7

Tagtraum, der sich zum Denken verhält wie der Spiralnebel zum Stern, grenzt an den Schlaf und erforscht diese Grenze. Eine von lebendigen Transparenzen bewohnte Atmosphäre: der Beginn des Unbekannten. Doch dahinter tut sich unermeßlich das Mögliche auf. Andere Wesen, andere Fakten sind da. Nicht das Übernatürliche, nur die okkulte Fortsetzung der unendlichen Natur … Schlaf steht in Verbindung mit dem Möglichen, das wir auch das Unwahrscheinliche nennen. Die Welt der Nacht ist eine Welt. Nacht, als Nacht, ist ein Universum … Die dunklen Dinge der unbekannten Welt werden Nachbarn des Menschen, ob durch wahre Kommunikation oder eine visionäre Vergrößerung der Entfernungen des Abgrunds … und der Schläfer, der nicht ganz sieht, nicht ganz bei Bewußtsein ist, erblickt fremde Fauna, unheimliche Vegetationen, schreckliche oder strahlende Blässe, Gespenster, Masken, Gestalten, Hydren, Verwirrungen, Mondschein ohne Mond, obskure Vernichtung von Wundern, Wachstum und Vergehen in einer trüben Tiefe, im Schatten schwebende Formen, das ganze Mysterium, das wir Träumen nennen und das nichts anderes ist als das Näherrücken einer unsichtbaren Realität. Der Traum ist das Aquarium der Nacht.

Victor Hugo, Travailleurs de la mer


Am dreißigsten März um 14:10 Uhr konnte man Heather Lelache sehen, wie sie Dave’s Fine Foods in der Ankeny Street verließ und mit einer großen schwarzen Handtasche mit Messingverschluß und einem Regenmantel aus rotem Vinyl angetan auf der Fourth Avenue nach Süden ging. Hütet euch vor dieser Frau. Sie ist gefährlich.

Nicht, daß ihr besonders viel daran gelegen häte, diesen armseligen, verdammten Psychopathen zu sehen, aber, Scheiße, sie stand nicht gern wie eine Idiotin vor Kellnern da. Besetzte mitten im dicksten Mittagstrubei eine halbe Stunde lang einen Tisch — »Ich warte auf jemanden.« — »Tut mir leid, ich warte auf jemanden.« — und es kommt niemand und es kommt niemand, und so mußte sie schließlich bestellen und das Zeug in großer Hast hinunterschlingen, und jetzt würde sie Sodbrennen bekommen. Zusätzlich zu Zorn, Verbitterung und gekränkter Eitelkeit. Oh, die Geschlechtskrankheiten der Seele.

Sie bog nach links in die Morrison Street ein und blieb unvermittelt stehen. Was hatte sie hier verloren? Das war nicht der Weg zu Forman, Esserbeck und Rutti. Hastig kehrte sie mehrere Straßenblocks nach Norden zurück, überquerte die Ankeny, kam zur Burnside und blieb wieder stehen. Was, zum Teufel, wollte sie hier?

Sie ging zu dem umgebauten Parkhaus 209 S. W. Burnside. Welches umgebaute Parkhaus? Ihr Büro befand sich im Pendleton Building, Portlands erstem Bürohochhaus nach dem Zusammenbruch, in der Morrison. Fünfzehn Stockwerke, Neo-Inka-Stil. Was für ein umgebautes Parkhaus, wer, zum Teufel, arbeitete in einem umgebauten Parkhaus?

Sie ging weiter die Burnside hinab und sah sich um. Tatsächlich, da war es. Ringsum von Zutritt-Verboten-Schildern umgeben.

Ihr Büro lag da oben im dritten Stock.

Während sie auf dem Bürgersteig stand und an dem leerstehenden Gebäude mit den merkwürdigen, leicht schrägen Stockwerken und schmalen Fensterscharten hinaufsah, fühlte sie sich wahrlich seltsam. Was war vergangenen Freitag während der psychiatrischen Sitzung tatsächlich vor sich gegangen?

Sie mußte den kleinen Pisser wiedersehen. Mr. Orr, sieh dich vorr. Er hatte sie beim Mittagessen versetzt, na und, sie hatte trotzdem noch ein paar Fragen an ihn. Sie schritt nach Süden aus, klick, klack, und mit den Scheren schnappend, zum Pendleton Building, und rief ihn von ihrem Büro aus an. Zuerst bei Bradford Industries (nein, Mr. Orr hat sich heute nicht sehen lassen, nein, er hat auch nicht angerufen), dann in seiner Residenz (Rring. Rring. Rring).

Vielleicht sollte sie wieder Dr. Haber anrufen. Aber der war so eine große Nummer als Leiter seines Palasts der Träume dort droben auf dem Hügel. Und überhaupt, was dachte sie sich eigentlich? Haber sollte nicht wissen, daß Orr kein Unbekannter für sie war. Wenn ein Lügner eine Grube gräbt, fällt er mit seinen kurzen Beinen selbst hinein. Eine Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verfängt.

An diesem Abend ging Orr weder um sieben noch um neun, noch um elf Uhr ans Telefon. Am Dienstagmorgen arbeitete er nicht, und am Dienstagnachmittag um vierzehn Uhr auch nicht. Um sechzehn Uhr dreißig verließ Heather Lelache die Kanzlei von Forman, Esserbeck und Rutti, fuhr mit der Straßenbahn zur Whiteaker Street, ging den Hügel hinauf zur Corbett Avenue, fand das Haus, läutete an der Tür: einer von sechs schon unendlich oft gedrückten Klingelknöpfen in einer abgegriffenen kurzen Reihe am abblätternden Rahmen der Ornamentglastür eines Hauses, das 1905 oder 1892 jemandes ganzer Stolz gewesen war, seither jedoch harte Zeiten durchgemacht hatte, aber gefaßt und mit einer gewissen schäbigen Würde dem Verfall entgegendämmerte. Keine Reaktion, als sie Orrs Klingel betätigte. Sie läutete bei M. Ahrens, Hausmeister. Zweimal. Hausmeister kam, reagierte zuerst recht unwillig. Aber wenn die Schwarze Witwe eines beherrschte, dann war es, Insekten einzuschüchtern, die in der Nahrungskette unter ihr standen. Hausmeister ging mit ihr nach oben und versuchte sein Glück an Orrs Tür. Die Tür ging auf. Er hatte sie nicht abgeschlossen gehabt.

Sie wich einen Schritt zurück. Urplötzlich argwöhnte sie, daß drinnen ein Toter liegen könnte. Und es war nicht ihre Wohnung.

Hausmeister scherte sich wenig um Privateigentum, marschierte hinein, und sie folgte ihm widerstrebend.

Die großen, alten und kargen Zimmer machten einen düsteren und unbenutzten Eindruck. Es kam ihr albern vor, daß sie gleich an den Tod gedacht hatte. Orr besaß nicht viel; sie sah weder die Schlampigkeit eines Junggesellen noch die penible Ordentlichkeit eines Junggesellen. Seine Persönlichkeit spiegelte sich in diesen Räumen kaum wider, und dennoch sah sie ihn hier wohnen, einen unauffälligen Mann, der ein unauffälliges Leben führte. Auf dem Tisch im Schlafzimmer stand ein Glas Wasser mit einem Strauß Heidekraut darin. Das Wasser war bis etwa zu einem Viertel des Glases verdunstet.

