Gunhild löste sich von Siggis Schultern, wischte sich die Tränen aus den Augen und schniefte. Der Junge wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten, aber es war für ihn ein schönes Gefühl, neben all der Trauer um Laurion und dem Unverständnis für Hagen, der auf die Einflüsterungen Alberichs gehört hatte, seiner Schwester einen kleinen Teil des Schutzes und Trostes wiedergeben zu können, die sie ihm früher immer gespendet hatte. Es war wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
Siggi fragte sich, ob die Schlacht, das Sterben zweier unversöhnlicher Völker, schon begonnen hatte. Ein Krieg, der nur Verlierer kennen würde. Er fragte sich, ob Laurion und Mîm nicht hätten Freunde sein können, wenn dieser Hass nicht gewesen wäre.
»Ist er ...?«, fragte Gunhild.
»Ja«, antwortete Siggi, der wusste, wen Gunhild meinte. »Laurion ist tot. Er ist für uns gestorben«, erklärte er seiner Schwester. »Er hat tapfer gekämpft.«
Gunhild warf einen beinahe scheuen Blick auf den Kampfplatz. Sie ertrug es gefasst, den jungen Lios-alf, der sie durch so manche Gefahren geführt hatte, tot zu sehen.
»Was ist passiert? Warum konnte uns keiner sehen?«, fragte Gunhild.
»Wir waren unsichtbar und sind es noch. Es ist der Ring, den Hagen aus dem Brunnen geholt hat. Es ist der Ring des Nibelungen; du hast Alberich gehört. Der Ring macht seinen Träger und die, die er berührt, unsichtbar.«
Gunhild nickte nur.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, fragte Siggi.
»Laurion und ich sind gemeinsam in die Tiefe gestürzt. Dann rutschten wir durch absolute Finsternis. Irgendwann kamen wir in einem kahlen Raum heraus. Dort hat uns Odin mit ein paar von den dunklen Kriegern erwartet. Er sagte: ›Ah, da kommt Alberichs Lohn mit einer hübschen Beigabe.‹ Der Alte lächelte dabei so komisch, als freue er sich schon auf einen Triumph.«
Gunhild machte eine kurze Pause, schloss die Augen, als wollte sie die Bilder dieses Augenblicks noch mal zu sich rufen.
»Dann«, fuhr Gunhild fort, »stürzten sich die Krieger der Schwarzalben auf Laurion und überwältigten ihn. Odin packte mich am Arm, und schleppte mich mit sich. Ich wehrte mich, aber der Alte war stärker.«
Siggi packte Mjölnir fester, während Gunhild erzählte. Der Zorn, den er schon bezwungen glaubte, erwachte wieder. Es drängte ihn danach, Odin den Hammer in die machtgierige Visage zu schlagen, um ihn mit seinem Mal zu zeichnen.
»Ich wehrte mich jedoch weiter«, fuhr Gunhild fort. » ›Viel Macht ist mir nicht geblieben, aber das Wenige, das ich vollbringen kann, werde ich noch tun, widerspenstiges Midgard-Kind‹, sagte Odin zu mir. Dann öffnete er sein rechtes Auge - das, welches er immer geschlossen hat, weißt du. Es ist nicht tot. Was ich darin gesehen habe ...« Sie schauderte, und Siggi hatte das Gefühl, als blicke seine Schwester in einen Abgrund, der ihm verborgen blieb. »Ich kann darüber nicht reden. Aber mit jedem Augenblick, den ich diesen Blick ertrug, hatte ich das Gefühl, einen Teil meines Willens zu verlieren. Und als ich völlig in seinem Bann war, schleifte er mich hierher.«
Siggi hielt sie einen Moment fest im Arm; dann sah er sich aufmerksam um, lauschte, und als er sicher war, dass niemand mehr in der Nähe von Muspelheims Feuern war, streifte er den Ring ab. Keiner, weder Mensch, Albe noch Gott, war da, um zu sehen, wie aus dem Nichts die Gestalten der beiden Kinder erschienen, die in einer einzigen Nacht mehr an Wunderbarem geschaut hatten als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Ihnen war ein Blick hinter die Schleier der Wirklichkeit vergönnt gewesen, ein Blick in eine fremde Welt, die voller Schönheit war, aber auch voller Schrecken. Und in einer Beziehung schien sie sich gar nicht so sehr von ihrer eigenen zu unterscheiden, denn auch hier gab es Hass, Habgier, Zorn und Gewalt.
»Wir sollten Laurion bestatten«, sagte Gunhild leise. »Wir können ihn nicht einfach hier liegen lassen.«
In seinem früheren Leben hätte Siggi bei dem Gedanken, einen Toten überhaupt nur zu berühren, das kalte Grausen gepackt, und er hätte sich irgendwo verkrochen. Aber nach den Erlebnissen der letzen Stunden erschien es ihm nur recht und angemessen.
»Aber dann nicht nur Laurion, sondern auch Mîm«, sagte er. »Den Schwarzalben, der mit ihm gefallen ist, meine ich. Ich glaube, er war Hagens Freund.«
»Und die anderen auch«, fügte Gunhild hinzu.
»Aber wie? Wir können doch mit den Händen kein Loch in den Fels graben.« Siggi sah sich um.
»Übergeben wir sie dem Feuer«, gab seine Schwester zur Antwort.
Siggi schob Mjölnir in den Gürtel, und gemeinsam machten sich die Kinder an die Arbeit. Zuerst trugen sie alle Gefallenen an das Ufer des Lavasees. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirn, als sie endlich damit fertig waren. Doch nun kam der schlimmere Teil. Es war an der Zeit, den ersten der Toten dem See zu übergeben.
In Siggis Fantasie stiegen plötzlich Bilder aus Horrorfilmen auf, die er gesehen hatte, obwohl - oder gerade weil - es sein Vater verboten hatte. Und einmal hatte er gerochen, wie verbranntes Fleisch und Haare stanken. Bei dem Gedanken wurde ihm nun doch mulmig zumute, und auch Gunhild schien zu ahnen, was ihnen da bevorstand.
