verstärker die Impulse seines eigenen Gehirns überlagerte. Warum veränderte er nicht die Kontinuen, warum brachte er sie nicht in eine friedliche Welt, wie Haber es ihm befohlen hatte? Die hypnotische Suggestion war nicht klar oder stark genug gewesen. Sie mußten noch einmal von vorn anfangen. Haber schaltete den Verstärker ab und sprach Orrs Namen dreimal aus.

»Richten Sie sich nicht auf, Sie sind immer noch an den Verstärker angeschlossen. Was haben Sie geträumt?«

Orr, der noch nicht ganz wach zu sein schien, sprach heiser und langsam. »Der … ein Außerirdischer war hier. Hier drin. Im Büro. Er kam aus dem Bug eines ihrer hüpfenden Schiffe. Zum Fenster rein. Sie und er haben sich unterhalten.«

»Aber das ist kein Traum! Das ist passiert! Gottverdammt, wir müssen es noch mal machen. Vor ein paar Minuten, das könnte eine Atombombenexplosion gewesen sein, wir müssen in ein anderes Kontinuum, womöglich sind wir schon alle an der Strahlenkrankheit gestorben.«

»Oh, diesmal nicht«, sagte Orr, setzte sich auf und kämmte die Elektroden aus seinem Haar, als wären sie tote Läuse. »Natürlich ist es passiert. Ein wirkungsvoller Traum ist eine Realität, Dr. Haber.«

Haber sah ihn an.

»Ich nehme an, Ihr Verstärker hat die Unmittelbarkeit für Sie beschleunigt«, sagte Orr immer noch ungewöhnlich ruhig. Er schien eine Weile nachzudenken. »Hören Sie, könnten Sie in Washington anrufen?«

»Wozu?«

»Na, weil man auf einen angesehen Wissenschaftler, der sich mitten im Geschehen befindet, vielleicht hören wird. Die werden nach Erklärungen suchen. Gibt es jemanden bei der Regierung, den Sie kennen, den Sie anrufen könnten? Vielleicht den Gesundheitsminister? Sie könnten ihm sagen, daß die ganze Angelegenheit ein Mißverständnis ist, daß die Außerirdischen weder eine Invasion noch einen Angriff geplant hatten. Bis zu ihrer Landung war ihnen schlicht und einfach nicht bewußt, daß Menschen ausschließlich auf verbale Kommunikation angewiesen sind. Sie haben nicht einmal gewußt, daß wir dachten, wir würden uns im Krieg mit ihnen befinden … Wenn Sie das jemandem sagen könnten, der das Vertrauen des Präsidenten genießt. Je schneller Washington das Militär zurückpfeifen kann, desto weniger Menschen werden hier getötet. Es sind nur Zivilisten, die sterben. Die Außerirdischen tun den Soldaten nichts, sie sind nicht einmal bewaffnet, und ich habe den Eindruck, in diesen Schutzanzügen sind sie unverwundbar. Aber wenn niemand die Luftwaffe aufhält, wird sie die ganze Stadt vernichten. Versuchen Sie es, Dr. Haber. Vielleicht hört man auf Sie.«

Haber spürte, daß Orr recht hatte. Es war bar jeglicher Vernunft, es war die Logik des Wahnsinns, aber hier hatte er sie: seine Chance. Orr redete mit der unverrückbaren Überzeugung des Traums, in dem es keinen freien Willen gibt: Machen Sie das, Sie müssen dies und das machen, es muß getan werden.

Warum war diese Gabe einem Narren gegeben worden, einem passiven Nichts von einem Mann? Warum war Orr so sicher und so überzeugt, während der starke, tatkräftige, positive Mann ohnmächtig und gezwungen war, zu versuchen, das armselige Werkzeug zu benutzen, ihm sogar zu gehorchen? Das alles ging ihm durch den Kopf, und nicht zum erstenmal, aber gleichzeitig ging er zu seinem Schreibtisch, zum Telefon. Er setzte sich und wählte die Nummer des Gesundheitsministeriums in Washington. Der Anruf, der über die Relais von Federal Telephone in Utah weitergeleitet wurde, konnte übermittelt werden.

Während er darauf wartete, daß er zum Minister für Gesundheit, Bildung und Soziales durchgestellt wurde, den er recht gut kannte, sagte er zu Orr: »Warum haben Sie uns nicht in ein anderes Kontinuum versetzt, wo dieses Schlamassel einfach nie passiert ist? Das wäre viel einfacher gewesen. Und niemand wäre gestorben. Warum sind Sie die Außerirdischen nicht einfach losgeworden

»Ich entscheide nicht«, sagte Orr. »Begreifen Sie das immer noch nicht? Ich folge.«

»Sie folgen meinen hypnotischen Suggestionen, ja, aber niemals vollständig, niemals direkt und einfach —«

»Die habe ich nicht gemeint«, sagte Orr, aber dann war Rantows Privatsekretärin in der Leitung. Während Haber redete, schlich sich Orr hinaus, zweifellos nach unten, um nach der Frau zu sehen. Das ging klar. Während er mit der Sekretärin und dann mit dem Minister sprach, kam Haber zur Überzeugung, daß jetzt alles gut werden würde, daß die Außerirdischen wirklich vollkommen nichtaggressiv waren und er Rantow davon überzeugen konnte, und über Rantow auch den Präsidenten und dessen Generäle. Orr war jetzt überflüssig. Haber sah, was getan werden mußte, und würde sein Land aus dem Schlamassel herausführen.

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