Entgeistert starrte Siggi auf den Freund, der an den Felsen gekettet auf den Tod wartete. Für einen Moment war alles andere vergessen: Gunhild und Laurion, die Swart-alfar und alles, was mit ihnen zu tun hatte; und auch die Hitze, die ihm den Schweiß aus den Poren trieb, den Mund austrocknete und in den Augen brannte, spürte er für einen Moment nicht. Vielmehr glaubte er, sein Blut würde gefrieren, als er Hagen hilflos an den Felsen geschmiedet sah.
»Hagen, was ist passiert?«, schrie Siggi.
»Siggi, endlich bist du da ...«, keuchte Hagen, dem der Schweiß am ganzen Körper herunterlief. Er musste schon länger hier der mörderischen Hitze ausgesetzt sein.
»Diese Schweine!«, grollte Siggi, als er sich seinen Weg über die geronnene Lava am Rand des Feuersees suchte. »Was haben die mit dir gemacht?«
»Sie ... sie haben mich gefangen«, antwortete Hagen schwach. »Sie schleppten mich vor ihren finsteren König, der mich einen Eindringling nannte, der den Tod verdient. Ich wehrte mich, sagte ich wollte gar nichts von ihnen, nannte die Schwarzalben blutrünstige Bestien. Darauf verurteilte er mich zum Feuertod in den Flammen Muspelheims. Er nannte mich einen Verräter und Neiding, der es verdiene, das Schicksal Lokis zu teilen.«
Während Hagen erzählte, sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, das der näher kommende Siggi kaum verstehen konnte.
»Ich krieg dich da los«, sagte Siggi fest. »Mein Hammer wird die Ketten zerschmettern.«
Er hatte Hagen erreicht, der kraftlos in den Fesseln hing. Den Hammer in der rechten Hand, prüfte er die Ketten. Sie waren schwer und massiv.
Ein schneller Blick nach oben sagte Siggi, dass er Zeit genug haben würde, denn die Lava schob sich langsam und träge die Rinne hinab - ein teuflisches System, das Hagen der seelischen Folter aussetzte, den Tod immer vor Augen zu haben, während er darauf wartete.
»Gleich bist du frei«, versuchte Siggi seinem Freund Mut zu machen. Hagen antwortete nicht mehr; der Ohnmacht nahe, hing er in den Ketten.
Siggi sah sich die Fesselung näher an. Natürlich konnte er versuchen, die Ketten, die Hagen an den Felsen banden, nahe der Arme und Beine zu durchtrennen. Allerdings bestand die Gefahr, dass er seinen Freund dabei verletzte. Es gab eine viel bessere Stelle wie Siggi schnell erkannte. In den Felsen waren Ringe getrieben worden, welche die Glieder der Kette hielten. Dort würde der Kriegshammer das schwarze Eisen zerschlagen können.
Siggi erhob den Hammer zum Hieb. Seine innere Ruhe überraschte ihn. Auch der Hammer, nicht nur der Ring, war die Quelle einer Kraft; er spürte das Kribbeln, das von ihm ausging.
»Halt ein, Midgard-Knabe!«, klang eine tiefe Stimme hinter ihm auf. »Führe einen Schlag gegen die Ketten, und du bist des Todes!«
Siggi wirbelte herum, den Hammer erhoben, und sah in die Gesichter mehrerer Schwarzalben, die vor ihm aus einer geheimen Tür getreten waren, welche nun offen stand und einen Blick auf einen dahinter liegenden Stollen freigab. Roter Feuerschein blinkte auf Klingen und Rüstungen; einige der Krieger hielten Geräte in den Händen, die ihn an eine Kombination von Bogen und Gewehr erinnerten - es mussten Armbrüste sein, und sie sahen so aus, als ob ihre Bolzen auf kurze Distanz selbst einen Panzer zerschlagen konnten, von einem Kettenhemd ganz zu schweigen -, und sie waren auf ihn gerichtet.
Einen Schritt vor den anderen stand einer, der ihr König oder zumindest ein sehr mächtiger Anführer sein musste. Er war größer als die anderen. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, seine Augen so dunkel wie Kohle. In seiner Rechten hielt er kein Schwert, sondern eine Axt mit schwarzen, breitem Blatt.
Alles in allem waren es fast ein Dutzend Schwarzalben, alle geübte Krieger, wie es schien, aber seltsamerweise hatte Siggi überhaupt keine Angst. Die Kraft des Hammers, die seine Zuversicht geweckt hatte, versagte ihm auch hier den Dienst nicht. Er packte den Hammer fester und sah, wie eine Art Respekt in den Augen der Schwarzalben aufglomm. Er würde sich nicht so einfach gefangen nehmen lassen, schwor sich Siggi. Er würde sich und Hagen bis zum letzten Atemzug verteidigen.
Und dann war da noch der Ring, seine Geheimwaffe, die ihn unsichtbar machte.
Allerdings gedachte Siggi diesen Vorteil nicht leichtfertig zu verspielen. Seine Gedanken schweiften zu Laurion und Gunhild. Vielleicht waren sie entkommen, und dann würden sie ihm sicher zu Hilfe eilen, und in diesem Augenblick wäre der Moment da, unsichtbar zu werden und der finsteren Brut eins auszuwischen.
Einen Augenblick standen sie einander schweigend gegenüber, der Junge mit dem Hammer und seine gewappneten Gegner - Swart-alfar, untersetzt, muskulös, in Kettenhemden und bereit zum Kampf. Siggi war größer als die Krieger, nur der Anführer mit der Axt überragte ihn an Wuchs. Zum ersten Mal, seit sie ihn, Hagen und Gunhild durch den Wald gehetzt hatten, bot sich ihm die Gelegenheit, die Gesichter der Swart-alfar zu sehen. So furchterregend sahen sie eigentlich gar nicht aus; vielleicht hatten sie im Wald nur deshalb so schrecklich gewirkt, weil sie lautlos erschienen und ihre Mienen nicht zu erkennen gewesen waren. Unbezwingbar waren sie jedenfalls nicht. Auch sie konnten mit einem kräftigen Hieb gefällt werden.
Sie wirkten auch nicht so bösartig, wie Laurion sie geschildert hatte. Entschlossen, ja, und ernst, aber nicht blutrünstig und wild. Auch stürzten sie sich nicht augenblicklich auf ihn, um ihn zu töten. Der ewige Hass der Lichtalben auf die Schwarzalben hatte dazu beigetragen, erkannte Siggi, dass für Laurion die Swart-alfar nichts anderes als Bestien wurden, eben die finstere Brut, die nur aufs Morden aus war.
»Willkommen in Muspelheim«, wurde Siggi begrüßt. »Du willst deinen Gefährten retten?«, fragte ihn der große bärtige Anführer, und Siggi musste sich schwer beherrschen, um den rabenschwarzen Augen standhalten zu können.
»Ja!«, erwiderte Siggi fest, und es klang beinahe wie ein Schwur. Er würde Hagen nicht im Stich lassen. Bei allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, er betrachtete ihn als seinen Freund, und einen Freund würde er nie verraten.
»Gut«, die tiefe Stimme des Swart-alf klang zufrieden. »Dann hast du zwei Möglichkeiten.«
Siggi glaubte nicht richtig zu hören. Man ließ ihm die Wahl. Die Wahl zwischen was? Viele Dinge waren ihm in den letzten Sekunden durch den Kopf gegangen; die meisten hatten mit Kampf und Tod zu tun, aber vielleicht kam er ohne Kampf aus. Er würde den Bärtigen anhören; was mochte es schaden? Kämpfen konnte er immer noch.
