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Wenn der große Weg ist aufgegeben, gibt es »Menschlichkeit und Rechtlichkeit«.

Lao-tse, XVIII


Lächelnd schritt William Haber die Treppe des Oneirologischen Instituts von Oregon hinauf und durch die hohe Tür aus polarisiertem Glas in die trockene Kühle der Klimaanlage. Man schrieb erst den vierundzwanzigsten März, kam sich aber draußen vor wie in einer Sauna; im Inneren jedoch war alles kühl, sauber, ordentlich. Marmorboden, dezentes Mobiliar, der Tresen der Rezeption aus gebürstetem Chrom, die Dame am Empfang adrett: »Guten Morgen, Dr. Haber!«

Auf dem Flur kam ihm Atwood aus dem Forschungsflügel entgegen, mit roten Augen und zerzaustem Haar, weil er die ganze Nacht die EEGs der Schlafenden überwacht hatte, inzwischen wurde das weitgehend von Computern erledigt, aber hin und wieder war dennoch ein nicht programmierter Verstand vonnöten. »Morgen, Chef«, murmelte Atwood.

Und von Miss Crouch in seinem eigenen Büro: »Guten Morgen, Doktor!« Er war froh, daß er Penny Crouch mitgenommen hatte, als er letztes Jahr in das Büro des Direktors des Instituts aufgerückt war. Sie war loyal und klug, und ein Mann an der Spitze einer großen und komplexen Forschungseinrichtung braucht eine loyale und kluge Mitarbeiterin in seinem Vorzimmer.

Er betrat das innerste Sanktum.

Nachdem er Aktentasche und Ordner auf die Couch geworfen hatte, streckte er die Arme aus und ging wie stets, wenn er sein Büro betreten hatte, zum Fenster. Es handelte sich um ein großes Eckfenster, durch das man nach Osten und Norden hin ein großes Stück der Welt sehen konnte: die Schleife des Willamette mit seinen zahlreichen Brücken direkt unter den Bergen; die zahllosen hohen und milchigen Türme der Stadt im Frühlingsnebel beiderseits des Flusses; die Vororte, die sich erstreckten, soweit das Auge reichte, bis sich an ihren entferntesten Rändern die Vorgebirge erhoben; und dann die Berge. Hood, gigantisch und doch entrückt, mit wolkenumkränztem Haupt; weiter nordwärts der ferne Adams mit seinem einem Backenzahn nicht unähnlichen Umriß; und dann der makellose Kegel des St. Helens, aus dessen langer Flanke noch weiter nordwärts eine kleine kahle Kuppel zu wachsen schien wie der Kopf eines Babys, das hinter dem Rockschoß seiner Mutter hervorlugt: Mount Rainier.

Es war eine inspirierende Aussicht. Auf Dr. Haber jedenfalls wirkte sie immer inspirierend. Darüber hinaus stieg der Luftdruck nach einer Woche sintflutartiger Regenfälle wieder an und die Sonne schien über dem Nebel auf dem Fluß. Durch tausend EEG-Ausdrucke war ihm die Verbindung zwischen dem Atmosphärendruck und der Schwermut des Geistes wohl bekannt, daher konnte er fast spüren, wie der angenehme trockene Wind sein psychosomatisches Befinden verbesserte. Muß das beibehalten, das Klima weiter verbessern, dachte er hastig, beinahe verstohlen. Mehrere Gedankengänge hatten sich in seinem Kopf geformt oder formten sich gerade, aber diese geistige Notiz bildete keinen Teil davon. Sie entstand rasch und wurde ebenso rasch im Gedächtnis abgespeichert, noch während er das Tonbandgerät auf seinem Schreibtisch einschaltete und damit begann, einen der zahlreichen Briefe zu diktieren, die der Leiter einer staatlichen Forschungseinrichtung nun einmal schreiben mußte. Das war natürlich reiner Papierkram, mußte aber auch getan werden, und er war der richtige Mann dafür. Er mißfiel ihm keineswegs, auch wenn er die Zeit, die Haber selbst mit Forschungen verbringen konnte, drastisch beschnitt. Inzwischen verbrachte er nur noch fünf oder sechs Stunden pro Woche im Labor und hatte selbst nur noch einen einzigen Patienten, obwohl er natürlich die Therapie verschiedener anderer überwachte.

Den einen Patienten behielt er freilich. Immerhin war er ja Psychiater. Er hatte sich der Schlafforschung und Oneirologie überhaupt nur zugewandt, um therapeutische Anwendungsmöglichkeiten zu finden. Theoretisches, weltfremdes Wissen, Wissenschaft um der Wissenschaft willen: es hatte keinen Sinn, etwas zu lernen, wenn man keinen praktischen Nutzen daraus ziehen konnte. Relevanz war sein Prüfstein. Er würde immer einen Patienten behalten, um sich selbst an diese grundsätzliche Verpflichtung zu erinnern, um in Kontakt mit der menschlichen Realität seiner Forschungen in Form der gestörten Persönlichkeitsstruktur individueller Menschen zu bleiben. Eine Person definiert sich ausschließlich über das Maß ihres Einflusses auf andere Menschen, durch die Sphäre ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen; und Ethik ist ein ganz und gar sinnloser Begriff, wenn man sie nicht als das Gute definiert, das man anderen erweist, als die Erfüllung der eigenen Funktion im soziopolitischen Ganzen.

Orr, sein aktueller Patient, kam heute um sechzehn Uhr, denn sie hatten die nächtlichen Sitzungen aufgegeben; und Miss Crouch erinnerte um die Mittagszeit daran, daß bei der heutigen Sitzung eine Gutachterin des Gesundheitsamts anwesend sein würde; um sich zu vergewissern, daß nichts Ungesetzliches, Unmoralisches, Ungebührliches Un- usw. mit der Anwendung des Verstärkers einher ging. Gottverdammte naseweise Behörden.

Das waren die Nachteile des Erfolgs und seiner Begleiterscheinungen Rampenlicht, öffentliche Neugier, Neid und Mißgunst, Kollegenrivalität. Wäre er noch ein Privatforscher, der sich im Schlaflabor der Uniklinik und einer zweitklassigen Praxis im Willamette East Tower abquälte, hätte ganz bestimmt niemand von dem Verstärker Notiz genommen, bis er ihn zur Marktreife entwickelt hatte, und man hätte ihn in Ruhe gelassen, bis er das Gerät und seine Applikationen verbessert und perfektioniert gehabt hätte. Jetzt war er mit dem intimsten und komplexesten Teil seines Metiers beschäftigt, Psychotherapie mit einem gestörten Patienten, und der Staat wußte nichts Besseres, als ihm einen Anwalt ins Haus zu schicken, der nicht die Hälfte von dem verstand, was vor sich ging, und den Rest falsch verstand.

Der Anwalt traf um 15:45 Uhr ein, und Haber kam unverzüglich ins Vorzimmer, um ihn — sie, wie sich herausstellte — zu begrüßen und gleich von Anfang an einen freundschaftlichen, herzlichen Eindruck zu hinterlassen. Es lief besser, wenn sie sahen, daß man angstfrei, kooperativ und persönlich umgänglich war. Viele Ärzte machten kein Hehl aus ihren Vorbehalten, wenn ein Inspektor des Gesundheitsamts sie besuchte; und diese Ärzte erhielten folgerichtig nicht viele staatliche Forschungsgelder.