»Weesnich, wo er hinnegangen is«, sagte Hausmeister schroff und sah sie hilfesuchend an. »Glaumse, er hat n Unfall gehabt? So was?« Hausmeister trug noch die schaffellgefütterte Wildlederjacke mit Fransen, die Haartracht und das Wassermann-Symbol seiner Jugend: anscheinend hatte er die Kleidung seit dreißig Jahren nicht mehr gewechselt. Er sprach mit einem vorwurfsvollen Dylan-Näseln. Er roch sogar nach Marihuana. Einmal Hippie, immer Hippie.

Heather sah ihn freundlich an, denn sein Geruch erinnerte sie an ihre Mutter. »Vielleicht besucht er sein Ferienhaus an der Küste. Es ist nur so, ihm geht es nicht besonders gut, er befindet sich in staatlicher Therapie. Er bekommt Schwierigkeiten, wenn er dort nicht erscheint. Wissen Sie, wo diese Blockhütte liegt und ob er dort Telefon hat?«

»Weesnich.«

»Kann ich Ihr Telefon benutzen?«

»Nehmse seins«, sagte Hausmeister achselzuckend.

Sie rief einen Freund an, der bei der Verwaltung der Nationalparks von Oregon arbeitete, ließ ihn die vierunddreißig Blockhütten im Siuslaw-Nationalpark nachschlagen, die verlost worden waren, und sich den Weg beschreiben. Hausmeister hing herum und hörte mit, und als sie fertig war, sagte er: »Beziehungen, hm?«

»Kann ganz hilfreich sein«, antwortete die Schwarze Witwe klickernd.

»Hoffentlich finden Sie George. Ich mag den Bruder. Leiht sich meine Pharmaziekarte aus«, sagte Hausmeister und stieß unvermittelt ein schnaubendes Lachen aus, das sofort wieder verstummte. Als sich Heather verabschiedete, lehnte er mürrisch am abblätternden Rahmen der Eingangstür, wo er und das alte Haus einander gegenseitig Halt gaben.

Heather fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt, mietete bei Hertz einen Ford Steamer und fuhr auf der 99-W los. Sie fand Gefallen daran. Die Schwarze Witwe verfolgt ihre Beute. Warum war sie nicht Privatdetektivin geworden, statt eine gottverdammte dumme drittklassige Anwältin für Zivilrecht? Sie haßte die Juristerei. Man brauchte eine aggressive, rechthaberische Persönlichkeit dafür. Die hatte sie nicht. Sie hatte eine verstohlene, listige, schüchterne, schuppenartige Persönlichkeit. Sie hatte die Geschlechtskrankheiten der Seele.

Der Kleinwagen hatte die Stadt bald hinter sich gelassen, denn der Vorortstreifen, der sich einst meilenweit an den westlichen Highways entlang erstreckt hatte, existierte nicht mehr. In den achtziger Jahren, den Jahren des Schwarzen Todes, als in manchen Gebieten nicht ein Mensch von zwanzig am Leben blieb, waren die Vororte keine gute Gegend gewesen. Meilen vom Supermarkt entfernt, kein Benzin für das Auto, und die Doppelhaushälften im Rancherstil um dich herum voll von Toten. Keine Hilfe, kein Essen. Rudel halbwilder Hunde, ehedem Statussymbole — Windhunde, deutsche Schäferhunde, Bernhardiner —, streunten über die von Kletten und Kreuzkraut überwucherten Rasenflächen. Geborstene Panoramafenster. Wer sollte auch kommen und das in die Brüche gegangene Glas ersetzen? Die Menschen hatten sich in den alten Stadtkern zurückgezogen; und nachdem die Vororte geplündert waren, brannten sie. Wie Moskau 1812, Strafe Gottes oder Vandalismus: sie wurden nicht mehr gebraucht, darum brannten sie. Afterkreuzkraut, aus dem Bienen den köstlichsten Honig von allen machen, wuchs Hektar über Hektar dort, wo Kensington Homes West, Sylvan Oak Manor Estates und Valley Vista Park gewesen waren.

Die Sonne ging unter, als sie den Fluß Tualatin überquerte, der reglos wie Seide zwischen steilen, bewaldeten Ufern lag. Nach einer Weile ging der Mond auf, fast voll und gelb zu ihrer linken, da die Straße nach Süden führte. Sie reagierte besorgt, wenn sie ihn in Kurven über die Schulter betrachtete. Blickwechsel mit dem Mond waren nicht mehr angenehm. Er verkörperte nicht mehr das Unerreichbare, wie Jahrtausende lang, und auch nicht mehr das Errungene, wie in den vergangenen wenigen Jahrzehnten, sondern das Verlorene. Eine gestohlene Münze, die Mündung der eigenen Waffe, die auf einen selbst gerichtet wurde, ein rundes Loch im Gewebe des Himmels. Die Außerirdischen hielten den Mond besetzt. Ihr erster aggressiver Akt — durch den die Menschheit zum erstenmal auf ihre Anwesenheit im Sonnensystem aufmerksam wurde —, war der Angriff auf die Mondbasis und die schreckliche Ermordung der vierzig in der Kuppel stationierten Männer durch Ersticken gewesen. Und am selben Tag, zur selben Stunde, hatten sie die russische Raumstation zerstört, dieses seltsame, schöne, einem Distelsamen nicht unähnliche Gebilde in der Erdumlaufbahn, das den Russen als Sprungbrett zum Mars dienen sollte. Kaum zehn Jahre nach dem Abklingen der Seuche war die ruinierte Zivilisation der Menschheit wie Phönix aus der Asche auferstanden und hatte den Orbit, den Mond, den Mars erobert: und war auf das gestoßen. Formlose, sprachlose, grundlose Brutalität. Der einfältige Haß des Universums.

Die Straßen wurden nicht mehr so gut in Schuß gehalten wie damals, als der Highway noch König gewesen war; es gab unebene Stellen und Schlaglöcher. Aber Heather beschleunigte manchmal bis hart ans Tempolimit (70 kmh), während sie durch das breite Tal im Mondenschein fuhr, den Fluß Yamhill viermal überquerte, oder waren es fünf, passierte Dundee und Grand Ronde, ersteres ein bewohntes Dorf, letzteres eine Geisterstadt, so ausgestorben wie Karnak, und kam schließlich in die Berge, die Wälder. Van Duzer Waldstreifen, ein uraltes Straßenschild aus Holz: Land, das schon beizeiten vor dem Zugriff der Sägewerke gerettet worden war. Nicht alle Wälder Amerikas waren für Einkaufstüten, Holzhäuser und Dick Tracy am Sonntagmorgen geopfert worden. Ein paar gab es noch. Eine Abzweigung nach rechts: Siuslaw-Nationalpark. Und keine gottverdammte Baumschule, die nur aus Stümpfen und kümmerlichen Sprößlingen bestanden hätte. Riesige Schierlingstannen schwarz vor dem mondhellen Himmel.

Das Schild, das sie suchte, konnte man in der verästelten und farnigen Dunkelheit, die das fahle Licht der Autoscheinwerfer verschluckte, kaum erkennen. Sie bog abermals ab und holperte etwa eine Meile lang in Fahrrinnen und über Unebenheiten dahin, bis sie die erste Blockhütte sah, Mondlicht auf einem Schindeldach. Es war kurz nach acht Uhr.