»Lass hören.« Die glühende Lava war wieder ein Stück weiter gekrochen. »Ich habe nicht viel Zeit.« Seine Stimme klang fest und entschlossen, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, als einem halben Dutzend mittelalterlicher Krieger ins Auge zu blicken. Vielleicht stumpfte er langsam gegen Gefahr ab? Vielleicht war es wirklich die Kraft des Hammers oder des Ringes? Oder vielleicht hatte er in sich selbst einen Quell der Kraft gefunden, von dem er selber nichts ahnte ... Wie dem auch sei, er hatte keine Zeit für lange Überlegungen. »Lass hören!«
»Entweder wir kämpfen«, sagte der bärtige, hochrangige Swart-alf. »Dann wirst du sterben und nach dir der andere Midgard-Knabe.«
»Nein!«, stöhnte Hagen hinter Siggi, aber er widerstand dem Wunsch, sich nach dem Gefesselten umzudrehen, der hilflos der Hitze ausgeliefert war.
»Oder?«, fragte Siggi, und der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel, dass er kämpfen würde, falls ihm die Alternative nicht gefiel.
»Oder du kannst mir helfen, ein Werk zu vollbringen. Eine kleine Aufgabe für einen Recken wie dich. Nenne es eine Geste, die mich vergessen lässt, dass dieser Knabe«, bei diesen Worten deutete der Swart-alf auf Hagen, »mich auf den Tod beleidigt hat. Nur seine Jugend hat ihn davor bewahrt, in meiner Halle unter den Hieben meiner Axt zu verbluten. Allerdings«, und der Swart-alf lächelte, »ist der heiße Zorn nun verraucht, und ich bin bereit, ihm zu verzeihen. Ich will es auf das Ungestüm der Jugend schieben und diesen Neiding die Möglichkeit geben, zu gehen und nie wiederzukehren.«
Siggi war klar, wenn er vor sich hatte: Alberich, den König der Swart-alfar, der Herrscher der dunklen Brut. Siggi zweifelte nicht einen Moment daran, dass dies Alberich aus den Sagen war und nicht irgendein Herrscher gleichen Namens. Nein, es musste jenes Wesen sein, von dem Odin, der Einäugige, ihnen erzählt hatte. Ein Geschöpf aus der Zeit der Legende, uralt und klug, sehr klug. Und wenn die Legenden wahr waren, dann war er, wie Siggi siedend heiß zu Bewusstsein kam, auch der Schöpfer des Ringes, der in seinem Beutel verborgen war.
»Was geschieht, wenn ich dir helfe, Nibelung?«, stellte er ihn auf die Probe.
»Du kannst deinen Freund befreien, und es steht euch frei zu gehen«, antwortete der Swart-alf. Seine tiefe Stimme klang väterlich; doch so hatte auch die Stimme des Grauen geklungen, und Siggi war nicht darauf hereingefallen. »Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt.«
»Wer sagt mir, dass du nicht lügst?«, fragte Siggi. Es galt herauszufinden, was das Wort des Albenkönigs wert war; denn er war sich völlig bewusst, dass für den angeketteten Hagen hinter ihm die Zeit knapp wurde. Und es wurde Siggi ebenfalls klar, dass ein Kampf Hagens Ende bedeuten konnte, auch wenn er selbst vielleicht noch mal davonkommen mochte.
Alberich ließ sich Zeit mit der Antwort, als überlege er seine Worte, um Siggi zu überzeugen. Aber Siggi war sich klar darüber, dass der Swart-alf längst wusste, was er sagen wollte.
»Wenn du dich weigerst, seid ihr beide des Todes«, sagte Alberich. »Und es ist doch wahrhaft kein zu hoher Preis, mit dem Hammer ein paar Schläge auf den Amboss zu tun, um einen einfachen Speerschaft neu zu schmieden. Und ob ich lüge oder nicht, wirst du erst dann herausfinden, wenn du meine Bitte erfüllt hast.« Alberich ließ seine Stimme fast zu einem Flüstern herabsinken, als er fortfuhr: »Ich will nicht mehr sagen, denn das Gift der bleichen Brut könnte in dir wirken. Die Lios-alfar meinen, dass das Volk der Swart-alfar und ich, ihr Herrscher, Bestien, Lügner und Verräter seien, und sie verbergen ihre Ansichten nicht hinter schönen Worten. Du bist bei ihnen gewesen und hast sie gehört. Nun ist es an dir, ob du ihnen glaubst oder ob du versuchst, dir dein eigenes Bild zu schaffen.«
»Nun«, Siggi fand es an der Zeit, nachzugeben, um nicht noch mehr Zeit zu verschwenden, denn das zähfließende, glühende Gestein kroch immer weiter die Rinne hinunter, um Hagen den Tod zu bringen, »ich denke, ich werde versuchen, herauszufinden, was dein Wort wert ist. Ich werde dir den Dienst leisten, den du von mir verlangst - wenn du meinen Freund Hagen zuvor loskettest. Und dann werden wir sehen ...«
»Und dann werden wir sehen ...«, antwortete Alberich wie ein Echo, und er lächelte dabei, »was geschehen wird, Midgard-Knabe. Du wirst überrascht sein.«
Siggi antwortete nicht. Aber er wusste, sollte es so weit kommen, würde er rasch und ohne zu überlegen handeln. Siggi dachte immer nur noch von Augenblick zu Augenblick, und er wunderte sich kein bisschen darüber, dass es ihm so leicht fiel, denn der Zauderer in ihm schien völlig verdrängt zu sein. Sein Herz pochte, aber nicht aus Furcht, sondern vor einer wilden Freude, die das Blut schneller durch seine Adern trieb.
»Nun denn«, sagte Alberich und hob die Hand. »Macht ihn los.«
Zwei der Swart-alfar traten zu Hagen hinüber, und mit wenigen Handgriffen hatten sie die schweren Ketten von seinen Armen und Beinen gelöst. Fast sah es so aus, als hätte er sich ohne Mühe selber befreien können. Aber das musste eine Täuschung sein, dachte Siggi; was wusste er schon von der Technik der Schwarzalben? Hagen jedenfalls war augenscheinlich am Ende seiner Kräfte; er sackte in sich zusammen und musste von den beiden Kriegern gestützt werden, die ihn mehr mit sich schleiften, als dass er ging.
Alberich wandte sich um und trat hinaus auf eine Anhöhe, die wie eine natürliche Halbinsel in den Lavasee hinausragte. Doch als Siggi ihm zögernd folgte, erkannte er, dass nichts an diesem Vorsprung natürlich war. Stufen waren in den Stein gemeißelt, und aus dem Podest, das sich auf der Kuppe des Hügels erhob, ragte ein einzelner schwarzer Block hervor. Er war rund und ringsum mit verschlungenen Bandornamenten bedeckt, einem Fries, das sich um den ganzen Rand zog. Das Flechtwerk war so verwickelt und verwirrend in seinen Knoten und Verästelungen, dass das Auge ihm nicht folgen konnte; doch es hatte fast den Anschein, als handele es sich um ein einziges Band, ohne Anfang und Ende, geschuppt wie eine Schlange. In dem unsteten Licht, das von dem Lavasee heraufschimmerte, schienen die schuppigen Windungen zu leben - ein ewiger Tanz, voller Schönheit und Gefahr zugleich. Der Spiegel des Steines war glatt wie Glas, doch als Alberich sich darüber beugte, war kein Spiegelbild darin zu sehen, nur ein Reigen von aufglimmenden Strahlen, schimmernden Fäden gleich, die aus dem Nichts heraufstiegen und wieder im Dunkel vergingen.