Trotzdem packten die beiden wortlos den Swart-alf an und schoben ihn über den Rand in die Feuer Muspelheims. Aber der Schock blieb aus. Der Leichnam verging lautlos in der Lava, verpuffte einfach in einem Aufflackern der Glut. Es war fast, als würde der Körper des Schwarzalben unsichtbar werden. Er verging ins Nichts ... Und so überließen die Geschwister die Toten einen nach dem anderen den Flammen.
Als sie bei Mîm angelangt waren, verneigte sich Siggi kurz für Hagen, den Freund, der von Alberich verstoßen irgendwo durch die Gänge irrte.
Zuletzt lag noch Laurion vor ihnen. Das ihnen vertraut gewordene Gesicht war im Tode entspannt, und es schien fast so, als würde er schlafen. Nur sprach die schreckliche Wunde eine andere Sprache. Laurion war tot; gefallen im Kampf, um sie zu retten. Siggi beugte sich zu ihm herunter. Er wollte die Wasserflasche an sich nehmen, aber der Zauber der Königin war gebrochen. Ein Schwerthieb musste die Flasche getroffen haben. Das Wasser war ausgelaufen.
Siggi und Gunhild schämten sich ihrer Tränen nicht. Beide beteten stumm, obwohl ihnen durchaus bewusst war, dass der Gott, zu dem sie beteten, nicht hierher gehörte. Aber sie waren der festen Überzeugung, ihre Fürbitte würde nicht vergebens sein.
So standen sie schweigend da und gedachten Laurions, der nun nicht mehr in den Krieg musste, und sie beteten dafür, dass er im Tode Frieden fand.
Aber es war noch nicht zu Ende, dachte Siggi; denn jetzt stand ihnen der letzte Teil des Abenteuers bevor. Nur war dieses Abenteuer längst nicht so lustig wie in den Büchern und Filmen, die er kannte. Es gab zu viel, auf das er gern verzichtet hätte.
»Komm!«, forderte er seine Schwester auf. »Wir müssen gehen.«
»Wohin?«, fragte Gunhild.
»Wir müssen Hagen finden, und dann zurück nach Hause«, antwortete Siggi. »Auch in der Anderswelt wird diese Nacht vorübergehen. Und du weißt, das Tor öffnet sich bei Sonnenaufgang.«
»Wie wollen wir das denn anstellen?«, fragte das Mädchen. »Laurion kann uns nicht mehr führen. Und wir wissen nicht, wo wir hier sind, und wir wissen nicht, wo Hagen ist und wer weiß wie viele Fallen sich noch auf dem Weg nach oben befinden.«
»Lass es uns versuchen. Hier unten können wir nicht bleiben«, entgegnete Siggi.
»Also gut«, sagte Gunhild. »Du hast Recht.« Siggi bemerkte erfreut, dass etwas vom Geist der alten Gunhild in den Augen seiner Schwester aufblitzte. Der Einfluss Odins ließ immer weiter nach. Im Grunde konnten sie dem Alten sogar dankbar sein, dachte Siggi, denn Gunhilds Willensschwäche hatte ihr Entkommen erleichtert. Seltsam, wie ein Teil des Ränkespiels sich zu ihren Gunsten ausgewirkt hatte.
Sie wandten dem glühenden See den Rücken zu und gingen vorsichtig über den schwarzen Basaltboden auf die offene Tür zu, wo das Labyrinth der Stollen und Schächte begann. Noch ein Stück weit färbte der flackernde Feuerschein Muspelheims die Wände, dann umgab sie wieder das fahle, kalte Dämmerlicht der Höhlenwelt. Der Fels war so grau wie überall. Von den Swart-alfar und ihrem Herrscher war nichts zu sehen.
»Und nun?«, fragte Gunhild.
Sie standen vor einer Weggabelung; drei Gänge führten von hier weg. Siggi konnte nur ein paar Meter in die Gänge hineinsehen. Einer war so gut wie der andere.
»Wir nehmen den Gang in der Mitte«, entschied er, »denn er führt nach oben.«
Die beiden Kinder setzten sich in Bewegung und machten sich auf die Suche nach dem Weg, der hinaus in die Freiheit führte. Und nach Hagen. »Du bist es nicht wert, den Namen der Nibelungen zu tragen. Große Hoffnungen hatte ich in dich gesetzt, aber bei der ersten Probe deines Mutes versagst du kläglich! Ich verstoße dich. Du bist mein Sohn nicht mehr ...«
Die Worte Alberichs hallten in Hagens Ohren nach. Vor seinen Augen standen immer noch die Bilder des schrecklichen Kampfes in der Höhle. Mîm war gefallen, im Kampf gegen einen Lios-alf, der zusammen mit Siggi gekommen war. Hagen merkte erst jetzt, wie sehr er den schweigsamen Schwarzalben gemocht hatte.
Alberich hatte er verehrt, als mächtigen Verbündeten geschätzt, aber Mîm und er hätten vielleicht Freunde werden können. Doch sie hatten so wenig Zeit gehabt, sich kennen zu lernen.
Und dann Alberichs Worte. Er war verstoßen worden, ausgeschlossen aus dem Kreis der Swart-alfar, hatte seine gerade erst gewonnenen Ehren verloren.
Mîm tot; von Alberich verstoßen; und Siggi war ihm entkommen. Hagen war einfach losgerannt. Den Runenspeer in der Hand, war er gelaufen, was die Beine hergaben, nur weg, fort von dem Ort dieses schrecklichen Geschehens.
Er wollte nur die Stätte seiner Schande, seiner Niederlage hinter sich lassen. Hagen achtete nicht darauf, wohin er lief, und es war ihm auch egal, in welche Richtung ihn sein Weg führte. Die Scham der Demütigung brannte in ihm, und die Schuld, die er verspürte, machte alles noch schlimmer.
Einen Moment nur hatte er gezögert; einen Lidschlag lang hatte er mit sich gerungen, Siggi den Speer in die Brust zu bohren, um den Triumph der Swart-alfar vollkommen zu machen.
Nur einen Augenblick ...
