3
Ymirs Brut

Der Mann lächelte. Sein Lachen war nicht unsympathisch, auch wenn es so wirkte, als habe er es lange nicht mehr gebraucht. Siggi sah, dass er schon alt sein musste. Graues Haar kam unter dem Hut hervor und fiel locker auf seine Schultern, Falten durchzogen sein Gesicht. Die Nase stach hervor wie der Schnabel eines Adlers. Er hätte ein eindrucksvoller alter Herr sein können, wäre da nicht das fehlende Auge gewesen! Über der Höhle des linken Auges fiel die ledrige Haut des Lides ein, und es war deutlich zu sehen, dass darunter kein Augapfel war.

»Es sieht erschreckender aus, als es ist. Ich will euch nicht fressen.« Die tiefe Stimme des Mannes klang belustigt, als er in die Gesichter der Kinder sah. Und er schien zu wissen, wohin die drei starrten.

»Entschuldigung«, stammelte Gunhild. »Es tut uns Leid, dass ...«

Wieder schmunzelte der Alte; er schien sich prächtig über seine kleinen Gäste zu amüsieren, die verlegen vor ihm standen und nicht wussten, was sie sagen sollten und ihren Blick doch nicht von seinem Gesicht lassen konnten.

»Lasst gut sein, Kinder. Es fällt eben wirklich auf, oder nicht? Daran erkennen mich manche immer noch. Dabei ist es eine Ewigkeit her«, und aus der Stimme des Alten glaubten Siggi eine Trauer zu hören, die unendlich lange zurückreichte.

»Wer sind Sie?«, fragte Gunhild unvermittelt.

»Ich bin nur ein alter Mann, der abgeschieden von der Menschheit seinen Lebensabend genießt, hier und da durch die Welt wandert und staunt, wie sehr sie sich verändert, was verloren ging, was gewonnen wurde«, antwortet der Alte vielsagend und ausweichend zugleich.

»So 'ne Art Landstreicher ...«, entfuhr es Siggi, der seine Frechheit gleich darauf bereute und ein »Entschuldigung!« nachschob.

»Doch, so könnte man es nennen«, entgegnete der Alte und blickte einen Moment sinnend mit seinem einen Auge an die Decke. »Ja, ich glaube, man könnte mich als Landstreicher bezeichnen.«

»Und wovon leben Sie?«, fragte Gunhild weiter, nur um etwas zu sagen.

»Von diesem und jenem, was mir Natur und andere so bieten«, meinte er lapidar.

»Sind Sie ... ein Dieb?«, fragte Hagen, und es schien sichtlich schwer zu fallen und peinlich zu sein, diese Frage zu stellen.

»Nein, das nicht. Ich habe es nicht nötig zu stehlen. Die Natur, nutzt man sie richtig, gibt einem alles, was man braucht. Essen, Trinken, Kleidung, Süßigkeiten und vieles mehr. Du musst nur wissen, worauf du zu achten hast, mein Junge«, erklärte der ganz in Grau gekleidete Alte; denn nicht nur Umhang und Hut waren grau, auch Wams und Hosen waren aus dunkelgrauem Stoff und seine Stiefel aus dunklem Leder.

»Was ... was waren das für Gestalten, die uns im Wald gejagt haben?«, fragte Gunhild. »Sie waren so unheimlich, so erschreckend.«

»Das waren die Schwarzalben«, sagte der Alte, als würde dieser eine Satz alles erklären, und Gunhild fragte nicht weiter. Hätte ihr Vater das gesehen, er wäre sprachlos gewesen, weil gerade Gunhild Fragen ohne Ende stellte, wenn ihr eine Erklärung zu vage war. Und die Erklärung des alten Mannes in dem grauen Gewand war alles andere als erschöpfend. Doch Gunhild nickte nur, und die Sache schien für sie damit erledigt zu sein.

Siggi bemerkte dies wohl, traute sich aber nicht, anstelle seiner Schwester weiter zu fragen, aber er mahnte sich an, dies zu tun, sobald wieder die Rede von diesen Wesen war, die der Alte ›Schwarzalben‹ genannt hatte.

»Aber warum haben sie uns verfolgt?«, fragte Hagen und fuhr fort: »Wir haben ihnen doch nichts getan!«

»Das hat keine Bewandtnis, Junge«, begann der Alte. »Dass sie euch gehetzt haben, ist etwas, was ich mir beim besten Willen auch nicht erklären kann. Ich weiß nicht, warum die Schwarzalben nach Midgard gekommen sind«, schien der Alte mehr zu sich als zu Hagen und den Geschwistern zu sagen. »Es muss etwas Großes vorgefallen sein. So einfach gehen sie nicht über die Grenze.«

Der Graue, wie Siggi ihn jetzt für sich nannte, sah sie an. Sein Blick schien sie zu durchdringen. Er sah zwar alt aus, hatte aber nicht die Haltung eines alten Mannes. Siggi kannte seine Großväter und andere ältere Männer, die gebeugt gingen, da ihre Muskeln erschlafft, ihre Gelenke steif geworden waren. Der Graue hingegen schien derlei Gebrechen nicht zu kennen. War das Gesicht auch ledrig und von Falten gefurcht, so steckte in diesem Mann doch noch eine seltsame Kraft. Siggi erschien es daher einfach unpassend, ihn als ›der Alte‹ zu bezeichnen. Daher war seine Kleidung ein willkommener Anlass, ihm einen Namen zu geben, wenn er denn seinen schon nicht verraten wollte.