Es war nicht ganz leicht, freundschaftlich und herzlich mit der Anwältin umzugehen. Sie schnappte und klickte. Schwerer Messingschnappverschluß an der Handtasche, schwerer, klirrender Kupfer- und Messingschmuck, Schuhe mit Blockabsätzen, ein wuchtiger Silberring mit einer abscheulich häßlichen afrikanischen Maske, stirnrunzelnde Augenbrauen, harte Stimme: klack, schepper, schnapp … In den zweiten zehn Sekunden kam Haber zu der Überzeugung, daß das alles tatsächlich eine Maske war, wie der Ring schon verriet: viel Schall und Wahn, die Unsicherheit kaschierten. Das ging ihn freilich nichts an. Er würde die Frau hinter der Maske niemals kennenlernen, und sie war auch nicht relevant, wenn er nurden richtigen Eindruck auf Miss Lelache, die Anwältin, machen konnte.

Es lief zwar nicht herzlich, aber es lief auch nicht schlecht; sie war kompetent, sie hatte schon ähnliche Aufgaben absolviert, und sie hatte ihre Hausaufgaben für diesen speziellen Auftrag gemacht. Sie konnte die richtigen Fragen stellen und zuhören.

»Dieser Patient, George Orr«, sagte sie, »der ist kein Süchtiger, richtig? Stellen Sie nach einer dreiwöchigen Therapie die Diagnose psychotisch oder geistesgestört?«

»Geistesgestört, wie das Gesundheitsamt das Wort definiert. Schwer geistesgestört und mit künstlicher Realitätsorientierung, aber nach der aktuellen Therapie auf dem Weg der Besserung.«

Sie hatte einen Taschenrekorder dabei und zeichnete das alles auf: alle fünf Sekunden machte das Ding biep, wie es das Gesetz verlangte.

»Könnten Sie mir die Therapie, die Sie anwenden, bitte beschreiben, biep, und erklären, welche Rolle dieses Gerät dabei spielt? Erzählen Sie mir nicht, biep, wie es funktioniert, das steht in Ihrem Bericht, sondern, was es macht. Biep, wie unterscheidet sich seine Anwendung zum Beispiel vom Elektroson oder der Trancekappe?«

»Also, diese Geräte erzeugen, wie Sie wissen, verschiedene niederfrequente Impulse, die die Nervenzellen in der Großhirnrinde stimulieren. Diese Signale könnte man laienhaft als allgemein bezeichnen; ihre Wirkung auf das Gehirn wird in einer Art und Weise erreicht, die im wesentlichen vergleichbar ist mit der von Stroboskoplicht in einem kritischen Rhythmus oder einem auralen Stimulus, wie etwa einem Trommelschlag. Der Verstärker sendet ein ganz bestimmtes Signal, das von einem ganz bestimmten Bereich des Gehirns empfangen werden kann. Zum Beispiel kann man ein Subjekt so trainieren, daß es willentlich Alpharhythmen produziert, wie Ihnen sicher bekannt ist; aber der Verstärker kann das ohne Training induzieren, und das obendrein in einem Zustand, in dem das Subjekt normalerweise nicht für den Alpharhythmus empfänglich ist. Er speist einen Alpharhythmus von neun Zyklen durch angemessen plazierte Elektroden ein, und das Gehirn kann diesen Rhythmus schon Sekunden später akzeptieren und so gleichmäßig wie ein Zen-Buddhist in Trance Alphawellen erzeugen. Auf dieselbe Weise kann man, was nützlicher ist, jedes Schlafstadium mit seinen typischen Zyklen und regionalen Gehirntätigkeiten induzieren.«

»Stimuliert er auch das Lustzentrum oder das Sprachzentrum?«

Oh, das moralinsaure Funkeln im Auge eines jeden Gesundheitsinspektors, wenn das Lustzentrum zur Sprache kam! Haber verbarg jeden Anflug von Ironie und Unmut und antwortete ganz im Tonfall freundlicher Aufrichtigkeit. »Nein. Es handelt sich nicht um ESB, wissen Sie. Es ist nicht wie eine elektrische Stimulation oder eine chemische Stimulation eines Zentrums; es beinhaltet keinerlei Einfluß auf bestimmte Bereiche des Gehirns. Der Verstärker bewirkt lediglich, daß sich die gesamte Tätigkeit des Gehirns verändert, daß es in ein anderes seiner natürlichen Stadien wechselt. Es ist ein bißchen wie eine eingängige Melodie, ein Ohrwurm, bei dem man sofort mit den Füßen mitwippt. Das Gehirn tritt also in das Stadium ein, das für die Therapie gewünscht wird, und verharrt darin, solange es notwendig ist. Ich habe das Gerät absichtlich Verstärker genannt, um seine nichtkreative Funktion zu betonen. Nichts wird von außen aufgezwungen. Der Schlaf, der mittels des Verstärkers induziert wird, ist exakt und im wahrsten Sinne des Wortes Schlaf, wie er für dieses bestimmte Gehirn normal ist. Der Unterschied zwischen dem Verstärker und den Elektroschlafmaschinen ist wie der zwischen einem Maßanzug und einem Anzug von der Stange. Der Unterschied zwischen ihm und Elektrodenimplantation ist — oh, verdammt — der zwischen einem Skalpell und einem Vorschlaghammer!«

»Aber wie erzeugen Sie die Stimuli, die Sie benutzen? Zeichnen Sie biep zum Beispiel einen Alpharhythmus von einem Subjekt auf und verwenden ihn bei einem anderen biep

Diesem Thema war er bislang ausgewichen. Er hatte natürlich nicht vor, zu lügen, aber es hatte schlicht und einfach keinen Sinn, über noch laufende Forschungen zu sprechen, bis sie abgeschlossen und erprobt worden waren; das konnte bei einem Laien einen vollkommen falschen Eindruck erwecken. Er setzte unbekümmert zu einer Antwort an und war froh, daß er seine eigene Stimme hörte und nicht ihr Scheppern und Klirren und Biepen; es war schon recht seltsam, daß er nur diese nervtötenden kleinen Geräusche vernahm, wenn sie redete. »Zuerst benutzte ich ein allgemeines Set von Stimuli, einen Durchschnitt aus den Aufzeichnungen meiner Subjekte. Die in meinem Bericht erwähnte depressive Patientin wurde auf diese Weise erfolgreich behandelt. Aber ich fand, daß die Wirkung zufälliger und willkürlicher ausfiel, als mir lieb war. Ich fing an, zu experimentieren. Natürlich mit Tieren. Katzen. Wir Schlafforscher lieben Katzen, wissen Sie; die schlafen viel!

Jedenfalls fand ich mit den Versuchstieren heraus, daß die vielversprechendste Vorgehensweise die war, bei der ich Rhythmen benutzte, die ich vorher vom eigenen Gehirn des Subjekts aufgezeichnet hatte. Eine Art von Autostimulation via Aufzeichnung. Mir geht es um das Spezifische, wissen Sie. Ein Gehirn reagiert sofort auf den eigenen Alpharhythmus, und zwar spontan. Freilich tun sich auch eine Reihe therapeutischer Möglichkeiten in anderen Forschungsbereichen auf. Es könnte möglich sein, das Muster des Patienten nach und nach mit einem anderen Muster zu überlagern: einem gesünderen oder vollständigeren Muster. Einem, das vorher vom Subjekt selbst oder einem anderen Subjekt aufgezeichnet wurde. Das könnte sich als enorm hilfreich bei Fällen von Hirnschädigungen, Läsionen, Traumata erweisen; es könnte ein beschädigtes Gehirn dabei unterstützen, seine alten Gewohnheiten in frischen Kanälen neu zu etablieren — etwas, worum sich das Gehirn selbst verbissen und ausgiebig bemüht. Man könnte es benutzen, um ein abnormal funktionierendes Gehirn neue Gewohnheiten zu ›lehren‹, und so weiter. Beim momentanen Stand der Dinge ist das freilich noch rein spekulativ, wenn und falls ich meine diesbezüglichen Forschungen wieder aufnehme, werde ich sie selbstverständlich umgehend wieder beim Gesundheitsamt anmelden.« Das entsprach der Wahrheit. Es mußte nicht unbedingt erwähnt werden, daß er bereits mit Forschungen in dieser Richtung beschäftigt war, die sich freilich noch nicht schlüssig auswerten ließen und leicht mißverstanden werden konnten.