Und wer war für das alles verantwortlich? Siggi! Wer sonst? Wie ein Schemen war er ins Nichts verschwunden, hatte sich mitsamt seiner nichtsnutzigen Schwester einfach verflüchtigt.
Der Ring ...
Ja, es musste die Macht des Ringes gewesen sein, die es Siggi ermöglicht hatte, sich aufzulösen wie ein Nebelstreif unter der Sommersonne. Ihm hatte er all diese demütigenden Niederlagen zu verdanken, die seinen Stolz auf tiefste verletzt haben.
Sein Ring ...
Ja, es war seiner, Hagens Ring, der es Siggi ermöglicht hatte, der Todesfalle zu entkommen. Oh, sicher hätte er seine Zweifel überwunden, denn Hagen wusste, er hätte alles getan, um seinem Vater zu gefallen, um ihm Ehre zu machen im Kampf gegen die bleiche Brut, die Lios-alfar. Aber er hatte versagt, kläglich versagt.
Alberich, der Nibelung ...
Der König der Swart-alfar hatte alles so klug eingefädelt. Der Plan war perfekt gewesen. Sie hätten die Kraft des Runenspeers gewonnen, den Ring zurückerhalten und Odin hinters Licht geführt. Zu guter Letzt hätten sie sich auch noch Brisingamen genommen, das Halsgeschmeide der Verborgenen Königin. Aber alles war gescheitert. Und nur, weil er einen winzigen Augenblick lang gezögert hatte.
Das erste Mal...
Er hatte noch nie vorher getötet, noch nie, und er hatte gemerkt, dass vom Töten zu reden eine Sache war, aber es dann auch wirklich zu tun eine völlig andere. Kurz nur war ihm der Gedanke gekommen, dass er Siggi mit einem Stoß auslöschen, ihn aus dem Kreis der Lebenden reißen würde. Immerhin hatte Siggi ihn aus den Fesseln befreit, die als Falle gedient hatte.
Siggi...
Siggi hatte zuerst an ihn gedacht, hatte ihn wirklich befreien wollen. Das hatte ihn zögern lassen. Vielleicht war er ja doch ein Freund, vielleicht täuschte er sich in Siggi, den er hatte umbringen sollen. Möglicherweise war er kein Dieb...
Dieser hinterhältige Bastard ...
Mit einem Mal wurde Hagen klar, dass Siggi der abgefeimteste Schuft war, der ihm je begegnet war. Siggi hatte gewusst, dass Hagen bei den Swart-alfar Gehör finden würde. So hatte der Dieb und Verräter gewiss auch geahnt, dass man eine Falle für ihn aufgestellt hatte. Und er musste gewusst haben, dass er, Hagen, dazu ausersehen war, ihn zu töten; denn schließlich hatte schon einmal ein Hagen einen Siegfried getötet. Sicher hatte Siggi von vornherein geplant, Zweifel in ihm zu säen, damit er diesen Moment zögern würde, und ihm so die größte Demütigung zugefügt, die Verbannung und Entehrung durch seinen Vater.
Siggi ist an allem schuld ...
Dieser gemeine Hund hatte dafür gesorgt, ihn vom Gipfel seiner Macht zu stoßen. Sollte er Siggi noch einmal begegnen, würde er ihn ohne Rücksicht auf Verluste sofort töten, um diesen Verräter, Dieb und Bastard in die Hölle zu jagen...
Hagen rannte einfach weiter in die Höhlen hinein. Durch seine tränenverschleierten Augen konnte er nicht sehen, wohin er lief, aber war es nicht gleich, wohin ihn sein Weg führte? Einen Freund verloren, vom Vater verstoßen. Nie würde er den Swart-alfar wieder unter die Augen treten können ...
Er konnte ihnen nur noch einen Dienst erweisen: Siggis Tod. Und seinen Stolz, seine Ehre konnte er zumindest für sich selbst wiederherstellen.
Recht so, vernahm Hagen in sich die bekannte Stimme, die er schon so oft gehört hat. Nur der Tod des Frevlers kann deine Ehre wiederherstellen. Die Rache ist dein.
Sie war wieder da, die Stimme, die ihn auf dem Weg in die Königshalle schon begleitet, die ihm gesagt hatte, was er tun musste. Für Hagen war sie wie sein Schatten, etwas Vertrautes. Gleichzeitig fühlte er sich ungeheuer erleichtert, fast war er glücklich; denn nicht jeder hatte ihn verlassen.
Noch ist der Kampf nicht verloren, denn der Verräter ist noch in der Anderswelt. Du kannst die Achtung deines Vaters wiedergewinnen, wenn duden Dieb tötest, hauchte es verführerisch in ihm.
»Aber niemand bringt mir Mîm zurück«, sagte Hagen, dem nicht bewusst war, dass er der Stimme in seinen Gedanken laut antwortete.
Er wusste nicht, wem diese Stimme gehörte, aber sie war sein letzter Freund; sie hatte ihm die Augen über Siggi geöffnet, hatte seine ganze Falschheit und Hinterlist bereits erkannt, als er nur einen Teil davon ahnte.
Ja, ich habe dir geholfen, den Verräter zu durchschauen, der den Namen des Drachentöters trägt, säuselte die Stimme.
»Danke«, entgegnete Hagen schlicht.
»Ich tue das für dich, weil du es wert bist«, kam die Stimme plötzlich aus dem Nichts, aber sie war nicht mehr in ihm, sondern schien aus den Wänden zu dringen. Hagen konnte sie hören.
