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Sternenlicht fragte Nicht-Wesen: »Meister, existiert Ihr? Oder existiert Ihr nicht?« Aber es bekam keine Antwort auf die Frage …

Dschuang-Dsi, XXII


Irgendwann in dieser Nacht, als Orr versuchte, durch das Chaos der Vororte zur Corbett Avenue zu gelangen, hielt ihn einer der aldebaranischen Außerirdischen an und überredete ihn, mit ihm zu kommen. Orr folgte ihm fügsam. Nach einer Weile erkundigte er sich, ob es sich um Tiua’k Ennbe Ennbe handelte, aber er fragte es ohne innere Überzeugung und schien sich nicht besonders dafür zu interessieren, als der Außerirdische ihm wortreich erklärte, daß man ihn Jor Jor und den Außerirdischen selbst E’nememen Asfah nannte.

Der Außerirdische führte ihn zu seinem Apartment nahe beim Fluß, über einer Fahrradreparaturwerkstatt und gleich neben der Hope Eternal Gospel Mission, die heute Abend ziemlich überfüllt war. Überall auf der Welt bat man die verschiedenen Götter mehr oder weniger höflich um eine Erklärung dafür, was sich zwischen 6:25 und 7:08 Uhr pazifischer Standardzeit abgespielt hatte. Von unten tönte in süßem Mißklang ausgerechnet »Rock of Ages« herauf, als sie die dunkle Treppe zu der Wohnung im ersten Stock hinaufgingen. Dort schlug der Außerirdische vor, daß sich Orr auf das Bett legen sollte, da er müde aussah. »Schlaf, der das zerriß’ne Garn der Obhut wieder heilt«, sagte er.

»Zu schlafen, vielleicht träumen; ay, das ist der wunde Punkt«, entgegnete Orr. Die seltsame Art und Weise, wie die Außerirdischen kommunizierten, hatte etwas, dachte er; aber er war viel zu müde, um darüber nachzudenken, was das sein mochte. »Wo wirst du schlafen?« fragte er, als er sich auf das Bett fallen ließ.

»Nir gend wo«, antwortete der Außerirdische und zerlegte mit seiner tonlosen Stimme das Wort in drei gleichberechtigte Silben.

Orr bückte sich, um die Schnürsenkel zu lösen. Er wollte die Bettdecke des Außerirdischen nicht mit seinen Schuhen beschmutzen, damit würde er ihm seine Freundlichkeit schlecht vergelten. Beim Bücken wurde ihm schwindlig. »Ich bin müde«, sagte er. »Ich habe heute viel getan. Das heißt, ich habe etwas getan. Das Einzige, das ich jemals getan habe. Ich habe auf einen Knopf gedrückt. Meine ganze Willenskraft, die akkumulierte Kraft meiner gesamten Existenz, waren erforderlich, um diesen verdammten AUS-Knopf zu drücken.«

»Du hast wohl gelebt«, antwortete der Außerirdische.

Er stand in einer Ecke und hatte offenbar vor, unbegrenzte Zeit dort stehenzubleiben.

Er stand nicht da, dachte Orr: nicht in dem Sinne, wie er selbst stehen, sitzen, liegen oder sein würde. Er war in demselben Sinne da, wie man in einem Traum irgendwo ist.

Orr legte sich hin. Er spürte deutlich das Mitgefühl und die beschützerische Zuneigung des Außerirdischen, der auf der anderen Seite des dunklen Zimmers stand. Der Außerirdische sah ihn, nicht mit den Augen, als kurzlebig, fleischlich, ohne Panzer, ein seltsames, unendlich verwundbares Wesen, das in den Strömungen des Möglichen dahintrieb: etwas, das Hilfe brauchte. Ihm war das einerlei. Er brauchte Hilfe. Müdigkeit übermannte ihn, griff ihn auf wie eine Strömung des Meeres, in dem er langsam versank. »Er’ perrehnne«, murmelte er und kapitulierte vor dem Schlaf.

»Er’ perrehnne«, antwortete E’nememen Asfah lautlos.

Orr schlief. Er träumte. Es gab keinen wunden Punkt. Seine Träume kamen und gingen wie Wellen aus der Tiefsee, fernab von jedem Ufer, auf und ab, profund und harmlos, brachen sich nirgendwo, veränderten nichts. Sie tanzten ihren Tanz inmitten aller anderen Wellen im Meer des Seins. Durch seinen Schlaf schwammen die großen grünen Meeresschildkröten, tauchten voll schwerer, unerschöpflicher Anmut durch die Tiefen, waren in ihrem Element.