»Die Form der Autostimulation durch Aufzeichnungen, die ich bei dieser Therapie anwende, könnte man dahingehend beschreiben, daß sie keinerlei Nebenwirkungen auf den Patienten hat, abgesehen von denen, die während des Zeitraums der Funktion der Maschine auftreten: fünf bis zehn Minuten.« Er verstand mehr vom Fachgebiet jeder Anwältin des Gesundheitsamts, als die von seinem; er sah sie beim letzten Satz unmerklich nicken, es war genau das, was sie hören wollte.

Aber dann fragte sie: »Und was genau macht das Gerät?«

»Ja, dazu wollte ich gerade kommen«, sagte Haber und mäßigte sich augenblicklich in seinem Tonfall, da man ihm die Verärgerung anmerkte. »Womit wir es in diesem Fall zu tun haben, ist ein Subjekt, das Angst davor hat, zu träumen: ein Oneirophober. Meine Behandlung besteht im wesentlichen aus einer Konditionierung in der klassischen Tradition moderner Psychologie. Dem Patienten werden hier, unter Laborbedingungen, Träume induziert; Trauminhalt und emotionaler Affekt werden durch hypnotische Suggestion manipuliert. Dem Subjekt wird vermittelt, daß es sicher und angenehm träumen kann, und so weiter, eine positive Konditionierung, die es von seiner Phobie befreit. Der Verstärker ist ein ideales Instrument für diesen Zweck. Er gewährleistet, daß das Subjekt träumt, indem er dessen eigene typische Aktivität im paradoxen Schlaf einleitet und verstärkt. Ein Subjekt kann bis zu anderthalb Stunden brauchen, bis es die verschiedenen Stadien des orthodoxen Schlafs durchlaufen hat und von selbst das paradoxe Stadium erreicht, für Sitzungen bei Tage eine unpraktisch lange Zeitspanne, und darüber hinaus könnte die Wirkung der hypnotischen Suggestion des Trauminhalts im Tiefschlaf teilweise verlorengehen. Das ist unerwünscht; im Zustand der Konditionierung kommt es ganz entscheidend darauf an, daß er keine bösen Träume, keine Alpträume hat. Und so bringt mir der Verstärker nicht nur eine Zeitersparnis, sondern dient auch als Sicherheitsfaktor. Die Therapie könnte auch ohne ihn Wirkung zeitigen; aber sie würde wahrscheinlich Monate dauern; mit dem Verstärker gehe ich von wenigen Wochen aus. In den entsprechenden Fällen könnte er eine Menge Zeit einsparen, so wie die Hypnose selbst bei der Psychoanalyse und der Konditionierungstherapie.«

Biep, sagte der Rekorder der Anwältin, worauf die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch mit einem weichen, volltönenden und gebieterischen Bong antwortete. Gott sei Dank. »Hier kommt ja unser Patient. Ich schlage vor, Miss Lelache, daß Sie ihn kennenlernen und wir ein wenig plaudern, wenn Sie möchten; danach können Sie sich dann unauffällig in den Ledersessel in der Ecke zurückziehen, ja? Ihre Anwesenheit sollte keinerlei Auswirkungen auf den Patienten haben, falls er jedoch ständig daran erinnert wird, könnte sich das als äußerst hinderlich erweisen. Sehen Sie, er ist eine Person in einem recht gravierenden Angstzustand mit einer Neigung, Ereignisse als persönliche Bedrohungen zu interpretieren; als Folge dessen hat er ein ganzes Arsenal schützender Wahnvorstellungen aufgebaut — wie Sie sehen werden. Oh, ja, und der Rekorder muß ausgeschaltet werden, eine Therapiesitzung ist nicht zur Aufzeichnung bestimmt, richtig? Okay, gut. Ja, hallo, George, treten Sie ein! Das ist Miss Lelache, die Beisitzerin des Gesundheitsamts. Sie ist hier, um den Verstärker in Aktion zu sehen.« Die beiden schüttelten sich auf eine höchst lächerlich steife Art und Weise die Hände. Schepper, klirr! machten die Armreife der Anwältin. Der Kontrast amüsierte Haber: die schroffe, selbstbewußte Anwältin, der schwache, charakterlose Mann. Sie hatten überhaupt nichts gemeinsam.

»Also«, sagte er und gefiel sich in der Rolle des Spielleiters, »ich schlage vor, daß wir gleich zur Sache kommen, es sei denn, George, Sie hätten etwas Spezielles im Sinn, worüber Sie vorher noch gern sprechen möchten?« Er dirigierte sie mit seinen scheinbar unauffälligen Bewegungen: die Lelache zu dem Sessel in der Ecke gegenüber, Orr zu der Couch. »Okay. Also gut. Dann spulen wir einen Traum ab. Der nebenbei für das Gesundheitsamt die Tatsache belegen wird, daß Sie wegen dem Verstärker keine Zehennägel verlieren, keine Arterienverkalkung bekommen, den Verstand verlieren oder an sonstigen Nebenwirkungen leiden, abgesehen davon, daß der Traumschlaf heute vielleicht ein klein wenig kürzer ausfallen wird.« Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da streckte er den Arm aus und legte die rechte Hand fast beiläufig an Orrs Hals.

Orr zuckte bei der Berührung zusammen, als wäre er noch nie hypnotisiert worden.

Dann entschuldigte er sich. »Pardon. Sie haben so unerwartet zugegriffen.«

Es war erforderlich, noch einmal ganz von vorn mit der Hypnose anzufangen und dabei auf die Pressurmethode zurückzugreifen, die selbstverständlich vollkommen legal war, aber im Beisein einer Beobachterin des Gesundheitsamts dramatischer wirkte, als Haber lieb sein konnte; er war wütend auf Orr, bei dem er schon während den letzten fünf oder sechs Sitzungen einen zunehmenden Widerstand gespürt hatte. Als er den Mann endlich soweit hatte, schaltete er ein Tonband ein, das er selbst aufgenommen hatte und das ihm die langweilige Wiederholung der Vertiefung der Trance und der posthypnotischen Suggestion beim wiederholten Hypnotisieren ersparte. »Sie fühlen sich jetzt ruhig und entspannt. Sie fallen immer tiefer in Trance«, und so weiter, und so fort. Während es abgespielt wurde, ging er zu seinem Schreibtisch, sichtete mit ruhigem, ernstem Gesichtsausdruck Papiere und beachtete die Lelache gar nicht. Sie verhielt sich ganz still, weil sie wußte, daß der Hypnosevorgang nicht unterbrochen werden durfte; sie schaute zum Fenster hinaus und genoß die Aussicht auf die Türme der Stadt.

Schließlich stoppte Haber das Tonband und setzte Orr die Trancekappe auf den Kopf. »Während ich Sie jetzt vorbereite, reden wir darüber, was für einen Traum Sie heute träumen werden, George. Sie möchten doch gern darüber reden, nicht wahr?«

Langsames Nicken des Patienten.

