4
Licht und Schatten

Die Raben kamen wie Schatten von Erinnerungen lautlos in den Gang geschwebt, ließen sich, als wäre nichts gewesen, auf der Schulter des Grauen nieder und begannen sich zu putzen.

Siggi blickte sich um. Der Stollen, in den sie sich geflüchtet hatten, erreichte nach der schmalen Öffnung, in der sie standen, schnell eine Breite von zwei oder gar drei Metern. Siggi stützte sich gegen die Wand, spürte den kühlen rauen Fels durch sein dünnes T-Shirt. Einen halben Schritt hinter ihm stand Gunhild, und auf der anderen Seite der Graue.

In der Stille waren aus der Tiefe des Ganges leise, aber deutliche Schritte zu vernehmen. Doch in dem fahlen Licht, das hier weniger stark war als in dem kristallerfüllten Höhlendom, konnte er noch niemanden erkennen.

Siggi spürte Gunhilds Blick und wandte sich um. Seine Schwester sah ihn an. In ihren Augen las Siggi das, was auch er fühlte: Unsicherheit. Er konnte seine Schwester so gut verstehen. Sein ganzes Leben lang hatten ihn Unsicherheit und Angst geplagt. Darum wusste er nur allzu genau, was in ihr vorging.

Allein die Ungewissheit jagte Gunhild fast schon mehr Furcht ein als die Schwarzalben. Ihr Selbstvertrauen, das war stets ihr Halt gewesen. Es hatte sie stark und oft genug zu Siggis Schutzschild gemacht, hinter den ihr kleiner Bruder flüchten konnte. Doch jetzt hatte sie zum ersten Mal völlige Hilflosigkeit verspürt - und was war an diesem ungewissen Ort überhaupt noch sicher?

Siggi kannte dieses Gefühl. Aber diesmal - er wusste nicht warum - schien er es in den Griff kriegen zu können, ohne davonlaufen oder sich hinter seine große Schwester verkriechen zu müssen. Bezwingen konnte er seine Angst zwar nicht. Doch er kam damit zurecht, nahm die Unsicherheit hin wie einen ungewollten Sitznachbarn im Bus.

Vielleicht lag es daran, dass er den Swart-alfar aus eigener Kraft entwischt war - natürlich dank des Ringes in seiner Tasche. Oder lag es vielleicht gar an dem Ring selbst, den er schwer an seinem linken Oberschenkel in der Hosentasche fühlte, dass er nicht das Opfer seiner eigenen Schwäche wurde?

Andere Fragen quälten ihn mehr, genau wie sie Gunhild auf der Seele lagen. Was, wenn der Graue sich geirrt hatte? Wenn da nicht die Lichtalben kämen, sondern ihre unheimlichen, finsteren Verfolger? Die hatten sie durch den Wald und dann wieder durch die Höhle gehetzt, wie eine Hundemeute den Fuchs jagt. Was, wenn die Lichtalben sie ebenso wenig mochten wie die Swart-alfar?

Die Schritte kamen immer näher, aber zu sehen war noch nichts. Dann tauchten ungewisse Schatten auf, die nicht eindeutig zuzuordnen waren. Siggi und Gunhild fassten sich an den Händen.

Der Graue neben ihnen hatte kein Auge für die Kinder, er starrte erwartungsvoll in die Tiefe. Er schien sich, wie Siggi mit einem kurzen Blick feststellte, seiner Sache wieder sicher zu sein. Der Alte strahlte wieder die Kraft und Selbstsicherheit aus, die er gezeigt hatte, als sie ihm das erste Mal begegnet waren. Das Lächeln war auf sein Gesicht zurückgekehrt.

Für Siggi aber war er nicht mehr derselbe. Anfangs hatte er zu dem geheimnisvollen Fremden aufgeschaut, hatte ihn irgendwie bewundert. Aber seine offensichtliche Orientierungslosigkeit in den Gängen, sein Eingeständnis verlorener Macht; all das hatte Siggi misstrauisch gemacht. Er hatte das Gefühl, dass diese zur Schau getragene Überlegenheit nicht echt war - oder vielleicht eine Rolle, die früher einmal Sinn gehabt hatte, aber inzwischen längst überholt war.

Der Junge wandte seinen Blick wieder von den wandernden Schatten ab und ihrem Begleiter zu. War da nicht wieder der Ausdruck wilder Hoffnung in seinem Gesicht, den der Graue bei der Nennung ihres Namens gehabt hatte? Siggi konnte sehen, wie die ledrige Haut über der leeren Augenhöhle zuckte, als würden darunter Würmer hausen.

»... vielleicht habe ich die Chance, die Geschichte so zu wenden, wie ich es damals nicht vermochte ...«, klang wie ein Echo die Stimme des Alten in Siggi auf.

Was hatte er damit gemeint? Warum glaubte der Graue, dass sich hier etwas wiederholte? Welche Geschichte überhaupt?

Fragen ohne Antwort. Der Mann wurde ihm immer rätselhafter. Wahrscheinlich konnte der Graue viele dieser Rätsel aufklären, aber würde er die Wahrheit sagen? Hatte er überhaupt bisher die Wahrheit gesagt?

Die Schritte waren nun deutlich näher gekommen. Siggi hielt den Atem an. Er konnte, ebenso wie Gunhild, den Blick nun nicht mehr von den Schatten wenden, die mehr und mehr an Kontur gewannen. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde so laut schlagen, dass es jeder im Umkreis von hundert Metern hören musste.

In dem Moment traten vier Gestalten aus dem Halblicht hervor. Es war sofort zu erkennen, dass es Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zwischen ihnen und den Schwarzalben gab.

Auch die Lios-alfar waren klein von Gestalt. Selbst Siggi war größer als sie. Aber sie waren schlanker als ihre dunklen Vettern und wirkten so größer. Ihre Haut war hell, sodass Siggi die Gesichter gut erkennen konnte. Einen genauen Vergleich zu ihren Widersachern konnte der Junge nicht anstellen, da er von diesen nur flüchtige Eindrücke vor Augen hatte. Für ihn waren die Swart-alfar dunkle, gesichtslose Schrecken, Schatten, die unheilvoll drohend aus der Finsternis gekommen waren.

Doch wegen der hellen, fast weißen Haut der Lichtalben, waren ihre Züge gut zu erkennen. Der Lios-alf, der zuerst um die Biegung herumgekommen war, schien noch recht jung zu sein. Sein Gesicht hatte etwas Draufgängerisches. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Augen blickten freundlich, überhaupt nicht bedrohlich und gefährlich.

Er trug eine silbergraues, ledernes Wams, das mit Ringen besetzt war, und eine ebenfalls aus Leder gefertigte Hose von etwas dunklerer Farbe. Seine linke Seite zierte ein Schwert, dessen Griff aus einer Scheide aus festem Leder ragte. Es war länger als ein Unterarm. An seiner rechten hing ein Dolch, dessen silberner Griff wie eine verkleinerte Ausgabe des Schwertes aussah.

»Die dunkle Brut ist weg«, meldete eine Stimme hinter ihnen.

Siggi und Gunhild zuckten zusammen, und dem Jungen entfuhr ein leiser Aufschrei. Sie blickten sich um und sahen ein gutes Dutzend der hellhäutigen Wesen, die hinter ihnen im großen Höhlendom an Eingang des Ganges standen.

»Wer wird denn so schreckhaft sein?«, lachte der junge Lichtalbe, den Siggi gemustert hatte. »Erst liefert er den Swart-alfar einen großen Kampf, und dann erschrickt er.«

»Ich hatte hinter mir keinen mehr erwartet«, sagte Siggi.

»Du musst immer und aus jeder Richtung jemanden erwarten, denn überall lauern Gefahren«, entgegnete der Lios-alf ernst. »Ich bin Laurion, Hauptmann der Späher, zu deinen Diensten«, stellte er sich vor und deutete dabei eine Verneigung an.