»Dies ist der Amboss der Hei«, sprach der Herr der Swart-alfar. »Auf ihm wurde vor Urzeiten das Schicksal der Welt geschmiedet. Große Dinge nahmen von hier seinen Ursprung. Kleinode von mächtiger Zauberkraft sind hier entstanden. Hier schmiedeten die Zwerge von Brisings Stamm das Halsband der Welten. Und ich ...« Er brach ab, aber Siggi wusste genau, was er sagen wollte, als hätte er es laut ausgesprochen.
Ich schuf hier den Ring.
Heiß brennt das Feuer der Zwergenglut, doch heißer noch war der flammende Reif, der vor seinem geistigen Auge stand. Der Ring rief ihn mit Macht, und er musste mit Gewalt an sich halten, nicht in die Tasche zu greifen und ihn sich überzustreifen. Es wäre so einfach gewesen. Doch er durfte es nicht tun. Er musste an seine Freunde denken, an Hagen, an Gunhild und Laurion. Zeit! Er musste Zeit gewinnen. Seine Hand schloss sich um den Griff des Hammers, und Kraft durchflutete ihn.
Alberich machte eine kurze herrische Geste, und einer der Krieger, die immer noch das Schwert gezückt hatten, ließ seine Klinge in die Scheide gleiten, eilte durch die Geheimtür hinaus, um gleich darauf mit einem Bündel aus grauem Tuch zurückzukehren. Geradezu ehrfurchtsvoll überreichte er es seinem König.
Alberich warf das Bündel auf den Amboss und riss das Tuch beiseite.
»Sieh hier, Midgard-Knabe ...«, begann er.
Doch Siggi unterbrach ihn: »Nenn mich bei meinem Namen, Wicht! Ich bin Siegfried.«
War es ein Donner, der verhalten grollte, oder nur eine Bewegung in den Lavamassen, die sich gegeneinander rieben?
Alberich wirkte zum ersten Mal ein wenig aus der Fassung gebracht. »Das ist der Speer, den du für mich schmieden sollst.«
Siegfrieds Blick fiel auf die beiden Bruchstücke, die auf dem Amboss lagen. Sie waren so schwarz wie das Material, aus dem der geheimnisvolle Obelisk geschaffen war. Seltsame Zeichen bedeckten ihn, eingeritzt, dunkelrot gefärbt, schimmernd im Widerschein der Feuerzungen, die aus den Tiefen des Steines aufschienen.
»Was ist das für ein Speer?«, fragte Siegfried, obwohl er in diesem Augenblick die Antwort schon erahnte.
»Es ist der Speer, den einst Walvater Odin trug. Ich will ihn wieder zusammensetzen, um ihn als Schmuck in meiner Halle zu sehen«, antwortete der Nibelung. »Er wird mich alter Zeiten gemahnen.«
»Wird das, was von Siegfried zerschlagen wurde und von Siegfried neu geschmiedet werden soll, nicht seine einstige Macht zurückerhalten?«, fragte Siggi.
Der Herr der Swart-alfar lachte.
»Oh, Midgard-Knabe, weder du noch ich sind Götter. Wir haben nicht die Kraft, dem, was einst zerbrochen wurde, die eigentliche Macht zu geben. Wir können nur die äußere Hülle wiederherstellen.« Alberich sah Siggi fest ins Auge. »Die Zeit zaubermächtiger Waffen ist vorbei. Andere Dinge sind an ihre Stelle getreten, auf ihre Art genauso mächtig wie der Zauber der Götter, aber doch von ganz anderer Weise. Glaubst du, ich würde Maschinen für mich arbeiten lassen, wenn ich alles auch mit einem Zauber erledigen könnte? O Midgard-Knabe, wäre ich mächtig genug, hätte ich den Speer Walvaters längst von eigener Kraft neu geschmiedet und mit der Macht versehen, die Zeit der Altvorderen wieder auferstehen zu lassen. Für diese Zaubermacht würde ich selbst meine Maschinen ruhen lassen. Aber was nicht sein kann, wird nicht erzwungen werden können.«
»Gut«, sagte Siggi. Die Argumente waren einleuchtend, und doch überzeugten sie ihn nicht ganz. Vielleicht lag es an dem mythischen Ort, an dem sie sich befanden, wo ein Traum mächtiger erschien als die Wirklichkeit. Und hatte nicht auch der Siegfried der Nibelungensage das zerbrochene Schwert seines Vaters neu geschmiedet? »Dann lass uns ans Werk gehen, Nibelung!«
Alberich hob die Hand, und nun sah Siggi, wozu jene Rinne, in der die heiße Lava auf Hagen heruntergeronnen war, wirklich diente. Alberichs Kriegsknechte zogen einen Schieber beiseite, und der Strom der flüssigen Glut wurde umgeleitet, dass er auf den Amboss zuzufließen begann. Doch kurz vorher teilte er sich in zwei in den Boden vertiefte Kanäle, die auf der anderen Seite wieder in einer steinernen Esse zusammenflossen, sodass der Amboss selbst nun von einem feurigen Ring umgeben war, dessen Kraft sich im Schmiedeofen bündelte.
Dort lag das Handwerk des Schmiedes bereit: Zangen und Flaschenzüge, Bohrer und Zwingen und Hämmer jeglicher Art, vom schweren Vorschlaghammer bis zum feinsten Punziereisen. Alberich nahm eine Zange und legte das erste der beiden Bruchstücke in die Glut, dann das zweite; dann rief er mit mächtiger Stimme, die über den Lavasee hallte: »Zieht die Bälge! Blast, Winde!«
Ein Donnergrollen, stärker als das erste, antwortete ihm. Oder war es nur Siggi allein, der es hörte?
Die Swart-alfar legten sich in die Blasebälge; die Glut im Ofen fachte auf; das seltsame Material des Speeres, das eher an Holz als an Eisen erinnerte, veränderte die Farbe zu einem dunklen Rot. Die Runen, die bislang nur als vertiefte Schatten im Widerschein des Feuers sichtbar gewesen waren, schienen nun von innen zu glühen.
Die erste Speerhälfte wurde auf den Amboss geworfen. Die Strahlen aus der Tiefe des Steins schossen empor, legten sich um den Schaft, als wollten sie ihn in die Tiefe ziehen, verwoben sich in ihn hinein. Und Siggi wusste plötzlich - er hätte selber nicht sagen können woher -, wobei es sich bei diesen leuchtenden Bändern handelte: Es waren die Lebensfäden der Götter und Menschen, welche die Nornen gewoben hatten, und die sich nun mit dem Speer des Schicksals verflochten.
Der zweite Teil des Speeres wurde auf den Amboss geworfen, rot glühend wie der erste.
Alberich stand wie ein Riese der Urzeit vor seinem Werk, in jeder Hand eine schwarze Zange; nichts Zwergenhaftes war mehr an ihm. Mit den schweren Zangen schob er die beiden Bruchstücke gegeneinander, bis sie einander fast berührten. Ein Lichtbogen sprang zwischen ihnen auf.
Speer und Lichtschein ergaben die Form einer Rune.
Thurs.
Thors Rune!
Das Donnergrollen war stärker geworden; sie mussten es jetzt einfach hören, dachte Siggi. Er spürte, dass die Luft wie mit Elektrizität geladen war; die Härchen in seinem Nacken und auf seinen Armen stellten sich auf.
»Such dir einen Hammer und schlag zu!«, befahl Alberich.