»Als Sie das letzte Mal hier waren, haben wir über einige Dinge gesprochen, die Sie bekümmern. Sie sagten, daß Sie Ihre Arbeit lieben, es Ihnen aber nicht gefällt, daß Sie mit der U-Bahn zu Ihrem Arbeitsplatz fahren müssen. Sie fühlen sich bedrängt, sagten Sie — eingezwängt, zusammengequetscht. Sie würden sich fühlen, als hätten Sie keine Ellbogenfreiheit, als wären Sie nicht frei.«

Er machte eine Pause, und der Patient, der sich unter Hypnose stets recht wortkarg gab, antwortete schließlich nur: »Überbevölkerung.«

»Mhm, das war das Wort, das Sie benutzt haben. Das ist Ihr Wort, Ihre Metapher für dieses Gefühl der Unfreiheit. Also, unterhalten wir uns über dieses Wort. Sie wissen, daß schon im achtzehnten Jahrhundert Malthus Panik wegen des Bevölkerungswachstums machte; und vor dreißig, vierzig Jahren herrschte deswegen abermals eine enorme Aufregung. Und die Bevölkerungszahl ist tatsächlich angestiegen; aber die prophezeiten Schrecken blieben einfach aus. Es ist schlicht und einfach nicht so schlimm, wie vorhergesagt wurde. Wir hier in Amerika kommen ganz gut zurecht, und auch wenn wir unseren Lebensstandard in mancher Hinsicht senken mußten, ist er doch in vielerlei anderer Hinsicht höher als noch vor einer Generation. Vielleicht repräsentiert eine übertriebene Furcht vor Überbevölkerung — Überfüllung — also nicht die äußere Realität, sondern einen inneren Geisteszustand. Wenn Sie sich beengt fühlen, obwohl Sie es gar nicht sind, was hat das zu bedeuten? Vielleicht, daß Sie Angst vor menschlichen Kontakten haben — davor, Menschen nahe zu sein, berührt zu werden. Und aus diesem Grund haben Sie eine Art von Ausrede gesucht, um die Realität auf Distanz zu halten.« Das EEG lief mit, und während Haber sprach, schloß er den Verstärker an. »So, George, wir werden uns jetzt noch ein Weilchen unterhalten, und wenn ich das Schlüsselwort ›Antwerpen‹ sage, schlafen Sie ein; wenn Sie erwachen, fühlen Sie sich erfrischt und ausgeruht. Sie werden sich nicht mehr an das erinnern, was ich gesagt habe, wohl aber an Ihren Traum. Es wird ein lebhafter Traum sein, lebhaft und angenehm, ein wirkungsvoller Traum. Sie werden von diesem Thema träumen, das Sie so sehr bekümmert, Überbevölkerung: Sie werden einen Traum träumen, in dem Sie herausfinden, daß Sie in Wahrheit gar keine Angst davor haben. Schließlich können die Menschen nicht aliein leben; Einzelhaft ist die schlimmste Form der Haftstrafe! Wir brauchen Menschen um uns herum. Damit sie uns helfen, damit wir ihnen helfen können, damit wir uns mit ihnen messen und unsere Fähigkeiten an ihnen verbessern können.«

Und so weiter, und so fort. Die Anwesenheit der Anwältin engte ihn extrem ein; er mußte alles in abstrakte Begriffe verpacken, anstatt Orr einfach frei heraus zu befehlen, was er träumen sollte. Natürlich verfälschte er seine Methode nicht, um die Beobachterin zu täuschen; seine Methode war einfach noch nicht invariabel. Er variierte sie von Sitzung zu Sitzung und suchte nach narrensicheren Mitteln und Wegen, den exakten Traum zu suggerieren, den er haben wollte, und stets mußte er dabei gegen den Widerstand ankämpfen, der für ihn manchmal auf die übertriebene Buchstabentreue primärer Denkvorgänge und manchmal auf eine eindeutige Sturheit in Orrs Denken zurückzuführen zu sein schien. Was auch immer das Haupthindernis war, der Traum gestaltete sich fast nie so, wie Haber ihn beabsichtigt hatte; daher konnte es gut sein, daß diese vage, abstrakte Form der Suggestion so gut wie jede andere auch wirkte. Vielleicht würde sie sogar weniger unbewußten Widerstand in Orr selbst auslösen.

Er winkte die Anwältin zu sich, damit sie zu ihm kommen und einen Blick auf den EEG-Monitor werfen konnte, zu dem sie von ihrer Ecke aus gesehen hatte, dann fuhr er fort. »Sie werden einen Traum träumen, in dem Sie sich nicht beengt und eingezwängt fühlen. Sie werden von jeder Ellbogenfreiheit träumen, die man sich auf der Welt nur vorstellen kann, von uneingeschränkter Bewegungsfreiheit.« Und schließlich sagte er »Antwerpen!« — und zeigte auf die EEG-Kurven, so daß die Lelache die beinahe schlagartige Veränderung sehen konnte. »Achten Sie auf die allgemeine Verlangsamung der Linien«, murmelte er. »Da haben wir den ersten Hochspannungs-Peak, sehen Sie, und da noch einen … Schlafspindeln. Er gleitet bereits in das zweite Stadium des orthodoxen Schlafs hinüber, des normalen Schlafs, wie man sich auch immer ausdrücken möchte, die Art von Schlaf ohne lebhafte Träume, die die ganze Nacht hindurch immer wieder zwischen den paradoxen Stadien auftreten. Aber ich lasse ihn nicht in das vierte Tiefschlafstadium absinken, schließlich ist er ja zum Träumen hier. Ich schalte jetzt den Verstärker ein. Behalten Sie die Linien im Auge. Sehen Sie?«

»Sieht so aus, als würde er wieder aufwachen«, murmelte sie skeptisch.

»Richtig! Aber er wacht nicht auf. Sehen Sie ihn an.«

Orr lag auf dem Rücken, sein Kopf war ein wenig zurückgeneigt, so daß der kurze blonde Bart in die Höhe ragte; er schlief tief und fest, aber seine Lippen wirkten verkniffen; er seufzte tief.

»Sehen Sie, wie sich die Augen unter den Lidern bewegen? So wurde man damals, in den 1930er Jahren, erstmals auf dieses ganze Phänomen des Traumschlafs aufmerksam; sie gaben ihm jahrelang die Bezeichnung Rapid-Eye-Movement-Schlaf, REM. Aber in Wahrheit ist es verdammt viel mehr. Es ist ein dritter Daseinszustand. Sein ganzes autonomes Nervensystem ist voll mobilisiert, wie bei einem aufregenden Ereignis im Wachzustand; aber seine Muskelanspannung ist gleich null, die großen Muskeln sind viel entspannter als im orthodoxen Schlaf. Die Bereiche in Großhirn, Kleinhirn, Hirnstamm und Ammonshorn sind so aktiv, wie im Wachzustand, wohingegen sie im orthodoxen Schlaf inaktiv sind. Seine Atmung und der Blutdruck entsprechen der Stufe des Wachzustands, oder einer höheren. Hier, fühlen Sie seinen Puls.« Er führte ihre Finger an Orrs schlaffes Handgelenk. »Achtzig oder fünfundachtzig. Er erlebt gerade einen wahren Knüller, was immer es auch sein mag …«

»Sie meinen, er träumt?« Sie schaute ehrfürchtig drein.