»Ich bin Siggi, zu deinen Diensten«, entgegnete der Junge, die gleiche Redewendung benutzend, und verbeugte sich ebenfalls. Er kam sich vor wie in einem Theaterstück. »Das ist meine Schwester Gunhild.«

Gunhild deutete einen Knicks an und lächelte. Auch sie schien sogleich Vertrauen zu dem jungen Lichtalben gefasst zu haben.

»Willkommen, schöne Maid«, fuhr dieser fort. »In unserem Reich liegt Euch alles zu Füßen. Gebietet mir, und ich werde Euch dienen.«

Gunhild wusste nicht, wie ihr geschah. Waren das nur Höflichkeitsfloskeln, oder war das ernst gemeint? Aber etwas an diesen Worten berührte sie tief, und so schwieg sie nur und verneigte sich.

»Ich brauche mich wohl nicht vorzustellen«, knurrte der Graue. »Es ist gut, das ihr in der Nähe wart. Die dunkle Brut hatte uns in der Falle.«

»Warum seid ihr nicht über den Großen Pfad gekommen?«, fragte Laurion den Alten. »Ihr wisst doch, Alberichs Dom ist seit Ewigkeiten umkämpftes Gebiet. Hier kommt es immer wieder zu Scharmützeln zwischen Ymirs Brut und uns.«

Siggi glaubte aus der Stimme einen Vorwurf herauszuhören. Auch hatte er das Gefühl, dass Laurion dem Alten nicht die Ehrerbietung entgegenbrachte, die der Graue zu erwarten schien. Ein Blick auf den Alten schien das zu bestätigen, denn für einen Moment zuckte es um die leere Augenhöhle des Alten.

»Ich bringe euch diese Kinder Midgards«, sagte der Graue, und der alte Gesichtsausdruck war wieder da, nichts war mehr von dem Ärger zu sehen, der kurz über sein Antlitz gehuscht war. »Diese beiden und ein weiterer Junge, der in einen anderen Gang geflüchtet ist, sind dreimal um Mimirs Brunnen getanzt.«

Hagen!

Siggi und Gunhild hatte den Gefährten völlig vergessen. Was war wohl aus ihm geworden? Hatten ihn die Dunkelalben gefangen, oder irrte er irgendwo durch die Gänge? Trotz der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen drückte Siggi ihm beide Daumen, dass die Lichtalben ihn fanden. Und dann würden sie wohl ein paar Dinge klären müssen.

»Wir suchen schon nach ihm«, hörte Siggi Laurion antworten. »Er ist in Richtung der Mitternachtsquelle unterwegs. Vielleicht finden wir ihn.«

Für einen Moment schwiegen alle. Siggi sah sich die Lichtalben genauer an. Alle trugen graue Gewänder mit aufgenähten Ringen aus einem silbernen Metall; ob es sich dabei um eine Uniform handelte oder einfach nur die gängige Kleidung, ließ sich nicht sagen. Die meisten trugen Schwerter oder lange Dolche bei sich, einige auch Speere mit schmalen, länglichen Klingen. Ihre Gesichter waren freundlich, aber ansonsten ausdruckslos. Sie überließen Laurion das Reden, welcher der Freundlichste und Aufgeschlossenste von ihnen zu sein schien; vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er ihr Anführer war.

»Junge, du bist schnell auf den Füßen«, wandte Laurion sich an Siggi. »Unsere Späher, die euch mir gemeldet haben, konnten sehen, wie du auf deinen langen Beinen den Swart-alfar in den hinteren Teil von Alberichs Dom davongelaufen bist. Leider haben sie nicht gesehen, wie du von da hierhergekommen bist. Wenn wir darüber«, lachte der Lichtalbe, »ein Heldenlied singen sollen, musst du uns den Rest der Geschichte noch erzählen.«

Siggi war fast zusammengezuckt, als Laurion die Späher erwähnte, konnte sich aber gerade noch beherrschen, als ihm klar wurde, das sein Geheimnis offensichtlich unentdeckt geblieben war.

»Ich ...«, sagte Siggi und versuchte Laurion abzulenken, »ich fand es eher feige wegzulaufen.«

»Feige?«, entfuhr es Laurion. »Es ist nicht feige, davonzulaufen, wenn man unbewaffnet auf kampferprobte Gegner trifft. So bleibt man am Leben und kann mit einer Waffe zurückkehren, um es dem Feind heimzuzahlen.«

Der junge Anführer der Lichtalben sah Siggi ernst an. »Es wäre im Gegenteil dumm, sein Leben wegzuwerfen.« In seinen Worten schwang keinerlei Hohn und Spott mit, sondern vielmehr Ehrlichkeit.

»Du meinst, es ist keine Schande, wenn man flieht?«, fragte er zurück.

»Manchmal«, sagte Laurion, »ist es klüger zu rennen, als das Heil im Kampf zu suchen. Jeder gute Krieger weiß das.«

»Laurion«, wandte sich einer der anderen Lichtalben an ihren Hauptmann. »Wir sollten uns zurückziehen, bevor die dunkle Brut mit Verstärkung zurückkehrt.«

Laurion nickte knapp. »Gehen wir. Reden können wir auch beim Laufen. Wir bringen euch erst mal in Sicherheit, und ihr erzählt mir, wie ihr zu uns gekommen seid.«

Laurion sah Siggi fest an, aber er lächelte freundlich und offen, und Siggi wusste, er mochte den jungen Anführer der Lios-alfar.

Gunhild mochte ihn auch, und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, nun wirklich in einem Traum gefangen zu sein, und sie hoffte, dieser Traum würde nicht so bald enden. Grobe Hände mit kräftigen Griff zogen ihn vorwärts, rissen ihn mit sich, schleiften ihn über den rauen, harten Felsen der Höhle. Hagens Blick war zur Decke des Ganges gerichtet, aber seine Augen waren blicklos, seine Miene von Wut und Scham über die Gefangennahme gezeichnet.

Er vermochte nicht zu sagen, wie lange er schon in der Gewalt der Schwarzalben war oder auch nur, in welche Richtung sie ihn schleiften. Seit ihn die dunkle Brut gepackt, gefesselt und geknebelt hatte, sah er seine Umgebung wie durch einen Nebel.

Die Swart-alfar redeten miteinander, aber Hagen konnte und wollte sie nicht verstehen. In ihm wühlte der Gram über seine Gefan-gennahme, die just in dem Moment erfolgt war, als er glaubte, den Verfolgern ein für alle Male entronnen zu sein. Hagen hatte überhaupt keine Gelegenheit gehabt, sich zu wehren. Irgendwie ging alles, was er anpackte, schief. Er fühlte sich als Versager. Siggi hatte ihm den Ring gestohlen, Gunhild hatte ihn zurechtgestutzt, und zu guter Letzt war er in Gefangenschaft geraten, während Siggi und Gunhild noch auf der Flucht waren.

»Halt!«, sprach eine harte, befehlsgewohnte Stimme. »Wen habt ihr da?«

Hagen wurde aus seinem dumpfen Brüten gerissen, und er versuchte einen Blick auf den Sprecher zu erhaschen, aber es gelang ihm nicht.

»Einen Gefangenen aus Midgard, den der Einäugige zu den Lios-alfar bringen wollte«, wurde mit der Stimme von einem der Schwarzalben geantwortet, die ihn schleiften.

»Nehmt ihm die Fesseln ab. Ihr habt das umstrittene Gebiet weit genug hinter euch gelassen. Seit wann berauben wir unsere Gefangenen der Ehre, auf eigenen Füßen vor ihren Richter zu treten. Allein, dass der Einäugige ihn durch die Anderswelt führte, weist darauf hin, dass er etwas Besonderes ist. Hat der Graue auch nur einen Rest seiner einstigen Macht, so ist doch sein Wissen groß«, schloss die Stimme. »Er muss etwas im Sinn haben ...«

»Jawohl, Herr«, war die Antwort des anderen Schwarzalben, in dessen Griff Hagen hing.

Hagen spürte, wie die strammen Fesseln an Armen und Beinen gelöst wurden. Gleich darauf schoss das Blut wieder in Hände und Füße. Es tat weh. Es tat höllisch weh. Es kribbelte wie von tausend winzigen Nadelstichen, und er konnte nicht ohne fremde Hilfe stehen. Hagen hatte Mühe, nicht laut zu schreien. Er sackte in sich zusammen, aber gleich darauf hörte er Schritte auf sich zukommen, und er wurde von kräftigen Händen gepackt und auf die Füße gezerrt.