Anfang Juni standen die Bäume in vollem Laub, trieben die Rosen aus. Überall in der Stadt erblühte die altmodische, Portland Rose genannte Sorte so unverwüstlich wie Unkraut an dornigen Ranken. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Die Wirtschaft erholte sich wieder. Die Leute mähten ihre Rasen.

Orr stattete dem Staatlichen Sanatorium für Geisteskranke in Linnton, ein wenig nördlich von Portland, einen Besuch ab. Der in den neunziger Jahren errichtete Komplex stand auf einer großen Klippe mit Ausblick auf die Marschen des Willamette und die gotische Eleganz der St. Johns Bridge. Ende April und im Mai waren sie hier vollkommen überbelegt gewesen, da es nach den unerklärlichen Ereignissen des Abends, die inzwischen nur noch als »Bruch« bezeichnet wurden, zu einer regelrechten Seuche von Nervenzusammenbrüchen gekommen war; aber das hatte nachgelassen, und jetzt entsprach die Routine in der Nervenheilanstalt wieder der personell unterbesetzten, überfüllten schrecklichen Norm.

Ein großer Pfleger mit sanfter Stimme brachte Orr nach oben zu den Einbettzimmern im Nordflügel. Die Tür, die in diesen Flügel führte, war, wie die Türen zu den Zimmern auch, schwer, mit einem kleinen Guckloch in einer Höhe von einem Meter fünfzig ausgestattet, und alle Türen waren abgeschlossen.

»Nicht, daß er Ärger machen würde«, sagte der Pfleger, als er die Korridortür aufschloß. »Ist nie gewalttätig geworden. Aber er übt einen schlechten Einfluß auf die anderen aus. Wir haben es schon auf zwei verschiedenen Stationen mit ihm versucht. Keine Chance. Die anderen haben Angst vor ihm, so was habe ich noch nie gesehen. Sie beeinflussen einander alle und haben Panikanfälle und unruhige Nächte und so weiter, aber nicht so. Sie haben Angst vor ihm. Kratzen nachts an den Türen, um von ihm wegzukommen. Und dabei liegt er einfach immer nur da. Na ja, früher oder später werden Sie es mit eigenen Augen sehen. Ich nehme einmal an, ihm ist es gleichgültig, wo er sich befindet. Da sind wir«

Er schloß die Tür auf und ging vor Orr in das Zimmer. »Besuch, Dr. Haber«, sagte er.

Haber war dünn. Der blauweiße Schlafanzug hing wie ein Sack an ihm. Sein Haar und der Bart waren kurz geschnitten, aber gepflegt und ordentlich. Er saß auf dem Bett und blickte in die Leere.

»Dr. Haber«, sagte Orr, aber seine Stimme versagte; er verspürte enormes Mitleid, aber auch Angst. Er wußte, was Haber sah. Er hatte es ebenfalls gesehen. Er sah Welt nach dem April 1998. Er sah die Welt, wie der Verstand sie mißverstand: den bösen Traum.

In einem Gedicht von T. S. Eliot gibt es einen Vogel, der behauptet, daß die Menschheit nicht viel Wirklichkeit ertragen kann; aber der Vogel irrt sich. Ein Mensch kann das ganze Gewicht des Universums achtzig Jahre lang ertragen. Das Unwirkliche erträgt er nicht.

Haber war verloren. Er hatte den Kontakt verloren.

Orr wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Er ging langsam hinaus, und der Pfleger, der ihm nicht von der Seite wich, machte die Tür zu und schloß sie ab.

»Ich kann es nicht«, sagte Orr. »Es gibt keinen Weg.«

»Keinen Weg«, sagte der Pfleger.

Als sie den Flur entlanggingen, fügte er mit seiner sanften Stimme hinzu: »Dr. Walters sagte mir, daß er ein sehr prominenter Wissenschaftler gewesen ist.«

Orr kehrte mit dem Boot in die Innenstadt von Portland zurück. Im Nahverkehr herrschte noch ein heilloses Durcheinander; Bruchstücke, Überbleibsel und Anlagen von sechs verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln verstopften die Stadt. Reed College hatte eine U-Bahn-Haltestelle, aber keine U-Bahn. Die Seilbahn zum Washington Park endete an einem Tunnel, der halb unter dem Willamette hindurchführte und dann aufhörte. In der Zwischenzeit hatte ein geschäftstüchtiger Bursche ein paar der Boote wieder in Betrieb genommen, die den Willamette und den Columbia hinauf und hinunter gefahren waren, und benutzte sie für regelmäßige Fahrten zwischen Linnton, Vancouver, Portland und Oregon City als Fähren. Es war eine angenehme Reise.