Sie standen auf Parzellen, zehn bis zwölf Meter Abstand dazwischen; wenige Bäume waren geopfert worden, aber das Unterholz gelichtet, und als sie das Muster begriffen hatte, konnte sie die kleinen Dächer im Mondschein sehen, und auf der anderen Seite des Bachs eine entsprechende Anlage. Nur in einer der Hütten war ein Fenster erleuchtet. Ein Dienstagabend im Vorfrühling: nicht viele Feriengäste. Als sie die Autotür öffnete, registrierte sie erstaunt, wie laut der Bach tönte, ein kräftiges, unablässiges Rauschen. Ewige und unerschütterliche Lobpreisung! Sie fand den Weg zu der erleuchteten Blockhütte, stolperte nur zweimal in der Dunkelheit und betrachtete das Auto, das davor stand: ein Batteriewagen von Hertz. Na klar. Aber wenn nicht? Es könnte ein Fremder sein. Na ja, Scheiße, die würden sie nicht gleich fressen, oder? Sie klopfte.

Nach einer Weile klopfte Heather leise fluchend noch einmal. — Der Bach rauschte lautstark, der Wald hielt den Atem an.

Orr machte die Tür auf. Sein Haar hing strähnig und lockig herab, die Augen blickten blutunterlaufen, seine Lippen waren trocken. Er schaute sie blinzelnd an. Er sah verkommen und verwirrt aus. Sie hatte Todesangst vor ihm. »Sind Sie krank?« fragte sie schneidend.

»Nein, ich … Kommen Sie rein …«

Sie mußte eintreten. Zu dem Franklin-Ofen gehörte ein Schürhaken: damit konnte sie sich verteidigen. Natürlich konnte er auch sie damit angreifen, wenn er zuerst hinkam.

Oh, um Himmels willen, sie war fast so groß wie er und viel besser in Form. Feigling, Feigling. »Sind Sie high?«

»Nein, ich …«

»Sie was? Was ist los mit Ihnen?«

»Ich kann nicht schlafen.«

Die winzige Blockhütte roch herrlich nach Holzrauch und frischem Holz. Das Mobiliar bestand aus dem Franklin-Ofen mit zwei Kochplatten, einer Kiste voller Erlenscheite, einem Schrank, einem Tisch, einem Stuhl, einer Armeepritsche. »Setzen Sie sich«, sagte Heather. »Sie sehen schrecklich aus. Brauchen Sie was zu trinken oder einen Arzt? Ich habe Brandy im Auto. Oder kommen Sie besser mit mir, wir suchen in Lincoln City einen Arzt.«

»Mir geht es gut. Es ist nur murmel murmel müde.«

»Sie sagten, Sie können nicht schlafen.«

Er sah sie mit roten, gereizten Augen an. »Darf nicht. Habe Angst davor.«

»Oh Gott. Wie lange geht das schon so?«

»Murmel murmel Sonntag.«

»Sie haben seit Sonntag nicht mehr geschlafen?«

»Samstag?« sagte er fragend.

»Haben Sie was genommen? Hallowachtabletten?«

Er schüttelte den Kopf. »Hin und wieder bin ich kurz eingeschlafen«, sagte er einigermaßen deutlich, dann schien er einen Moment einzuschlafen, als wäre er neunzig. Doch dann wachte er unfaßbarerweise vor ihren Augen wieder auf und fuhr wie hellwach fort. »Sind Sie wegen mir hergekommen?«

»Weswegen sonst? Um Weihnachtsbäume zu fällen, Herrgott noch mal? Sie haben mich gestern beim Mittagessen versetzt.«

»Oh.« Er machte große Augen und versuchte offenkundig, sie zu sehen. »Tut mir leid«, sagte er, »ich bin nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.«

Als er das sagte, war er plötzlich wieder ganz der Alte, trotz seiner wirren Haare und Augen: ein Mann, dessen persönliche Würde so tief reichte, daß sie beinahe unsichtbar war.

»Schon gut. Mir egal! Aber Sie schwänzen die Therapie — oder nicht?«

Er nickte. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte er. Es war mehr als nur Würde. Integrität? Ganzheit? Wie ein Holzklotz, an dem noch niemand herumgeschnitzt hatte.

Die unendliche Möglichkeit, die unbegrenzte und untaugliche Ganzheit des Daseins des Unbeteiligten, des Nicht-Handelnden, des Ungeschnitzten: das Wesen, das, da es nichts ist als es selbst, alles ist.

Ganz kurz sah sie ihn so, und was sie an dieser Einsicht am meisten in Erstaunen setzte, war seine Stärke. Er war die stärkste Persönlichkeit, die sie je kennengelernt hatte, weil er nicht aus dem Zentrum entfernt werden konnte. Und darum mochte sie ihn. Sie fühlte sich zu Stärke hingezogen und folgte ihr wie die Motte dem Licht. Sie hatte als Kind viel Liebe erfahren, aber niemals Stärke, hatte niemals jemanden gehabt, auf den sie sich verlassen konnte: die Leute verließen sich auf sie. Dreißig Jahre hatte sie sich danach gesehnt, jemanden kennenzulernen, der sich nicht auf sie verließ, es nie würde, es nicht konnte …

Hier war er, kleinwüchsig, mit blutunterlaufenen Augen, psychotisch und in einem Versteck, ihr Fels in der Brandung.

Das Leben ist ein unglaubliches Schlamassel, dachte Heather. Man kann nie erraten, was als nächstes kommt. Sie zog den Mantel aus, während Orr eine Tasse aus dem Regalfach und Dosenmilch aus dem Schrank holte. Er brachte ihr eine Tasse starken Kaffee: 97 Prozent Koffein, 3 Prozent ohne.

»Für Sie keinen?«

»Hab schon zuviel getrunken. Ich bekomme Sodbrennen davon.«

Da verfiel sie ihm mit ganzem Herzen.

»Vielleicht einen Brandy?«

Er sah sie sehnsuchtsvoll an.

»Davon schlafen Sie nicht ein. Bringt Sie etwas auf Vordermann. Ich geh ihn holen.«

Er beleuchtete ihr den Weg zum Auto mit einer Taschenlampe. Der Bach rauschte, die Bäume verharrten schweigend, der Mond schien am Himmel — der Mond der Außerirdischen.

Wieder in der Hütte, schenkte Orr eine bescheidene Dosis des Brandy ein und kostete. Er erschauerte. »Das ist gut«, sagte er und trank das Glas leer.

Sie betrachtete ihn wohlwollend. »Ich habe immer ein Fläschchen bei mir«, sagte sie. »Ich hatte sie im Handschuhfach verstaut, denn wenn mich die Bullen angehalten hätten und ich meinen Führerschein hätte vorzeigen müssen, hätte sie in meiner Handtasche irgendwie merkwürdig ausgesehen. Sonst trage ich sie meistens bei mir. Komisch, ein-, zweimal im Jahr kommt sie wirklich gerade recht.«

»Darum haben Sie immer so eine große Handtasche dabei«, sagte Orr mit Brandystimme.