»Ein Knabe aus Midgard«, sagte der Schwarzalbe direkt vor ihm, und zum ersten Mal sah Hagen das Gesicht eines ihrer Jäger.

Er hatte eine dunkle, fast olivfarbene Haut, die ihm auf den ersten Blick ein finsteres Äußeres verlieh, und obwohl ihn der Swart-alf ernst ansah, glaubte Hagen doch zu erkennen, das dieser ihm offensichtlich nicht grundlos feindlich gesinnt war. Ihm war, als könnte er Neugier im Blick des anderen erkennen.

»Ich bin Mîm, Hordenführer von Alberichs Volk«, sagte er knapp, und seine dunklen Augen blitzten Hagen aufmunternd an. »Und wer bist du?«

»Mein Name ist Hagen. Meine Freunde und ich wurden von deinen Leuten gehetzt, und dann wollte uns ...«

»Was meinst du mit ›meine Freunde‹?«, unterbrach ihn Mîm scharf.

»Der Einäugige«, mischte sich der andere der beiden Schwarzalben ein, die Hagen hergeschleppt hatten, »hat nicht nur ihn, sondern noch zwei weitere Kinder aus Midgard in die Anderswelt geführt. Die Lios-alfar retteten den Alten und die beiden anderen.«

»Die Übrigen von uns«, beeilte sich der andere zu versichern, »versuchen zu spähen, aber die Bleichen scheinen überall zu sein.«

Mîm sah die beiden Krieger finster an, dann wandte er sich wieder dem Jungen zu.

»Wie heißen deine beiden Freunde?«, fragte er.

»Siggi - nein, eigentlich Siegfried - und Gunhild«, entgegnete Hagen, der keinen Grund sah die Namen seiner Kameraden zu verschweigen.

Mîms Gesicht bekam einen nachdenklichen Zug; er sah Hagen an, der diesem durchdringenden Blick nicht standzuhalten vermochte. Hagen sah zu Boden; er konnte sich nicht erklären, was der Schwarzalbe an seiner Antwort so bemerkenswert gefunden hatte.

»Gut«, kam schließlich die Entscheidung, »bringt ihn vor den König. Ich glaube, unser Meister wird sehr interessiert sein, was die Träger dieser großen Namen in die Anderswelt verschlagen hat, noch dazu in einer Nacht wie dieser ...«

Hagen sah Mîm an. Dessen untersetzter, muskulöser Körper straffte sich. Im fahlen, kalten Licht, das von den Wänden des Ganges strahlte, fand Hagen, dass die Swart-alfar hier, aus der Nähe betrachtet, nicht halb so erschreckend wirkten wie in der fast nachtdunklen Dämmerung des Waldes, wo sie gesichtslosen Schatten geglichen hatten.

Hagen überragte Mîm und die anderen Schwarzalben zwar um nahezu einen Kopf, aber er war längst nicht so muskulös, und er wusste, dass Flucht zwecklos war. Die Swart-alfar waren schneller und stärker als er, und diese Höhlen waren ihre Heimat. Und es kam noch etwas hinzu: Nach und nach hatte seine anfängliche Angst zu schwinden angefangen und einer gewissen Neugier Platz gemacht. Immerhin würde man ihn vor den König führen - ihren Meister, wie der Swart-alf ihn genannt hatte.

»Versprichst du mir«, sagte Mîm, zu ihm gewandt, »keinen Fluchtversuch zu unternehmen? Dann wirst du die Ehre haben, unter meinem Geleit vor König Alberich zu treten. Andernfalls werden wir dich in seine Halle schleifen müssen.«

Obwohl dies eine kaum verhüllte Drohung war, ließ der Tonfall es nicht als solche erscheinen. Es klang, als würde ihm, Hagen, die freie Wahl gelassen, in allen Ehren vor den König geführt oder ihm wie ein nasser Sack vor die Füße geworfen zu werden.

Hagens Stolz schmeichelte es, das man ihm die Wahl ließ und gleichzeitig seine Flucht zumindest für denkbar hielt. Fast, als fürchtete man ihn auch ein wenig. Er sah Mîm in die Augen, versuchte, deren Blick standzuhalten, und war selbst erstaunt, als es ihm gelang.

»Ich verspreche, nicht zu fliehen. Führt mich vor euren König«, sagte er mit fester Stimme. Dann lächelte er, und der Swart-alf erwiderte das Lächeln.

»Vorwärts!«, befahl Mîm. »Bringen wir diesen Knaben aus Midgard vor unseren Meister in die Hohe Halle.«

Die beiden Schwarzalben fielen links und rechts hinter Hagen in Schritt, während Mîm neben ihm ging.

Der Junge fühlte sich urplötzlich gar nicht mehr als Gefangener, sondern vielmehr wie ein Besucher, dem der Weg gewiesen wurde. Hoffnung keimte in ihm auf, dass alles doch nicht so schlimm werden würde, wie es zu Beginn ihres Abenteuers im Wald erschienen war.

Sie schritten durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen, Hallen, großen und kleinen Höhlen. Das fahle Licht wechselte ständig in seiner Intensität; mal wurde es stärker, dann wieder schwächer. Hagen konnte sehen, dass manche der Gänge keines natürlichen Ursprungs, sondern wie die Stollen eines Bergwerks aus dem Fels gemeißelt waren. Andere waren nur ein wenig erweitert worden, während es sich bei wieder andere tatsächlich um natürliche Öffnungen handelte, die den Berg durchzogen. Das Ausmaß dieser Höhlen war riesig, und es erstreckte sich nicht nur in die Breite, sondern auch in die Tiefe. Wie lange mochte es gedauert haben, dieses System von unterirdischen Wegen zu errichten? Jahrzehnte? Oder gar Jahrhunderte?

Selbst wenn er hätte fliehen wollen, Hagen hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt. In welche Richtung sollte er sich auch wenden? Er hatte keine Ahnung, wo sich Ausgänge befanden. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich der Führung der Swart-alfar anzuvertrauen.

»Sieh, Hagen«, riss ihn die Stimme Mîms aus seinen Gedanken.

Vor ihnen öffnete sich ein mächtiger Felsendom, eine natürliche Kuppel, die das Wasser ausgewaschen hatte. Im Zentrum des Doms erhob sich wie auf einem Podest ein einzelner, riesiger Kristall, der auf vielfältige Weise das fahle, kalte Licht der Wände brach und in allen Farben des Regenbogens funkelte.

Fasziniert, ja, ehrfurchtsvoll blickte Hagen auf dieses Schauspiel. Die Farben wandelten sich ständig, je nach Blickwinkel des Betrachters und dem Lichteinfall der Wasserkaskaden von den Wänden.

»Toll ...« Es klang irgendwie banal. Er hatte einige recht schöne Stellen in den Höhlen gesehen, aber dieses hier war ein Wunder.

»Ymirs Herz«, flüsterte Mîm, der unwillkürlich die Stimme gesenkt hatte, »nennen wir diesen Ort. Sein ist die Macht, die dies geschaffen hat!«

Hagen starrte wie gebannt auf das Farbenspiel und setzte nur noch mechanisch einen Fuß vor den anderen, so nahm ihn der Anblick gefangen. Ihn erfasste tiefes Bedauern, als Mîm ihn schließlich in einen Gang zog, der von dem Dom wegführte. Er warf einen letzten Blick zurück, dann hatten ihn die fahl ausgeleuchteten Gänge wieder.

»Wie weit ist es noch?«, fragte er.

»Wir sind noch eine Weile unterwegs ...«, entgegnete Mîm vage, als wolle er sich nicht festlegen.

»Was heißt das, eine Weile?«

»In diesen Höhlen gibt es keine geraden Wege. Vielleicht, wenn der Meister dich für würdig hält, wirst du Erklärungen erhalten. Ich darf dir nicht mehr sagen ...«

... weil ich immer noch ein Gefangener bin, beendete Hagen den Satz in Gedanken, und dann machte er sich selber Mut. Aber das kann sich ändern.

