6
Der Speer des Schicksals

Hagen erlebte alles nur noch wie im Traum. Die kleinwüchsigen Frauen führten ihn durch die Halle des Königs. Die Umstehenden bildeten trotz des Tumults, der nach Alberichs Rede ausgebrochen war, eine Gasse, und ehrfurchtsvoll neigten die Swart-alfar ihre Köpfe, um ihm zu huldigen. Hagen begriff nur langsam, dass er gleichsam adoptiert worden war, zum Prinz der Schwarzalben erhoben von Alberich, dem König selbst.

Der Lärm und das Durcheinander drangen nur gedämpft an Hagens Ohren. Die Schwarzalbinnen führten ihn behutsam aus der Halle durch einige Gänge in einen kleinen Raum, der eine Mischung aus Rüstkammer und Nähstube bildete.

Willig ließ sich Hagen seine Kleidung abnehmen; kaum bemerkte er, dass ihn die Frauen neue Kleider anpassten. In ihm brodelte es. Nun hatte er die Gelegenheit, es Siegfried und seiner Schwester heimzuzahlen! Und es schien ihm, als würden ihm die Gedanken zugetragen, dass Alberich mächtiger war als die bleiche Brut, zu der Siggi bestimmt schon zählte.

Siggi hat mich im Stich gelassen, dachte der Junge. Dieser Bastard hat mich einfach im Stich gelassen.

Hat er, schien eine andere Stimme in ihm zu antworten.

Er hat mich bestohlen, einfach bestohlen.

Hat er, war die Antwort.

Ich bin von ihm verraten und verkauft worden.

Bist du, klang es wie ein Echo.

Ich will Rache! Hagens Innerstes war voller Grimm.

Die sollst du haben, war die einfache Feststellung der Stimme in Hagen, die ihm wie ein Schatten seiner eigenen Stimme antwortete.

Ohne dass es ihm bewusst war, steigerte er sich immer weiter in seine Wahnvorstellungen hinein. Für ihn war das Einzige, was noch zählte, die Rache, seine Vergeltung an Siggi und dessen nicht minder verachtenswerten Schwester Gunhild, die diesen Schwächling schützte - aber Hagen war nun stark genug, um es mit beiden aufzunehmen.

Der aufgestaute Zorn, der unterdrückte Hass auf die Geschwister brannte heiß in ihm. Hagen konnte es kaum noch erwarten, ihnen gegenüberzutreten, und dann würde sein Zorn auf Siggi und seine Schwester hereinbrechen wie ein Orkan. Er sah sich an der Seite Alberichs die Schwarzalben gegen die Lios-alfar führen, sah förmlich, wie das bleiche Gezücht Asgards zerschlagen wurde von der dunklen Flut der Swart-alfar.

»Herr?«, erreichte Hagen die Stimme einer Frau. »Herr!«

Hagen war, als tauche er aus einem tiefen Schacht empor. Er brauchte einen Moment, bis er erkannte, wo er war, so sehr hatten ihn seine Fantasien im Griff. Ihm war, als würde er aus einem Traum erwachen.

Als er an sich heruntersah, stellte er fest, dass er vollkommen neu gewandet war. Völlig willenlos hatte er sich von den dienstbaren Geistern ankleiden lassen, während er seinem Rachetraum nachgehangen und die Fantasien von Sieg und Macht ausgekostet hatte.

Seine Kleidung war schwarz, durchsetzt von silbernen Stickereien. Er trug einen weiten Umhang, der von einer silbernen Fibel gehalten wurde; sie zeigte eine gewaltige Schlange oder ein Seeungeheuer, das sich selbst in den Schwanz biss. An seiner linken Seite spürte er ein Gewicht. Seine Linke tastete danach, und er bekam den Knauf eines mehr als einen halben Meter langen Schwertes zu fassen, der kalt in seiner Faust ruhte.

Ein seltsames Gefühl beschlich Hagen, als er das kalte Metall fühlte. Er griff mit der Rechten danach und zog das Schwert blank. Die Klinge glitt mit Leichtigkeit aus der gefütterten, mit feinen Silberarbeiten verzierten Scheide.

Die Schwarzalbinnen traten einige Schritte zurück, senkten den Blick und warteten ab, was Hagen tun würde.

Ein prickelndes Gefühl ungeheurer Macht durchlief Hagen, dass er unwillkürlich erschauerte. Ihm war, als wäre er mit der Waffe in der Hand geboren, als wäre er dazu bestimmt, dieses Schwert zum Ruhme Alberichs und der Swart-alfar zu führen. Und natürlich zu seinem eigenen.

Probehalber ließ er die Klinge einige Male durch die Luft sausen. Obwohl er das Gewicht des Metalls deutlich spürte, schien es doch so leicht wie eine Feder zu sein. Das Heft schmiegte sich in seine Hand, als habe der Schmied, der diese wundervolle Waffe einst schuf, bei ihm Maß genommen, als habe dem Meister des edlen Schmiedehandwerks seine Hand als Modell gedient.

Ein kaltes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, das all die Gefühle wiedergab, die in ihm tobten.

»Ich komme, Siggi«, murmelte er mehr zu sich selbst.

»Wohl gesprochen!«, erklang hinter Hagen eine Stimme, die ihm so vertraut war, als hätte er sie sein Leben lang gehört.

Hagen wandte sich um. Er sah Alberich direkt in die Augen, ging förmlich auf in dem wilden Blick des Herrn der Swart-alfar, und die Macht des Königs, der ihn an Sohnes statt angenommen hatte, ließ in ihm eine verwandte Saite anklingen. Ja, für ihn war Alberich mehr als ein Vater; denn der Herr der Schwarzalben hatte ihn sofort verstanden, hatte einen Blick in sein Herz geworfen, und ihn besser erkannt, als jeder Mensch es vermocht hätte.

»Komm, mein Sohn«, forderte Alberich ihn auf. »Es ist an der Zeit, in die Thronhalle zurückzugehen.«

Mîm trat vor. Er verneigte sich kurz vor Hagen.

»Mîm wird deine Schildwache sein«, gab ihm der König zu verstehen. »Er wird dir dienen und dich im Kampf beschirmen, auf dass wir beide noch lange in der Anderswelt herrschen mögen - nachdem wir dem bleichen Gezücht und ihrer Königin gegeben haben, was ihnen gebührt.«

Um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen, hob Alberich seine mächtige Streitaxt. Das Eisen des Stiels war nachtschwarz. Das breite geschwungene Blatt schimmerte mattsilbern im fahlen Licht der Rüstkammer. Eine Wunde von dieser Waffe musste tödlich sein. Alberich hängte die Axt an seinen breiten Gurt.

»Ich bin bereit, Meister«, antwortete Hagen und salutierte mit dem Schwert, ehe er es in die Scheide zurücksteckte.

»Bitte, Hagen«, begann Alberich, »ich sehe in dir einen Sohn, und so erweise mir bitte die Ehre und nenne mich Vater. Wir sind, wenn nicht von gleichem Blut, so doch eines Geistes - des Geistes, der nach Rache und Vergeltung an Dieben und Verrätern schreit.«

»Ich bin bereit, Vater«, wiederholte Hagen und sah dem Herrn der Swart-alfar ins Gesicht. Für einen Moment schien es, als spiegele sich darin eine lang entbehrte Freude. Aber der Eindruck war schnell wieder vorbei, und das Feuer des Hasses, des Zorns und der unbefriedigten Rache kehrte in Alberichs Augen zurück.