»Verdammt richtig! Ich glaube, ich gieße einen Schluck in meinen Kaffee. Vielleicht wird er dadurch etwas schwächer.« Sie füllte gleichzeitig sein Glas nach. »Wie haben Sie es geschafft, sechzig oder siebzig Stunden wach zu bleiben?«

»Ganz habe ich es nicht geschafft. Ich habe mich einfach nicht hingelegt. Man kann im Sitzen ein wenig schlafen, aber träumen kann man nicht richtig. Man muß liegen, um in die Traumschlafphase zu gelangen, damit sich die Muskeln entspannen können. Hab ich in Büchern gelesen. Das klappt ganz gut. Ich hatte noch keinen richtigen Traum. Wenn man sich nicht entspannen kann, wacht man wieder auf. Und in letzter Zeit bekam ich so eine Art Halluzinationen. Als würde etwas in den Wänden herumwuseln.«

»Sie können so nicht weitermachen.«

»Nein. Ich weiß. Aber ich mußte einfach weg. Von Haber.«

Eine Pause. Er schien wieder eine Phase der Benommenheit zu erleben. Dann lachte er auf eine recht alberne Weise. »Die einzige Lösung, die ich wirklich sehe«, sagte er, »wäre Selbstmord zu begehen. Aber das will ich nicht. Es scheint mir einfach nicht richtig zu sein.«

»Natürlich ist es nicht richtig!«

»Aber ich muß es irgendwie beenden. Jemand muß mich aufhalten.«

Sie konnte ihm nicht folgen und wollte es auch nicht. »Das ist ein hübsches Plätzchen«, sagte sie. »Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Holzrauch mehr gerochen.«

»Verpestet die Luft«, sagte er und lächelte kläglich. Er schien völlig im Eimer zu sein, aber ihr fiel auf, daß er sich kerzengerade in einer aufrecht sitzenden Haltung auf der Pritsche hielt und sich nicht einmal an der Wand anlehnte. Er blinzelte mehrmals. »Als Sie angeklopft haben«, sagte er, »dachte ich, es wäre ein Traum. Darum murmel murmel aufgemacht.«

»Sie haben gesagt, daß Sie sich diese Hütte geträumt haben. Ziemlich bescheiden für einen Traum. Warum haben Sie sich nicht ein Chalet am Strand von Salishan oder ein Schloß auf Kap Perpetua geträumt?«

Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Mehr wollte ich nicht.« Nach abermaligem Blinzeln fuhr er fort: »Was ist passiert. Was ist mit Ihnen passiert. Freitag. In Habers Büro. Die Sitzung.«

»Ich bin gekommen, um Sie das zu fragen.«

Das machte ihn wach. »Sie haben bemerkt —«

»Kann sein. Ich meine, ich weiß, daß etwas passiert ist. Seither versuche ich, mit einem Satz Reifen auf zwei verschiedenen Straßen zu fahren. Am Sonntag bin ich in meinem eigenen Apartment gegen die Wand gelaufen! Sehen Sie?« Sie zeigte ihm einen Bluterguß, fast schwarz unter brauner Haut, auf ihrer Stirn. »Die Mauer war jetzt da, aber sie war vorher nicht da gewesen … Wie können Sie damit leben, daß das andauernd so ist? Wie merken Sie sich, wo sich etwas befindet?«

»Gar nicht«, sagte Orr. »Ich bringe alles durcheinander. Wenn es schon passieren soll, dann soll es ganz sicher nicht so oft passieren. Es ist zuviel. Ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich den Verstand verliere oder nur die widersprüchlichen Informationen nicht mehr verarbeiten kann. Ich … es … Sie meinen, Sie glauben mir wirklich?«

»Was bleibt mir anderes übrig? Ich habe gesehen, was mit der Stadt passiert ist! Ich habe zum Fenster hinausgeschaut! Sie müssen nicht denken, daß ich es glauben will. Das will ich nicht, ich versuche, es nicht zu tun. Herrgott, es ist schrecklich. Aber dieser Dr. Haber, der wollte auch nicht, daß ich es glaube, richtig? Er hat mich regelrecht belabert. Aber dann, was Sie beim Aufwachen sagten; und als ich gegen Wände lief und zum falschen Büro gehen wollte … Und dann frage ich mich: Hat er seit Freitag wieder etwas geträumt, ist wieder alles anders geworden, aber ich weiß es nicht, weil ich nicht dabei gewesen bin, und ich frage mich, was sich alles verändert haben könnte und ob überhaupt noch irgend etwas real ist. Oh, Scheiße, es ist schrecklich.«

»So ist es. Hören Sie, Sie wissen doch über den Krieg Bescheid — den Krieg im Nahen Osten?«

»Na klar weiß ich Bescheid. Mein Mann ist dort gefallen.«

»Ihr Mann?« Er sah betroffen drein. »Wann?«

»Nur drei Tage vor dem Ende. Zwei Tage vor der Konferenz von Teheran und dem Pakt zwischen den USA und China. Einen Tag, nachdem die Außerirdischen die Mondbasis hochgejagt hatten.«

Er sah sie an, als wäre er ganz und gar fassungslos.

»Was ist los? Ach je, das ist eine alte Narbe. Sechs Jahre her, fast sieben. Und wenn er am Leben geblieben wäre, wären wir heute längst geschieden, es war eine beschissene Ehe. Hören Sie, es ist nicht Ihre Schuld.«

»Ich weiß nicht mehr, was meine Schuld ist.«

»Also Jim jedenfalls nicht. Er war nur ein großer, gutaussehender schwarzer unglücklicher Draufgänger, mit sechsundzwanzig ein großes Tier von einem Captain der Luftwaffe und mit siebenundzwanzig abgeschossen, Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß Sie das erfunden haben, oder, das passiert schon seit Jahrtausenden. Und es ist ganz genauso in dieser anderen — Welt passiert, vor Freitag, als der ganze Planet noch so überbevölkert gewesen ist. Ganz genauso. Nur war es zu Beginn des Krieges … oder nicht?« Ihre Stimme wurde leiser, sanfter. »Mein Gott. Es war zu Beginn des Krieges, nicht erst kurz vor dem Waffenstillstand. Der Krieg nahm einfach kein Ende. Er dauerte bis zum heutigen Tag an. Und es gab … es gab keine Außerirdischen — oder doch?«

Orr schüttelte den Kopf.

»Sie haben sie geträumt

»Er ließ mich vom Frieden träumen. Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen. Also habe ich die Außerirdischen beschworen. Damit wir etwas hatten, wogegen wir kämpfen konnten.«

»Nicht Sie. Das macht seine Maschine.«

»Nein. Ich komme ganz gut ohne die Maschine zurecht, Miss Lelache. Sie spart ihm nur Zeit und läßt mich schneller träumen. Aber in den vergangenen Wochen hat er daran gearbeitet, um sie irgendwie zu verbessern. Dr. Haber ist ein großer Verbesserer.«

»Bitte nennen Sie mich Heather.«

»Das ist ein hübscher Name.«

»Ihr Name ist George. Bei der Sitzung nannte er Sie immer George. Als wären Sie ein besonders kluger Pudel oder Rhesusaffe. Legen Sie sich hin, George. Träumen Sie das, George.«

Er lachte. Seine Zähne waren weiß, sein Lachen angenehm, da es Zerzaustheit und Verwirrung vergessen machte. »Das bin nicht ich. Das ist mein Unterbewußtsein, zu dem er spricht, wissen Sie. Für seine Zwecke ist das so etwas wie ein Hund oder ein Affe. Es ist nicht rational, aber man kann es für bestimmte Aufgaben dressieren.«

Er sprach niemals voller Verbitterung, was für schreckliche Dinge er auch sagte. Gibt es wirklich Menschen ohne Mißstimmung, ohne Haß, fragte sich Heather. Menschen, die nie uneins mit dem Universum sind? Die das Böse sehen und dem Bösen widerstehen und doch vollkommen unbeeinflußt davon bleiben?

Natürlich gibt es sie. Zahllose, lebende und tote. Alle, die von reiner Barmherzigkeit erfüllt in das große Rad zurückkehren, die dem Weg folgen, dem man nicht folgen kann, ohne zu wissen, daß man ihm folgt, die Frau des Getreidebauern in Alabama und der Lama in Tibet und der Entomologe in Peru und der Fabrikarbeiter in Odessa und der Gemüsehändler in London und der Ziegenhirte in Nigeria und der alte, alte Mann, der an einem ausgetrockneten Flußlauf irgendwo in Australien hockt und einen Pflock spitzt. Es gibt nicht einen unter uns, der sie nicht gekannt hätte. Es gibt genügend von ihnen, genügend, uns alle voranzubringen. Vielleicht.