So führte ihr Marsch weiter durch die Höhlen. Hagen, der nun versuchte, auf den Weg zu achten, stellte fest, dass sie unentwegt die Richtung wechselten, sich wie durch ein Labyrinth bewegten. Manchmal stieg der Weg steil an; dann führte er wieder über teils natürliche, teils künstliche Treppen hinab in die Tiefe. Einmal traten sie aus einem Gang und Hagen blickte zurück und hatte den Eindruck, als ob sie nur etwa zehn oder fünfzehn Meter weiter vorher abgebogen wären, einen großen Umweg gemacht hätten und durch drei, vier andere Gänge gegangen wären, nur um diesem kurzen Stück auszuweichen.

Täuschte er sich? Nein, Hagen war sich ganz sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. Warum taten sie das? Warum liefen sie hier kreuz und quer durch die Gänge?

Wollten sie verhindern, dass er sich an den Weg erinnerte? Oder steckte etwas anderes dahinter? In ihm klang noch einmal auf, was Mîm gesagt hatte: »... in diesen Höhlen gibt es keine geraden Wege.«

Hagen gefiel es nicht, an der Nase herumgeführt zu werden, aber er musste das Spiel mitspielen - erst recht dann, wenn er wie ein Mensch vor den König geführt werden wollte und nicht wie ein wildes Tier.

Er versuchte, sich von den verqueren Pfaden in den Höhlen abzulenken, und seine Gedanken gingen wie von selbst zu dem Ring.

Dem Ring, den er aus der Tiefe des Brunnens geholt, den er geborgen hatte.

Und der sein Eigentum war!

Siggi hatte kein Recht gehabt, ihm den Ring zu stehlen. Und in Hagen begann sich wieder der Zorn auf den Dieb zu regen. In seinem Hinterkopf formte sich ein Gedanke, erst ganz schwach, doch dann ganz klar. Hagen grinste unwillkürlich. Ja, er musste nur den Obersten der Swart-alfar für sich gewinnen; damit würde er einen mächtigen Verbündeten haben, um Siggi den Ring abzunehmen und ihn zu strafen. Der Kerl musste für seinen Diebstahl bestraft werden, und seine Schwester gleich mit, die ihn glaubte zusammenstauchen zu müssen, nur weil er sich einen kleinen harmlosen Scherz erlaubt hatte.

Es war wie eine Stimme in seinem Inneren, die ihm zuflüsterte: Siggi, der diebische Feigling, und Gunhild, seine großspurige Komplizin, werden für ihre Taten büßen müssen. Und nur einer kann dir dabei helfen - derHerr der Schwarzalben.

Hagen steigerte sich immer mehr in diese Vorstellung hinein. Ohne dass es der Junge richtig begriff, wurde er plötzlich nur noch von dem Gedanken an Rache und dem Hass auf Siggi und Gunhild beherrscht.

Er malte sich aus, wie er über die Geschwister triumphieren würde. Er, im Schutze der mächtigen Schwarzalben und deren König, der ihm helfen würde, wenn er es nur geschickt genug anstellte. Hagen musste ihm beweisen, dass er den Swart-alfar nicht feindlich gesonnen war, im Gegenteil! Alles würde er geben, um sich an dem verräterischen Pack zu rächen, das ihn um seinen Ring, seinen Schatz, betrogen hatte.

Vollends in seine Rachefantasien versunken, verlor Hagen jegliches Gefühl für Raum und Zeit auf den krummen Wegen, die er unter der Führung Mîms gehen musste. Er nahm nicht einmal wahr, dass immer mehr von dem dunklen Volk am Rande ihres Weges auftauchte und die Gänge sich allmählich verbreiterten und bewohnt aussahen. So gefangen war er in seinen Gedanken an den Ring und deren Diebe, Siggi und Gunhild.

»Wir sind da«, sagte Mîm plötzlich.

Hagen tauchte aus seinen Tagträumen auf und sah, dass er vor einem gewaltigen Tor stand. Schwarz glänzend waren die Pfosten, aus einem nachtdunklen, glasharten Stein, in den Masken und Gestalten von Ungeheuern eingeschnitten waren, wie um jeden Feind das Fürchten zu lehren. Schwarz waren auch die steinernen Torflügel, doch von einem bläulichen Schimmer, wie geöltes Eisen.

Langsam, wie auf ein geheimes Kommando, schoben sich die schweren Türen nach außen. Ein Lichtstrahl fiel durch den Eingang, verbreiterte sich, und Hagen konnte die Umrisse einer Anzahl dunkler Gestalten erkennen, die im Inneren der Halle weilten.

In der Halle, wo sein Verbündeter, der Herr der Schwarzalben, ihn erwartete ... »... und dann kamt ihr und habt uns gerettet«, schloss Gunhild den Bericht. Die Geschwister hatten abwechselnd erzählt, wie sie in die Höhle gekommen waren.

Laurion hatte einige Male kurz gestutzt, hatte sie aber nicht unterbrochen, und doch war Siggi aufgefallen, dass der junge Lichtalbe sehr erregt war, obwohl er sich Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. Doch Siggi hatte Menschen schon immer sehr genau beobachtet. Er hatte gelernt, auf Veränderungen in ihrem Verhalten zu achten, um möglichen Feinden, die ihn nur ärgern oder noch Schlimmeres von ihm wollten, aus dem Weg gehen zu können. So war ihm auch die Unruhe Laurions nicht entgangen, wenngleich er sie nicht zu deuten wusste. Der Lios-alf hatte auch einige nicht zu deutende Seitenblicke auf den Grauen geworfen.

Aber was sollte Siggi tun; er konnte sich die Antworten auf die Fragen nicht aus den Fingern saugen. Die ganze Geschichte wurde immer rätselhafter. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, was passierte.

Von Zeit zu Zeit hatte Siggi immer wieder ein Auge auf den Alten geworfen, der schweigend neben Laurion ging. Er hatte nichts zu dem Bericht gesagt, obwohl er eine ganze Menge hätte erzählen können. Die Raben hockten wie ausgestopft auf seinen Schultern.

Siggi hatte nichts von seiner Vermutung verlauten lassen, dass der Graue nicht immer gewusst zu haben schien, welche Richtung er nehmen sollte; denn es war nur eine Beobachtung, für die er keinen Beweis hatte, und bei allem Vertrauen, das Siggi zu Laurion gefasst hatte, wollte er doch erst genau wissen, was zwischen den Lios-alfar und dem Alten für eine Beziehung bestand.

Hinter ihnen klangen eilige Schritte auf. Laurion drehte sich um. Er schien sich sicher zu sein, dass da kein Feind oder eine Bedrohung war, die sich ihnen näherte.

»Laurion«, sagte ein heraneilender Lios-alf. »Wir konnten ihn nicht mehr finden. Die dunkle Brut hat das dritte der Midgard-Kinder in ihre Gewalt gebracht. Wir haben unsere Späher ausgesandt, um herauszufinden, wohin sie ihn schleppen.«

Laurion nickte nur. »Geht wieder auf Wache«, sagte er knapp. »Ich sende euch weitere Späher und einige Boten. Ich denke, auch die Königin will über alles unterrichtet sein.«

Der Lichtalb nickte nur und wandte sich ab, um sich wieder seiner Aufgabe zu widmen.

Siggi war, als bekäme er einen Schlag, als er von Hagens Schicksal hörte. Die Bilder der drohenden, dunklen Schatten aus dem Wald und dem Höhlendom drängten sich wieder in sein Bewusstsein. Dann tauchte ein Bild von Hagen auf, wie er in der Gewalt dieser unheimlichen Gestalten war. Er schüttelte sich, um die Gedanken zu vertreiben.

Siggi wechselte einen schnellen Blick mit Gunhild. Auch in ihren Augen stand die Angst um den neugewonnenen Freund, der womöglich Höllenqualen litt.

»Was werden sie mit ihm anstellen?«, fragte das Mädchen, an Laurion gewandt.