Aber Hagen hatte den Moment des Erkennens bemerkt, der ihm gegolten hatte. Sein leiblicher Vater hatte ihn nie mit einem solchen Blick angesehen. Wenn Hagen es recht bedachte, war der Blick seines Vaters eher von Missachtung und Gleichgültigkeit geprägt gewesen. Selbst Siggi wurde von seinen Eltern geliebt, aber die würden ihren kleinen blonden Wunderknaben nicht mehr wiedersehen.

Hagen hatte seinen wahren Vater gefunden, einen, der ihn und seine Gefühle verstand.

»Komm, Sohn«, sagte Alberich nur. »Folge mir in die Halle.«

Hagen lächelte. Stolz brandete in ihm auf. Nun würde alle neidisch auf ihn sein. Und niemand würde ihm je wieder etwas wegnehmen können.

So machten sich der König der Swart-alfar und sein neuer Sohn auf den Weg aus der Rüstkammer zurück in die Halle. Mîm folgte ihnen auf dem Fuße. Die Frauen blieben zurück.

Ihre Blicke folgten dem König, und in den Augen der Frauen standen die widersprüchlichsten Gefühle: Stolz, Ehrfurcht und Zorn, aber auch Trauer, Angst und Mitgefühl. Sicher waren die Frauen stolz darauf, ihre Söhne und Männer in Kampf gegen das bleiche Gezücht Asgards ziehen zu sehen, aber auf der anderen Seite würden manche vielleicht aus diesem Kampf nicht zurückkehren, würden tot auf dem Schlachtfeld zurückbleiben. Frauen würden zu Witwen werden, Kinder zu Waisen. Das galt auch für die Lios-alfar, und so sehr die Frauen auch hassten, ein Rest von Mitgefühl mit ihren bleichen Schwestern auf der anderen Seite blieb bestehen.

Und dann gab es da immer noch die Legenden von der letzten Schlacht, welche die Anderswelt auslöschen, vernichten würde ...

Die Skalden sangen in ihren Liedern von diesem letzten großen Gefecht, bei dem das Feuer Muspelheims durch die Höhlen und Dome rasen würden, der Tod reichliche Ernte hielt und Mann, Frau und Kind durch die Hiebe von Äxten oder Schwertern fielen oder vom Feuersturm ins ewige Nichts gerissen wurde.

Und hatte der König nicht den Ruf nach der letzten Schlacht ausgestoßen? War er sicher, dass er damit meinte, dass das bleiche Gezücht zu besiegen und in das Joch zu zwingen wäre? Konnte diese letzte große Schlacht überhaupt einen Sieger haben? Die Zweifel wuchsen, und die Furcht blieb.

Kam das Ende der Anderswelt? War Ragnarök da? Ragnarök - der Weltuntergang!

Die Frauen kannten die Antwort nicht, aber es war eine besondere Nacht, und Legenden waren auferstanden, die in Gestalt eines Midgard-Knaben unter ihnen wandelten. So war es auch bei der bleichen Brut; auch sie hatten ihre Helden gefunden. Waren das nicht Vorzeichen genug?

Doch der König hatte gesprochen. Er wollte die Schlacht, und das Volk würde ihm folgen, ob zum Guten oder Bösen ...

Weder Alberich noch Hagen sahen die Zweifel in den Augen der Frauen. Ihr Ziel war die große Königshalle. Im Gleichschritt gingen der König der Swart-alfar und sein Prinz. Mîm folgte ihnen dichtauf.

Der junge Krieger hatte die Blicke der Frauen gesehen, aber er verstand nicht, was in den Augen zu lesen war. In ihm brannte die Lust zu kämpfen, seinem und dem Namen seines Königs Ehre zu machen. Es war die Vorfreude, von der bleichen Brut den Blutzoll zu fordern; denn sie hatten in den unzähligen Scharmützeln in den Tiefen der Anderswelt das Leben vieler seiner Kameraden genommen. Das machte den jungen Krieger blind für die Gefühle der Frauen, und so sah Mîm auch seine eigenen Ängste nicht, die er tief in seinem Innern hegte.

Hagen fühlte sich so frei wie noch nie zuvor in seinem Leben. Den Weg zurück zur Halle nahm er bewusst wahr, versuchte jede Sekunde davon in sich aufzunehmen, sich keinen Moment entgehen zu lassen, um die Huldigung des Volkes noch mehr genießen zu können.

»Vater?« Hagen wandte sich an Alberich, der hoch aufgerichtet neben dem Jungen ging. »Vater, werde ich im Kampf gegen Siggi, den Ringdieb, bestehen?«

»Du hast ihn schon einmal besiegt, mein Sohn«, entgegnete Alberich, und sein Blick war tief und unergründlich.

»Aber das war nicht ich ... Das war - ein anderer«, wandte Hagen ein.

»Alles wiederholt sich im ewigen Kreislauf. Die Nornen weben unsere Schicksalsfäden, deinen ebenso wie meinen. Es kann kein Zufall sein, dass Siegfried und du jetzt und hier erschienen seid.«

»Aber ...«, doch Hagen konnte seinen Gedanken nicht mehr formulieren, weil ein Swart-alf in blinkender schwarzer Rüstung herantrat.

»Meister«, wandte sich dieser mit dringlichem Unterton in der Stimme an Alberich, den König der Schwarzalben. »Eure Heerführer bedürfen dringend Eures Rates.«

Alberich nickte nur.

»Warte hier, Hagen«, sagte er nur. »Und lass dir in der Zeit von Mîm erzählen, welche Heldentat von dir oder«, fügte er lächelnd hinzu, »von meinem anderen Sohn Hagen vollbracht wurde.«

Hagen wäre lieber mitgegangen und fragte sich, ob es irgendeinen Grund geben mochte, weshalb sein neuer Vater ihn nicht dabeihaben wollten. Aber Alberich musste dies sogleich erkannt haben, und noch bevor der Junge irgendwelche Einwände formulieren konnte, fühlte er die Hand des Herrn der Swart-alfar auf der Schulter. Tief sah Alberich ihm in die Augen.

»Für dich ist es wichtiger, diese Geschichte zu hören, als irgendwelche Fragen des Aufmarsches unserer Krieger und Kämpfer zu beurteilen. So wie ich es sehe«, sprach Alberich, »ist unser beider Platz nicht im Schlachtgetümmel; wir haben einen anderen Kampf zu kämpfen. Und du brauchst Wissen, um diesen Kampf zu bestehen. Mîm wird dir alles erklären.«

Mîm nickte knapp. Zusammen mit Hagen sah er Alberich nach, der dem Krieger folgte und nach wenigen Schritten irgendwo im Labyrinth der Gänge verschwand.

Mîm wandte sich ernst an Hagen.

»Dies ist die tragische Geschichte unseres Volkes«, begann er, »welches das erste war, das auf Erden geboren wurde. Aus Orgelmir gingen wir hervor, den Odin und seine Brüder ohne Grund töteten und zerhackten; Fleisch vom Fleisch der Erde sind wir, und darum ist uns Macht über alle irdischen Dinge gegeben, über Stein und Eisen, Feuer und Wasser, Silber - und Gold.

Doch die Asen, die in ihrer Arroganz von den luftigen Höhen Asgards auf uns niederblickten, neideten uns das Gold, das wir aus dem Leib der Erde bargen und aus dem wir Dinge schufen, die sie niemals hätten vollbringen können: Brisingamen, das Band der neun Welten, und den Einen Ring, der Macht über alle Dinge besitzt.