»Hören Sie mal. Sagen sie, ich muß folgendes wissen: War es nachdem Sie Haber aufsuchten, daß Sie anfingen …«

»Wirkungsvolle Träume zu haben? Nein, vorher. Darum bin ich hingegangen. Ich hatte Angst vor den Träumen, darum habe ich mir illegal Betäubungsmittel beschafft, um die Träume zu unterdrücken. Ich wußte nicht, was ich machen sollte.«

»Warum haben Sie dann nicht die beiden vergangenen Nächte etwas eingenommen, statt zu versuchen, sich wach zu hal ten?«

»Ich habe alles aufgebraucht. Schon Freitagnacht. Hier draußen kann ich kein Rezept einlösen. Aber ich mußte weg. Ich wollte außer Reichweite von Dr. Haber. Es ist alles viel komplizierter, als er wahrhaben will. Er glaubt, daß man alles richten kann. Und er benutzt mich, um alles zu richten, aber er gibt es nicht zu; er lügt, weil er nicht geradeaus sehen möchte, ihn interessiert nicht, was wahr ist, was ist, er kann nichts anderes als seine eigene Denkweise sehen — seine Vorstellung davon, was sein sollte.«

»Na ja. Als Anwältin kann ich nichts für Sie tun«, sagte Heather, die dem nicht so richtig folgen konnte; sie trank ihren Kaffee mit Brandy, der so stark war, daß einem Chihuahua davon Haare gewachsen wären. »An seinen hypnotischen Anweisungen war, soweit ich das erkennen konnte, nichts faul; er sagte Ihnen nur, daß Sie sich keine Sorgen wegen der Überbevölkerung und so weiter machen sollen. Und wenn er fest entschlossen ist, die Tatsache zu verheimlichen, daß er Ihre Träume für seltsame Zwecke benutzt, kann er das auch; er könnte die Hypnose so nutzen, daß Sie einfach keinen wirkungsvollen Traum haben, wenn Beobachter anwesend sind. Ich frage mich, warum er mich Zeugin werden ließ. Sind Sie sicher, daß er selbst daran glaubt? Ich verstehe ihn nicht. Aber egal, für einen Anwalt ist es schwer, sich in die Beziehung zwischen Psychiater und Patient einzumischen, besonders wenn der Seelenklempner ein hohes Tier und der Patient ein Irrer ist, der glaubt, daß seine Träume wahr werden — nein, damit möchte ich nicht vor Gericht gehen! Aber sehen Sie. Gibt es keine Möglichkeit, wie Sie verhindern können, für ihn zu träumen? Vielleicht Beruhigungsmittel?«

»Ich habe keine Pharmaziekarte, solange ich in FTB bin. Er müßte sie mir verschreiben. Außerdem könnte sein Verstärker mich zum Träumen bringen.«

»Das ist eine Verletzung der Privatsphäre; aber daraus läßt sich kein Fall konstruieren … Hören Sie. Was wäre, wenn Sie einen Traum hätten, in dem Sie ihn verändern?« — Orr sah sie durch einen Nebel aus Schlaf und Brandy an.

»Wenn Sie ihn gütiger machen würden — na ja, Sie sagen ja, er ist gütig und meint es gut. Aber er ist machtgierig. Er hat eine grandiose Möglichkeit gefunden, wie er die Welt beherrschen kann, ohne Verantwortung dafür zu übernehmen. Na ja. Machen Sie ihn nicht so machtgierig. Träumen Sie, daß er ein wirklich guter Mensch ist. Träumen Sie, daß er versucht, Sie zu heilen, und nicht Sie zu benutzen.«

»Aber ich kann mir meine Träume nicht aussuchen.«

Sie ließ den Kopf hängen. »Das hatte ich vergessen. Sobald ich diese Sache als real betrachte, denke ich, daß Sie Kontrolle darüber haben. Aber die haben Sie nicht. Sie machen es einfach.«

»Ich mache gar nichts«, sagte Orr mürrisch. »Ich habe nie etwas gemacht. Ich träume nur. Und dann ist es.«

»Ich hypnotisiere Sie«, sagte Heather plötzlich.

Daß sie eine unglaubliche Tatsache als Wahrheit akzeptiert hatte, erfüllte sie mit einem seltsamen Gefühl: Wenn Orrs Träume funktionierten, was würde nicht funktionieren? Außerdem hatte sie seit Mittag nichts mehr gegessen; Kaffee und Brandy stiegen ihr heftig zu Kopf.

Er sah sie weiterhin an.

»Ich mache es nicht zum erstenmal. Am College habe ich Psychologiekurse belegt, vor dem Jurastudium. Wir sind alle im Verlauf einer Vorlesung einmal in die Rolle des Hypnotiseurs und des Subjekts geschlüpft. Ich war als Subjekt ganz brauchbar, aber echt gut darin, die anderen einzulullen. Ich lulle Sie ein und suggeriere Ihnen einen Traum. Über Dr. Haber — wie Sie ihn harmlos machen. Ich befehle Ihnen, daß Sie nur das träumen sollen, sonst nichts. Verstanden? Wäre das nicht sicher — so sicher wie jede andere Möglichkeit, die uns an diesem Punkt zur Verfügung steht?«

»Aber ich bin hypnoseresistent. Früher war ich das nicht, aber er sagt, daß ich es jetzt bin.«

»Wendet er darum die Vagus-Karotid-Pressur an? Dabei kann ich kaum zusehen, weil es mir wie Mord vorkommt Das könnte ich nicht, ich bin schließlich keine Ärztin.«

»Mein Zahnarzt hat immer nur ein Hypnosetonband benutzt Das hat prima geklappt. Glaube ich jedenfalls.« Er redete definitiv im Schlaf und hätte ewig so weiterplappern können.

»Hört sich ganz so an«, sagte sie sanft, »als würden Sie sich gegen den Hypnotiseur wehren, nicht gegen die Hypnose … Wir könnten es jedenfalls versuchen. Und wenn es funktioniert, könnte ich Ihnen die posthypnotische Suggestion geben, daß Sie einen kleinen, wie nennen Sie es, wirkungsvollen Traum über Haber träumen. Damit er es ehrlich mit Ihnen meint und versucht, Sie wirklich zu heilen. Glauben Sie, das könnte klappen? Und würden Sie sich darauf einlassen?«

»Ich könnte sowieso etwas Schlaf gebrauchen«, sagte er. »Ich … muß irgendwann einmal schlafen. Heute nacht halte ich ganz sicher nicht mehr durch. Wenn Sie glauben, Sie könnten die Hypnose durchführen …«

»Ich glaube, das kann ich. Aber, hören Sie, haben Sie irgend etwas zu essen hier?«

»Ja«, sagte er schläfrig. Nach einer Weile kam er wieder zu sich. »Oh, ja. Tut mir leid. Sie haben nichts gegessen. Die Fahrt hierher. Ich habe einen Laib Brot …« Er kramte im Schrank, holte Brot, Margarine, fünf hartgekochte Eier, eine Dose Thunfisch und einen angewelktem Kopfsalat heraus. Sie fand zwei Unterlagen aus Blech, drei unterschiedliche Gabeln und ein Schälmesser. »Haben Sie gegessen?« erkundigte sie sich. Er war nicht sicher. Sie bereiteten gemeinsam eine Mahlzeit zu, sie auf dem Stuhl am Tisch sitzend, er stehend. Die aufrecht stehende Haltung schien ihn zu beleben, und wie sich herausstellte, hatte er Heißhunger. Sie mußten alles in zwei Hälften teilen, sogar das fünfte Ei.