»Ich weiß nicht, schöne Maid, aber wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben. Die Nacht ist noch lang ...«

»Wir müssen hier doch schon Stunden unterwegs sein«, sagte Gunhild. »Und das Tor öffnet sich bei Tagesanbruch ...«

»Wenn die Nacht vorbei ist ...«, meldete sich der Graue zu Wort.

»Und es ist die kürzeste Nacht des Jahres. Wir müssen Hagen finden und hier wieder raus. Uns läuft die Zeit davon«, sagte Gunhild fest.

»Zeit ist nicht immer gleich Zeit«, entgegnete der Graue. »Es mag sein, dass hier schon Stunden vergangen sind«, fügte er hinzu, und der Blick seines Auges nagelte das Mädchen förmlich fest, »aber wer sagt dir, kleines Mädchen, dass Midgards Zeit ebenso vergeht?«

»Es muss ...«, begann Gunhild.

»Es muss gar nichts. Hast du denn immer noch nicht begriffen, dass die Gesetze der Anderswelt andere sind als die, welche du aus deiner Welt kennst und die ihr Menschen leichtfertig ›Naturgesetze‹ nennt, als ob sie immer und überall Gültigkeit hätten.« Der Graue hatte sich in Rage geredet, und es schien fast, als ob er selbst mit seinen Worten größer und bedrohlicher geworden sei. »Und hier gelten andere Regeln als bei euch, holdes Kind.«

»Aber ...«, wagte Siggi einzuwerfen.

Der Alte wirbelte herum. Sein weiter Umhang wehte wie im Sturmwind, so heftig war seine Bewegung. Mit lauten Krächzen flogen die Raben auf.

»Lass gut sein, Einauge«, sagte Laurion, und in seiner Stimme lag ein Unterton, den die Kinder nicht zu deuten wussten. Der Alte sah den Lios-alf einen Moment zornig an, dann wandte er sich um, und der junge Lichtalbe versuchte sein Glück, die Kinder zu überzeugen. »Hört mir zu, Gunhild und Siegfried. Vertraut ihm. Es ist so, wie er sagt. Die Nacht ist lang, sehr lang, und wir werden euren Freund befreien, dessen bin ich mir sicher. Die Zeit hier ist eine andere als draußen in der Welt der Menschen.«

Gunhild wollte ihn unterbrechen, aber Laurion hob die Hand und lächelte.

»Bitte lasst mich ausreden. Überlegt doch einmal. Als ihr vor der dunklen Brut durch den Wald geflüchtet seid, habt ihr nicht selbst von dem Dämmerlicht erzählt, das sich nicht veränderte; von dem Gewitter, das nicht näher kam. Das waren schon die Schatten der Anderswelt, obwohl ihr es noch nicht wusstet. Glaubt mir, wir haben noch viel Zeit.«

Gunhild sah in die mitternachtsblauen Augen des Lichtalben, der den Blick mit einem Lächeln erwiderte. Alle Zweifel, die sie noch hegen mochte, schmolzen unter diesem Blick dahin.

»Aber wir haben nicht so viel Zeit, um hier rumzustehen und zu diskutieren«, sagte Siggi. »Lasst uns weitergehen.«

Die Raben schwebten von der Decke herab und landeten wieder auf ihren angestammten Plätzen. Der Graue hatte sich aber noch nicht wieder vollständig in der Gewalt; als sie weitermarschierten, brummelte er ständig etwas vor sich hin.

»Sie sind so ungeduldig, wollen alles anzweifeln«, knurrte er.

»Lasst sie doch, Weisheit ist nicht die Stärke der Jugend, sondern die des Alters oder der Götter«, ließ sich Laurion beschwichtigend vernehmen, fügte aber ironisch an, »wenn auch nicht aller.«

»Weisheit erfordert Opfer«, knurrte der Graue übellaunig.

»Opfer?«, fragte Gunhild.

»Ja, Opfer«, entgegnete der Graue. »Es gibt da eine alte Geschichte über jemanden, der für die Weisheit ein großes Opfer brachte ...«

Er schwieg eine lange Weile, sodass Gunhild ihn schon misstrauisch von der Seite ansah, weil sie dachte, er habe es sich vielleicht anders überlegt, aber dann begann er doch zu sprechen:

»Als die Götter die Welt geordnet hatten, lebten sie in Frieden in Asgard, jenseits der Grenzen der Mittelerde. Ihr Herrscher war Tyr, der Gerechte, und er schlichtete jeglichen Streit in der Halle, die man Frohheim nannte, von seinem hohen Sitz, von dem aus man das ganze Universum überschauen konnte. Und es herrschte Frieden auf der Welt.

Doch unter den Asen war einer, der weiter blickte als die anderen und der wusste, dass der Friede nicht ewig dauern würde. Denn seine Hände waren noch befleckt mit dem Blut Ymirs, mit dessen gewaltsamem Tod die Welt entstanden war.«

»War er einer der drei?«, konnte Gunhild sich nicht enthalten zu fragen. »Dieser Brüder, meine ich, die den Riesen getötet hatten; ich weiß ihre Namen nicht mehr ...«

»Einer oder alle, was spielt es für eine Rolle?«, fuhr der Alte ungerührt fort. »Was sind schon Namen? Nennen wir ihn Ygg, den Schrecklichen; denn es geht hier um den Baum, den man Yggdrasil, Yggs Streitross, nennt, und wie dieser zu seinem Namen kam. Man nennt ihn auch die Weltenesche.«

»Wo kommt die jetzt auf einmal her?«, fragte Siggi, der bei den ganzen alten Geschichten irgendwie den Überblick verloren hatte.

»Ich habe keineswegs die Absicht, euch zu sagen, woher der Weltenbaum kam«, meinte der Graue verärgert. »Er ist einfach da. Ihr könnt ihn nicht sehen, aber ihr dürft mir glauben, dass es ihn gibt. Denkt einfach an eine Kraft, die so ist wie die Anziehungskraft zwischen einem Magneten und einem Stück Eisen. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist vorhanden. Für Sterbliche ist Yggdrasil gewiss unsichtbar, aber ohne die Kraft des Weltenbaumes würde alles auseinander fallen und sich in der Unendlichkeit verlieren.

Die Esche Yggdrasil ist von allen Bäumen der größte und ragt über alle neun Welten und selbst über den Himmel hinaus. Sie ist aus einem Stoff gemacht, der härter als Eisen ist, und doch nagt ein Hirsch ewig an ihrer Krone, und ein Wurm frisst ewig an ihrer Wurzel. Nur die Macht der Runen vermag sie zu bezwingen.

Drei Wurzeln hat der Weltenbaum: Eine Wurzel reicht bis nach Asgard, dem Reich der Götter; die zweite nach Jötunheim, wo die Riesen wohnen; und die dritte senkt sich nach Nibelheim hinab, in die Unterwelt.

An der ersten Wurzel liegt der Brunnen der Nornen, der drei Schwestern des Mondes, die das Schicksal der Menschen bestimmen und auch, wie manche meinen, das der Götter. Dort saß Ygg oft und lauschte schweigend ihren Reden. Die zweite Wurzel reicht hinab in einen Quell, der so tief ist, dass keiner seinen Boden kennt; doch an seinem Grunde liegt Gold und in seinem Wasser Weisheit. Die dritte Wurzel aber führt in einen brodelnden Pfuhl, in dem Jörmungand ihren Ursprung hat, die Schlange, die sich um die ganze Welt windet und am Ende der Zeit sich erheben wird.

Nun begab es sich, dass aus dem Westen neue Götter herbeikamen, von denen die Nornen nichts wussten. Sie nannten sich Wanen; ihr König war Njörd, und seine Kinder hießen Frey und Freya. Sie waren Götter des Lebens und der Fruchtbarkeit. Eines Tages schlich sich Frey aus Übermut in die Halle Frohheim und nahm auf dem hohen Sitz Tyrs Platz, und von dort schaute er bis in die Fernen von Jötunheim und erblickte eine wunderschöne Maid, zu der er in Liebe entbrannte. Daraufhin zog er aus, sie zu gewinnen. Ihr Name war Gerda, und sie folgte ihm aus freien Stücken nach Wanenheim, ohne das Wissen ihrer Eltern. Doch Tyr, der von seinem Übermut erfahren hatte, ließ eine Mauer um Asgard errichten und verkündete, jeder, der sie ohne sein Geheiß überschreite, müsse des Todes sein.