Vor allem Odin, der danach strebte, alles zu beherrschen, sah in uns eine Gefahr für seine Pläne. Und so nahm er uns das Gold, durch Betrug und Gewalt, um einen Eid nicht einlösen zu müssen, den er geschworen hatte. Doch den Ring, den er begehrte, musste er gleichfalls mit zu dem Schatz werfen, und dass dieser Ring der Macht nicht an seiner Hand war, fraß an ihm wie eine schwärende Wunde.

Doch niemand, der unter dem Gesetz der Natur geboren war, konnte den Regeln zuwiderhandeln, die Odin selber aufgestellt hatte - für alle, die er unter die Macht seines Speeres zwang, aber zugleich auch für sich selbst.

Darum ging Odin hin und zeugte mit einem Menschenweib ein Zwillingspaar, deren Kind seinen Plan erfüllen sollte.

Alberich, unser Meister, der Odin beobachtete, versuchte, diesen Plan zu vereiteln. Aber die Menschen, tapfere Krieger, die er aussandte, trafen Vater und Sohn nicht an. Sie töteten das Weib und schleppten die Tochter fort. Aber Odin gelang es mit Winkelzügen, die beiden Geschwister dennoch zusammenzubringen, und ein Erbe wurde gezeugt: Siegfried.

Aus Angst vor den Folgen, die sein Eingreifen für ihn selbst haben könnte, verriet Odin seinen eigenen Sohn; dafür stellte sich Siegfried, nachdem er das Gold und den Ring errungen hatte, gegen ihn und tat, was sonst keiner hätte vollbringen können: Er zerbrach Odins Speer.

Doch auch Alberich hatte in weiser Voraussicht einen Sohn gezeugt. Er sollte die Rache an den Weisungen, Odins Brut, vollenden.

Sein Name war Hagen.«

»Hagen ... war Alberichs Sohn?«, konnte Hagen sich nicht enthalten zu fragen.

»Nach außen hin galt er als Sohn des Königshauses der Burgunden, doch kein menschlicher Vater hatte ihn gezeugt. Alberichs leiblicher Sohn war er und sein Erbe, zu dem er nun dich erkoren hat. Die Geschichte malt ihn immer in den düstersten Farben, doch er war seinem Vater treu und seinem Auftrag, das Gold und den Ring wieder in den Besitz der Nibelungen zu bringen.

An den Hof der Burgunden kam Siegfried, als strahlender Held, nachdem er Brunhild, Odins Walküre, befreit hatte, die einst seine Mutter gerettet hatte und dafür von dem Einäugigen aus Rache in einen Zauberschlaf versenkt worden war. Doch sobald er die schöne Gudrun, die Schwester des Burgundenkönigs erblickte, verschwendete er keinen Gedanken mehr an seine erste Liebe. Ja, er half dem König sogar, Brunhild für sich zu gewinnen, obwohl er ihr die Ehe versprochen hatte. Mit dem Ring der Macht, der ihn unsichtbar machte, half er ihm, die Walküre im Kampf zu besiegen, doch dann, als er bei Nacht an seiner statt zu ihr ging, gab er ihr den Ring als Zeichen seiner Treue. Darüber kam es zum Streit zwischen den beiden Frauen, und Gudrun bat Hagen, ihre Ehre zu rächen, und so tötete er Siegfried an Mimirs Brunnen mit dem Speer. Und so vollendete sich der Fluch Odins.

Den Schatz aber, der nun Gudrun als Siegfrieds Erbin gehörte, versenkte er in den Tiefen des Rheins, und keiner hat ihn je mehr gesehen. Doch Gudrun hat diese Schmach nie verwunden, und darum führte sie Hagen, ja, ihre ganze Sippe, an den Hof des Hunnenkönigs, den sie geehelicht hatte, und durch ihren Verrat ging das ganze Geschlecht der Burgunden dahin.«

»Und was ist aus dem Ring geworden?«, fragte Hagen.

»Brunhild trug ihn bei sich, als sie zu Siegfried auf den Scheiterhaufen sprang, um mit ihm in den Tod zu gehen. Und seitdem hielten wir ihn für verloren. Doch vielleicht ist er mit ihrer Asche in den Rhein versunken und gelangte von dort zurück in Mimirs Quell, in den alle Wasser der Welt am Ende münden.

Damit war auch des Ende der Asen gekommen. Denn ohne Odins Zauber verging ihre Macht. Walhall zerfiel, der Glanz der Götter verblasste. Und sie, die einst die Herren der Welt gewesen waren, wurden zu Naturgeistern und Spukgestalten, die vergehen, wenn der Glaube der Menschen an sie vergeht.«

»Die Götterdämmerung«, sagte eine andere Stimme. »Sie kam nicht mit Donnerhall und Schlachtgetöse, sondern mit einem Winseln. Und dann kam Herr Odin eines Tages angekrochen, als Bittsteller, mit den Resten seines einst stolzen Volkes. ›Lichtalben‹ nannten sie sich; mehr war von den stolzen Asen nicht übrig geblieben. Ein Plätzchen wollten sie erbetteln in unserer düsteren Unterwelt. Doch als ich ihnen sagte: ›Geht! Ihr habt uns genug Leid gebracht‹, da drangen sie mit Gewalt in unser Reich ein, und seitdem herrscht bitterer Zwist zwischen den Letzten der Lios-alfar und den Erben der Nibelungen.«

Ohne dass es Hagen bemerkt hatte, war Alberich hinter ihn getreten. Alberichs Miene war undurchschaubar; ein alter Groll schien in ihm zu toben, aber da war noch etwas, das Hagen nicht zu deuten wusste. Doch auch Hoffnung flackerte in diesem Blick, und Hagen war sicher, dass ihm diese Hoffnung galt - ihm ganz allein.

»Lass uns in die Halle gehen ... Vater«, sagte Hagen.

Der König der Swart-alfar nickte nur, wandte seinen Blick von Hagen und ging an der Seite des Jungen den Gang in Richtung Königshalle hinunter.

Ohne weiteren Aufenthalt betraten sie die königliche Halle und gerieten mitten ins Getümmel.

Hagen war fast ein wenig enttäuscht, hatte er doch gehofft, bei seiner Rückkehr in die Halle hofiert zu werden, aber Alberichs Volk war zu beschäftigt. Eilig rannten die Schwarzalben hin und her. Es ging zu wie in einem Ameisenhaufen, doch jeder der Eilenden hatte seine Aufgabe und sein Ziel. Die große Schlacht gegen ihre Erzfeinde, die Lios-alfar, stand bevor, und jeder Einzelne hatte seinen Teil beizutragen.

»Bringt Speise und Trank für den Prinzen und mich!«, befahl Alberich und setzte hinzu. »In meine Gemächer.«

Dann ging er um den Drachenthron herum, und Hagen erkannte, dass der Thron wie eine Brücke aus dem Felsen herausgemeißelt war. Und dahinter hatten die Swart-alfar in langer, mühevoller Arbeit die Gemächer ihres Königs aus dem harten, grauen Fels getrieben. Die Wände wirkten wie poliert, und waren mit Darstellungen von heldenhaften Kämpfen und vielen anderen Motiven aus Sage und Legende verziert, alle mit Stein in Stein ausgeführt, in feinsten Mosaiken. Die Farben waren kräftig und klar.

Sie betraten eine Art Arbeitszimmer des Königs. Eine Karte des Höhlensystems mit Alberichs Königshalle als Zentrum war hier in die Wand eingelegt worden, in feinstem Detail gearbeitet und mit goldenen Runen beschriftet.