»Ich habe einen Hammer!«, rief Siegfried, packte den Hammer der Asen, den er immer noch in der Hand hielt, und hielt ihn hoch empor. Er wusste nun, was er zu tun hatte. »Thor!«, schrie er. »Komm herbei! Dein Hammer ruft dich!«
Ein Donnerschlag, der die Festen der Erde erzittern ließ. Unmittelbar gefolgt von einem Blitz, der über den Feuersee zuckte, sich in den Milliarden spiegelnder Flächen und Blasen erkalteter Lava brach und schließlich gebündelt auf dem höchsten Punkt zusammentraf: dem Hammer in Siggis Faust.
Der Blitz durchfuhr Siggi von Kopf bis Fuß, doch er versengte ihn nicht; vielmehr schien der Junge zu wachsen, sich auszudehnen. Sein Brustkorb wölbte sich; seine Arme wurden stark und muskulös; rotblond flammendes Haar umwallte sein Haupt. Vor Alberich dem Zwergen stand Thor, der Donnergott, der seinen Hammer Mjölnir zum furchtbaren Schlag erhoben hielt.
Und doch war es nicht Thor allein, sondern in dieser Gestalt war auch etwas von Siggi - von dem Helden, der in Siggi lebte und in Siegfried gelebt hatte, aber auch etwas von dem Midgard-Knaben, der so viel Mut brauchte, um seine eigene Angst zu bezwingen.
Thors Hammer tat seinen ersten Schlag.
Heißer als die Glut, die in der Erde brennt, ist die Kraft in den Herzen der Helden. Der blendende Blitz, der von dem Speer ausging, riss Siggi in einen Wirbel aus Licht. Und er ritt mit Thor in seinem von Böcken gezogenen Wagen über die Fluren von Asgard, watete durch die Ströme, die so seltsame Namen hatten wie Fimbulthul, Örm und Ising. Denn Thor fuhr in das Reich der Riesen, um seinen Hammer heimzuholen, und das kam so: Eines Morgens war Thor erwacht und hatte seinen Hammer nicht vorgefunden. Weder Flüche noch Drohungen halfen, doch der Dieb gab sich bald zu erkennen. Es war kein anderer als Utgard-Loki, der König der Riesen, und als Lösegeld für Thors Hammer verlangte er nichts weniger als die Hand Freyas, der Göttin der Liebe.
Odin rief sofort eine Ratsversammlung der Asen ein. Tyr und Njörd stimmten für einen bewaffneten Einmarsch, doch Odin sprach: »Ein Krieg gegen die Riesen würde uns teuer zu stehen kommen. Weiß niemand einen besseren Rat?« Da sagte Loki: »Lasst es uns deshalb mit einer List versuchen. Soll Thor als Frau verkleidet gen Jötunheim reisen und den Hammer als Brautgabe verlangen.« Dies sagte er nur, weil er Thor der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Doch die anderen hießen den Plan gut, und so musste auch der Donnergott mit Zähneknirschen zustimmen.
So reiste Thor zur Burg der Riesen, in wallenden Gewändern und mit Zorn im Herzen, und sprach sein Begehr. Darauf erwiderte der König der Riesen: »Drei Proben will ich dir auferlegen, ehe ich dir den Hammer Mjölnir in den Schoß lege. Bist du bereit, sie zu wagen?«
»Nur zu!«, sagte Thor.
Als erste Probe sollte er mit Utgard-Loki selbst um die Wette essen. Doch als der mächtige Thor sein Mahl verschlungen hatte - und Thor war der größte Esser unter den Asen -, stellte er fest, dass der König der Riesen die gleiche Menge verzehrt hatte und noch die Knochen und den Trog obendrein.
»Wenn die Maid nicht essen kann, mag sie wenigstens trinken!«, sprach der König der Riesen. Als zweite Probe gab er Thor ein großes Horn voll Wasser zu leeren, doch so viel dieser auch schluckte - und Thor war der größte Trinker unter den Asen -, fand er den Spiegel des Wassers doch nur wenig gesenkt.
»Wenn die Maid nicht trinken kann, kann sie wohl auch nicht kämpfen.« Als dritte Probe ließ er Thor einen Ringkampf austragen, doch zum Gegner benannte er eine alte Frau, die so schwach aussah, dass ein Windstoß sie umwehen könnte. Doch als Thor mit ihr rang - und Thor war der größte Ringkämpfer unter den Asen -, konnte er sie doch nicht besiegen und wurde schließlich selbst mit einem Knie zu Boden gezwungen.
Da sprach Utgard-Loki: »Ich, gegen den du im Wettessen angetreten bist, bin kein anderer als das Feuer, das alles verschlingt. Und das Horn, aus dem du getrunken hast, war das Meer, und so gewaltig hast du getrunken, dass es dort nun auf ewig Ebbe und Flut gibt. Die Frau aber, die du nicht besiegen konntest, war das Alter, das am Ende selbst die Götter in die Knie zwingt. Du bist wahrhaft würdig, meine Frau zu werden.« Und er legte der als Braut gewandeten Gestalt den Hammer Thors in den Schoß.
Da hob die Maid den Hammer hoch ... ... und Mjölnir tat seinen zweiten Schlag.
Heller als das Feuer, das in den Herzen der Helden brennt, ist das Licht im Auge der Götter. Wieder wurde Siggi hinweggetragen in einem wilden Wirbel; wieder reiste er mit Thor auf seinem von Böcken gezogenen Wagen. Doch diesmal ging die Reise hinab in die Unterwelt, das Reich der Hei, und das kam so: Baldur, Odins Sohn, war der schönste unter den Göttern. Eines Morgens kam er zu seinem Vater und sprach: »Ich habe einen bösen Traum gehabt, dass mein Leben in Gefahr sei, aber kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da befragte Odin die Runen, und die Runen sagten ihm, dass Baldurs Tod der Anfang vom Ende der Götter sein würde.
Daraufhin versammelten sich die Asen zum Rate, und sie beschlossen, Feuer und Eisen und jeglichem Metall, Wasser und Stein, Bäume und Tiere und allem, was krank macht oder Gift in sich trägt, einen Eid abzufordern, dass sie Baldur kein Leid tun würden. Und alle Lebewesen und alle Dinge waren Baldur dem Schönen so zugetan, dass sie gelobten, ihm niemals ein Unheil zuzufügen.
Als eines Tages die Götter sich auf dem Idafelde zu Asgard damit vergnügten, Baldur auf die Probe zu stellen, und mit Stöcken und Steinen nach ihm warfen, ohne ihn zu verletzen, schlich sich Loki, der Baldur hasste, an den blinden Gott Höd heran und fragte ihn: »Warum wirfst du nicht auf Baldur?«
»Ich bin blind, und darum geben mir die anderen nichts, womit ich werfen könnte.«
»Dann nimm diesen Zweig hier, und erweise Baldur die Ehre.«
Der Zweig aber war ein Mistelzweig; denn Loki wusste, dass von allen Gewächsen nur die Mistel nicht hatte schwören müssen, weil man sie für zu jung und unreif hielt. Höd warf den Zweig, und Baldur sank zu Boden und war tot. Da weinten die Götter, und es weinte alle Kreatur; nur Loki konnte nicht weinen, und hätte auch er nur eine Träne vergossen, wäre Baldur gewiss von den Toten auferstanden. So aber musste Odins Sohn in das Reich der Hei hinabsteigen.
Für seinen Leib errichteten die Götter einen großen Scheiterhaufen, und Odin selbst gab Baldur seinen Ring Draupnir als Grabbeigabe, von dem jeden Morgen neun Ringe tropfen, und ehe er das Holz in Brand setzte, flüsterte er dem Toten etwas ins Ohr.