»Richtig.«

»Sind diese Reaktionen normal?«

»Unbedingt. Diesen Ablauf macht jeder von uns jede Nacht durch, vier- oder fünfmal, mindestens zehn Minuten am Stück. Das da auf dem Monitor ist ein ganz normales EEG paradoxen Schlafs. Die einzige Anomalie oder Besonderheit, die hin und wieder auffällt, ist ein gelegentlicher Peak quer durch sämtliche Kurven, eine Art Geistesblitzeffekt, den ich vorher noch nie bei einem EEG des paradoxen Schlafs bemerkt habe. Das Muster scheint Ähnlichkeit mit einem Effekt aufzuweisen, den man von den Elektroenzephalogrammen von Menschen kennt, die intensiv mit einer bestimmten Art von Arbeit beschäftigt sind: kreativer oder künstlerischer Arbeit, Malen, Verse dichten, selbst die Lektüre von Shakespeare. Was dieses Gehirn in den Augenblicken macht, weiß ich noch nicht. Aber der Verstärker gibt mir die Möglichkeit, sie systematisch zu beobachten und damit irgendwann einmal auch zu analysieren.«

»Die Möglichkeit, daß die Maschine diesen Effekt erzeugt, ist ausgeschlossen?«

»Ja.« Tatsächlich hatte er einmal versucht, Orrs Gehirn mit dem Wiederabspielen einer dieser Peackurven zu stimulieren, aber der Traum, der diesem Experiment folgte, war zusammenhanglos gewesen, ein Mischmasch aus dem vorherigen Traum, bei dem der Verstärker den Peak aufgenommen hatte, und dem gegenwärtigen. Aber es hätte keinen Sinn, unschlüssige Experimente zu erwähnen. »Jetzt, wo er schon mitten in seinem Traum ist, schalte ich den Verstärker ab. Achten Sie darauf, ob Sie erkennen können, wann ich den Input unterbreche.« Sie konnte es nicht. »Er könnte dennoch einen Geistesblitz für uns zustande bringen; behalten Sie die Kurven im Auge. Sie bemerken ihn vielleicht zuerst am Thetarhythmus da, vom Ammonshorn. Wenn ich herausfinde, welche anderen Gehirne in welchen Stadien dieses Phänomen aufweisen, kann ich vielleicht wesentlich exakter bestimmen, wo das Problem dieses Subjekts liegt, es könnte einen psychologischen oder neurophysiologischen Typ geben, dem es angehört. Begreifen Sie jetzt die Forschungsmöglichkeiten des Verstärkers? Und er hat keine andere Nebenwirkung auf den Patienten, abgesehen davon, daß er sein Gehirn vorübergehend in eben die ganz normalen Stadien versetzt, die der Arzt untersuchen möchte. Sehen Sie da!« Sie bekam den Peak natürlich nicht mit; es erforderte Übung, EEG-Kurven zu lesen, die über einen Monitor huschten. »Er hat sein Pulver verschossen. Träumt aber immer noch … Bald wird er uns davon erzählen.« Er konnte nicht weitersprechen. Sein Mund war trocken geworden. Er spürte es: den Wechsel, die Ankunft, die Veränderung.

Die Frau spürte es auch. Sie sah furchtsam aus. Sie hielt die schwere Messinghalskette wie einen Talisman an den Hals und betrachtete von Angst, Schock und Grauen gepackt das Panorama vor dem Fenster.

Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, daß er als einziger die Veränderung bemerken würde.

Aber sie hatte gehört, wie er Orr gesagt hatte, was er träumen sollte; sie hatte neben dem Träumenden gestanden; sie war wie er im Zentrum gewesen. Und wie er hatte sie sich zum Fenster umgedreht und sah die Türme verschwinden, die wie ein Traum verblaßten, ohne eine Spur zu hinterlassen, sah die substanzlosen Meilen der Vorstädte wie Rauch im Wind vergehen, sah die Stadt Portland, die vor den Jahren des Schwarzen Todes eine Bevölkerungszahl von einer Million Menschen gehabt hatte, heute jedoch, zur Zeit des Wiederaufbaus, nur noch rund hunderttausend zählte und wie alle Städte Amerikas ein Durcheinander und ein Chaos bildete, aber durch die Berge und den nebelverhangenen Fluß mit seinen sieben Brücken zusammengehalten wurde, sah das alte zweiundvierzigstöckige Hochhaus der First National Bank, das die Silhouette der Innenstadt beherrschte, und weit dahinter, über allem, die majestätischen und fahlen Berge …

Sie sah, wie es passierte. Und ihm wurde klar, er hatte nie im Leben damit gerechnet, daß die Inspektorin des Gesundheitsamts es sehen würde. Das schien nicht möglich zu sein, er hatte keinen Gedanken daran verschwendet. Und das wiederum bedeutete, daß er selbst nicht an die Veränderung, an die Wirkung von Orrs Träumen geglaubt hatte. Obwohl er es mittlerweile bestürzt, furchtsam, aufgeregt schon ein Dutzend Mal gespürt, gesehen hatte; obwohl er miterlebt hatte, wie aus dem Pferd ein Berg wurde (wenn man beobachten kann, wie eine Realität mit der anderen überlappt); obwohl er die wirkungsvolle Kraft von Orrs Träumen jetzt schon seit fast einem Monat auf die Probe stellte und ausnutzte, hatte er nicht an das geglaubt, was da geschah.

Den ganzen heutigen Tag, seit seiner Ankunft bei der Arbeit, hatte er nicht einen einzigen Gedanken an die Tatsache verschwendet, daß er vor einer Woche nicht der Direktor des Oneirologischen Instituts von Oregon gewesen war, weil es gar kein Institut gegeben hatte. Seit letztem Freitag existierte das Institut jetzt achtzehn Monate. Und er war sein Gründer und Direktor. Und weil das so war — für ihn, für alle Mitarbeiter, für seine Kollegen an der Uniklinik und den Staat, der es förderte —, hatte er es, genau wie sie, ganz und gar als die einzige Realität akzeptiert. Er hatte seine Erinnerungen an die Tatsache unterdrückt, daß es bis zum letzten Freitag nicht so gewesen war.

Das war Orrs bei weitem erfolgreichster Traum gewesen. Er hatte in der alten Praxis auf der anderen Seite des Flusses seinen Anfang genommen, unter diesem verdammten Wandbild des Mount Hood, und in diesem Büro sein Ende gefunden … und er war dabei gewesen, hatte gesehen, wie sich die Wände um ihn herum veränderten, hatte gewußt, daß die Welt neu geschaffen wurde, und hatte es wieder vergessen. Er hatte es so gründlich vergessen, daß er sich nie gefragt hatte, ob eine Fremde, eine dritte Person, dasselbe Erlebnis haben könnte.

Welche Auswirkungen würde es auf die Frau haben? Würde sie es begreifen, würde sie den Verstand verlieren, was würde sie tun? Würde sie, so wie er, beide Erinnerungen behalten, die wahre und die neue?

Das durfte sie nicht. Sie würde sich einmischen, würde noch mehr Beobachter ins Spiel bringen, das Experiment gründlich verderben, seine Pläne zunichte machen.

Er würde sie um jeden Preis daran hindern. Er drehte sich gewaltbereit und mit geballten Fäusten zu ihr um.

Sie stand nur da. Ihre braune Haut war blaß geworden, ih Mund stand offen. Sie war benommen. Sie konnte nicht glauben, was sie vor dem Fenster gesehen hatte. Sie konnte es nicht glauben und glaubte es nicht.