An der gegenüber liegenden Wand fand sich das Motiv des Drachen wieder, der auch den Thron des Königs in der großen Halle bildete, nur mit einer Ergänzung: Zu seinen Füßen gleißte es hell von einem gewaltigen Schatz, auf dem der Drache zu brüten schien.

Sie nahmen an einem Tisch Platz. Mîm blieb an der Tür stehen. Auch wenn hier im Zentrum des Schwarzalbenreiches keine Gefahr drohte, gab seine ruhige, stets kampfbereite Gegenwart Hagen ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit. Sein breites Gesicht war so ernst wie immer, und mittlerweile verstand Hagen auch ein wenig, warum dem so war.

Schon bald wurden ihnen Speisen und Getränke aufgetragen. Zwei silberne Becher und ein Krug mit einem goldfarbenen Getränk und ein Berg Fleisch auf einer Platte aus gebranntem Steingut wurden hereingebracht.

Der Duft des gebratenen Fleisches machte Hagen bewusst, wie hungrig und auch durstig er war. Er folgte dem Vorbild Alberichs, der mit den Händen zugriff.

Das Getränk, das ihm von Mîm in den großen silbernen Becher gegossen wurde, war eigenartig. Es schmeckte nach Honig, aber kaum hatte Hagen den Becher geleert, fühlte er sich geradezu beflügelt, aber andererseits so, als wäre sein Geist auf Flaum gebettet. Er fühlte sich leicht wie eine Feder.

»Was ist das?«, fragte er.

»Met«, sagte Alberich. »Honigwein.«

»Alkohol?«, fragte Hagen.

»Viel«, sagte Mîm, ausnahmsweise einmal lächelnd. »Met macht fröhlich, verleiht übermenschliche Kräfte, gibt dem Skalden Inspiration, lässt den Zecher bleiern schlafen, und am anderen Morgen hat man ein Bergwerk im Schädel.«

Hagen schmeckte das Getränk ausgezeichnet. Er wollte mehr, aber Alberich legte ihm die Hand auf den Arm.

»Nein, Hagen«, sagte der König. »Es ist nicht gut, vor der Schlacht viel Alkohol zu trinken. Er steigt zu Kopf.«

Hagen machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Sei nicht traurig, mein Sohn«, fuhr Alberich fort. »Nach der Schlacht kannst du so viel trinken, wie du willst, aber bedenke, du hast eine Aufgabe vor dir. Du musst bei Verstand sein.«

In Hagens Gedanken formte sich das Bild Siggis, des Ringdiebes, und er wusste, dass er einen klaren Kopf behalten musste, wenn er auf ihn traf, damit er jeden Moment seiner Rache genießen konnte.

»Ich verstehe«, nickte er.

»Bringt Wasser!«, befahl Alberich. Und bald darauf löschte Hagen seinen Durst mit dem besten Quellwasser, das er je getrunken hatte.

Das Mahl wurde schweigend beendet. Dienstbare Geister räumten die Platten und Krüge ab, säuberten den Tisch und reichten Alberich und Hagen eine Schale mit Wasser, sodass sie sich die Hände waschen konnten.

Hagen war satt, und sein Durst war gelöscht. Zufrieden lehnte er sich in seinem weich gepolsterten Stuhl zurück.

Er war müde, spürte nun, nachdem er gegessen und getrunken hatte, die Strapazen der letzten Stunden. Die Augen fielen ihm zu, und ohne es zu wollen, döste er ein.

Augenblicklich schien er zu träumen: Hagen sah Siggi und den Ring, und ein dunkles Verlangen begann in ihm zu wachsen ... Den Ring, tief in der Tasche verborgen, fest in der linken Hand, den Hammer ebenso fest mit der rechten umklammert, tappte Siggi durch die Unterwelt.

Der Schimmer, der sie bisher in allen Höhlen begleitet hatte, war hier zu einem düsteren Glimmen abgesunken, dass man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Die vier Gestalten, die im Gänsemarsch durch den Gang schlichen, waren nicht mehr als Schatten, die Kinder zwei dunkle Umrisse, die Lios-alfar zwei hellere Schemen.

»Wo sind wir hier?«, fragte Gunhild flüsternd, an Yngwe gewandt, der hinter ihr ging.

Yngwe sah sie an, und in seinen hellen Augen war wieder jener seltsame, fast verehrungsvolle Ausdruck, den Gunhild bemerkte, seit sie das Halsband der Königin trug. Sie fragte sich, ob hinter dem Mienenspiel der Lios-alfar die Verehrung für ihre Königin steckte, die ihr dieses überaus schöne Geschenk gemacht hatte, oder mehr.

»Wir sind in den umkämpften Bereichen. Weder der dunklen Brut unter ihrem Herrn Alberich noch unserer Königin ist es je gelungen, hier dauerhaft zu herrschen. In den vielen, vielen Jahren seit wir hier leben, haben hier unzählige Lios-alfar ihren letzten Atemzug getan, aber auch viele von Alberichs finsteren Schergen sind hier vernichtet worden.« Die Stimme des jungen Kriegers klang gepresst, seine Gesichtszüge verhärteten sich, und unwillkürlich griff seine Hand nach dem Schwert.

»Warum habt ihr diesen Krieg begonnen?«, wollte Gunhild wissen, während sie über einen Haufen Steine kraxelte.

»Weil die Swart-alfar unsere Feinde sind.«

»Aber diese Feindschaft muss doch einen Grund haben?«, ließ Gunhild sich nicht abspeisen.

»Wir kamen hierhin«, zischte Yngwe, »nachdem unsere Hoffnungen zerstört waren - zerstört durch Hagen, Alberichs Sohn, der Siegfried, den letzten Helden aus Odins Geschlecht, heimtückisch gemeuchelt hatte. Hätten wir seine Kraft besessen, hätten wir vielleicht noch alles zum Besseren wenden können. So aber verging Walhall, und wir, die wir auf Asgards lichten Höhen thronten, mussten als Flüchtlinge über die Welt ziehen. Ja«, fuhr er fort, »wir waren Asen einst. Zu Alben sind wir geworden, Geschöpfen des Zwielichts.«

»Aber wo sind die großen Götter geblieben?«, fragte Gunhild. »Thor und Loki und wie sie alle hießen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Yngwe. »Nur Freya war bei uns, und von ihren goldenen Äpfeln ernährten wir uns, doch auch sie besaßen nicht mehr die Kraft von einst. Und als wir, von den Menschen vertrieben, eine letzte Zuflucht suchten, da kam der Graue - machtlos, kraftlos, alt geworden -, und er zeigte uns den Weg in die unterirdischen Reiche der Anderswelt.

Doch da war Alberich. Und obwohl Raum genug gewesen wäre für uns alle, verwehrte er uns den Zutritt. Jeden Fußbreit Bodens haben wir uns seitdem erkämpfen müssen, gegen dieses ... dieses Gezücht.