»Ich habe versagt, habe ...«, Hagen war niedergeschlagen. »Er hat mich gedemütigt.«
»Aber du kannst es wieder gutmachen«, antwortete die Stimme eindringlich. »Ich kann dir dabei helfen, wenn du es wirklich willst, Hagen. Nur du kannst es vollenden.«
»Aber wie? Ich habe einmal versagt, habe einmal gezögert. Das Gift seiner blauen Augen, die Freundschaft künden, aber Hass meinen, hat mich die Tat nicht zu Ende führen lassen«, sagte Hagen, und er wunderte sich selbst über seine Wortwahl. Fast war es ihm, als unterhielte sich die Stimme mit sich selbst, aber ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Du weißt doch, wie es Hagen mit dem Drachentöter gemacht hat.« Ein seltsamer Unterton, den Hagen nicht deuten konnte, schien für einen Moment durchzuklingen, aber dann kehrte der süße Klang in die Stimme zurück. »Er hat die verwundbare Stelle gefunden, und die war im Rücken. Stoß ihm Siegvaters Runenspeer in den Rücken. Wiederhole die hehre Tat deines Namensvetters; denn er hat Midgard einst von einem Mann befreit, der mit gleicher Feigheit handelte wie dieser Siegfried hier und jetzt.«
Die Stimme war eindringlich, und zusammen mit ihren Worten stiegen in Hagen nochmals die Bilder auf, wie Siggi und seine Schwester ihn immer wieder gedemütigt, seinen Stolz und seine Ehre verletzt hatten. Das Verweigern der Hilfe am Brunnen, der Diebstahl des Ringes und zu guter Letzt die Augenblicke in Muspelheim.
Die Resignation wich; der Zorn, der Wunsch nach Rache wuchs, die Sehnsucht, es dem verhassten Feind ein für alle Male zu zeigen.
»In den Rücken musst du ihm den Speer stoßen, denn dann kann sein Blick in dir keine Zweifel entfachen«, drang die Stimme wieder auf Hagen ein. »Er wird dich nie und nimmer mit einer Waffe in der Hand bezwingen; aber mit seiner Falschheit und Tücke wird es ihm immer wieder gelingen, dich zum Narren zu machen, dich zu demütigen und dich zu besiegen. Die Bande, die er mit seinen Augen schlägt, lähmen dich, Hagen. Stoß ihm in den Rücken, auf dass sein Blick dich nicht fesseln kann.«
Hagen nickte. Nur so konnte es gehen; nur so erreichte er sein Ziel.
»Alberich wird dich in Ehren aufnehmen, wird dir deinen Rang wiedergeben und dich Sohn nennen, wenn du ihm den Ring des Nibelungen bringst«, flüsterte die Stimme, aber Hagen war, als schrie sie ihm ins Ohr. »Deine Rache wäre vollkommen. Jetzt, wo Siegfried denkt, er hätte dich bezwungen, ein Nichts aus dir gemacht, dich entehrt, wirst du ihn töten.«
»In den Rücken ...«, kam es über Hagens bebende Lippen.
»Ja«, flüsterte die Stimme. »Ja, es ist ganz einfach ...«
»Wo finde ich ihn?«, fragte Hagen. »Er ist doch unsichtbar.«
»Es ist nicht mehr weit«, wurde ihm geantwortet. »Du wirst ihn bald sehen.«
Erst jetzt bemerkte Hagen, dass er immer weiter gegangen war, während die Stimme zu ihm gesprochen hatte. Er wusste zwar nicht, wo er sich befand, aber sein unsichtbarer Gesprächspartner leitete seine Schritte sicher durch die Gänge, Stollen und Hallen.
»Was ist das für ein Lärm?«, fragte Hagen, als er den Widerhall eines Horns und das Schlagen von Metall auf Metall hörte, gemischt mit unverständlichen Schreien und Rufen.
»Der Krieg ist da, und der Tod hält reichliche Ernte«, erfuhr Hagen. »Was du hörst, ist eine der Melodien des Sterbens. Es gibt viele. Manchmal schläft man ein und wacht nicht mehr auf, das klingt leise und friedlich, fast anmutig. Aber was du hier hörst, ist hundertfacher Tod, Schwerter graben sich tief ins Fleisch, Schmerzensschreie und Kampfesrufe sind kaum zu unterscheiden. Es ist ein dreckiges Sterben«, die Stimme machte eine kurze Pause, »denn in der Hitze des Gefechts wird kaum ein Hieb sauber geführt. Oft liegen die Körper minutenlang zuckend herum, winden sich, kaum bei Bewusstsein, in ihren Schmerzen. Du hingegen, Hagen, wirst sauber töten. Ein einziger, wohl überlegter, gezielter Stoß ins Herz.«
Die Melodie des Todes gellte Hagen in den Ohren, und er konnte wirklich nicht zwischen den Schlachtrufen und Todesschreien unterscheiden. Vielfach gebrochen erreichten die Echos der Schlacht sein Ohr, und er meinte, sie riefen seinen Namen und forderten seine Tat.
»Wer wird am Ende gewinnen?«, fragte Hagen; denn er glaubte, sein unsichtbarer Begleiter wisse alles.
»Das hängt von dir ab. Tötest du den, der den Namen des Drachentöters trägt, dann wird das Geschick sich zugunsten des Nibelungen wenden«, war die Antwort. »Du rettest Leben und gewinnst die Schlacht.«
»Dann werde ich Alberich den Sieg bringen«, stieß Hagen hervor, »damit ich ihn wieder Vater nennen darf!«
»Aber«, flüsterte es von den Wänden, »du musst aus freien Stücken handeln ...«
»Wo ist Siegfried? Wo finde ich ihn?« Hagen wollte das vollenden, was er in Muspelheim begonnen hatte.
»Nicht weit von hier ...«, kam es zurück. »Folge dem Gang. Dort, wo du die Quelle findest, da ist dein Feind!«
»Danke«, sagte Hagen, aber er erhielt keine Antwort.
Danke mir nicht. Die Stimme verblasste. Tu nur, was du willst...
»Ich will!«
Vor ihm begann sich der Gang zu erweitern. Das Wesen, dass sein letzter Freund war, musste während des Zwiegesprächs seine Schritte gelenkt haben. Hagen selbst hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war. Für ihn war es wie ein Erwachen, ein wunderbares Aufwachen aus einem Schlaf, der alle seine Niederlagen und die Demütigungen in neue Kraft für einen neuen Kampf verwandelt hatte. Nun würde es Siggi sein, der eine Niederlage hinnehmen musste. Seine erste und zugleich letzte. Hagen würde nicht zulassen, dass Siggi allein durch seine Anwesenheit die Swart-alfar in ihr Verderben riss.
Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er atmete flach durch den Mund und versuchte jedes Geräusch zu vermeiden, das sein ahnungsloses Opfer auf ihn hätte aufmerksam machen können.
Das Erste, was er hörte, war das Plätschern von Wasser. Doch sein Blick wurde gefesselt von einem Farbenspiel, das vor ihm um die Biegung des Ganges drang.
Er spähte um die Ecke. Er stand am Eingang zu einer Grotte, die erfüllt war von Kristallen, welche das fahle Licht auf vielfältige Weise brachen. Es war wie ein Stein gewordener Regenbogen.
Diese Grotte wird Bifrösts Wurzel genannt, klang es in Hagen auf. Ein wahrhaft königlicher Ort für die Entscheidung zwischen dem Erben der Nibelungen und dem Erben der Asen. Aber lass dich nicht vom Zauber derGrotte, gefangen nehmen, Hagen. Du musst deine Aufgabe erfüllen.
Hagen versuchte die Faszination des Lichts zu verdrängen. Vorsichtig spähte er tiefer in die Grotte hinein. Und in der Tat, da stand er, der blonde Neiding, der ihm so zugesetzt hatte.
Hagen schlich in die Grotte, den Runenspeer fest umklammert. Diesmal durfte es kein Versagen geben. Langsam näherte er sich. Und wie unachtsam der Kleine war! Er plapperte mit seiner Schwester und achtete nicht auf seine Umgebung.
Nur noch fünf Schritte, dann war er nahe genug heran.
Siggi bückte sich, um aus einer Quelle zu trinken, die im Zentrum der Grotte entsprang. Beide wandten ihm den Rücken zu.
Das war seine Chance. Nur noch drei Schritte. Noch zwei, noch einer.
Hagen hob den Speer. In diesem Augenblick wandte Gunhild sich um ... doch es war nicht Gunhild.
Das Halsband der Verborgenen Königin erstrahlte auf ihrer Brust. Die Juwelen der neun Welten Yggdrasils, welche vor Urzeiten die kundige Hand der Zwerge darin eingefügt hatte, schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Sie woben ein Netz aus Licht, in dem die Gestalt des Mädchens erhöht wurde zu etwas Übermenschlichem, etwas unbeschreiblich Schönem, vor dessen Bild nur eines möglich war: sich niederzuwerfen, um ihr sein Herz darzubringen und sie anzubeten.
In der Grotte Bifrösts, an der Wurzel der Regenbogenbrücke, die einst zu den hohen Hallen Asgards emporgeführt hatte, stand Freya, die Herrin der Liebe, in ihrem göttlichen Glanz.
»Komm heraus, Loki!«, sagte sie.
Ein Schatten löste sich aus den Wänden.
Er war das genaue Gegenteil von allem, für das Freya stand. In seinen dunklen Zügen war etwas von Alberich zu finden, aber auch von Hagen, von dem Neid, dem Hass und der Ungerechtigkeit, die immer Zwietracht unter den Völkern säen.
Auch ihn umgab ein Schimmer, doch es war nicht das reine Licht, das die Göttin umstrahlte, sondern ein unstetes Flackern, wie von Blitzen, und das Feuer, das in seinem Blick brannte, war eine lodernde Flamme, die alles verzehrte.
»Wohl getroffen«, sagte er. Seine Stimme war warm und einschmeichelnd und so unendlich überzeugend, dass man meinte, sie schon immer gehört zu haben und dass sie nur das aussprach, was man selbst schon immer gedacht und geglaubt hatte - und wer weiß, vielleicht war dem ja wirklich so ...
»Genug!«, sprach die Göttin. »Du hast dieses Kind in deinen Bann gezogen.« Sie wies auf Hagen, der erstarrt dastand, wie festgefroren in der Bewegung. »Ich will, dass du es freigibst.«
»Habe ich das?«, schnurrte die Stimme. Loki wandte sich und schlich um Hagen herum, betrachtete ihn von allen Seiten wie ein interessantes Museumsstück. Hagen schaute starr geradeaus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken; sein Blick war ausdruckslos und leer. Auch Siggi war in seiner knienden Haltung erstarrt; es war wie eine dreidimensionale Szene in einem Wachsfigurenkabinett, festgefroren in einem Augenblick der Zeit.
»Ich habe nur Gedanken in ihm geweckt, die ohnehin in ihm schlummerten«, fuhr Loki fort. »Ich habe ihm gesagt, er müsse diese Tat aus freiem Willen begehen. Keiner hat ihn gezwungen, und siehe, hier ist er nun.«
»Du weckst immer nur die dunklen Gedanken, die in jedem Herzen schlummern. Gedanken an Rache, Tod und Vergeltung. Ich habe euch Asen nie getraut. Eure Herrschaft hat mit einem Mord begonnen, dem Mord an Ymir, mit dem Weltenbrand soll sie enden. Die Wanen dagegen, denen ich entstamme, sind stets Götter der Freude und des Lebens gewesen. Nur aus Mitleid mit den letzten Überlebenden Asgards habe ich die Herrschaft über die Lios-alfar übernommen, als die Verborgene Königin -«
»Dann herrsche nicht länger im Verborgenen!«, rief Loki aus. »Zusammen mit mir kannst du die Herrschaft über die Welt gewinnen. Wir beide, Licht und Schatten, wir brauchen einander. Dich, die sie lieben; mich, den sie fürchten. Lass nur geschehen, was geschehen muss!«
»Was geschehen muss? Und wo bleibt der freie Wille, von dem du sprachst?«
»Sieh doch die Szene: Hagen und Siegfried. Alles ist bereit für die entscheidende Tat.«
»Ich sehe nur Baldur den Schönen und Höd mit dem Mistelzweig.«
»Gib mir eine Chance.« Die Stimme Lokis wurde flehend, mitleiderregend, dass sie direkt von Herz zu Herzen sprach. »Meine Brüder, Odin und Thor, haben die ihre vertan. Seit undenklichen Zeiten liege ich gepeinigt in Fesseln in den Feuern von Muspelheim, wandere nur als Schatten umher. Dies ist die letzte Gelegenheit, die ich je haben werde. Oder, ich schwöre dir, ich werde die Bande zerreißen, auch wenn die Glut mich verzehrt und alle mit ins Verderben zieht.«
»Es sei«, sprach die Göttin. »Ich nehme den Bann von ihnen, den Odin, Thor und du ihnen auferlegt haben. Dann sollen sie selbst entscheiden, wes Geistes Kinder sie sind.« Und sie wandte sich um ... ... »Hagen! Bist du verrückt?«, schrie Gunhild.
Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig umgedreht, um zu erkennen, dass Hagen mit erhobenen Speer hinter ihnen stand. Die Spitze des Speeres war auf Siggis Rücken gerichtet.
Alles in dem Mädchen schrie danach, sich vorwärts zu werfen, ihren Bruder zu schützen, aber sie würde das Unheil nicht mehr verhindern können. Auch Siggi konnte sich nicht mehr in Deckung werfen. Er war verloren, wenn Hagen mit dem Speer zustieß ...
Gunhild sah in Hagens Augen, und sie glaubte Zweifel zu erkennen, Abscheu vor sich selbst. Oder spiegelte sich darin nur der Ausdruck ihrer eigenen wilden Hoffnung, dass Hagen nicht zustoßen, die Tat nicht vollbringen würde. Die Augenblicke dehnten sich zu Ewigkeiten. Jede Bewegung schien sie wie in Zeitlupe wahrzunehmen, als liefe alles in Einzelbildern vor ihr ab.
»Nein!«, schrie Hagen und warf den Speer neben sich zu Boden. »Nein. Ich kann das nicht. Ich will nicht!«
Siggi fuhr herum, die Hand schon am Hammer, der in seinem Gürtel steckte. Aber dann erkannte er Hagen, dessen Gesicht tiefe Verwirrung spiegelte. Zu seinen Füßen lag Odins Runenspeer. Siggi ließ den Arm sinken und sah Hagen fest in die Augen. Die Feindseligkeit, die bei ihrer Begegnung an dem unterirdischen Feuersee darin zu lesen gewesen war, war verschwunden. Hass und Zorn hatten Unsicherheit, Verzweiflung und Trauer Platz gemacht.
Es war Siggi klar, dass er den ersten Schritt würde tun müssen, um die Missverständnisse auszuräumen, die es gegeben hatte. Also erhob er sich und bot Hagen seine Hand da, und er musste sich dabei nicht einmal zu einem Lächeln zwingen.
»Freunde«, sagte Siggi.
»Freunde«, antwortete Hagen, und er ergriff die dargebotene Hand.
Noch vor einem Augenblick war er voller Mordgier gewesen, hatte Siggi töten wollen. Aber dann, als er hätte zustoßen können, war ihm alles plötzlich so unsinnig erschienen. Er lauschte in sich hinein, aber die Stimme, die ihn geleitet hatte, war weg. Und jetzt, da diese Präsenz ihn verlassen hatte, sah er vieles mit anderen Augen.
Er fragte sich, wer es gewesen war, der ihn zu einem Mord hatte verleiten wollen. Wer war diese Stimme gewesen, die ihn immer wieder mit Einflüsterungen angetrieben hatte? War er am Ende vielleicht verrückt? Nein, damit würde er sich die Sache zu einfach machen; denn wie dem auch sei, ihm war bewusst, dass er selbst nicht völlig schuldlos war. Verletzter Stolz hatte ihn angetrieben und es Alberich und der Stimme leicht gemacht, ihn so weit zu bringen, einen Mord begehen zu wollen.
Gunhild standen die Tränen in den Augen. Sie zog die beiden Jungen zu sich heran, und für einen Moment bildeten die drei eine Einheit.
In Siggis Augen erneuerten sie den Pakt, den sie auf dem Felsen geschlossen hatten, als sie auf den Rhein heruntersahen und eigentlich zum ersten Mal gemerkt hatten, dass sie Freunde waren. Siggi war Alberich sogar fast dankbar; denn er hatte dieser Freundschaft einer Probe unterzogen, an der sie sich bewähren konnte.
Hagen, Gunhild und er hatten diese Probe bestanden. Kein Traum von Macht und Einfluss hatte über das triumphiert, was sie zu Menschen machte. Im Grunde war das, was ihn mit Hagen verband, von viel größerem Wert als der Ring im Beutel an seinem Gürtel.
»Und nun?«, fragte Gunhild erleichtert. Sie fragte nicht, was mit Hagen geschehen war. Der Bann, unter dem sie selbst gestanden hatte, war nun endgültig verflogen. Und ähnlich, sagte sich Gunhild, musste es auch Hagen und Siggi ergangen sein. Es war einfach gut, dass sie wieder frei waren und zusammen, zu dritt, hier im Herzen der Welt.
Unter ihren Füßen erzitterte der Boden.
Es war, als ob in den Tiefen der Erde, weit, weit unter ihnen, wo die Feuer von Muspelheim am heißesten waren, ein mächtiges Wesen sich regte. Es war wie ein gewaltiges Tier, das gefangen war und sich nun, nach endlosen Jahren der Qual, gegen seine Fesseln aufbäumte. Unzerstörbare Bande schnitten in unirdisches Fleisch; Blut, das wie Feuer lohte, strömte aus unsäglichen Wunden. Und dann war es frei.
»Endlich frei!«
Der Schrei der Freiheit wurde zum Schrei des Todes, als ein aufloderndes Flammenmeer ihn erstickte, und verebbte in einem Ächzen. Mit einem Aufbrausen wie ein Orkan fegte der Feuersturm alles hinweg, was sich ihm in den Weg stellte, raste empor durch Schächte und Kamine, mit einem dröhnenden Ton, der wie eine Fanfare des Untergangs durch die Anderswelt hallte.
Das Horn von Ragnarök.
In den Gängen flackerte es von einem rötlichen Feuerschein.