Loki aber banden die Götter, und sie warfen ihn in die tiefsten Höhlen von Muspelheim, dass er sich dort in ewigen Qualen winde, bis das Ende der Welt gekommen sei.
Darauf warf sich Odin seinen Mantel um und stieg hinab in die Unterwelt. Neun Tage und neun Nächte war er im Reich der Hei verschollen, bis die anderen Asen um ihn fürchteten. Doch keiner wollte es wagen, ihm zu folgen. Da spannte Thor seine beiden Böcke vor den Wagen, und mit ihnen eilte er durch die Luft zu den tiefsten Wurzeln des Weltenbaumes, wo das Reich der Tiefe beginnt. Doch er sah, dass der Weltenbaum angefangen hatte zu dorren, und die Nebel, die aus der Tiefe drangen, waren klamm wie die Finger des Todes. Und die Nornen sah er nicht.
Dafür traf er eine in Grau gehüllte Gestalt, die schweigend in der Dämmerung stand. Und sie sprach folgende Stäbe:
»Schwarz wird die Sonne, /es versinkt die Erde,
Vom Himmel schwinden /die heiteren Sterne
Rauch und Flammen / rasen umher.
Vieles weiß ich, / weit voraus schau ich
Der Welten Ende, / der Walgötter Sturz:
Schwertzeit, Beilzeit, / Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit, / eh die Welt vergeht.
Brüder befehden sich / und fällen einander,
Geschwister sieht man / die Sippe brechen.
Der eine schont / den andern nicht mehr.
Was ist bei den Asen? / Was ist bei den Alben?
Yggdrasil zittert, /die Götter sammeln sich.
Zwerge stöhnen / vor steinernen Türen,
Wenn der Wurm erwacht - wisst ihr noch mehr?«
Keiner hat den Inhalt jenes Gesprächs je gekannt, das Odin und Thor an der Schwelle zur Unterwelt führten. Doch nun hatten sie einen Zeugen - einen Knaben aus Midgard, der unsichtbar bei ihnen war.
Thor sprach: »Dann gibt es keine Hoffnung mehr?«
»Die Götterdämmerung naht«, erwiderte der Graue. »Wer mag sie aufhalten?«
»Dann sag mir, was du dem Baldur ins Ohr geflüstert hast, als man ihn auf den Holzstoß band.«
Da sprach Odin zu Thor: »Hoffnung liegt allein in den Kindern, wenn mein Plan gelingt. Selbst Loki mag noch eine Rolle zu spielen haben vor dem Ende. Denn sind wir nicht Brüder, wir drei, Hoch, Ebenhoch und Dritt, wie Donner, Blitz und Sturm? Ehe das Ende hereinbricht, werden wir noch manchen mit uns ins Verderben reißen ...« ... und der Hammer senkte sich zum dritten Mal!
Heller als das Licht im Auge der Götter ist die Flamme der Freiheit, die in der menschlichen Seele wohnt.
»Nein!«, rief Siggi.
Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Bewegung. Denn plötzlich hatte er erkannt, dass sie alle, Gunhild, Hagen und er, nur Teil eines teuflischen Plans waren, den Odin vor Urzeiten ersonnen hatte, um die Götterdämmerung zu verhindern - einen Plan, der beim ersten Mal misslungen war, durch alte Schuld und alte Feindschaft, und den er nun, am Ende seiner Kraft, noch einmal ins Werk setzen wollte.
Der Hammer verharrte in der Bewegung.
Sehnen spannten sich, Muskeln traten wie dicke Knotenstränge hervor, als der Gott und der Mensch miteinander kämpften. Langsam, Millimeter um Millimeter wurde der Hammer hinuntergezwungen. Ob er den Speer je wirklich berührte, Siggi hätte es nicht sagen können.
Denn um dem Arm hatte sich plötzlich ein Band gelegt, geschuppt, wie das Ornamentband, das den Rand des Ambosses umgab. Doch dieses Band schwoll und verdickte sich, wurde zu einer Schlange, die eine zweite Windung um Thors Arm flocht, eine dritte und vierte. Dann war sie überall zugleich, umgab den Gott von allen Seiten.
»Jörmungand!« Die Stimme Thors war ein Kampfesruf und ein Schrei der Verzweiflung zugleich.
Die Midgardschlange, welche die ganze Welt umspannte, ohne Anfang und Ende, hob ihr Haupt. Schlaufe um Schlaufe rollte sich um den Amboss heran, legte sich um Arme und Beine, Rumpf, Hals und Haupt.
Thor kämpfte wie ein Berserker. Donner grollte in der Luft. Sein Hammer schlug Funken aus dem Schlangenleib, drang tief in die metallischschimmernde Haut. Doch wo er eine Windung des Ungeheuers zertrennte, türmten sich zwei weitere auf, bis er ganz von den schuppigen Schlingen umgeben war. Immer noch kämpfte Thor, aber die Schlange zog sich fester und fester, bis er sich nicht mehr rühren konnte, weil der endlos gewundene Leib ihn zerquetschte. Und der Hammer entfiel seiner kraftlosen Hand.
Siggi, der in dem ersten Ansturm Jörmungands beiseite geschleudert worden war, hob ihn auf. Er war wieder er selbst. Doch wie unter einem inneren Zwang stand er auf, um dem Gott, an dem er Anteil gehabt hatte, die letzte Ehre zu erweisen.
Es war ein qualvolles Sterben. Das mächtige Haupt der Midgardschlange bäumte sich auf, bis es an die Decke der riesigen Kuppel stieß, und senkte sich dann herab. Dann öffneten sich die gifttriefenden Kiefer, und schlossen sich um ihre Beute. Doch sie verschlangen Thor nicht mit einem Mal, sondern langsam, Stück für Stück. Es schien ewig zu dauern, bis er verschwunden war und das letzte Grollen des Donners verebbte.
Dann entrollte die Schlange ihre Windungen und zog sich wieder zusammen, Schlinge um schuppige Schlinge, bis sie wieder nicht mehr war als ein endlos geflochtenes Band, das einen schwarzen Stein im Zentrum der Anderswelt umgab.
Noch völlig unter dem Eindruck des Erlebten stehend, wandte Siggi sich um. Er fühlte noch die Gegenwart des Donnergottes in sich wie ein Nachbeben. Die Wesenheit Thors, jene Mischung aus mächtigem Gott des Krieges, Bauern und unbekümmertem Abenteurer, klang in ihm nach wie ein gewaltiges Echo.
Seine wilden Fahrten, das Ringen mit den Ungeheuern, das ungezähmte Wesen des Donnergottes würde Siggi für den Rest seines Lebens prägen, ebenso wie das Zwiegespräch der Götter, dessen Zeuge er geworden war, bevor ihn der Donnerer wieder verlassen hatte.
Siggi ließ Alberich, der hinter dem Amboss in die Knie gefallen war, die Schmiede und den Speer hinter sich. Die Rechte umklammerte den Hammer, sodass die Knöchel der Finger weiß hervortraten. Wie in Trance überschritt er den Lavaring, der glühend den Amboss umgeben hatte und nun zu schwarzer Schlacke erkaltet war, und ging auf die Stelle zu, wo Hagen immer noch kraftlos zwischen den Wachen der Swart-alfar hing.
»Wartet!«, ertönte die tiefe Stimme Alberichs hinter Siggi. »Ich habe euch versprochen, ihr könntet dahin gehen, wohin ihr wollt!«
Siggi wandte sich um. In seinem Gesicht lag wilder Grimm, ein Zorn, den er ohne die Nachwirkungen der Wesenheit Thors nicht hätte empfinden können. Siggi hob Mjölnir, den Hammer des Donnerers, um ihn gegen jeden zu verwenden, der ihm im Weg stehen würde, sei es Albe, Mensch oder Gott.