Sie kennen keine Liebe, verstehst du, weder zu Menschen noch zu Dingen. Alles ist für sie nur ein Mittel zum Zweck. Sieh sie doch nur an, schwarz, hässlich wie die Nacht, ohne Sinn für Schönheit. Wir dagegen, wir sind zu Höherem geboren, eine überlegene Rasse, golden, mit Augen von der Farbe des Himmels. Es ist unser natürliches Recht. Und darum gibt es ewige Feindschaft mit den Geschöpfen der Nacht.«

Gunhild schüttelte den Kopf. »So was hat es bei den Menschen auch schon gegeben. Man nannte sie Nazis. Sie glaubten auch, dass die Blonden und Blauäugigen allen überlegen wären.«

»Und wie ist es geendet?«

»Mit Krieg und Zerstörung.«

»Dann will ich auch Krieg und Zerstörung haben, wenn es nicht anders geht. Lieber Ragnarök, als im Dunkeln zu verdämmern. Dann will ich mit unserer Königin kämpfend untergehen!«

Gunhild sagte nichts mehr, aber sie war erschüttert ob des tiefen Hasses, der hier herrschte. Mit den Fingern berührte sie das goldene Halsband, das sie trug. Das Halsband der Freya! Nun verstand sie ein wenig mehr, wie viel es den Lios-alfar bedeutete. Doch warum die Göttin es ausgerechnet ihr umgelegt hatte, blieb ihr ein Rätsel.

Sie waren unterdessen immer weiter gegangen. Von ihren Spähern war während Yngwes Erzählung nichts zu sehen gewesen.

Laurion hielt an und wandte sich um. »Wir erreichen nun bald das Gebiet der finsteren Brut«, erklärte er leise. »Seht euch um, das sind die Grenzmarken von Alberichs Reich.«

Siggi konnte erste Spuren der Schwarzalben erkennen. Von den Gängen zweigten hier und da Kammern ab, die aus dem harten Felsen getrieben worden waren. Es wurde deutlich, dass der Fels immer mehr durch Werkzeuge gezeichnet war, wo die Swart-alfar versucht hatten, das Gestein nach ihren Willen zu formen, viel stärker, als dies die Lios-alfar gemacht hätten, die zurückhaltender waren, wenn es darum ging, die natürliche Gestalt ihrer Höhlen zu verändern. Sie erfreuten sich eher an gewachsenen Felsformationen, und griffen mit ihren Werkzeugen nur da ein, wo es die Notwendigkeit erforderte oder wo es galt, die natürlichen Formen des Felsens zu unterstreichen. Aber hier gingen die Wege geradewegs durch das gewachsene Gestein.

»Ab jetzt«, flüsterte Laurion zu den Kindern, »heißt es vorsichtig sein; denn die Brut hat ihr Gebiet mit Fallen gesichert. Haltet euch dicht hinter mir, und macht, was ich mache. Yngwe wird ein Stück hinter uns bleiben, um uns den Rücken frei zu halten.«

Siggi nickte. Ihn erfüllte ein Selbstvertrauen, das er bisher nicht gekannt hatte. Es war, als regte sich in seinem Innern eine Kraft, von der er selbst nicht gewusst hatte, dass sie in ihm schlummerte. War es nur der Ring oder der Hammer, der ihn so veränderte, fragte er sich. Aber eines wusste er schon jetzt: Ganz gleich, was geschah, er würde nicht mehr derselbe sein, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Wenn ...

»Was für Fallen?«, fragte Gunhild, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

»Nun«, sagte Laurion, »Fallen, wie sie sich nur das hinterlistige Hirn der Swart-alfar auszudenken vermag: Falltüren, aus der Wand schnellende Speere, todbringende Steinlawinen, die von der Decke donnern, und vieles mehr. Man kann sie erkennen, aber das Auge muss sehr geübt sein, um sie zu sehen. Also, folgt mir einfach«, sagte Laurion.

Langsam gingen sie weiter, zu dritt, während ihr Begleiter hinter ihnen mit der Dunkelheit verschmolz. Weder Gunhild noch Siggi wagten es, Laurion zu stören, dessen Haltung völlige Konzentration ausdrückte. Der Lichtalbe zögerte selten, doch manchmal gingen sie regelrecht im Zickzack.

Siggi fragte sich, was Laurion in diesen Augenblicken wohl sehen mochte, denn ihm fiel eigentlich nichts auf, nicht mal der Fels schien heller oder dunkler als die Umgebung zu sein. Nichts deutete darauf hin, das dort eine Falle war.

»Ganz vorsichtig«, flüsterte Laurion. »Seht hier«, und er wies auf den Felsboden des Ganges, den sie gerade durchquerten. »Eine Falltür!«

»Wo?«, fragte Siggi.

»Schau genau hin. Du siehst den Riss, der diesen kleinen Schatten wirft?«

»Nein«, war der Junge ehrlich. »Ich sehe nichts.«

»Komm mal einen Schritt vor«, meinte Laurion, und Siggi ging näher heran, setzte einen Fuß vorsichtig vor den anderen. Dabei verursachte er kaum ein Geräusch; die weichen Stiefel dämpften jeden Tritt. Es waren die Stiefel von Spähern, nicht die genagelten der Krieger, deren Schritte weit hallten.

Er beugte sich herunter, und als er mit dem Gesicht nur noch eine Handspanne vom Boden entfernt war, konnte er einen feinen Haarriss im grauen Felsen erkennen. Ansonsten war nichts von einer Falltür zu sehen, denn die Platte, welche die Grube verdeckte, passte genau zur Umgebung.

»Was ist unter der Falltür?«, wollte Gunhild wissen, die sich ebenfalls gebückt hatte.

»Meistens fällt man etwa vier oder fünf Schritt in die Tiefe, und unten warten dann vergiftete Speere, Felsnadeln oder noch Schlimmeres auf das Opfer«, erklärte der Alb mit finsterer Miene.

Weder Siggi noch Gunhild wollten wissen, was es denn noch Schlimmeres außer Felsnadeln und vergifteten Speerspitzen gab. Sie sahen sich an, und langsam schlich sich wieder die Furcht in ihre Glieder.

»Kommt!«, sagte Laurion, und seine Stimme klang, als befehle er seinen Kriegern. »Wir müssen weiter.«

Siggi und Gunhild folgten ihm eng beieinander fast auf dem Fuße, und fühlten sich seltsam hilflos, wenn Laurion wieder einmal einer Falle auswich, die sie nicht sehen, ja nicht einmal ahnen konnten.

»Ist es noch weit, bis wir die Fallen hinter uns haben?«, fragte Siggi, als Laurion für einen kurzen Moment innehielt.

»Euch wird es wahrscheinlich weiter vorkommen, als es ist, aber ein gutes Stück liegt noch vor uns«, antwortete Laurion.

Und weiter ging es in die Ungewissheit hinein. Schließlich erreichten sie einen abschüssigen Gang, und Siggi bemerkte, dass links und rechts keine Abzweigungen mehr abgingen. Aber das war nichts Ungewöhnliches; es war schon öfter vorgekommen, dass für eine bestimmte Wegstrecke das Labyrinth von Stollen einfach aufhörte. Der Gang hatte einen Durchmesser von fast vier Metern. Er war breiter als viele, durch die sie bislang gekommen waren. Dennoch beschlich ihn ein mulmiges Gefühl.

Ob Hagen ... Der Gedanke war so plötzlich da, dass Siggi sich wunderte, nicht früher an den Freund gedacht zu haben.

»Kann Hagen auf solche Fallen getroffen sein?«, fragte er Laurion.

»Nein, da, wo wir euch gefunden haben, gibt es dergleichen nicht. Da muss die dunkle Brut immer damit rechnen, von uns gestört zu werden. Ich gehe davon aus, dass euer Freund so sicher ist, wie man in den Händen der Finsteren nur sein kann.« Laurion war stehen geblieben und hatte sich ihm zugewandt.