»Sie sind ein sehr netter Mensch«, sagte er.

»Ich? Warum? Sie meinen, weil ich hergekommen bin? Oh, Scheiße, ich hatte Angst. Wegen der Veränderung der Welt am Freitag! Ich mußte das auf die Reihe kriegen. Hören Sie, ich betrachtete das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, auf der anderen Seite des Flusses, als Sie träumten, und auf einmal war es nicht mehr da und hatte nie existiert!«

»Ich dachte, Sie kommen aus dem Osten«, sagte er. Relevanz war im Augenblick nicht seine starke Seite.

»Nein.« Sie kratzte die Thunfischdose fein säuberlich aus und leckte das Messer ab. »Portland. Jetzt zweimal. Zwei verschiedene Krankenhäuser. Herrgott! Aber hier geboren und aufgewachsen. Wie meine Eltern. Mein Vater war schwarz, meine Mutter weiß. Irgendwie interessant. Er war der richtig militante Black-Power-Typ, damals in den Siebzigern, und sie ein Hippie. Er stammte aus einer Sozialhilfefamilie in Albina, kein Vater, und sie war die Tochter eines Firmenanwalts aus Portland Heights. Sie war eine Aussteigerin, nahm Drogen und was die damals eben alles so getrieben haben. Und sie haben sich bei einer politischen Veranstaltung kennengelernt, beim Demonstrieren. Das war, als Demonstrationen noch legal waren. Und sie heirateten. Aber er konnte es nicht lange ertragen, ich meine die ganze Situation, nicht nur die Ehe. Als ich acht war, ist er nach Afrika ausgewandert. Nach Ghana, glaube ich. Er war der Meinung, daß seine Vorfahren ursprünglich von dort stammten, aber genau wußte er es nicht. Sie hatten seit Menschengedenken in Louisiana gelebt, und Lelache war der Name des Sklavenhalters, das ist Französisch. Es bedeutet ›Der Feigling‹. Ich habe an der High School Französisch gewählt, weil ich einen französischen Namen trug.« Sie kicherte. »Jedenfalls ging er einfach fort. Und die arme Eva verkraftete es nicht. Das ist meine Mutter. Sie wollte nie, daß ich sie Mutter oder Mom nannte, das klang zu sehr nach klassischem Besitzdenken spießiger Mittelschichtskleinfamilien. Also nannte ich sie Eva. Und wir lebten eine Weile in einer Art von Kommune auf dem Mount Hood, oh Gott. Es war kalt im Winter! Aber die Polizei hat sie aufgelöst, sie behaupteten, daß es sich um eine antiamerikanische Verschwörung handelte. Und danach verdiente sie irgendwie mühsam ihren Lebensunterhalt, sie machte hübsche Töpferwaren, wenn sie bei jemand Drehscheibe und Brennofen benutzen konnte, aber meistens half sie in kleinen Geschäften und Restaurants aus, oder dealte Stoff. Diese Leute halfen einander immer. Wirklich immer. Aber sie kam nicht von den harten Drogen los, sie war süchtig. Sie schaffte es, ein Jahr davon wegzukommen, und dann bingo. Sie überlebte den Schwarzen Tod, aber mit achtunddreißig erwischte sie eine verschmutzte Nadel, und die brachte sie um. Und stand nicht sofort ihre Familie auf der Matte und nahm mich zu sich? Ich hatte sie nie gesehen! Und sie finanzierten mir College und Jurastudium. Ich gehe jedes Jahr zum Weihnachtsessen hin. Ich bin ihre Quotennegerin. Aber ich kann Ihnen sagen, was mich wirklich fertigmachte, ich kann mich nicht entscheiden, was für eine Farbe ich habe. Ich meine, mein Vater war ein Schwarzer, ein richtiger Schwarzer — oh, er hatte etwas weißes Blut in sich, aber er war ein Schwarzer — und meine Mutter war eine Weiße, aber ich bin keins von beidem. Sehen Sie, mein Vater haßte meine Mutter wirklich, weil sie eine Weiße war. Aber er liebte sie auch. Und ich glaube, sie liebte die Tatsache, daß er schwarz war, mehr als sie ihn liebte. Na ja, was bin ich also? Ich bin nie dahintergekommen.«

»Braun«, sagte er sanft und trat hinter ihren Stuhl.

»Die Farbe von Scheiße.«

»Die Farbe der Erde.«

»Sind Sie ein Portlander? Jedesmal.«

»Ja.«

»Ich kann Sie über den verdammten Bach hinweg kaum verstehen. Ich dachte, die Wildnis soll still sein. Fahren Sie fort!«

»Aber ich hatte inzwischen so viele Kindheiten«, sagte er. »Von welcher soll ich Ihnen denn erzählen? In einer starben meine Eltern schon im ersten Jahr am Schwarzen Tod. In einer gab es gar keinen Schwarzen Tod. Ich weiß nicht … Keine war besonders interessant. Ich meine, es gibt nichts zu erzählen. Ich war immer nur damit beschäftigt, zu überleben.«

»Naja. Das ist ja auch die Hauptsache.«

»Es wird ständig schwieriger. Der Schwarze Tod, und jetzt die Außerirdischen …« Er gab ein unbekümmertes Lachen von sich, aber als sie aufschaute, sah sein Gesicht müde und elend aus.

»Ich kann nicht glauben, daß Sie die geträumt haben. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich habe schon so lange Zeit Angst vor ihnen — seit sechs Jahren! Aber ich wußte, daß Sie dafür verantwortlich sind, als ich darüber nachdachte, denn sie existierten nicht in diesem anderen … Zeitverlauf oder was immer es ist. Aber an sich sind sie nicht schlimmer als diese gräßliche Überbevölkerung. Diese winzigkleine Wohnung, in der ich hauste, zusammen mit vier anderen Frauen, in einer Wohnanlage für Geschäftsfrauen, um Gottes willen! Und die Fahrten mit dieser grauenhaften U-Bahn, und meine Zähne waren in einem abstoßenden Zustand, und es gab nie etwas Anständiges zu essen, und vor allem nie die Hälfte von dem, was man gebraucht hätte. Können Sie sich vorstellen, am Freitag wog ich achtundvierzig Kilo, und inzwischen sind es achtundfünfzig. Ich habe seit Freitag zehn Kilo zugenommen!«

»Das stimmt, Sie waren schrecklich mager, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe. In Ihrer Anwaltskanzlei.«

»Sie aber auch. Sie waren abgemagert. Aber alle anderen auch, darum ist es mir nicht weiter aufgefallen. Jetzt sehen Sie aus, als wären Sie ein kerngesunder Typ, wenn Sie nur genügend Schlaf bekommen würden.«

Er sagte nichts.

»Alle sehen jetzt viel besser aus, wenn man es recht bedenkt. Hören Sie. Wenn Sie nichts für Ihre Gabe können, aber es damit für alle ein klein wenig besser machen, dann sollten Sie deswegen keine Schuldgefühle haben. Vielleicht sind Ihre Träume ja gewissermaßen nichts weiter als ein neues Mittel der Evolution. Ein heißer Draht. Überleben der Stärksten, und so weiter. Mit Notfallpriorität.«

»Oh, es ist viel schlimmer«, sagte er in demselben unbeschwerten, albernen Tonfall; er setzte sich auf das Bett. »Erinnern Sie sich noch an den April vor vier Jahren — 1998?«

»April? Nein, dazu fällt mir nichts Besonderes ein.«

»Da ging die Welt unter«, sagte Orr. Ein Muskelkrampf entstellte sein Gesicht, und er schien nach Luft zu ringen. »Niemand sonst erinnert sich daran«, sagte er.