»Was ist, Nibelung? Tritt jetzt deine Hinterlist zutage?«, rief Siggi, und seine Stimme grollte wie ferner Donner.
»Hinterlist?«, antworte Hagen anstelle des Herrn der Swart-alfar und sprang auf die Füße, um, als fehle ihm nichts, an die Seite Alberichs zu eilen. »Nenne es Kriegslist; denn ich bin ein Krieger und Prinz der Swart-alfar.«
Mit allem hatte Siggi gerechnet, aber nicht damit. Er war so überrascht, dass erst wieder Leben in ihm kam, als Hagen Alberich erreicht und ihm aufgeholfen hatte.
Siggi hatte alle Mühe, sich zu beherrschen. Alles in ihm schrie danach, loszustürzen, um Alberich und Hagen mit Mjölnir niederzustrecken. Aber etwas in ihm wehrte sich gegen blinde Gewalt, ja, verteidigte Hagen, der bestimmt mit Versprechen und dem süßen Gift der Versuchung auf die Seite der Swart-alfar gelockt worden war.
Und wenn dem so war, war es Siggis Aufgabe, Hagen zu überzeugen, dass er die falsche Seite gewählt hatte.
»Warum? Wieso hast du das getan, Hagen?«, wandte er sich direkt an den Freund - wenn er es überhaupt noch war oder je gewesen war -, aber noch bevor dieser antworten konnte, kam für Siggi die nächste Überraschung, die ihn für Augenblicke Hagen völlig vergessen ließ.
»Ho, Alberich! Sieh her!«, ertönte die Stimme Odins, die voller Erwartung und Hoffnung war. »Ich bringe dir den Lohn für die glorreiche Tat!«
Der Göttervater trat durch das gleiche Tor, durch das Alberich erschienen war. Und Siggi sah, dass Odin Gunhild in der Gewalt hatte. Fest umklammerte er ihren linken Arm; ihrem Gesicht sah man an, dass der Griff des Alten ihr Schmerzen bereitete. Auf ihrer Brust schimmerte das Gold des Halsbandes wie in qualvollen Zuckungen. Begleitet wurden sie von drei Schwarzalben, von denen zwei den bewusstlosen Laurion mit sich schleppten.
»Hier ist es, Brisingamen, die Belohnung dafür, dass du meinen Speer neu geschmiedet hast«, verkündete Odin.
Siggi stand da mit offenem Mund. Waren denn alle Verräter? War auch Odin sich nicht zu schade, mit den Swart-alfar, die er als Feinde hingestellt hatte, gemeinsame Sache zu machen? Und doch, Siggi hätte es wissen müssen. Hatte er nicht das Gespräch zwischen Odin und Thor an der Wurzel des Weltenbaumes noch im Ohr, aus dem hervorging, dass die Götter in der Tat nur an sich selber dachten und die Menschen nur als Werkzeuge benutzten?
Für den Augenblick schien Siggi nur eine Nebenrolle in dem Drama zu spielen, als Odin mit großer Geste auf Alberich zuschritt. Der graue Mantel wehte um seine hagere Gestalt. Die Raben hockten wie zu Schatten gewordene Gedanken auf seinen Schultern.
»Dein Lohn, Nibelung! Brisingamen und eine Tochter Midgards als Beigabe!« Odins Stimme hallte durch das Gewölbe. Siggi stand in seinem Rücken, und konnte so das Gesicht nicht sehen, aber er wusste, dass es unter der Haut über dem leeren Auge arbeitete wie Maden im verfaulenden Fleisch und dass die Züge des Gottes von wilder Erwartung verzerrt waren.
Alberich griff den Speer, der vergessen auf dem schwarzen Ambossstein gelegen hatte, und hob ihn empor. Siggi hielt den Atem an. Hatte Thors letzter Schlag doch noch getroffen? Der Speer war heil und ganz; doch wenn noch Macht darin lag, war sie tief in seinem Inneren verschlossen. Die eingeritzten Runen starrten wie tote Augen. Nur die Bruchstelle glühte noch in einem matten Rot.
»Ho, Siegvater!«, antwortete Alberich. »In der Tat, der Speer ist neu geschmiedet.« Ein Grinsen verzerrte des Nibelungen Gesicht zu einer Fratze des Triumphes. »Aber was soll ich mit meinem Lohn? Es ist ein Schmuck für das Eheweib, das ich nie begehrte. Was schert mich solcher Tand, wenn ich das hier haben kann!« Dabei sah Alberich auf den Runenspeer, das Symbol der Macht seines alten Widersachers. »Mich, den Kriegsherrn der Swart-alfar, schmückt doch der Speer Siegvaters viel mehr, nicht wahr? Er wird mir so nützen wie dir. Und ich werde nicht versagen, wie du es getan hast. Und du, Einauge, wirst in diesem Plan auch eine Rolle spielen - als mein Hofnarr!«
Odin erstarrte in der Bewegung. Bei jedem Wort zuckte er förmlich zusammen. Alberich, in dessen Gesicht Siggi sah, war sich seines Sieges bewusst. Eine nachlässige Geste mit der Rechten und zwanzig Krieger mit Schwertern und gespannten Armbrüsten traten aus der geheimen Pforte zu den Feuern Muspelheims. Auch die bereits in Muspelheim befindlichen Schwarzalben zogen ihre Klingen.
Die Raben, die auf Odins Schultern hockten, flatterten krächzend auf. Pfeile zischten und trafen sie mitten im Flug. Der eine stürzte flügelschlagend auf den harten Basaltboden, zuckte noch einen Augenblick und lag dann still. Der andere wurde von der Wucht der Geschosse über den Rand des Lavasees getragen und verendete mit einem Aufflammen im Muspelfeuer.
Odin sah sich hilflos um; er war nicht imstande, auch nur ein Wort zu sagen. In Siggi hallten die Worte der Verborgenen Königin wie ein Echo wider: Lass dein Herz sprechen, Einauge. Gefühle und Weisheit sind nicht immer eins. Höre auf die Stimme deines Herzens. Der Graue hatte nicht auf sein Herz gehört, sondern seiner Klugheit vertraut. Und so war Odin verraten worden. Fast empfand Siggi ein wenig Mitleid mit dem Mann, der kleiner geworden zu sein schien - kein Gott mehr, sondern nur noch ein müder Greis, dessen letzte, verzweifelte Hoffnung sich als Illusion herausstellte. Seine Rechte wurde kraftlos, entließ Gunhild aus dem eben noch eisenharten Griff.
Siggi sah sich hastig um. Dies war die Gelegenheit; doch er musste versuchen, nicht nur Gunhild zu retten, sondern auch Laurion, den die Swart-alfar achtlos zu Boden geworfen hatten. Immerhin hatte er dem Lios-alf sein Leben zu verdanken. Und außerdem brauchten sie Laurion; denn ohne ihn den Weg zum Ausgang zu finden, das war kaum möglich.
Laurion hatte noch sein Schwert; die Swart-alfar mussten ihm keine Gelegenheit gegeben haben, die Klinge blank zu ziehen. Aber noch viel wichtiger: Er trug die Wasserflasche bei sich. Auf dem Wasser lag der Zauber der Königin. Damit konnte Siggi den Lichtalben wieder auf die Beine bringen.