Aber es war nicht Frey, den man vor seinen Richterstuhl schleppte, sondern eine Riesin, Gerdas Mutter, Gullweig genannt, die auf der Suche nach ihrer Tochter bis ins Asenheim gelangt war. Und die Asen vollzogen an ihr den Richterspruch und banden sie auf den Scheiterhaufen; dreimal verbrannte man sie, da sie drei Leben hatte, und als sie verkohlt war, stieß Tyr selbst ihr das Schwert ins Herz.

Als die Wanen hörten, was geschehen war, trafen sie sich mit den Asen zu feierlichem Rat und verlangten Genugtuung. Denn nun, da Frey und Gerda den Bund der Ehe geschlossen hatten, war Gullweig eine Sippenverwandte der Wanen geworden, obgleich sie eine üble Hexe gewesen, und daher waren die Wanen gezwungen, ihren Tod zu rächen oder zumindest ein Blutgeld zuverlangen. Doch Tyr sprach: ›Was Recht ist, muss Recht bleiben.‹

So kam Krieg in die Welt. Beide Seiten waren ungefähr gleich stark, und mal war das Kriegsglück auf der Seite der Wanen, mal auf der Seite der Asen. Doch schließlich wurde der Burgwall der Asen gebrochen, und die Wanen hielten das Feld. Wieder gingen die Berater zu den Richterstühlen und hielten Rat. Und die Klügeren von ihnen wiesen darauf hin, dass jederzeit die Riesen zurückkehren könnten, während alle schutzlos dalägen, und so vereinbarte man einen Waffenstillstand. Tyr bot den Wanen an, Geiseln zu tauschen, um den Frieden wiederherzustellen.

Infolgedessen gingen zwei der Asen, Mimir und Hönir, zu den Wanen, und Njörd und seine Kinder Frey und Freya sowie Gerda wohnten von nun an in Asgard.

Doch bald merkten die Wanen, dass Mimir zwar von großer Weisheit war, doch Hönir einfältig, und so hatten sie das Gefühl, beim Tausch von den Asen betrogen worden zu sein. Aus Zorn darüber ergriffen sie Mimir, schlugen ihm den Kopf ab und schickten diesen den Asen.

Da nahm Ygg Mimirs Haupt, hüllte es in Kräuter und stieg damit hinab an die Quelle des Weltenbaumes, die im fernen Jötunheim liegt. Und als er das Haupt in den Wasserfall tauchte, der die Quelle Odhörir speist, da öffnete Mimir die Lippen und sprach: ›Wer die Weisheit sucht, muss einen Preis bezahlen.‹ «

Die Stimme des Erzählers hatte die Kinder so eingelullt, dass sie kaum noch darauf achteten, wohin der Weg sie führte. Es war keiner der Hauptwege; denn er wand sich durch das Gestein wie eine Schlange. Es gab auch nur wenige Abzweigungen. Doch jetzt waren sie auf einem hohen Sims angelangt, von wo aus ein Wasserfall in die Tiefe stürzte, um sprudelnd in einem unterirdischen Teich zu enden.

Siggi schwindelte, als sein Blick dem hinabfallenden Wasser folgte, und fast wäre er gefallen, hätte der Alte ihn nicht am Arm gepackt.

»Obacht«, sagte er. »Nicht jeder Wasserfall birgt Weisheit.«

»Hier entlang«, wies ihnen Laurion den Weg.

Sie folgten ihm, bis der Steg sich verbreiterte und zu einem in den Fels gehauenen Eingang führte, flankiert von zwei Bäumen, die sich im ungewissen Dämmerlicht, welches von dem fließenden Wasser widergespiegelt wurde, in einer sanften Brise zu bewegen schienen. Doch als sie näher herantraten, sah man, dass es sich nur um steinerne Reliefs handelte, die aus dem Fels herausgemeißelt worden waren.

Hinter dem Tor war eine Kammer in den Felsen eingelassen, und zwei Wachen standen dort, in grauen Kleidern und mit silbernen Kettenrüstungen und Helmen, die Kopf, Hals und Wangen bedeckten. Sie hielten Speere in den Händen, mit denen sie den Weg versperrten. Doch auf ein paar geflüsterte Worte Laurions machten sie bereitwillig Platz.

»Hier beginnt das Reich der Verborgenen Königin«, erklärte der Lios-alf. »Nun ist es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel. Folgt mir.«

Während sie den Stollen hinuntergingen, ließ Gunhild kein Auge von dem alten Erzähler. Als er keine Anstalten machte, mit seiner Geschichte fortzufahren, sondern nur stumm und in sich gekehrt weiterschritt, schwer auf seinen Stab gestützt, fragte sie leise: »Und hat er den Preis bezahlt?«

Als der Alte weitersprach, klang seine Stimme seltsam fremd, wie in Trance:

»Ich weiß, dass ich hing / am windigen Baum

Neun lange Nächte

Vom Ger verwundet, / dem Gott geweiht,

Mir selber ich selbst,

Am Ast des Baums, / dem man nicht ansehn kann,

Aus welcher Wurzel er spross.

Sie boten mir / nicht Brot noch Met;

Da neigt' ich mich nieder,

Nahm Runen auf, / nahm sie ächzend:

Da fiel ich ab zu Erde.

Ja«, fuhr er fort, »er hat den Preis bezahlt, und Mimirs Mund sagte ihm, was zu tun sei. So bestieg er Yggdrasil; neun Tage und neun Nächte hing er dort am Baum, dem Tode näher als dem Leben. Und als er erkannte, dass niemand ihm helfen würde, da begriff er, und er bäumte sich auf und wurde eins mit dem Universum, und vor seinen Augen erschienen die Runen, die Urformen des Lebens; schreiend begriff er sie, und der Ast des Baumes, an dem er hing, brach, und Ygg fiel zur Erde nieder.

Aus dem Ast des Weltenbaumes schuf er sich einen Speer, und in den Speer ritzte er die Runen ein und färbte sie mit seinem Blut. So gewann er Macht über das Gesetz der Natur und band es an sich, in einem Pakt, den keiner zu brechen vermochte, der unter diesem Gesetz geboren ist.

Dann kehrte er zurück nach Asgard, und alle, die ihn sahen, beugten das Knie vor ihm, und Tyr selbst bot ihm seinen hohen Sitz an. Als Allvater nahm er dort Platz und ließ sie schwören, Asen und Wanen zugleich, beim Speer des Gesetzes. Und als sein Blick über die Versammlung ging, bannte er sie alle mit seinem funkelnden Auge. Denn sein zweites Auge liegt nun in den Tiefen von Mimirs Quell und schaut auf ewig in das Innere der Welt.

Das war der Preis der Weisheit.«

Die Kinder waren verstummt und wagten nicht zu reden. Auch Laurion, der alles mit angehört hatte, wandte sich nicht um. Schweigend gingen sie weiter, während der Weg langsam wieder anstieg. Von ferne kam ein Lichtschimmer; allmählich wurde es hell.

»Ein Auge zu verlieren, das muss schlimm sein«, sagte Gunhild schließlich zu dem alten Mann. »Ich meine, du hast selber ein Auge verloren. Das tut mir Leid. Und ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

»Ich habe viele Namen«, antwortete der Graue. »Grimm und Gandalf hat man mich genannt, Heervater und Helmbari und Herr der Raben, Wod und Walvater, Wegtam und Uli; nur ein Name genügte mir nie. Thor hieß ich beim Thing, Thundr und Udr, Ygg mitunter, doch vor allem nennt man mich -«

»Halt!«, rief Laurion. Blendende Helle hüllte sie ein. »Wir sind da. Willkommen in Alfheim, der Stadt der Lios-alfar.« Hagen brannte innerlich vor Ungeduld. Mîm hatte ihn aufgefordert zu warten. Der Swart-alf selbst war in der Halle des Königs verschwunden. An Hagens Ohr drangen Stimmengemurmel und gedämpfte Geräusche wie das Pochen mächtiger Maschinen.