Siggi lehnte sich an die Wand und erwiderte den Blick. Er wollte noch etwas sagen, als ein leises Klicken zu hören war. Laurions Blick fiel auf die Wand, und für einen Moment glaubte Siggi Entsetzen in den Augen des Lichtalben aufflackern zu sehen.

»Ich glaube, wir sollten machen, dass wir hier wegkommen«, meinte der junge Krieger.

Gut zwanzig Meter hinter ihnen klickte es lauter und in immer kürzeren Abständen, als würde eine Maschine in Gang gesetzt.

»Was ist los?«, fragte Siggi, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.

Laurion rannte mit leichten Schritten voran. »Lauft einfach!«, war seine einzige Antwort.

Plötzlich verstummte das Klicken, und es war totenstill; man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Siggi glaubte schon, es wäre vorbei, da zerriss ein ohrenbetäubender Krach die Stille, kurz darauf hörte man ein Rumpeln und das Knirschen von Fels auf Fels.

»Was ist das?«, rief Gunhild schrill.

»Rennt!« Yngwe kam aus der Dunkelheit gestürzt. »Rennt um euer Leben!« Hagen schreckte auf. Ein Klopfen an der Tür hatte ihn aus seinem Halbschlaf gerissen, der nur Augenblicke gedauert haben konnte. Ein Blick in die Augen Alberichs sagte ihm, das sein Dösen nicht unbemerkt geblieben war, aber er konnte keinen Vorwurf in den Augen des Königs sehen.

»Bist du wieder wach?«, fragte er nur.

»Ich war nur einen Moment eingenickt«, sagte Hagen. Muss der Met gewesen sein, dachte er.

»Herein!«, rief Alberich. Der Herr der Swart-alfar war offensichtlich nicht begeistert von der Störung.

Die Tür ging auf, und ein Diener trat ein. Er verbeugte sich.

»Der Graue wünscht euch zu sprechen, Meister«, begann der Swart-alf. »Es gibt wichtige Gründe, sagt er.«

»Es gibt immer wichtige Gründe, wenn das alte Einauge mich sprechen will. Und nicht immer sind seine Anliegen meine Anliegen; aber bitte, lasst ihn ein«, sagte Alberich in einem seltsam herablassenden Ton.

Hagens Haltung hatte sich gespannt, als Alberich etwas von ›Einauge‹ sagte. Sollte das etwa, schoss es ihm durch den Kopf, der sein, der uns in die Höhlen geführt hat?

Sein Verdacht bestätigte sich, kaum dass der Herr der Swart-alfar zu Ende geredet hatte. Der alte Mann mit dem einen Auge, der ihr Führer in die Anderswelt gewesen war, trat durch die Tür in das Zimmer.

Hagen besah ihn sich genauer. Konnte er nach all seinen Erlebnissen noch daran zweifeln, wen er hier vor sich hatte?

Der Graue wirkte erschöpft und abgekämpft. Sein Gesicht, das Hagen als das eines eindrucksvollen, wenngleich etwas müden alten Herrn in Erinnerung hatte, glich nun einer wächsernen Maske. Nur das geschlossene Auge zuckte. Der graue Mantel wehte um seine Schultern, aber Hagen sah jetzt, dass auch er fadenscheinig und an den Nähten ausgefranst war.

In diesem Moment flogen die Raben durch die offene Tür und setzten sich auf die Lehnen eines der nicht besetzten Stühle. Hagen konnte nun auch die Tiere zum ersten Mal bei Licht betrachten. Sie waren gewiss einst prächtige Exemplare ihrer Art gewesen. Doch ihr schwarzes Gefieder wirkte stumpf und zerrupft und hatte nichts von jenem bläulichen Unterton, der Federn so herrlich schimmern ließ.

»Was ist, Einauge?«, fragte Alberich. »Welcher wichtige Anlass führt dich hierher. Sonst meidest du uns doch eher?«

»Das hat er über uns gesagt, Vater. Man sollte Ymirs Gezücht meiden ...«, sagte Hagen.

Aber er wurde von Alberich sanft unterbrochen. »Das sagt er jedem, doch es kommen immer wieder Zeiten, da lenkt Herr Odin seine Schritte in mein finsteres Reich. Und wir haben uns schon immer kleine Freundlichkeiten an den Kopf geworfen. Lass also gut sein, mein Sohn«, beruhigte ihn Alberich, und Hagen spürte förmlich den Hohn, der gegen den Alten gerichtet war. Er wusste, mit solcher Geringschätzung sprach nur ein Mächtiger, und es machte ihn stolz, dass er an dessen Seite stand.

» ›Uns‹ sagt der Knabe? Und du nennst ihn ›mein Sohn‹?« Das eine Auge fixierte Hagen; der Alte schien verwirrt.

»Wir sind einen Geistes, Ase. Der Junge ist der Prinz der Swart-alfar, wenn auch nicht von meinem Blut, so doch von meinem Geist.«

»Ja«, wollte Hagen einwerfen. »Als wir in die Höhle kamen, da ...«

»Seine Freunde und er haben sich zerstritten; die kleinen Kröten haben Hagen hier im Stich gelassen, als es zu - na, sagen wir - Missverständnissen mit meinen Kriegern kam«, fiel Alberich ihm ins Wort.

Der Junge begriff; der Alte sollte nichts von dem Ring wissen. Es war zu vermuten, dass Siggi seinen Schatz weiter vor allen verborgen hielt. Und darauf spekulierte wohl auch Alberich.

»Wie dem auch sei«, sagte Odin, wohl mehr zu sich selbst, um sich dann wieder an den König der Schwarzalben zu wenden: »Ich komme, um Eure Hilfe zu erbitten.«

»Siehst du, mein Sohn«, höhnte Alberich. »Das meinte ich. Immer wenn einer der Asen Schwierigkeiten hat, kommt er, um sich an Ymirs Brut zu wenden, die sie sonst als niederes Volk verachten. Was ist es diesmal, Walvater?« Die Augen des Herrn der Swart-alfar schienen vor Spott zu sprühen, und um seine Lippen hing ein spöttisches Lächeln.

Erst jetzt, als Odin das Bündel hob, das er in den Händen hielt, fiel Hagen auf, dass der Alte offensichtlich etwas mitgebracht hatte. Es war ein längliches Objekt, das in ein dunkles Tuch gewickelt war. Das Gesicht des Grauen ließ nicht erkennen, wie er Alberichs Worte aufgenommen hatte; aber was Hagen in der Miene des Alten sehen konnte, war eine schmerzliche Erinnerung und eine wilde Hoffnung.

»Höre, Alberich!« Die Stimme Odins nahm einen feierlichen Klang an. »Ich bin hinabgestiegen zu vergessenen Stätten und Orten, die selbst aus deiner Erinnerung längst getilgt sind. Mein Weg war lang und gefährlich. An einem dieser Orte verwahrte ich etwas, das einst das Symbol meiner Macht war. Das Schicksal hat es zerstört, doch nun naht die Zeit, da die Nornen mir vielleicht eine Möglichkeit geben, die Geschichte zu wenden.«

»Hört, hört«, spottete Alberich. »Und was habe ich dabei zu tun? Ich, der ich nicht würdig bin, deine Stiefel zu lecken ...«

Odin schien Alberichs beißenden Hohn zu überhören und verzog keine Miene.