»Machen wir, dass wir wegkommen«, sagte Siggi. »Wir müssen hier raus.«
»Über uns tobt die letzte Schlacht zwischen den Swart-alfar und Lios-alfar«, wandte Hagen ein, »und es wäre nicht gut, wenn wir da hineingeraten.«
»Aber hier können wir nicht bleiben, so schön es ist«, sagte Gunhild ernst. »Ich glaube nicht, dass dies alles hier noch lange Bestand hat.«
»Kommt jetzt, schwingt keine Reden«, meinte Siggi. »Die Nacht dauert auch in der Anderswelt nicht ewig, und wir müssen noch den Ausgang suchen.«
Sie wandten sich dem nach oben weisenden Gang zu, der aus der Grotte führte. Siggi hatte wie selbstverständlich die Spitze übernommen. Mjölnir in der Faust, gefolgt von Gunhild, und Hagen deckte ihren Rücken. Sie waren bereits ein Stück in den Gang eingedrungen, als sie hinter sich ein Geräusch hörten.
»Achtung!«, zischte Hagen.
Wie auf ein Kommando warfen sich alle drei herum, und pressten sich gegen die Wände, als wollten sie mit dem grauen Stein verschmelzen. Ihr Blick ging zurück in die Grotte.
Sie sahen Walvater Odin, der in die Grotte kam.
Er sah fürchterlich aus. Offensichtlich war er mitten in die Kämpfe der Alben geraten. Seine Kleidung war zerrissen, und das Gewand färbte sich dunkel von Blut. Er taumelte mehr, als er ging, und sein Ziel war die Quelle. Dort lag das, was er am meisten begehrte; was einst durch einen einzigen Hieb zerstört wurde; was neu geschmiedet, aber ihm verweigert worden war.
Der Runenspeer.
Das Zeichen seiner Macht.
Odin stürzte. Einen Moment lag er völlig reglos da, dann raffte er sich wieder auf und kroch auf Händen und Knien weiter. Er stöhnte vor Schmerzen; roter Schaum stand ihm vor dem Mund, aber dann lachte er plötzlich irre auf; ein Lachen, das zu einem Husten wurde. Der Speer war sein Ziel, der Speer des Schicksals, der ihm selbst zum Schicksal geworden war. Nichts anderes beseelte ihn mehr, nur noch die Gier danach und der Wille, ihn in Besitz zu nehmen.
Das Licht in seinem Auge wurde schwächer und schwächer, und doch hielt ihn sein eiserner Wille am Leben. Dann versagten ihm seine Arme den Dienst. Er sackte auf dem Boden zusammen und lag reglos da.
Blut färbte den Boden der Grotte, sammelte sich zu einer Lache.
Doch Odin gab nicht auf. Zwei Armeslängen war er nur noch entfernt von dem Ziel seiner Wünsche. Mit letzter Kraft krallte er sich in den kristallenen Fels, zog sich in seinem eigenen Blute noch ein Stück weiter. Und lag still.
Eine endlos scheinende Zeitspanne geschah gar nichts.
Dann ging ein Zucken durch Odins Arm.
Langsam, unendlich langsam, kroch Allvaters blutbefleckte Hand wie eine Spinne über den Boden, färbte den Felsen rot.
Dann schlossen sich die Finger um den schwarzen Schaft.
»Mein! Endlich mein!«
Wieder erzitterte die Erde. Die Kristalle der Grotte klingelten.
Hagen und Siggi wollten sich schützend vor Gunhild stellen. Siggi hielt Mjölnir zum Schlag erhoben, entschlossen, sich dem Gott in den Weg zu stellen, sollte er sich ihnen nähern.
Das Klingen der Kristalle steigerte sich zu einem gläsernen Klirren, als die ersten von ihnen zu fallen begannen. Odin blickte auf. Der Triumph in seinem Auge verwandelte sich zu einer Fratze des Entsetzens, als er sah, was auf ihn zukam.
Die Kristalle der Grotte hatten die Form eines riesigen, zähnebewehrten Rachens.
Odin hob den Speer, um sie abzuwehren. Doch kein Flammenstoß drang aus seiner Spitze, keine Runenmagie strahlte aus dem nachtdunklen Schaft. Heil und ganz war der Speer, gewiss, aber selbst in der Hand seines Schöpfers war er nicht mehr als ein totes Stück Holz, ohne Zauber, ohne Macht.
Dann schlossen sich die kristallenen Kiefer mit einem grässlichen Knirschen.
Gunhild wandte den Blick ab. Hagen schluckte. Nur Siggi sah unverwandt auf das Geschehen. Er hatte so vieles in den letzten Stunden gesehen, das nicht für die Augen Sterblicher bestimmt gewesen war, dass er auch jetzt noch Zeuge sein wollte.
Die Zähne des Ungeheuers hatten Odins Brust durchbohrt, hatten sich tief in Arme, Unterleib und Beine gegraben. Die Rechte umklammerte immer noch den nutzlosen Speer. Eine einzige Träne war aus dem Auge Allvaters geronnen. Er öffnete den Mund, als ob er noch etwas sagen wollte, doch die Kraft reichte nicht mehr. Das Feuer in seinem Auge flackerte ein letztes Mal auf, dann erlosch es, die kraftlosen Finger öffneten sich, und der Speer rollte aus der Hand des toten Gottes.
Dann kam ein heißer Wind aus den Tiefen der Welt, mit einem Heulen wie der Stimme eines Wolfes, und der Leichnam zerfiel zu Asche, die der heulende Wind hinwegtrug.
»Es ist vollbracht«, drang eine von Trauer erfüllte Stimme von oben an die Ohren der Kinder. »Die Götter sind tot. So wie es ihnen vorherbestimmt war, sind sie gestorben: Thor durch die Schlange Jörmungand; Loki durch die Hand Surts, des Feuerriesen; Odin im Rachen des Fenriswolfs.
Die Götterdämmerung ist da. Ragnarök ist gekommen. Die Feuer Surts werden Muspelheim verlassen und alles in den Höhlen verbrennen, als reinigende Flamme aus dem Leib der Welt.«
Sie blickten auf. Inmitten des Regenbogenlichts stand die Verborgene Königin über ihnen. Sie wirkte seltsam durchscheinend, und die Kinder erkannten, dass sie nicht in Wirklichkeit hier war, und doch zauberte das gebrochene Licht Reflexe auf ihr weites, fließendes Gewand.