»Was meinen Sie?« fragte sie von einem vagen Gefühl der Angst erfüllt. April, April 1998, dachte sie, erinnere ich mich an den April 1998? Sie glaubte nicht und wußte doch, sie sollte sich erinnern; und sie hatte Angst — vor ihm? Mit ihm? Um ihn?

»Es ist nicht die Evolution. Nur Selbsterhaltung. Ich kann nicht — jedenfalls war es viel schlimmer. Viel schlimmer als in Ihrer Erinnerung. Es war dieselbe Welt wie die erste, an die Sie sich erinnern, mit einer Bevölkerung von sieben Milliarden Menschen, aber es — es war schlimmer. Niemand außer ein paar kleinen europäischen Ländern hatte Rationierung und Umweltschutz und Geburtenkontrolle rechtzeitig eingeführt, in den siebziger Jahren, und als wir endlich versuchten, die Verteilung von Nahrungsmitteln zu rationieren, war es zu spät, es gab nicht mehr genug und die Mafia kontrollierte den Schwarzmarkt, jeder mußte auf dem Schwarzmarkt kaufen, wenn er etwas zu essen haben wollte, und viele Menschen bekamen nichts. 1984 haben sie die Verfassung umgeschrieben, wie Sie sie heute kennen, aber da stand es schon so schlimm, daß diese Verfassung noch katastrophaler wurde, die schützten nicht einmal mehr Demokratie vor, wir wurden eine Art Polizeistaat, aber es hat nicht geklappt, er zerfiel auf der Stelle wieder. Als ich fünfzehn war, wurden die Schulen geschlossen. Es gab keinen Schwarzen Tod, aber Epidemien, eine nach der anderen, Ruhr und Hepatitis, und dann die Beulenpest. Die meisten Menschen verhungerten jedoch. Dann, 1993, begann der Krieg im Nahen Osten, aber er war anders. Israel gegen die Araber und Ägypten. Alle großen Länder griffen ein. Einer der afrikanischen Staaten stellte sich auf die Seite der Araber und ließ Atombomben auf zwei israelische Städte abwerfen, also halfen wir ihnen bei einem Vergeltungsschlag, und …« Er verstummte eine Zeitlang und fuhr dann offenbar ohne zu merken, daß er überhaupt eine Pause gemacht hatte, fort. »Ich versuchte, aus der Stadt rauszukommen. Ich wollte in den Nationalpark. Ich war krank, ich konnte nicht weitergehen und setzte mich auf die Treppe eines Hauses droben in den westlichen Hügeln, die Häuser waren alle abgebrannt, aber die Treppenstufen bestanden aus Beton, ich erinnere mich noch, daß Löwenzahn in einer Ritze zwischen den Stufen blühte. Ich saß da und konnte nicht aufstehen und wußte, daß ich es nie wieder können würde. Ich dachte ständig, daß ich aufstand und weiterging, daß ich die Stadt hinter mir ließ, aber das war nur das Delirium, ich kam zu mir und sah den Löwenzahn wieder und wußte, daß ich sterben mußte. Und daß alles andere auch starb. Und dann hatte ich den — hatte ich diesen Traum.« Er hatte sich heiser geredet; jetzt verstummte er kieksend.

»Es ging mir gut«, fuhr er schließlich fort. »Ich träumte, ich wäre zu Hause. Ich erwachte, und alles war gut. Ich lag zu Hause in meinem Bett. Aber es war kein Zuhause, das ich je gehabt hatte, dieses andere Mal, in der ersten Zeit. Der bösen Zeit. Oh, Gott, ich wünschte, ich würde mich nicht daran erinnern. Meistens tue ich es auch nicht. Ich kann nicht. Seither rede ich mir ein, daß es ein Traum gewesen ist. Daß es ein Traum gewesen ist! Aber es war keiner. Dies ist einer. Dies alles ist nicht real. Diese Welt ist nicht einmal wahrscheinlich. So ist es passiert. Wir waren alle tot, und wir haben die Erde zugrunde gerichtet, bevor wir starben. Es ist nichts mehr übrig. Nichts als Träume.«

Sie glaubte ihm und wehrte sich mit erbitterter Wut dagegen. »Na und! Vielleicht ist es nie anders gewesen! Was immer es sein mag, es ist richtig so. Sie glauben doch nicht, daß Sie irgend etwas tun könnten, das nicht passieren soll, oder? Für wen, zum Teufel, halten Sie sich eigentlich! Es gibt nichts, das sich nicht einfügt, nichts passiert, das nicht passieren soll. Niemals! Was spielt es für eine Rolle, ob Sie es Wirklichkeit oder Träume nennen? Es ist alles ein und dasselbe — oder nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte Orr unter Qualen; und sie ging zu ihm und nahm ihn in die Arme wie ein kleines Kind, das Schmerzen leidet, oder einen Sterbenden.

Der Kopf an ihrer Schulter fühlte sich schwer an, die helle, eckige Hand lag ganz entspannt auf ihrem Knie.

»Sie schlafen«, sagte sie. Er stritt es nicht ab. Sie mußte ihn ziemlich kräftig schütteln, damit er es überhaupt bestreiten konnte. »Nein, ich schlafe nicht«, sagte er, zuckte zusammen und fuhr kerzengerade hoch. »Nein.« Er kippte wieder nach vorn.

»George!« Es stimmte: wenn man ihn mit Namen anredete, half das. Er hielt die Augen gerade lange genug offen, um Heather anzusehen. »Bleiben Sie wach, bleiben Sie nur noch eine Weile wach. Ich möchte es mit der Hypnose versuchen. Damit Sie schlafen können.« Sie hatte ihn fragen wollen, was er träumen wollte, was sie ihm hypnotisch für Haber mit auf den Weg geben sollte, aber er war schon zu weit hinüber. »Hören Sie, setzen Sie sich hier auf die Pritsche. Sehen Sie … sehen Sie in die Flamme der Lampe, das müßte gehen. Aber schlafen Sie mir noch nicht ein.« Sie stellte die Petroleumlampe zwischen Eierschalen und Essensreste mitten auf die Tischplatte. »Richten Sie einfach fest den Blick darauf und schlafen Sie nicht ein! Sie entspannen sich und fühlen sich behaglich, aber Sie schlafen noch nicht ein, erst wenn ich ›Sch!afen Sie ein‹ sage. Recht so. Jetzt fühlen Sie sich entspannt und behaglich …« Sie setzte das Hypnosespiel fort und kam sich dabei wie eine Schauspielerin vor, die eine Rolle verkörpert. Und sie konnte ihn binnen kürzester Zeit einlullen. Da sie es nicht glauben konnte, stellte sie ihn auf die Probe. »Sie können Ihre linke Hand nicht heben«, sagte sie, »Sie versuchen es, aber die Hand ist zu schwer, sie folgt Ihnen nicht … jetzt ist sie wieder leicht, Sie können Sie hochheben. So … gut. In einer Minute werden Sie einschlafen. Sie werden ein wenig träumen, aber es werden nur ganz gewöhnliche Träume sein, wie sie jeder hat, keine speziellen — keine wirkungsvollen. Alle, bis auf einen. Sie werden einen einzigen wirkungsvollen Traum haben. Darin —« Sie verstummte. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun; kalte Furcht lähmte sie. Was machte sie da? Dies war kein Spiel, kein Zeitvertreib, in den sich eine Närrin einmischen sollte. Er war ihr ausgeliefert: und seine Kräfte waren unberechenbar. Was für eine unvorstellbare Verantwortung hatte sie sich aufgebürdet?