Habers extreme körperliche Anspannung ließ ein wenig nach. Wenn er sie ansah, war er ziemlich sicher, daß sie in ihrer Verwirrung und ihrem Trauma harmlos sein würde. Dennoch mußte er schnellstens handeln.

»Er wird jetzt eine Weile schlafen«, sagte er; seine Stimme hörte sich beinahe normal an, wenn auch ein wenig heiser, weil seine Halsmuskulatur so verkrampft war. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, plapperte aber weiter munter drauflos; was auch immer erforderlich sein würde, um den Bann zu brechen. »Ich versetze ihn jetzt in eine kurze Phase orthodoxen Schlafs. Aber nicht zu lange, sonst ist seine Erinnerung an den Traum vage. Eine schöne Aussicht, nicht wahr? Diese Ostwinde, die wir haben, sind ein Geschenk des Himmels. Im Herbst und Winter kann ich die Berge manchmal monatelang nicht sehen. Aber wenn sich die Wolken verziehen, dann sind sie da. Ein herrliches Land, Oregon. Der unberührteste Bundesstaat. Wurde vor dem Zusammenbruch nicht so sehr ausgebeutet. Portlands Wachstum begann erst in den späten siebziger Jahren. Wurden Sie in Oregon geboren?«

Nach einer Minute nickte sie benommen. Der sachliche Tonfall seiner Stimme drang allmählich zu ihr durch, wenn auch sonst nichts.

»Ich stamme eigentlich aus New Jersey. Dort war es schrecklich während meiner Kindheit, wegen der Umweltverschmutzung. Es ist unglaublich, wieviel nach dem Zusammenbruch an der Ostküste abgerissen und wieder aufgeforstet werden mußte und noch wird. Hier draußen hatten Überbevölkerung und eine verfehlte Umweltpolitik noch keine so gravierenden Schäden angerichtet, außer in Kalifornien. Das Ökosystem von Oregon war noch intakt.« Es war gefährlich, dieses unverblümte Gespräch über das kritische Thema, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein: er handelte wie unter einem Zwang. Sein Kopf war zu voll, er enthielt zwei verschiedene Erinnerungen, zwei vollständige Informationssysteme: eines der (nicht mehr) realen Welt mit einer Weltbevölkerung von knapp sieben Milliarden, die wie eine geometrische Reihe anwuchs, und eines der (jetzt) realen Welt mit einer Bevölkerung von nicht einmal einer Milliarde, die sich immer noch nicht stabilisiert hatte.

Mein Gott, dachte er, was hat Orr getan?

Sechs Milliarden Menschen.

Wo sind die?

Aber die Anwältin durfte nichts merken. Das durfte sie nicht. »Schon mal im Osten gewesen, Miss Lelache?«

Sie sah ihn vage an. »Nein«, sagte sie.

»Wozu auch. New York ist ohnehin dem Untergang geweiht, und Boston; die Zukunft dieses Landes liegt jedenfalls hier. Dies hier ist der Wachstumskern. Hier geht die Post ab, wie man zu sagen pflegte, als ich noch ein Kind war! Ich habe mich übrigens gefragt, ob Sie Dewey Furth vom hiesigen Gesundheitsamt persönlich kennen.«

»Ja«, sagte sie, immer noch wie belemmert, aber allmählich reagierte und verhielt sie sich so, als wäre nichts geschehen. Ein regelrechter Krampf der Erleichterung lief durch Habers Körper. Plötzlich wollte er sich setzen, tief durchatmen. Die Gefahr war überstanden. Sie lehnte das unglaubliche Erlebnis ab. Sie fragte sich gerade: Was ist mit mir los? Warum, um alles in der Welt, habe ich aus dem Fenster gesehen und geglaubt, ich würde eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern sehen? Habe ich einen Anfall von geistiger Verwirrung gehabt?

Natürlich, dachte Haber, würde ein Mann, der ein Wunder gesehen hat, seinen Augen nicht trauen, wenn alle in seiner unmittelbaren Nähe nichts gesehen hätten.

»Es ist stickig hier drin«, sagte er mit einem Hauch Besorgnis in der Stimme und ging zu dem Thermostat an der Wand. »Ich sorge für Wärme; alte Gewohnheit von Schlafforschern; die Körpertemperatur sinkt im Schlaf, und man hat es nicht so gern, wenn sich ein Subjekt oder ein Patient eine Erkältung holt. Aber diese Elektroheizung ist zu gut, sie macht zu warm, dann wird mir ganz plümerant … Er müßte jetzt bald aufwachen.« Aber er wollte nicht, daß sich Orr zu deutlich an seinen Traum erinnern, daß er ihn wiedergeben und das Wunder bestätigen konnte. »Ich glaube, ich lasse ihn noch eine Weile schlafen, mir liegt nicht soviel daran, daß er sich genau an seinen Traum erinnert, und im Augenblick befindet er sich im dritten Schlafstadium. Lassen wir ihn da, während wir unser Gespräch fortsetzen. Wollten Sie sonst noch etwas von mir wissen?«

»Nein. Nein, ich glaube nicht.« Ihre Armreife klirrten unsicher. Sie blinzelte und versuchte, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. »Wenn Sie eine detaillierte Beschreibung Ihrer Maschine hier, ihrer Funktionen und ihrer aktuellen Anwendung, sowie alle Resultate an Mr. Furths Büro schicken, müßte die Angelegenheit eigentlich erledigt sein … Haben Sie ein Patent für das Gerät?«

»Es ist angemeldet.«

Sie nickte. »Könnte lukrativ sein.« Sie war leise klirrend und scheppernd zu dem schlafenden Mann gegangen, und jetzt blickte sie mit einem seltsamen Ausdruck ihres schmalen, braunen Gesichts auf ihn hinab.

»Sie haben einen merkwürdigen Beruf«, sagte sie unvermittelt. »Träume; die Funktion der Gehirne anderer Menschen beobachten; ihnen befehlen, was sie träumen sollen … ich nehme an, daß Sie einen großen Teil Ihrer Forschungen nachts durchführen?«

»Früher. Der Verstärker kann uns einen Teil davon abnehmen; wenn wir ihn einsetzen, bekommen wir jederzeit genau den Schlaf, den wir haben möchten. Aber vor ein paar Jahren gab es eine Zeit, da kam ich dreizehn Monate lang keinen Tag vor sechs Uhr morgens ins Bett.« Er lachte. »Heute prahle ich damit. Mein Rekord. Inzwischen übernimmt mein Personal den größten Teil der Nachtschicht. Das sind die kleinen Vorteile des Alters.«

»Schlafende Menschen sind so entrückt«, sagte sie und sah Orr immer noch an. »Wo sind sie …?«

»Genau hier«, sagte Haber und klopfte auf den EEG-Monitor. »Genau hier, aber kommunikationsunfähig. Das kommt den Menschen am Schlaf so unheimlich vor. Seine vollkommene Abgeschiedenheit. Der Schlafende kehrt allen den Rücken zu. ›Das Mysterium des Individuums ist im Schlaf am ausgeprägtesten‹ hat ein Autor in meinem Fachgebiet geschrieben. Aber natürlich ist ein Mysterium lediglich ein Problem, das wir noch nicht gelöst haben! … Jetzt müßte er aufwachen. George … George … wachen Sie auf, George.«

Und er erwachte wie immer, rasch, wechselte ohne Stöhnen, stiere Blicke oder Benommenheit von einem Stadium ins andere. Er setzte sich auf und sah zuerst Miss Lelache an, dann Haber, der ihm gerade die Trancekappe vom Kopf gezogen hatte. Er stand auf, streckte sich ein wenig und ging zum Fenster. Dort blieb er stehen und blickte hinaus.