»Höre, Einauge!«, ertönte Alberichs tiefer Bass. »Sieh her!« Siggis Blick fuhr automatisch herum. Auch Odin hob das Gesicht, als folge er einem Befehl, und obwohl Siggi ihm nicht in die Augen schauen konnte, erkannte er doch, dass in dieser Geste keine Heuchelei lag, kein Hohn und keine Ironie. Siegvater war gebrochen, seine letzte Chance war vertan. Alberich triumphierte, und er nutzte seinen Sieg, um Odin zu demütigen. »Ich gebe diesen Speer meinem Sohn Hagen, dem Prinzen der Swart-alfar, auf dass er in meinem Namen damit große Taten vollbringe.«
Sohn!, hallte es in Siggi wider. Es musste eine Menge geschehen sein in den Stunden, die Hagen im Reich der Swart-alfar verbracht hatte. Wie tief mochte das Gift der Feindschaft bereits in dem Freund sitzen?
Hagen nahm mit beiden Händen den Runenspeer Odins entgegen.
»Seid bedankt für das Vertrauen, Vater«, sagte Hagen und neigte den Kopf vor dem Schwarzalbenkönig. Wieder wallte Zorn in Siggi auf, und wieder gelang es der Vernunft, den unbeherrschten Grimm niederzuringen. Seine Stunde würde kommen; er musste nur Geduld haben.
Zögere nicht zu lange!, schien etwas mit der Stimme des Donnerers in ihm zu sagen. Verschlafe nicht den Augenblick der Tat!
Siggis Blick fiel auf Laurion, dessen Gesicht ihm zugewandt war. Der junge Lichtalbe war bei Bewusstsein, und er zwinkerte Siggi zu, als wolle er sagen, dass er bereit sei. Siggi schob die Schlaufe, an der Mjölnir hing, um das Handgelenk, um den Hammer Thors nicht zu verlieren. Seine linke Hand tastete nach dem Beutel an seinem Gürtel.
»Und nun, Hagen, mein Sohn«, begann Alberich leise, fast schnurrend zu sprechen, bevor seine Stimme geradezu explodierte: »Töte ihn!« Sein Finger wies auf Siggi. »Töte ihn, denn er hat den Ring des Nibelungen, der mir gehört!«
Für einen Moment schien in Muspelheim jedes Geräusch zu verstummen. Die Stille war absolut. Alle in dem gewaltigen Felsendom erstarrten, als Alberichs Befehl wie ein Blitz zwischen sie einschlug.
Auch Siggi war für einen Augenblick wie gelähmt. Der Ring war kein Geheimnis mehr. Hagen hatte ihn verraten. Mit weit geöffneten Augen starrte er den schwarzhaarigen Jungen an, der nun der Prinz der Swart-alfar war. Quälend langsam hob Hagen den Speer, und die Spitze der Waffe wies genau auf Siggis Brust.
Täuschte Siggi sich, oder sah in den Augen Hagens tatsächlich ein Flackern, begann die eiserne Spitze des Runenspeers nicht leicht zu zittern? Siggi stand keine zehn Schritte von Hagen entfernt. Selbst ein Ungeübter musste auf diese Entfernung treffen.
»Töte ihn, Hagen!«, dröhnte Alberichs Stimme. »Töte Siegfried!«
Atemlose Stille lag über Muspelheim; die Spannung in der Luft war geradezu greifbar. Hagen hatte den Speer des Schicksals erhoben. Jetzt brauchte er nur noch die Spitze in Siggis Brust zu versenken, um dem Wunsch - nein, dem Befehl - seines Vaters nachzukommen.
»Wirf!«
Hagen zog die Hand zurück, bereit zum Wurf. Aber Siggi sah das unmerkliche Zittern in Hagens Muskeln, den winzigen Moment des Zögerns, bevor die Entscheidung fiel.
Jetzt oder nie!
Siggi griff in den Lederbeutel. Wie von selbst glitt der schwere, einfache Goldring über seinen Finger, und zugleich machte Siggi einen Satz auf die Stelle zu, wo seine Schwester stand.
In dem Augenblick, als Siggi den Ring des Nibelungen über den Finger streifte, verschwamm seine Gestalt und war nicht mehr zu erkennen. Nur einen Lidschlag später wurde auch Gunhild unsichtbar.
Alberich, die Swart-alfar, Hagen und auch der gebrochene Odin waren für einen Moment unfähig zu reagieren. Darauf hatte Siggi gehofft. Gunhild war noch wie erstarrt, und er zog sie mit sich.
Ein Swart-alf versperrte ihnen den Weg. Siggi sah keine Möglichkeit; er schwang Mjölnir, und der Hammer Thors traf den Schwarzalben mitten auf die Brust. Rippen knackten, und dem Krieger entwich pfeifend die Luft; schmerzgebeugt sank er in sich zusammen und rang nach Atem.
»Mîm«, entfuhr es Hagen, als er sah, wie dieser wie von einem Schlag aus dem Nichts getroffen zusammenbrach. Er ließ den Speer sinken, denn es gab nichts mehr, auf das er hätte zielen können.
Siggi lief vom Ausgang weg, suchte hektisch den Boden ab, fand schließlich einen Stein, und nahm ihm vom Boden auf. Er zog Gunhild weiter in Richtung der Lavarinne, wo Hagen angekettet gewesen war. Er hatte wenig Mühe, den Schwarzalben auszuweichen und Gunhild mitzuziehen, die gar nicht richtig zu begreifen schien, was vorging.
Was Siggi überraschte, war, dass er Gunhild sehen konnte. Aber das war gut so, hatte er so doch wenigstens ein Auge auf seine Schwester.
»Ergreift sie! Lasst sie nicht entkommen!«, gellte Alberichs Schrei durch den Kuppelsaal. Seine Stimme überschlug sich fast und hallte von den Wänden wider.
In dem Moment, als die Worte des Nibelungen verklangen, warf Siggi den Stein in Richtung der Geheimtür, durch die Alberich und Odin getreten waren. Deutlich war der Aufschlag des Wurfgeschosses zu hören.
»Da!«, rief Alberich. »Da sind sie. Los, jagt sie! Und bringt mir den Ring!«
Als die Swart-alfar auf die Tür zueilten, kam plötzlich Leben in Laurion. Er sprang auf die Füße und riss sein Schwert aus der Scheide. Einige der Swart-alfar wichen ihm aus, aber vier Kriegern, unter ihnen dem verwundeten Mîm, konnte er den Weg verstellen, sodass sie sich diesen erst freikämpfen mussten.
»Sei ganz ruhig«, nutzte Siggi den Tumult, um Gunhild ins Ohr zu flüstern. »Wir sind unsichtbar. Keiner wird uns erkennen!«
Gunhild sagte nichts, dann nickte sie langsam, und es schien Siggi, als erwachte seine Schwester nach und nach aus einem furchtbaren Albtraum, der sie umfangen hatte.
Laurion hielt die vier Krieger der Swart-alfar scheinbar mühelos in Schach. Siggi sah atemlos zu, wie der Lios-alf mit aller Geschicklichkeit kämpfte, die ihm zu Gebote stand. Immer wieder gelang es ihm, die Attacken seiner Angreifer zu parieren, ihren Hieben auszuweichen, und keinen der Gegner in seinen Rücken gelangen zu lassen.
Gunhild wollte aufschreien, als sie das Kampfgeschehen sah, aber Siggi merkte es noch rechtzeitig und legte ihr die Hand auf den Mund. Der Schrei erstickte, bevor er ausgestoßen wurde.
»Ganz ruhig«, flüsterte Siggi. »Wir können ihm nicht helfen.«
Siggi krampfte sich das Herz zusammen. Ihm war klar, dass Laurion sich für sie opferte, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen; denn auf die Dauer hatte er keine Chance.