»Das hier«, und mit diesen Worten schlug Odin das Tuch zurück, »ist der Speer des Schicksals, Symbol meiner Macht. Einst wurde er zerschlagen, doch nun ist die Zeit gekommen, ihn wieder zusammenzufügen.«

Hagen konnte sehen, wie Odin die Bruchstücke hochhielt. Die Spitze war aus Metall gefertigt, der Schaftstücke aber bestanden aus einem dunklem Material, das fast schwarz war und wie Eisen schimmerte, doch konnte man im Licht deutlich eine holzartige Maserung erkennen. In die Stücke waren Zeichen eingeritzt, seltsam eckige Buchstaben, bräunlich rot wie von altem, eingetrockneten Blut. Sie erinnerten Hagen an die Kratzspuren, die er am Brunnen entdeckt hatte. Mimirs Brunnen. Damit hatte alles angefangen ...

»Und was gibst du mir dafür?«, fragte Alberich. »Was ist mein Lohn, wenn ich dir helfe?«

Der Spott war aus seiner Stimme gewichen, und Hagen konnte nicht sagen, ob der Anblick des Speers oder die Aussicht auf eine Belohnung der Grund dafür war. Er verstand zu wenig von dem, was der Alte und sein neugewonnener Vater zu besprechen hatten; darum schwieg er lieber.

»Ich biete dir ein wertvolles Kleinod«, bei diesen Worten krampfte sich Hagens Herz zusammen, und er stellte sich die Frage, ob Odin, damit den Ring meinte, »das Einzige, was noch aus jenem Hort verblieben ist, um den sich Götter und Menschen entzweiten.

Ist der Ring auch verloren«, fuhr er fort, und Hagen schluckte unmerklich, »so ist doch eines geblieben, an dem kein Fluch hängt: Brisingamen, das Halsband der Freya.«

Hagen atmete auf. So wusste der Einäugige also nichts von dem Ring, den er aus dem Brunnen geholt und den Siggi ihm gestohlen hatte. Wie gut, dass sie dem Alten nie davon erzählt hatten!

»Ein trefflicher Lohn für diese Arbeit«, entgegnete der König der Swart-alfar, »aber ich befürchte, ich kann ihn mir nicht verdienen, Einauge ...«

»Warum nicht?«, unterbrach ihn Odin. »Wieso kannst du den Speer nicht neu schmieden? Du bist ein Meister dieser Kunst.«

»Weil es nicht geht«, war Alberichs lapidare Antwort.

»O doch, es geht«, verkündete Odin. »Das Holz der Weltenesche Yggdrasil ist zwar unendlich hart, aber die Feuer Muspelheims sind heiß genug, dass sich die beiden Hälften wieder zu einem Ganzen vereinen. Der Speer kann neu geschmiedet werden!«

Odin hatte hitzig gesprochen, seine Stimme hatte einen Hall gewonnen, dessen Echo nur langsam verebbte. Sein heiles Auge flammte förmlich; die Erschöpfung, die Hagen erst im Blick und an der Haltung Odins bemerkt hatte, war wie weggeblasen. Mit der Rechten streckte er die Bruchstücke des Speers in die Höhe.

»Muspelheims Feuer«, sprach Alberich ungerührt, als diskutiere er ein rein technisches Problem, »würden es erhitzen, vielleicht sogar heiß genug machen, aber selbst dann könnte ich die Stücke nicht wieder verbinden. Die Macht der Weltenesche, aus deren Urstoff er stammt, geht über meine Kräfte, Einauge. Ich bin stark, aber nicht stark genug. Das solltest du wissen.«

»Ein neues Zeitalter könnte beginnen, wenn ich meine Macht wiedererlange!« Die Worte Odins klangen wie ein Schlachtruf. »Eine neue Zeit für Alben und Zwerge, in der wir uns die Welt erobern.«

»Die Zeit der zaubermächtigen Waffen ist vorbei«, hielt Alberich ihm entgegen. »Keiner der Götter ist noch mächtig genug, diesen Speer neu zu schmieden. Hast du vergessen, Einauge, dass mehr dazu gehört, als die Enden in die Feuer Muspelheims zu tunken und zu hoffen, alles werde gut. Es gehört etwas dazu, das nur Götter und große Helden haben, jenes Quäntchen Kraft, das sie in ihren Herzen tragen und auf so unterschiedliche Weise zu nutzen verstehen. Die einen, um die Geschicke ganzer Welten zu lenken, die anderen, um große Taten zu vollbringen. Aber eines, Einauge, eines haben sie gemeinsam, diesen Kern der reinen Kraft, den sie in sich tragen. Deiner ist zerschlagen, die Kräfte deines Volkes geschwächt.«

Alberich sah Odin ernst an, kein Hauch von Spott lag auf seinen Zügen. »Seien wir ehrlich, es gibt in der ganzen Anderswelt nicht genügend Magie, um den Speer neu zu schmieden. Das Holz Yggdrasils wird auf ewig geteilt bleiben; die Macht des Speeres ist und bleibt gebrochen. Begreife es endlich, und hänge nicht wirren Träumen längst vergangener Tage nach. Du warst einst weise, Einauge; höre auf das, was die Weisheit gebietet!«

Odin starrte Alberich für den Bruchteil eines Augenblicks verwirrt an, doch dann fing er sich wieder. »Es gibt einen Weg ...«, begann er, aber er wurde von Alberich unterbrochen, und der Herr der Swart-alfar wirkte ungehalten.

»Die Götter sind schwach, und die großen Helden sind tot. Es gibt weder hier noch in Midgard jemanden, der diese Tat vollbringen könnte. Es ist vorbei...«

»Nein!«, donnerte Odin, und Hagen bekam den Hauch einer Ahnung der verflossenen Macht des Alten. »Es gibt noch einen! Ich konnte es spüren, dass der Keim der Macht in ihm schlummert - doch er ahnt davon nichts.«

»Wer?«, fragte Alberich entgeistert. »Wer trägt nach all diesen Weltaltern die reine Kraft in sich?«

»Wenn ich dir diesen Helden bringe, diesen einen, der das Werk vollbringen kann, wirst du ihn dann anleiten, den Speer neu zu schmieden?«

»Wenn ich dafür das Halsband der Göttin erhalte, ja, dann tue ich es«, sagte Alberich, und in den Ohren Hagens klang es wie ein Eid.

»Deinen Lohn wirst du erhalten«, entgegnete Odin, »dessen sei gewiss«, und Hagen konnte der Stimme nicht entnehmen, ob es ein Versprechen oder eine Drohung war. Doch ihm fiel auf, dass die ledrige Haut über der leeren Augenhöhle zuckte.

»Und wer ist der Held, den du mir bringst?«, fragte der König der Swart-alfar, der seine Neugier doch nicht ganz unterdrücken konnte.

»Ein Knabe aus Midgard«, entgegnete Odin. »Ein Knabe mit einem großen Namen, wie dieser an deiner Seite. Ich konnte sie fühlen, die Kraft in seinem Herzen, weil auch ich sie einst in mir hatte; es war mir, als spürte ich die Macht des Drachentöters wieder. Er ahnt nichts davon, aber er ist...«

»Siggi!«, platzte es aus Hagen heraus. »Es ist Siggi!«

»Dein Blick geht tief«, wandte sich Odin ihm zu. »Du erkennst viele Dinge, Hagen. Auch in dir scheint altes Blut zu fließen. Ich hatte Recht, als ich euch sagte, dass nichts Zufall sei; erinnere dich. Ihr seid zur Sommersonnenwende um Mimirs Brunnen getanzt, habt Einlass in die Anderswelt erhalten und seid dabei, eine alte Geschichte neu zu schreiben.«

»Es ist Siggi, nicht wahr, der kleine blonde Verräter, der mich ...«, Hagen biss sich auf die Zunge, um sich nicht zu verraten; denn der Ring war ein Geheimnis, von dem der Alte nichts wissen sollte.