Die Haltung seiner schmächtigen Gestalt hatte etwas einzigartig Zwingendes, fast Monumentales. Er stand vollkommen still, so still wie das Auge eines Sturms. Sowohl Haber wie auch die Frau fühlten sich ertappt und sagten kein Wort.

Orr drehte sich um und sah Haber an.

»Wo sind sie?« fragte er. »Wo sind sie alle hin?«

Haber sah, wie die Augen der Frau groß wurden, sah die Anspannung in ihr aufsteigen und erkannte die Gefahr. Reden, er mußte reden! »Wie ich dem EEG entnehmen kann«, sagte er und hörte seine Stimme tief und herzlich ertönen, genau wie er es wollte, »haben Sie gerade einen außerordentlich emotionalen Traum gehabt, George. Er scheint beängstigend gewesen zu sein; tatsächlich könnte man vermutlich fast von einem Alptraum sprechen. Der erste ›böse‹ Traum, den Sie hier hatten. Richtig?«

»Ich träumte vom Schwarzen Tod«, sagte Orr; er erschauerte von Kopf bis Fuß, als würde ihm übel.

Haber nickte. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Mit der ihm eigenen Fügsamkeit, seiner Angewohnheit, stets das Gewohnheitsmäßige und Akzeptable zu machen, folgte ihm Orr und nahm auf dem für Gesprächspartner und Patienten reservierten Ledersessel Platz.

»Sie mußten einen großen Brocken bewältigen, und es war nicht einfach, ihn zu bewältigen. Richtig? Es war das erste Mal, George, daß ich Sie eine echte Angst im Traum erleben ließ. Diesmal haben Sie sich, unter meiner Anleitung und wie in der Hypnose suggeriert, mit einem der tieferen Elemente Ihrer psychischen Malaise auseinandergesetzt. Die Vorgehensweise war weder leicht noch angenehm. Der Traum ist regelrecht die Hölle gewesen, nicht wahr?«

»Erinnern Sie sich an die Jahre des Schwarzen Todes?« erkundigte sich Orr, nicht aggressiv, aber mit einer Spur von etwas Ungewöhnlichem in seiner Stimme: Sarkasmus? Und er drehte sich zu der Lelache um, die sich in ihrem Sessel in der Ecke verkrochen hatte.

»Ja, ich erinnere mich. Ich war bereits ein erwachsener Mann, als die erste Epidemie ausbrach. Ich war zweiundzwanzig, als in Rußland zum erstenmal öffentlich bekanntgegeben wurde, daß chemische Verunreinigungen in der Atmosphäre im Zusammenspiel virulente Karzinogene bildeten. Am nächsten Abend veröffentlichten sie die Krankenhausstatistiken von Mexico City. Dann rechneten sie die Inkubationszeit hoch, und alle fingen an zu zählen. Warteten. Es gab Unruhen, Sex-Orgien, die Bande des Jüngsten Gerichts und die Vigilanten. Meine Eltern starben in diesem Jahr. Meine Frau im nächsten Jahr. Meine beiden Schwestern und deren Kinder danach. Alle, die ich kannte.« Haber breitete die Hände aus. »Ja, ich erinnere mich an diese Jahre«, sagte er mit schwerer Stimme. »Wenn es sein muß.«

»Wenigstens haben sie damit das Problem der Überbevölkerung gelöst, nicht?« fragte Orr, und diesmal war der Unterton unüberhörbar. »Wir haben es wirklich geschafft.«

»Ja. So ist es. Es gibt keine Überbevölkerung mehr. Gab es eine andere Lösung, abgesehen von einem Atomkrieg? Es gibt keine ewigen Hungersnöte mehr in Südamerika, Afrika und Asien. Wenn die Transportwege wieder ganz hergestellt sind, wird es nicht ein mal mehr die Enklaven des Hungers geben, die jetzt noch existieren. Sie sagen, ein Drittel der Menschheit geht abends immer noch hungrig zu Bett; aber 1980 waren es zweiundneunzig Prozent. Es gibt keine Überschwemmungen mehr im Ganges, weil sie die Leichen der Verhungerten dort aufstapeln. Unter den Kindern der Arbeiterklasse von Portland, Oregon, gibt es keine Proteinunterversorgung und keine Mangelkrankheiten mehr. Wie es vor dem Zusammenbruch gang und gäbe war.«

»Der Schwarze Tod«, sagte Orr.

Haber beugte sich über seinen großen Schreibtisch nach vorn. »George. Sagen Sie mir eines. Gibt es noch eine Überbevölkerung?«

»Nein«, sagte der Mann. Haber hatte das Gefühl, als würde Orr lachen und wich ein wenig verzagt zurück; dann wurde ihm klar, daß Tränen den Augen Orrs dieses eigentümliche Funkeln verliehen. Er war zum Zerreißen gespannt. Um so besser. Wenn er jetzt einen Nervenzusammenbruch hatte, wäre die Anwältin noch weniger geneigt, ihm zu glauben, wenn er etwas sagte, das mit dem übereinstimmte, woran sie sich möglicherweise noch erinnerte.

»Aber, George, vor einer halben Stunde waren sie noch zutiefst besorgt, ängstlich, weil Sie glaubten, daß Überbevölkerung eine aktuelle Bedrohung für unsere Zivilisation und das gesamte irdische Ökosystem darstellte. Also ich erwarte nicht, daß diese Angst verschwunden ist, keineswegs. Aber ich glaube, ihre Qualität hat sich verändert, da Sie sie im Traum durchlebt haben. Ihnen ist jetzt klar, daß sie nicht in der Realität verwurzelt ist. Die Angst existiert noch, aber mit diesem Unterschied: Sie wissen jetzt, daß sie irrational ist — daß sie einem inneren Zwang entspringt, nicht der äußeren Realität. Also das ist ein Anfang. Ein guter Anfang. Wir haben verdammt viel erreicht mit einer einzigen Sitzung, mit nur einem Traum! Begreifen Sie das? Jetzt haben Sie einen Ansatzpunkt, mit dem Sie diese ganze Sache aushebeln können. Sie haben Macht über etwas, das die ganze Zeit Macht über Sie hatte, Sie zerquetschte, so daß Sie sich beengt und eingezwängt fühlten. Von jetzt an wird es ein fairerer Kampf sein, weil Sie ein freierer Mann sind. Fühlen Sie es nicht? Fühlen Sie sich jetzt schon nicht mehr ganz so eingeengt?«

Orr sah ihn an, dann wieder die Anwältin. Er sagte nichts.

Es folgte eine längere Pause.