Da! Laurion wurde am linken Arm getroffen. Die scharfe Klinge eines Schwarzalben war ihm in den Oberarm gedrungen; helles Blut spritzte hervor. Laurion taumelte. Wie leblos hing nun sein linker Arm herunter. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
Wie von Sinnen hieben die Schwarzalben auf ihren Gegner ein; selbst der verwundete Mîm führte sein Schwert, als wäre er vollkommen gesund. Nur mit Mühe konnte Laurion sich noch halten und wich immer weiter zurück.
Gunhild vergrub den Kopf an Siggis Schultern, wollte nicht mehr sehen, wie ihr Lebensretter und Freund starb. Siggi spürte, dass Gunhild weinte.
Er selbst konnte den Blick nicht von dem Kampf lassen, obwohl er es eigentlich nicht mit ansehen wollte. Aber der Krieger in ihm wusste, dass er damit Zeugnis für den letzten, heldenhaften Kampf eines Freundes ablegte.
Siggi hätte fast laut aufgeschrien, als der Lios-alf strauchelte. Ein Swart-alf stürzte vor, aber wie von selbst zuckte Laurions Klinge nach oben und fand ihren Weg durch Knochen, Fleisch und Sehnen. Als der Schwarzalbe auf den Boden aufschlug, war er bereits tot.
Die drei verbliebenen Gegner wurden vorsichtiger, wollten ihn nur noch in die Enge treiben. Der stark blutende Arm und zwei, drei weitere kleinere Wunden, die Laurion davongetragen hatte, würden ihn schwächen, und dann wäre er eine leichte Beute für die Swart-alfar.
»Greift an!«, brüllte der von rasenden Zorn erfüllte Alberich. »Erschlagt den Neiding!«
Der Befehl ihres Königs trieb die Krieger an, nun wieder mit Ungestüm auf Laurion einzudringen. Doch einer von ihnen trat dabei einen Schritt zu weit vor. Es war der letzte Fehler, den er in seinem Leben machte.
Laurion stieß einen Triumphschrei aus, und Siggi konnte kaum fassen, was er sah: Der Verwundete ging zum Angriff auf seine beiden noch verbliebenen Gegner über, ohne Rücksicht auf Verluste.
Einer der Swart-alfar sah eine Lücke in Laurions Deckung und stieß mit dem Schwert danach. Doch dieser duckte sich zur Seite, dass die Klinge seine Haut nur ritzte, und sein Schwert bohrte sich tief in den Bauch des Swart-alf, sodass der Krieger hustend und schreiend zu Boden sank. Gerade noch rechtzeitig konnte Laurion das Schwert aus dem Sterbenden ziehen, bevor der es ihm bei seinem Sturz aus den Händen prellen konnte. Nun stand nur noch ein Swart-alf Laurion gegenüber. Laurion hob grüßend die rotverschmierte Klinge.
»Laurion, zu Diensten, um euch zur Hei zu schicken«, sagte der Lios-alf keuchend.
»Mîm, euch zum gleichen Dienst verpflichtet«, erwiderte der Schwarzalbe und spuckte Blut. Es war der Krieger, dem Siggi mit Mjölnir die Rippen zerschmettert hatte.
Gleich darauf stürmten die beiden aufeinander ein. Siggi sah fasziniert und zugleich angewidert zu. Die Toten, all das viele Blut! Hatte es denn wirklich so weit kommen müssen? Und Siggi erkannte, dass der Hass zwischen den beiden Völkern viel zu tief verwurzelt war. Der Krieg und auch dieser Kampf waren unausweichlich. Was sich womöglich schon irgendwo anders in diesem Höhlenlabyrinth im Großen abspielte, fand hier im Kleinen statt; die Entladung unendlich alten Hasses, geschürt in Äonen, gepflegt von allen.
Laurion taumelte eigentlich nur noch; der letzte Vorstoß schien seine ganze Kraft erschöpft zu haben. Der Swart-alf, der sich Mîm genannt hatte, trieb ihn geradezu vor sich her. Trotz der gebrochenen Rippen schien er der frischere von beiden zu sein. Seine Hiebe waren wuchtig, und Siggi konnte sehen, dass Laurions Schwertarm bei jedem parierten Hieb zitterte. Dem Lichtalben fiel es zunehmend schwerer, die Waffe erneut zu heben, um die Hiebe des Gegners abzuwehren.
»Töte ihn!«, gellte der hasserfüllte Ruf Alberichs durch die Lavahalle. »Mach ein Ende, Mîm, und räche die Toten, die der bleichen Brut zum Opfer fielen!«
Mîm raste. Berserkerwut hatte ihn erfasst, und Laurion konnte diesem Ansturm nicht mehr widerstehen. Das sah Siggi genau. Und auch der Lios-alf musste das wissen.
Laurion erwartete den Ansturm des Schwarzalben mit geöffneten Armen. Er bekam die Klinge in den Bauch, ließ sich nach vorn fallen und verkeilte das Schwert so mit seinem Körper. Schon im Sturz verschleierte sich sein Blick, doch sein Wille war ungebrochen.
Mîm, für den Bruchteil eines Augenblicks abgelenkt, vielleicht auch zu erschöpft durch die eigene Verletzung, sah die Klinge nicht kommen, die ihm, mit Laurions allerletzter Kraft geführt, tief in die Seite drang. Ein Blutschwall schoss aus seinem Mund, und er starb in seines toten Feindes tödlicher Umarmung.
»Mîm!«, rief Hagen aus. Und Siggi erkannte, dass Mîm für ihn etwas Ähnliches gewesen war wie Laurion für sie: ein Freund in einer fremden Welt. Siggi standen die Tränen in den Augen, als er die beiden Toten betrachtete.
Völlig starr, den Speer in Hand, den Kopf gesenkt, stand Hagen da. Er war von den Ereignissen überrollt worden - und er besaß niemanden, keine Schwester, keinen Freund, sich daran zu halten oder Trost zu finden.
Nur noch Hagen und Alberich waren auf der Walstatt verblieben. Odin, der Graue, war irgendwann während des Kampfes verschwunden, und niemand hatte gesehen, wohin er geflohen war. Siggi hatte kein Mitleid mit dem Alten, der durch seine Gier nach dem Erhalt seiner Macht eine gehörige Mitschuld daran trug, dass alles so weit gekommen war.
»Hagen!«, grollte Alberich. »Du bist es nicht wert, den Namen der Nibelungen zu tragen. Große Hoffnungen hatte ich in dich gesetzt, aber bei der ersten Probe deines Mutes versagst du kläglich! Ich verstoße dich. Du bist mein Sohn nicht mehr.«
Hagen drehte sich um und rannte zur Pforte hinaus, rannte blindlings in das Labyrinth der Gänge. All seine Träume, Wünsche und Hoffnungen waren in der heißen Luft Muspelheims zerronnen wie Schnee in der Morgensonne. Mit großen Erwartungen war er gekommen, als Prinz der Swart-alfar; nun ging er dahin als ein Verstoßener, geächtet und wie ein Hund davongejagt.
Erst als Hagen verschwunden war, fiel Siggi auf, dass ihr Freund den Speer des Schicksals immer noch bei sich trug.
Doch Alberich schien es nicht zu kümmern. Der Nibelung stand regungslos vor dem schwarzen Amboss, um den sich in ewigem Kreis die Midgardschlange zog. Seine Augen waren schwarz wie Kohle, der Blick darin undeutbar. Dann schlang er den schwarzen Mantel um sich und verließ mit schweren Schritten die Feuer von Muspelheim. Er hatte einen Krieg zu führen.
Unsichtbar und vor allen Blicken verborgen, blieben Siggi und Gunhild zurück.