Orr hatte für seinen Besuch im Sanatorium eine lange Mittagspause gemacht. Sein Arbeitgeber, der Außerirdische E’nememen Asfah, interessierte sich nicht dafür, wann die Arbeit gemacht wurde, ihm kam es nur darauf an, daß sie gemacht wurde. Wann man was machte, blieb einem selbst überlassen. Orr erledigte einen großen Teil seiner Arbeit im Kopf, wenn er am Morgen eine halbe Stunde halb wach im Bett lag, bevor er aufstand.

Es war fünfzehn Uhr, als Orr zum Kitchen Sink zurückkehrte und sich in der Werkstatt an sein Reißbrett setzte. Asfah befand sich im Vorführraum und bediente Kundschaft. Sein Personal bestand aus drei Designern, und er hatte Lieferverträge mit verschiedenen Herstellern, die alle möglichen Arten von Küchengeräten anfertigten, Schüsseln, Kochtöpfe, Besteck, Werkzeug, alles, ausgenommen schwere Elektrogeräte. Nach dem Bruch herrschte ein grauenhaftes Durcheinander in Industrie und Handel; nationale und internationale Regierungen waren wochenlang so überfordert gewesen, daß infolge dessen ein gewisses laissez-faire herrschte und kleine private Firmen, die diese Periode überstanden hatten oder während der Zeit gegründet worden waren, sich in einer guten Ausgangsposition befanden. In Oregon wurden eine Reihe dieser Firmen, die ausnahmslos mit materiellen Gütern der einen oder anderen Art handelten, von Aldebaranern geleitet; sie waren gute Manager und ausgezeichnete Kaufleute, mußten aber Menschen für jede Form von körperlicher Arbeit beschäftigen. Die Behörden mochten sie, weil sie Beschränkungen und Kontrollen seitens des Staates bedingungslos akzeptierten, denn die Weltwirtschaft kam langsam wieder auf die Füße. Die Leute redeten sogar schon wieder vom Bruttosozialprodukt, und Präsident Merdle hatte bis Weihnachten eine Rückkehr zur Normalität zugesagt.

Asfah machte in Groß- und Einzelhandel, und das Kitchen Sink war beliebt wegen seinen unverwüstlichen Waren und fairen Preisen. Seit dem Bruch kamen in immer größerer Zahl Hausfrauen, die die unbekannten Küchen neu möblierten, in denen sie seit jenem Abend im April kochten. Orr prüfte gerade ein paar Holzmuster für Schneidbretter, als er jemanden sagen hörte: »Ich hätte gern einen von diesen Schneebesen«, und weil ihn die Stimme an die Stimme seiner Frau erinnerte, stand er auf und warf einen Blick in den Vorführraum. Asfah zeigte einer mittelgroßen Frau um die Dreißig, mit brauner Haut und kurzem, drahtigem schwarzen Haar auf einem wohlgeformten Kopf etwas.

»Heather«, sagte er und trat näher.

Sie drehte sich um. Sie betrachtete ihn, wie es schien eine lange Zeit. »Orr«, sagte sie. »George Orr. Richtig? Wann haben wir uns kennengelernt?«

»Das war —« Er zögerte. »Sind Sie nicht Anwältin?«

E’nememen Asfah stand in seinem riesigen grünen Panzer da und hielt einen Schneebesen.

»Nee. Anwaltsgehilfin. Ich arbeite für Rutti und Goodhue im Pendleton Building.«

»Das muß es sein. Da bin ich einmal gewesen. Gefällt, gefällt Ihnen das? Ich habe es entworfen.« Er holte einen anderen Schneebesen aus dem Korb und führte ihn ihr vor. »Gut ausbalanciert, sehen Sie. Und er ist schnell. Normalerweise machen sie die Drähte zu straff oder zu schwer, außer in Frankreich.«

»Sieht gut aus«, sagte sie. »Ich besitze einen alten elektrischen Mixer, wollte so etwas aber wenigstens an die Wand hängen. Arbeiten Sie hier? Früher nicht. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie waren in einem Büro in der Stark Street, und waren bei einem Arzt in Freiwilliger Behandlung.«

Er hatte keine Ahnung, woran oder an wieviel sie sich erinnerte und wie es zu seinen eigenen multiplen Erinnerungen paßte. — Seine Frau hatte natürlich graue Haut gehabt. Es gab immer noch graue Menschen, hieß es, besonders im Mittleren Westen und in Deutschland, aber die meisten anderen hatten wieder eine weiße, braune, schwarze, rote, gelbe Farbe, oder Mischfarben. Seine Frau war eine graue Person gewesen, eine weitaus sanftmütigere Person als diese hier, dachte er. Diese Heather hatte eine große schwarze Handtasche mit Messingverschluß dabei, und wahrscheinlich einen Flachmann voll Brandy darin; sie kam hart rüber. Seine Frau war aggressionslos gewesen, und zwar couragiert, aber mit einem schüchternen Gemüt. Dies war nicht seine Gattin, sondern eine leidenschaftlichere Frau, lebhaft und mit Ecken und Kanten.