»Sie wirken bedrückt«, sagte Haber, ein verbales Schulterklopfen. Er wollte Orr beruhigen, ihn in seinen normalen gefügigen Zustand zurückversetzen, in dem ihm der Mut fehlte, in Anwesenheit einer dritten Person etwas über die Kraft seiner Träume zu sagen; oder dafür sorgen, daß er richtig zusammenbrach und sich ganz offenkundig abnormal verhielt. Aber er tat ihm weder den einen noch den anderen Gefallen. »Wenn nicht eine Beobachterin vom Gesundheitsamt in der Ecke säße, würde ich Ihnen einen Schluck Whisky anbieten. Aber wir verwandeln die Therapiesitzung lieber nicht in ein Zechgelage, oder?«

»Wollen Sie den Traum nicht hören?«

»Wenn Sie möchten.«

»Ich habe sie begraben. In einem dieser großen Massengräber … Ich arbeitete beim Bestattungskorps, als ich sechzehn war und meine Eltern sich angesteckt hatten … Aber in dem Traum waren alle nackt und sahen aus, als ob sie verhungert wären. Bergeweise. Ich mußte sie alle begraben. Ich suchte nach Ihnen, aber Sie waren nicht dabei.«

»Nein«, sagte Haber beruhigend. »Ich bin bisher nicht in Ihren Träumen vorgekommen, George.«

»Oh, doch. Mit Kennedy. Und als Pferd.«

»Ja; ganz am Anfang der Therapie«, sagte Haber und ging darüber hinweg. »Also hat dieser Traum auf tatsächliches Gedächtnismaterial aus Ihrer Erfahrung zurückgegriffen —«

»Nein. Ich habe nie jemanden begraben. Niemand starb am Schwarzen Tod. Es gab keinen Schwarzen Tod. Das entspring allein meiner Phantasie. Ich habe es geträumt.«

Verdammt, der dumme kleine Trottel! Er war außer Kontrolle. Haber legte den Kopf schief und wahrte ein tolerantes Schweigen der Nichteinmischung; mehr konnte er nicht tun, denn eine drastische Intervention hätte die Anwältin vielleicht mißtrauisch gemacht.

»Sie sagten, Sie erinnern sich an den Schwarzen Tod; aber erinnern Sie sich nicht auch daran, daß es keinen Schwarzen Tod gab, daß niemand an Umweltkrebs starb, daß die Bevölkerungszahl einfach immer weiter anstieg? Nicht? Daran erinnern Sie sich nicht? Wie ist es bei Ihnen, Miss Lelache — verfügen Sie über beide Erinnerungen?«

Daraufhin stand Haber auf. »Tut mir leid, George, aber ich kann nicht zulassen, daß Sie Miss Lelache da mit hineinziehen. Sie ist nicht qualifiziert. Es wäre unangemessen, daß sie Ihnen antwortet. Dies ist eine psychiatrische Sitzung. Sie ist hier, um den Verstärker zu begutachten, weiter nichts. Darauf muß ich bestehen.«

Orr war kalkweiß; die Wangenknochen seines Gesichts standen vor. Er saß da und schaute zu Haber auf. Er sagte nichts.

»Wir haben hier ein Problem, und ich fürchte, das läßt sich nur auf eine Weise lösen. Den gordischen Knoten zerschlagen. Nichts für ungut, Miss Lelache, aber wie Sie sehen können, sind Sie selbst das Problem. Wir befinden uns einfach in einem Stadium, in dem unser Dialog kein drittes Mitglied verträgt, auch wenn es sich selbst nicht einmischt. Am besten blasen wir die ganze Sache einfach ab. Auf der Stelle. Morgen nachmittag um sechzehn Uhr machen wir weiter. Okay, George?«

Orr stand auf, ging aber nicht zur Tür. »Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, Dr. Haber«, sagte er ieise, aber ein wenig stotternd, »daß es noch andere Menschen geben könnte, die wie ich träumen? Daß die Realität andauernd unter uns verändert, ersetzt, erneuert wird — aber wir bemerken es nicht? Nur der Träumende weiß es, und diejenigen, die seinen Traum kennen. Wenn das stimmt, können wir uns vermutlich glücklich schätzen, daß wir es nicht wissen. Das alles ist auch so verwirrend genug.«

Mit freundlichen, unverbindlichen, tröstenden Worten komplementierte Haber ihn zur Tür und hinaus.

»Sie haben eine Krisensitzung miterlebt«, sagte er zu der Lelache und machte die Tür hinter sich zu. Er wischte sich die Stirn ab, ließ seine Miene und seinen Tonfall Erschöpfung und Besorgnis ausdrücken. »Puh! Was für ein Tag, um eine Inspektorin des Gesundheitsamts hier zu haben!«

»Es war überaus interessant«, sagte sie, und ihre Armreife schwatzten ein wenig.

»Es ist kein hoffnungsloser Fall«, sagte Haber. »Eine Sitzung wie diese macht auf mich einen verdammt entmutigenden Eindruck. Aber er hat eine Chance, eine echte Chance, aus diesem Netz der Wahnvorstellungen, in dem er gefangen ist, herauszufinden, dieser schrecklichen Angst vor dem Träumen. Das Problem ist, es handelt sich um ein komplexes Netz und einen recht intelligenten Verstand, der darin verstrickt ist; er wirkt nur allzu schnell neue Netze, in denen er sich selbst einfangen kann … Hätte man ihn doch nur vor zehn Jahren schon hergeschickt; als er noch unter zwanzig war; aber natürlich hatte der Wiederaufbau vor zehn Jahren noch kaum angefangen. Oder auch nur vor einem Jahr, bevor er begann, seine Realitätsorientierung mit Hilfe von Medikamenten zu zerstören. Aber er versucht es immer wieder; und vielleicht gelingt es ihm ja doch noch, eine vernünftige Realitätsanpassung zu erreichen.«

»Aber Sie sagten, er sei nicht psychotisch«, bemerkte die Lelache mit einem leicht zweifelnden Unterton.

»Korrekt. Ich sagte geistesgestört. Wenn er zusammenbricht, dann wird er natürlich vollkommen zusammenbrechen, vermutlich in Richtung katatonische Schizophrenie. Eine geistesgestörte Person ist nicht weniger anfällig für eine Psychose als eine normale.« Er konnte nicht mehr sprechen, die Worte verdorrten ihm auf der Zunge und verwandelten sich in sinnlose trockene Hülsen. Ihm schien, als würde er schon seit Stunden eine wahre Sturzflut sinnloser Worte ausspucken und hätte keinerlei Kontrolle mehr darüber. Glücklicherweise hatte Miss Lelache offenbar auch genug davon; sie schepperte, klirrte, schüttelte ihm die Hand, ging.

Haber ging zuerst zu dem Tonbandgerät, das in einem Wandpaneel hinter der Couch verborgen war und mit dem er sämtliche Therapiesitzungen aufzeichnete: Rekorder ohne Warnsignal waren ein spezielles Privileg von Psychotherapeuten und dem Geheimdienst. Er löschte die Aufzeichnung der vergangenen Stunde.

Er setzte sich auf den Sessel hinter dem großen Schreibtisch aus Eichenholz, machte die unterste Schublade auf, holte eine Flasche und ein Glas heraus und schenkte sich eine kräftige Dosis Bourbon ein. Großer Gott, vor einer halben Stunde hatte es keinen Bourbon gegeben — seit zwanzig Jahren nicht mehr! Getreide war, da es sieben Milliarden Mäuler zu stopfen galt, viel zu kostbar gewesen, um Alkohol daraus zu brennen. Es gab nichts anderes als Pseudobier oder (für einen Arzt) absoluten Alkohol; das war die Flasche in seinem Schreibtisch noch vor einer Stunde gewesen.

Er trank die Hälfte der Dosis in einem Schluck, dann hielt er inne. Er sah zum Fenster. Nach einer Weile stand er auf, ging zum Fenster und ließ den Blick über die Dächer und Bäume schweifen. Einhunderttausend Seelen. Der Abend senkte sich über den stillen Fluß und ließ ihn verschwinden, aber die Berge ragten gewaltig und deutlich und fern im schrägen Sonnenschein der Höhen.

»Auf eine bessere Welt!« sagte Dr. Haber, prostete seiner Schöpfung mit dem Glas zu und trank den Whisky mit einem weiteren genüßlichen, lang anhaltenden Schluck leer.

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