Das alles interessierte Hagen nicht. Er konnte es nicht erwarten, vor den Herrn der Schwarzalben geführt zu werden und ihn für sich zu gewinnen.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Seine Begleiter hinter ihm nahm er überhaupt nicht mehr wahr. Diese schienen dafür von Hagens Nervosität keine Notiz zu nehmen. Mit regungslosen Mienen erfüllten sie ihre Aufgabe, den Fremdling zu bewachen.

Schließlich kehrte Mîm wieder zurück. Sein breites Gesicht wirkte angespannt.

»Er will dich jetzt sehen, Hagen. Sprich nur, wenn du gefragt wirst«, sagte der Schwarzalbe knapp. »Und wenn du ihn ansprichst, nenne ihn ›Meister‹!«

Hagen sah nur kurz in das Gesicht des noch recht jung wirkenden Swart-alf, dessen Alter er aber nicht zu schätzen wagte.

»Ihr könnt gehen«, sagte dieser zu den Bewachern. »Du«, dabei deutete er auf Hagen, »folgst mir.«

Der Junge folgte Mîm in die Halle. Der Swart-alf hatte breite Schultern, die ihn sehr wuchtig erscheinen ließen. Doch Hagen hatte keinen Blick für die trotz der untersetzten Gestalt geschmeidigen Bewegungen Mîms, dessen Muskeln sich unter dem weichen Ledergewand abzeichneten.

Er hatte nur Augen für die Halle, die sich vor ihnen auftat.

War das Licht in den Gängen zumeist fahl, doch gleichmäßig, so herrschte in der Halle des Königs ein unsteter, rötlicher Schein, der nicht strahlte oder blendete, aber den riesigen Raum doch hell erscheinen ließ. Die Quelle dieses Lichts waren große Lampen, die an schweren Ketten von der Decke hingen; sie schienen aus Schmiedeeisen und Kristall zu sein, wuchtig und dennoch kunstvoll gearbeitet. Aus gehämmertem Metall mit Platten aus dunklem Marmor waren auch die Bänke und Tische, an denen die Swart-alfar tafelten. Es mussten Dutzende sein, nein, viel mehr; genau konnte Hagen sie nicht zählen, aber er schätzte, dass sich mindestens drei- oder vierhundert von dem dunklen Volk hier versammelt hatten.

Für diese Anzahl war der Lärm, den sie machten, eher gering; ja, es herrschte eine erstaunliche Ordnung. Diener mit Krügen und Platten voller Speisen eilten zielstrebig zwischen den Tischen hin und her, bewegten sich nahezu lautlos über den spiegelblank polierten Boden.

Vieles in der Halle zeugte von der Kunstfertigkeit der Schwarzalben. Es war nicht irgendeine Höhle, sondern es war der Thronsaal eines Königs. Ringsum erhoben sich mächtige Säulen aus Stein, geriefelt und mit Bändern gegliedert. Verbunden waren sie durch Balkone, die zu Öffnungen in den Felswänden führten, und Verstrebungen aus schwarzem Eisen, zwischen denen sich Plattformen auf und nieder senkten. Auf allen Seiten gab es ein ständiges Kommen und Gehen, doch alles geschah mit der Effizienz einer gut geölten Maschinerie. Nirgendwo sah man jemanden hasten oder eilen; nur selten war ein lautes Wort zu vernehmen. Doch selbst dem flüchtigen Beobachter wurde klar, dass dies nicht das Ergebnis von Teilnahmslosigkeit oder Routine war, sondern Teil eines ausgeklügelten Systems, dem sich alle unterwarfen.

Die Anwesenden schenkten den Neuankömmlingen wenig Beachtung, nur gelegentlich wurde ihnen ein verstohlener Blick zugeworfen. Hagen freilich war dies mehr als nur recht, denn der Anblick der Halle des Königs nahm ihn gefangen.

So viel Pracht hatte er tief in einer Höhle nicht erwartet. War der gewaltige Kristall vorhin ein natürliches Schauspiel gewesen, so schien in der Halle des Königs nichts dem Zufall überlassen zu sein. Er fühlte sich zurückversetzt in die großen Fabriken seiner Heimatstadt Manchester; dort, in den Fertigungshallen, wo jeder Mann am Fließband zu einem winzigen Rad in eine großen Produktionsmaschine wurde, herrschte die gleiche Zielstrebigkeit - und fast die gleiche Disziplin.

Als sie das Zentrum der Halle erreichten, stießen sie auf eine gewaltige, wohl zehn Meter durchmessende Kristallfläche, die von Streben wie den Speichen eines riesigen Rades durchzogen war. Als Hagen hinunterblickte, sah er zu seinen Füßen, tief unter ihnen, die Essen und Schmieden des Schwarzalbenvolkes, in denen rot glühendes Eisen durch Rinnen und in Formen floss, um von schweren Kränen in Position gehievt und von den geschäftigen, zwergenhaften Arbeitern mit Hämmern und Pressen in Formgebracht zu werden. Von hier kamen die dumpfen Schläge, die vor dem Tor der Halle zu hören gewesen waren.

Dann erblickte Hagen den Thron und hatte von diesem Moment nur noch Augen für den Herrschersitz des Albenkönigs.

Der Thron befand sich auf der gegenüberliegenden Stirnseite. Er schien aus der Wand der Halle herausgemeißelt zu sein und ragte weit in den Saal hervor. Auf vier gedrehten Säulen, die in Schlangenköpfen endeten, erhob sich eine steinerne Kuppel, die aus einem einzigen dunklen Kristall geschnitten war, mächtig und leicht zugleich, und auf ihr lastete eine schwere eiserne Krone, in der geschliffene Kristalle den Schein der Lampen in schillernden Farben zurückwarfen. Sie sahen aus wie Diamanten, doch gewiss hatte es nie Edelsteine von solcher Größe gegeben. Der Thron war über drei Fluchten von jeweils neun Stufen zu erreichen; auf jedem der Absätze standen Swart-alfar in voller Rüstung, mit gezückten Waffen. Doch das größte aller Kunstwerke war der Thron.

Er war aus einem Stein so schwarz wie die Nacht, der das Licht selbst in sich aufzusaugen schien. Schattengleich ragte er auf, mit mächtigen Schwingen, einem Kamm mit scharfen Graten und Zacken, welcher sich zu einem Echsenhaupt emporschwang, das stolz und anklagend zugleich gen Himmel gerichtet war. Doch keine Echse dieser Art war je in den Biologiebüchern verzeichnet gewesen. Es war ein Drache, eine steingewordene Legende, furchteinflößend und schön zugleich.

Auf dem gewaltigen Thron saß einer, der sich fast in der aus Fels gemeißelten Pracht verlor. Auf den ersten Blick glaubte Hagen, dass er sich kaum von den anderen Swart-alfar abhob, aber je näher er kam, desto augenfälliger wurden die Unterschiede zwischen dem König und seinem Volk.

Der Herr der Swart-alfar saß still wie der Stein, aus dem sein Thron gehauen war, und schien mit jedem Schritt mächtiger anzuwachsen. Ein wallender, nachtdunkler Bart fiel ihm auf die Brust, und seine schwarze Mähne wurde von einem goldenen Reif gebändigt, den er anstelle einer Krone trug. In seiner Rechten hielt er eine gewaltige Axt mit einem breiten geschwungenen Blatt.

Hagen glaubte zunächst, einem jungen Mann gegenüberzutreten, aber mit jedem Schritt, der ihm den Thron näher brachte, wurden die Zweifel größer. Die ungebeugte Haltung, das nachtdunkle Haar täuschten. Das Gesicht des Herrschers der Schwarzalben war nicht das eines forschen Draufgängers, sondern das eines alten und weisen Mannes. Aber die Augen straften diesen Eindruck Lügen. Als Hagen den Blick dieser Augen auffing, schauderte es ihn.