»Wir alle werden sterben«, sagte sie. »Wir konnten unseren Hass nicht überwinden. Wir haben gedacht, das Böse sei gebannt, glaubten, wir hätten Loki, den Vergifter Asgards, in den tiefsten Feuern Muspelheims in Fesseln gelegt. Doch wir hatten nicht mit seinem Schatten gerechnet, dem dunklen Ich, das in jedem von uns wohnt.«
»War es Loki, der mir sagte, wie böse Siggi sei?«, fragte Hagen, nicht ohne Hoffnung in der Stimme.
»O ja«, entgegnete die Erscheinung. »Loki hat auch deine Seele vergiftet, hat dich glauben machen wollen, dass du Siggi hasst, und er hätte es fast geschafft; aber es ist ihm letztlich nicht gelungen. Ich habe eingegriffen und den Bann von euch genommen, und als du die freie Wahl hattest, hast du dich für Freundschaft statt für Tod entschieden.«
»Wie habt Ihr eingegriffen, Herrin?«, fragte Gunhild verwundert. »Wir haben nichts davon gemerkt.«
»Es war das Halsband, das du trägst, Gunhild«, erklärte die Königin, »das mir die Möglichkeit dazu gab. In ihm ruht die Zeit aller Welten. Sagte ich dir nicht, es sei stärker als die mächtigste Waffe? In dem Moment, als Hagen den Speer hob, trat ich ein in jene heilige Zeit, in der eine Sekunde wie tausend Ewigkeiten ist, und forderte Loki auf, sich zu zeigen. Fast wäre auch ich seinen Verlockungen erlegen, aber dies eine Mal habe ich ihm widerstanden, Gunhild. Ich wünschte, ich hätte sein Spiel früher durchschaut, dann wäre Ragnarök in weite Ferne gerückt, und Alberichs und mein Volk würden in Frieden nebeneinander leben. Aber es ist zu spät.«
Tiefes Bedauern sprach aus ihren Worten. Und die Kinder begriffen, dass keine Macht dieser Welt jetzt noch aufhalten konnte, was in diesen Augenblicken geschah.
Ragnarök - der Weltuntergang, die Götterdämmerung hatte nun die Anderswelt erfasst und würde diese vernichten.
»Jedem von euch hat in der Anderswelt ein Gott zur Seite gestanden, aber verändert habt ihr euch selbst.
Siggi«, wandte sich Freya an den blonden Jungen, der immer noch mit Mjölnir in der Hand schützend vor seiner Schwester stand, »achte auf dich, denn in dir steckt mehr, als du zu glauben bereit bist.«
Siggi neigte den Kopf vor der Göttin, wenn er auch nicht wusste, was sie mit ihren Worten meinte.
»Hagen, sei nicht traurig«, fuhr Freya fort, »du hast etwas ganz Großes vollbracht, du hast dich selbst besiegt.«
Auch Hagen neigte seinen Kopf und war stolz auf das Lob, aber nicht so wie früher; denn er ließ sich seinen Stolz nicht mehr zu Kopf steigen, sondern wusste, jeder Tag würde Prüfungen für ihn bringen, und er konnte sie nicht alle bestehen und würde Fehler machen. Aber er würde damit leben können.
»Und Gunhild«, sagte Freya leise zu dem Mädchen, »vergiss nicht: Du bist wie ich. Ich werde immer ein Teil von dir sein, auch wenn der Zauber vergeht. Denn ich bin die Herrin der Liebe.«
Die Gestalt der Göttin flackerte wie eine Kerzenflamme, die im Wind zu erlöschen drohte.
»Wie kommen wir wieder in unsere Welt?«, rief Siggi rasch, bevor sie entschwinden konnte.
»Folgt Gunhild, ich werde durch sie wirken«, antwortete die Göttin. »Ich werde nicht all das Schreckliche, das hier geschieht, von euch fern halten können. Aber erinnert euch auch an das Schöne, das ihr erlebt habt, und an eure Freunde Laurion und Mîm. Denn aller Hass wird am Ende vergehen, und nur die Liebe bleibt...«
Ihre Worte hallten noch einen Moment nach, dann war die Erscheinung verblasst und die Stimme verklungen.
Einen Augenblick standen die drei noch stumm da und starrten auf die Stelle, wo sie gewesen war. Zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt. Sie waren Zeuge des Todes dreier Götter geworden - oder wie immer man auch jene Wesen bezeichnen sollte, die zugleich Verkörperungen elementarer Gewalten waren und doch auch Personen mit eigenen Hoffnungen, Wünschen und Zielen, die den höchsten Triumph ebenso kannten wie die abgrundtiefe Verzweiflung.
Siggi dachte an Thor, den Donnerer, der kämpfend untergegangen war, und an dessen unbändige Kraft und dessen heldenhaften Mut. Auch wenn der Geist des Gottes ihn nicht mehr beseelte, war mit der Bewunderung auch etwas von diesem Mut auf ihn selbst übergegangen.
Gunhild dachte an Odin und wie sie in die Abgründe seines Geistes geschaut hatte, als er sein verwunschenes Auge öffnete. Wieder schauderte sie bei den Gedanken, wie es sein mochte, mit einem solchen Bewusstsein zu leben, und irgendwie empfand sie etwas wie Mitleid mit ihm, seinem unbändigen Verlangen, den Sturm aus dem Nichts noch eine Weile zurückzuhalten.
Und Hagen dachte an Loki. Konnte er ihm einen Vorwurf machen? Diesem blitzenden Geist, der stets eine Antwort wusste, der immer aus jeder Situation das Beste machte? Der immer falsch zu anderen war und doch nie sich selbst verleugnete? Was war wirklich gut daran und was böse? Er wusste es nicht. Doch er fühlte sich wie von einem Feuer berührt, dessen Kraft ihm geholfen hatte, sich selbst zu erkennen.
Ein Flammenstoß fauchte in die Kristallhöhle und erfüllte den Gang mit blendender Glut. Surt, der Feuerriese, war gekommen.
»Raus hier!«, sagte Siggi.