Eine Person, die, so wie sie, fest daran glaubte, daß alles zusammenpaßte: daß es ein Ganzes gibt, dessen Teil man ist, und daß man nur als Teil davon selbst ganz sein kann: so eine Person verspürt niemals und nimmer den Wunsch, Gott zu spielen. Nur jene, denen ihr Wesen versagt blieb, sehnen sich danach, damit herumzuspielen.

Doch jetzt steckte sie in ihrer Rolle fest und es gab es kein Zurück mehr. »In diesem einen Traum werden Sie träumen, daß … daß Dr. Haber gütig ist, daß er nicht versucht, Ihnen wehzutun und aufrichtig zu Ihnen ist.« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, wie sie es sagen sollte, weil sie wußte, wie sie es auch ausdrückte, es konnte schiefgehen. »Und Sie werden träumen, daß die Außerirdischen nicht mehr da draußen auf dem Mond sind«, fügte sie hastig hinzu; wenigstens diese Last konnte sie ihm von den Schultern nehmen. »Und am Morgen werden Sie ausgeruht aufwachen, und alles wird gut sein. Also: Schlafen Sie ein.«

Oh, Scheiße, sie hatte vergessen, ihm zu sagen, daß er sich zuerst hinlegen sollte.

Er sackte wie ein unzureichend gestopftes Kissen langsam vorwärts und zur Seite, bis er ein großes, warmes, regloses Bündel auf dem Dielenboden bildete.

Er konnte nicht mehr als siebzig Kilo wiegen, aber als sie ihn auf die Pritsche hieven wollte, tat er kein bißchen dazu und kam ihr wie ein toter Elefant vor. Sie mußte zuerst die Beine hochlegen und dann die Schultern nachziehen, damit sie nicht die ganze Pritsche umkippte; und natürlich lag er am Ende auf dem Schlafsack, nicht darin. Sie zerrte den Schlafsack unter ihm hervor, wobei sie die Pritsche um ein Haar wieder gekippt hätte, und deckte ihn damit zu. Er bekam in seinem Tiefschlaf nichts von alledem mit. Sie war außer Atem, verschwitzt und beunruhigt. Er nicht.

Sie setzte sich an den Tisch und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Nach einer Weile fragte sie sich, was sie tun sollte. Sie räumte die Überreste ihrer Mahlzeit ab, machte Wasser heiß und spülte die Kuchenbleche, Gabeln, das Messer und die Tassen. Sie schürte das Feuer im Ofen. Sie fand ein paar Bücher, auf dem Regal, vermutlich Taschenbücher, die er in Lincoln City gekauft hatte, um sich die Zeit seiner langen Nachtwache zu vertreiben. Kein Kriminalroman, verdammt, einen guten Kriminalroman hätte sie jetzt brauchen können. Sie fand einen Roman über Rußland. Etwas Gutes hatte der Weltraumpakt ja: die amerikanische Regierung tat nicht mehr so, als würde zwischen Jerusalem und den Philippinen nichts mehr existieren, weil es, wenn doch, ja den amerikanischen Lebensstil bedrohen könnte; aus diesem Grund konnte man in den letzten Jahren wieder japanische Papierschirmchen und indischen Weihrauch und russische Romane und alles Mögliche kaufen. Die Bruderschaft der Menschheit, so lautete der neue Lebensstil, laut Präsident Merdle.

Dieses Buch, von einem Autor, dessen Name mit »ewskij« endete, schilderte das Leben in einem kleinen Dorf im Kaukasus in den Jahren des Schwarzen Todes und war nicht gerade eine besonders erbauliche Lektüre, sprach jedoch ihre emotionale Befindlichkeit an; sie las von zehn Uhr abends bis halb drei Uhr morgens darin. Orr schlief die ganze Zeit, bewegte sich so gut wie nie und atmete unbeschwert und leise. Sie sah von ihrem Dorf im Kaukasus auf und erblickte sein Gesicht, im Lichtschein der Lampe golden und voller Schatten, verklärt. Wenn er träumte, dann flüchtige und friedliche Träume. Als alle in dem Dorf im Kaukasus ums Leben gekommen waren, ausgenommen der Dorfdepp (dessen völlige Passivität im Angesicht des Unausweichlichen sie an ihren Gefährten denken ließ), versuchte sie es mit etwas aufgewärmtem Kaffee, der aber wie Lauge schmeckte. Sie ging zur Tür, blieb eine Weile halb drinnen, halb draußen stehen und lauschte dem Bach, der seine ewige Lobpreisung hinausrauschte! Es schien nachgerade unglaublich, daß er diesen Lärm schon seit Jahrhunderten vor ihrer Geburt machte und weiter machen würde, bis sich die Berge bewegten. Aber jetzt, so spät in der Nacht und in der vollkommenen Stille des Waldes, schien es, als würde ein ferner Ton darin mitschwingen, der von weit, weit flußaufwärts herübertönte, wie die Stimmen singender Kinder — ausgesprochen liebreizend, ausgesprochen seltsam.

Ihr wurde kalt; sie machte die Tür zu, sperrte die Stimmen der ungeborenen Kinder aus, die im Wasser sangen, und drehte sich zu dem warmen Raum und dem schlafenden Mann um. Sie nahm ein Buch über Tischlerei vom Regal, das er vermutlich gekauft hatte, damit er sich in der Blockhütte beschäftigen konnte, aber das machte sie schlagartig müde. Na ja, warum nicht? Warum mußte sie wach bleiben? Aber wo sollte sie selbst schlafen …

Sie hätte George auf dem Boden liegen lassen sollen. Er hätte das gar nicht bemerkt. Es war nicht fair, er hatte die Pritsche und den Schlafsack.

Sie nahm ihm den Schlafsack weg und ersetzte ihn durch seinen Regenmantel und ihr Regencape. Er regte sich nicht einmal. Sie betrachtete ihn voller Zuneigung, dann schlüpfte sie in den Schlafsack auf dem Boden. Herrgott, es war kalt hier unten auf dem Boden, und hart. Sie hatte das Licht nicht ausgeblasen. Oder drehte man Petroleumlampen mit Docht ab? Eines sollte man machen, das andere nicht. Das wußte sie noch von ihrer Zeit in der Kommune. Aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, welches von beiden. Ooooooh, SCHEISSE, war das kalt hier unten!

Kalt, kalt. Hart. Hell. Zu hell. Sonnenschein im Fenster, durch das Schwanken und Flackern der Bäume. Über dem Bett. Der Boden bebte. Die Berge murmelten und träumten davon, ins Meer zu fallen, und jenseits der Berge, erklangen leise und gräßlich die Sirenen ferner Städte und heulten, heulten, heulten.

Sie richtete sich auf. Die Wölfe verkündeten heulend das Ende der Welt.

Sonnenschein fiel durch das Fenster und verbarg alles, was unter seiner gleißenden Schräge lag. Sie tastete sich durch das Übermaß an Helligkeit und fand den Träumenden noch schlafend, mit dem Gesicht nach unten. »George! Wachen Sie auf! Oh, George, bitte wachen Sie auf! Etwas stimmt nicht!«

Er wachte auf. Er lächelte ihr beim Aufwachen zu.

»Etwas stimmt nicht — die Sirenen — was ist nur los?« Er verweilte immer noch halb in seinem Traum und sagte emotionslos: »Sie sind gelandet.«

Denn er hatte genau das getan, was sie ihm befohlen hatte. Sie hatte ihm befohlen, zu träumen, daß die Außerirdischen nicht mehr auf dem Mond waren.

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