Sie waren schwarz wie die Nacht und tief, abgrundtief wie ein Brunnen am Ende der Welt. Und in der Tiefe der nachtdunklen Pupillen brannte ein wildes Feuer, geboren aus Leidenschaft und Zorn.

Sie waren am Fuß des Throns angekommen. Nur noch ein halbes Dutzend Schritte trennten sie von der Gegenwart des Herrschers.

»Bleib stehen! Verneige dich!«, zischte Mîm an seiner Seite. »Beuge dein Knie vor Alberich dem Nibelungen!«

Hagen senkte den Kopf, um den Bann jener Augen zu brechen, dann ließ er sich auf ein Knie nieder - es war das Einzige, was ihm in diesem Moment richtig und angemessen erschien - und richtete sich wieder auf.

Alberich musterte ihn schweigend. Hagen vergaß, dass sich viele Dutzend der Untertanen des Königs mit ihm zusammen in der Halle aufhielten. Für ihn gab es nur noch sich und den Herrn der Swart-alfar.

»Nun Midgard-Knabe«, begann der König mit einem tiefen Bass. »Wie ist dein Name?«

»Ich bin Hagen«, antwortete der Junge, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen.

Für einen Augenblick flammte ein dunkles Feuer in den schwarzen Augen auf. Wieder hielt ihn dieser durchdringende Blick Alberichs gebannt, wie ein Strahl, der ihn erfasste und nicht mehr losließ. Hagen glaubte, direkt vor dem König zu stehen, und hatte das Gefühl, als könnte dieser direkt auf den Grund seiner Seele schauen.

»Etwas brennt in dir«, sagte Alberich nachdenklich. »In dir lodert ein Feuer, ein wilder Wunsch und - Hass ...«

Hagen krümmte sich wie unter einem Peitschenhieb, als er erkannte, dass Alberich seine Gedanken gelesen und seine geheimen Wünsche, Hoffnungen und Pläne erkannt hatte.

»Es ...«, wollte Hagen beginnen, erinnerte sich aber daran, was Mîm gesagt hatte, der neben ihm stand und keine Miene verzog.

»Was ist? Sprich!«, forderte ihn der Herrscher der Swart-alfar auf, und er neigte sich interessiert nach vorn, ohne Hagen aus den Augen zu lassen.

»Es geht um Siegfried - und den Ring. Er hat ihn mir gestohlen ...« Die aufgestaute Wut platzte aus Hagen förmlich heraus.

Zwischen Mîm und Alberich schien die Luft zu knistern, als Hagen erzählte, was alles geschehen war, seit sie um den Brunnen getanzt waren. Alberich hörte aufmerksam zu und unterbrach Hagen nur ein einziges Mal. Es war, als Hagen den Verlust des Rings erwähnte.

»Ahh«, sagte er, als flammte ein alter Schmerz in ihm auf, ein tief verborgener Groll, der lange geschwelt hatte und nun mit Macht an die Oberfläche drängte. Seine Augen schienen in Flammen zu stehen, als er hörte, wie Siggi Hagen den Ring stahl.

»... und dann befreite mich Mîm von den Fesseln und brachte mich hierher in Eure Halle, weil er meinte, es würde euch interessieren zu erfahren, was ich erlebt habe, Majestät ... ah, Meister«, schloss Hagen seinen Bericht.

»Wohl getan, Mîm!«, sagte Alberich mit nur mühsam unterdrückter Erregung und erhob sich von seinem Thron.

Hagen schien es, als würde der König ins Riesenhafte wachsen, eine überlebensgroße Gestalt aus einer uralten, längst vergessenen Sage. Doch dann erkannte er, dass er einer Täuschung unterlegen sein musste; denn Alberich, wenngleich um Haupteslänge größer als seine Untertanen, war doch nicht größer als er selbst, Hagen.

Bevor Hagen darüber nachdenken konnte, hatte der König ein Horn genommen, das er am Gürtel trug, hob es an den Mund und stieß hinein. Es war, als würde ein gewaltiger Donner durch die Halle rasen; augenblicklich verstummten alle Gespräche, und aus den Gängen traten Swart-alfar, um dem Ruf ihres Herrn zu folgen.

Alberich trat zum oberen Absatz der Treppenflucht vor. Er bedeutete Hagen und Mîm, ihm zu folgen, und bei einem Seitenblick glaubte Hagen zu erkennen, dass Mîm ob der Ehre rot wurde, sofern man das bei seiner dunklen Hautfarbe sagen konnte.

Die Schwarzalben erhoben sich von ihren Plätzen, um ihrem Herrn die Ehre zu erweisen. Immer mehr von ihnen traten in die Halle des Königs. Es herrschte völlige Stille, selbst die Maschinen waren verstummt, und obwohl viele in die Halle drängten, hätte man eine Nadel fallen hören können, so lautlos versammelten sich die Swart-alfar am Herrschersitz ihres Volkes.

Hagen hatte das Gefühl, sein Herz dröhnte so laut, dass es wie Paukenschläge von den Wänden widerhallen müsste.

Der König der Swart-alfar hob die Hand.

»Hört!«, rief er, mit einer tiefen, durchdringenden Stimme, die bis in den letzten Winkel der Halle drang. »Die Nornen meinten es gut mit dem Volk Ymirs, sie brachten uns Kunde aus dem Mund eines Knaben aus Midgard.« Bei diesen Worten trat Alberich neben Hagen und fasste ihn am Arm.

Hagen wusste nicht wie ihm geschah. Innerlich jubelte er, hatte er doch den mächtigen Alberich auf seiner Seite, aber ihm war, als würde ihm ein Kloß im Hals sitzen. Er wagte kaum zu atmen.

»Die Zeit des Wartens ist zu Ende!«, rief Alberich. »Der Ring des Nibelungen ist wiedergefunden!«

Die Welt schien den Atem anzuhalten. Dann begann ein leises, fast unhörbares Gemurmel, das wie das ferne Grollen einer Lawine zu einem Getöse anschwoll und sich zu einem ohrenbetäubenden Jubel steigerte.

Eine einzige Geste Alberichs sorgte für absolute Ruhe. Von einem Augenblick zum anderen war es wieder totenstill.

»Hört mich, Swart-alfar! Die Stunde ist gekommen. Der Ring ist zurückgekehrt! Und er ist in den Händen der Feinde ...« Alberichs Stimme sank zu einem Flüstern herab, und doch war er bis in den letzten Winkel der Königshalle zu hören, aber gleich darauf schwoll seine Stimme zum Orkan. »Wir aber werden uns wiederholen, was rechtmäßig uns gehört! Auf zum letzten Gefecht! Nieder mit der bleichen Brut!«

Der Schlachtruf wurde aufgegriffen, und wie ein Mann riefen alle in der Halle König Alberichs: »Nieder mit der bleichen Brut!«

Ohne dass es Hagen richtig begriff, fiel er in den Ruf mit ein. Er war von den Ereignissen einfach überrollt worden. Zugleich wirbelte es in seinem Kopf. Der Ring! Sein Ring hatte dies alles vollbracht. Doch was war es, was der Schwarzalbenkönig gesagt hatte: Dass der Ring rechtmäßig ihm gehörte?

Alberichs Stimme übertönte mühelos den Lärm der Menge.

»Dies ist mein Gebot: Kleidet diesen Knaben wie einen Prinzen unseres Volkes, gebt ihm ein Schwert und seht in ihm den Erben der Nibelungen!«

Hagen stand wie benommen neben dem König und musste erleben, wie Mîm neben ihm auf die Knie fiel.

Ehrfurchtsvoll traten einige Frauen näher heran. Sie neigten ihre Häupter vor Hagen.

»Folgt uns bitte, Herr«, baten sie.

Hilflos sah Hagen zu Alberich, der ihm aufmunternd zunickte. Doch in den Augen des Königs sah er etwas glimmen, gegen das sein eigener Hass und Zorn nicht mehr war als ein kleines Flämmchen gegen ein alles versengendes, unauslöschliches Feuer ...

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