»Ja, er hat dich verraten«, meinte Alberich, denn er hatte gespürt, warum Hagen sich unterbrochen hatte. »Gut denn, Ase. Bring mir den Helden - und Brisingamen. Dann werden wir vielleicht die alte Macht der Götter wieder errichten!«

Odin zögerte. Hagen ahnte, in welchem Dilemma der Einäugige steckte: Er konnte Siggi nicht so einfach zum König der Swart-alfar bringen; denn er hatte dem Jungen erzählt, dass man die Schwarzalben meiden sollte und dass Siggi bei den Lios-alfar in Sicherheit sei.

Höre, junger Hagen, klang eine Stimme in ihm auf, und jetzt wusste Hagen, dass es nicht die seine war. Ihm wurde klar, dass diese Stimme schon eine ganze Weile da gewesen war und ihm geholfen hatte, seine Bestimmung zu finden. Die Stimme war dunkel und gewinnend, fand aus den Gedanken den Weg in Hagens Herz und war dort willkommen.

Was?, fragte Hagen in Gedanken zurück.

Deine Rache wird vollendet, wenn du Odin hilfst. Der Einäugige kann nur mit deiner Hilfe Jung-Siegfried hierherlocken, um den Speer neu zu schmieden, erklärte die Stimme.

Wie denn?, fragte Hagen, und er horchte verzweifelt, ob er eine Antwort bekäme; denn der Wunsch nach Rache brannte heißer denn je in seinem Herzen.

Höre mir nur zu ..., meinte die Stimme.

Ja!, rief Siggi in Gedanken. Ja!

Siegfried vertraut dir und wird versuchen, dir zu helfen; das musst du nutzen. Habt ihr ihn erst, dann kannst du deine Rache in vollen Zügen auskosten, erklärte die Stimme, und sie klang so einleuchtend, so vernünftig, dass Hagen erkannte, wie gut sie es mit ihm meinte. Undwenn du deine Rache ausgekostet hast und Alberichs Heere die bleiche BrutAsgards vernichtet haben, wirst du an seiner Seite über die Anderswelt herrschen, und alle werden sich in deinem Glanz sonnen. Du wirst es sein, derdas Leben für die Swart-alfar lebenswert macht. Du und du allein, wenn duSiegfried in die Hände Odins und Alberichs bringst.

Und wenn er von selbst draufkommt?, fragte Hagen in Gedanken.

Keine Sorge, entgegnete die Stimme. Daran wird er nicht denken; denn er kann nicht in dein Herz sehen ...

Hagen frohlockte innerlich. Er konnte seinem neuen Vater zur Seite stehen und würde dabei gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und die Krönung würde die Rache an Siggi sein. Er öffnete den Mund - Warte, Hagen! Lass die Verzweiflung in Einauge wachsen, gib ihm noch einen Moment Zeit zu erkennen, dass er sich durch sein Handeln selbst um seine Träume, Wünsche und Hoffnungen zu bringen droht, wurde ihm geraten. Beherrsche dich noch ein wenig; nur noch ein paar Herzschläge lang ...

Hagen sah den Alten an. Unter der ledrigen Haut über der leeren Augenhöhle zuckte es, der Blick seines Auges wurde unstet, und auf seiner Miene begann sich die Erkenntnis abzuzeichnen, dass er offensichtlich wieder einmal selbst seinen Plänen im Wege gestanden hatte, wie so oft in der Vergangenheit. Er hätte die Möglichkeit gehabt, Siggi zu den Swart-alfar zu bringen. Aber in der augenblicklichen Lage, wo die Fronten sich so verhärtet hatten, war das so gut wie aussichtslos.

»Nun, Graumantel, was ist?«, fragte Alberich, der zu merken schien, dass er Salz in eine offene Wunde streute. »Warum gehst du nicht und holst mir den Helden? Dann können wir in die Tiefen meines Reiches hinabsteigen und den Speer in den Muspelfeuern schmieden.«

Odin wand sich unter den Worten des Albenkönigs. Hagen war sich bewusst, wie verzweifelt der Gott nach einem Ausweg suchte. Es musste für den Alten die reinste Folter sein. Äonenlang hatte er sich nach einer Möglichkeit gesehnt, das wiederzugewinnen, was verloren war. Nun war es zum Greifen nahe, aber doch so unendlich weit entfernt.

Warte noch ..., echote es in Hagen, der es kaum noch abwarten konnte, seinen Trumpf auszuspielen.

»Odin, ich warte ...«, erinnerte Alberich den Asen daran, dass dieser ihm noch eine Antwort schuldig war.

»Gib mir ein paar deiner Krieger«, meinte Odin, und die Verzweiflung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Dann ...«

»Was zahlst du dafür?«, fragte Alberich.

»Ich ...«, begann Odin. »Ich teile die Macht mit dir.«

»Nein, Einauge«, lächelte der Herr der Swart-alfar. »Du weißt zu gut, selbst wenn du deine Macht zurückerlangst, wirst du nicht die Herrschaft über mein Volk erhalten. Und mich gelüstet es nicht nach mehr.«

»Ich kann dir nichts bieten«, resignierte Odin.

»Brisingamen für den Speer, das ist ein wohlfeiler Preis. Aber meine Krieger gehorchen nur meinem Befehl«, blieb Alberich hart.

Noch nicht..., hörte Hagen die tiefe Stimme in sich.

»Und was wäre, wenn ihn meine Krieger hierher schleiften?«, fuhr Alberich fort. »Er könnte sich weigern, das Werk zu vollbringen. Und würdest du ihm mit dem Tode drohen, wenn er es nicht täte, wer weiß, ob er dann den Quell der Kraft in sich entdeckt...«

Odin erkannte, dass der Weg, Siggi mit Gewalt anzuschleppen und ihn zwingen zu wollen, ihm zu Diensten zu sein, falsch wäre. Aber eine andere Möglichkeit sah er nicht.

»Es scheint«, bemerkte Alberich, »ich werde das Geschmeide der Neun Welten auf andere Weise erlangen müssen.«

Odins Blick traf den König der Swart-alfar. Die nackte Verzweiflung leuchtete darin.

»Ich werde gehen und mit dem Jungen zurückkommen. Dann wirst du, Herr über Ymirs Gezücht, mir den Dienst erweisen, nach dem ich verlange«, sagte der Ase und beherrschte sich nur mühsam. Neben die Verzweiflung war Zorn getreten, die Wut auf sich selbst, Alberichs Spott und wohl auch auf die Vergangenheit, die aus ihm, einem der Mächtigen, einen hilflosen alten Mann gemacht hat, dem nichts geblieben war, als dem Vergehen der Äonen zuzusehen.

Jetzt, hörte Siggi die Stimme wieder. Sag, was du zu sagen hast.

»Mir vertraut er«, sprudelte es aus Hagen hervor. »Ihr könnt ihn durch mich gewinnen.«

Alberich wirkte nicht im Geringsten überrascht, aber Odin stand wie vom Donner gerührt, sah Hagen an und erkannte, dass er Recht hatte. Die Verzweiflung wich aus seinem Blick, und neue Hoffnung wuchs.

»Das Schicksal ist mir gnädig«, seufzte er. »Nun wird alles gut.«

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