»Das stimmt«, sagte er. »Vor dem Bruch. Wir hatten … Tatsächlich, Miss Lelache, hatten wir eine Verabredung zum Mittagessen. Im Dave’s in der Ankeny. Wir haben es nicht geschafft.«

»Ich bin nicht Miss Lelache, das ist mein Mädchenname. Ich bin Mrs. Andrews.«

Sie sah ihn neugierig an. Er stand da und ertrug die Realität.

»Mein Mann ist im Krieg im Nahen Osten gefallen«, fügte sie hinzu.

»Ja.« sagte Orr nur.

»Entwerfen Sie alle Sachen hier?«

»Die meisten Werkzeuge und so. Und das Kochgeschirr. Sehen Sie, gefällt Ihnen das?« Er brachte einen Teekessel mit Kupferboden zum Vorschein, massiv und doch elegant, so zweckdienlich entworfen wie ein Segelschiff.

»Wem würde das nicht gefallen?« sagte sie und streckte die Hand aus. Er gab ihr den Kessel. Sie wog ihn und bewunderte ihn. »Ich mag Sachen«, sagte sie.

Er nickte.

»Sie sind ein wahrer Künstler. Er ist wunderschön.«

»Mr. Orr ist Experte für Gebrauchsgegenstände«, warf der Besitzer tonlos aus dem linken Ellbogen ein.

»Hören Sie, jetzt erinnere ich mich«, sagte Heather plötzlich. »Natürlich, das war vor dem Bruch, darum ist in meinem Kopf alles so durcheinander. Sie haben geträumt, ich meine, Sie glaubten, daß Sie Dinge träumen, die dann wahr werden. Ist es nicht so? Und der Arzt hat Sie gezwungen, es immer öfter und öfter zu machen, aber das wollten Sie nicht und suchten nach einer Möglichkeit, wie Sie aus der Freiwilligen Therapie rauskommen konnten, ohne daß Ihnen eine Zwangstherapie aufgebrummt wurde. Sehen Sie, ich kann mich erinnern. Sind Sie denn einem anderen Seelenklempner zugeteilt worden?«

»Nein. Ich bin darüber hinweggekommen«, sagte Orr und lachte. Sie lachte ebenfalls.

»Was haben Sie wegen Ihren Träumen unternommen?«

»Oh … einfach weitergeträumt.«

»Ich dachte, Sie könnten die Welt verändern. Etwas Besseres haben Sie sich nicht für uns einfallen lassen können als — dieses Schlamassel?«

»Es wird wohl so genügen müssen«, sagte er.

Er selbst hätte auch ein kleineres Schlamassel bevorzugt, aber das lag nicht in seiner Macht. Und wenigstens war sie jetzt Teil des Schlamassels. Er hatte sie gesucht, so gut er konnte, hatte sie nicht gefunden und so in seiner Arbeit Trost gesucht; viel Trost hatte sie ihm nicht gerade gespendet, aber es war die Arbeit, für die er geschaffen war, und er war ein geduldiger Mann. Doch jetzt mußte diese trockene und stumme Trauer um seine verlorene Frau ein Ende haben, denn jetzt stand sie hier, die lebhafte, widerspenstige und zerbrechliche Fremde, die er immer wieder neu erobern mußte.

Er kannte sie, er kannte seine Fremde und wußte, wie er sie zum Reden und wie er sie zum Lachen bringen konnte. Schließlich sagte er: »Möchten Sie gern eine Tasse Kaffee trinken? Nebenan ist ein Cafй. Es ist sowieso Zeit für meine Mittagspause.«

»Einen Dreck ist es«, sagte sie; es war kurz vor siebzehn Uhr. Sie sah zu dem Außerirdischen. »Einen Kaffee würde ich schon gern trinken, aber —«

»Ich bin in zehn Minuten wieder da, E’nememen Asfah«, sagte Orr zu seinem Arbeitgeber, als er den Regenmantel holen ging.

»Nehmen Sie Abend frei«, sagte der Außerirdische. »Wir haben Zeit. Es gibt eine Wiederkehr. Gehen heißt wiederkehren.«

»Schönen Dank auch«, sagte Orr und schüttelte seinem Boss die Hand. Die große grüne Flosse lag kühl in seinen menschlichen Fingern. Er trat mit Heather hinaus in den warmen, regnerischen Sommernachmittag. Der Außerirdische, der sie hinter den Glasscheiben des Geschäfts beobachtete wie ein Meereslebewesen in einem Aquarium, sah sie vorübergehen und im Nebel verschwinden.

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