»Berichtet mir«, sagte der Graue unvermittelt, und er wandte sich an Gunhild, die ihn mit großen Augen ansah. »Was ist geschehen? Erzählt es mir von Anfang an!«

»Mein Bruder hatte die Idee, ein Picknick zu machen, also sind wir oben zu der Lichtung am Berg gefahren«, begann Gunhild. »Weißt du, unterhalb des großen Felsens, von wo aus man den Rhein sehen kann. Da oben waren wir auch, und auf dem Rückweg waren wir am Siegfriedsbrunnen ...«, begann Gunhild die Aufzählung des Tagesablaufs.

»An welchem Brunnen?«, unterbrach sie der Graue. Ein seltsamer Zug schlich sich sein Gesicht.

»Dem mit der Inschrift. Von den Nibelungen.«

»Den Nibelungen ...« Er sprach das Wort aus, als hätte es eine tiefere Bedeutung, die keinesfalls angenehme Erinnerungen weckte. »Was habt ihr da gemacht?«

»Ach, ich habe mich an den alten Aberglauben erinnert, wo es heißt, wenn man dreimal um den Brunnen tanzt, darf man sich was wünschen und der Wunsch geht in Erfüllung. Dann hat es einen mächtigen Donnerschlag gegeben, und keiner konnte erklären, woher er kam ...«

»Nichts ist unerklärlich«, unterbrach sie der Graue wieder, und Siggi glaubte im Gesicht des Grauen eine wilde Anspannung zu lesen. »Es gibt keinen Zufall; das habe ich in langen Jahren erkannt. Sagt mir: Wer seid ihr?« In seinem Gesicht zuckte es nervös, als erwarte er etwas sehr Wichtiges.

»Ich bin Gunhild.«

»Mein Name ist Hagen.«

»Und ich heiße Siegfried.« Siggi sah in das Gesicht des Grauen.

Für einen Moment verlor der Alte die zur Schau getragene Beherrschung, als hätte er etwas gehört, das er nicht glauben konnte, etwas, das zwar nicht gerade unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich war. Unter der Lederhaut des geschlossenen Auges zuckte es wild. Dieser Moment der Überraschung dauerte nur einen Lidschlag, dann hatte der Einäugige sich wieder gefasst; er wirkte zwar immer noch angespannt, aber nicht mehr so, als hätte man ihn mit Eiswasser übergossen.

»Es war sehr unvorsichtig von euch, am Sommersonnwendtag solchen Eingebungen zu folgen. Das ist ein heiliger Tag, an dem Dinge, die ihr Aberglauben nennt, Wirklichkeit werden«, sprach der Graue, und sein Gesicht wirkte dabei sehr ernst. Seine Stimme hatte den amüsierten Unterton verloren, und er blickte mit seinem einen Auge jedes der drei Kinder an. Siggi fühlte sich unter diesem Blick gestraft und irgendwie schuldig; sogar Gunhild konnte dem Bann dieses Blicks nicht widerstehen. Nur Hagen versuchte trotzig, dem Auge des Alten Widerstand zu bieten, aber auch er wandte sein Gesicht schließlich ab.

»Ihr wisst gar nicht, was ihr getan habt. Ihr könnt nicht einmal ahnen, was euch widerfahren ist, weil ihr nicht glaubt. Oh, was sind Menschen leichtfertig! Sie vermeinen alles zu wissen, aber in Wahrheit sehen sie nur eine Hälfte der Wahrheit.«

Der Graue holte Atem, sah jedem von ihnen aufs Neue ins Gesicht. Seine Miene war immer noch ernst, aber nicht unfreundlich.

»Ich kenne diesen Brunnen«, sagte er. »Mimirs Brunnen nennt man ihn hier. Wisst ihr, was es bedeutet, am Mittsommertag um diesen Brunnen zu schreiten?«

Hagen warf Siggi einen Blick zu, als wollte er sagen: Habe ich doch Recht gehabt! Und Siggi erinnerte sich an die Inschrift, jene seltsamen gekratzten Zeichen, die er für Zufall gehalten hatte. Er fühlte das Auge des Grauen auf sich ruhen und wagte es nicht, Hagens Blick zu erwidern.

»Schreitet man am Tage der Sommersonnenwende dreimal um diesen Brunnen«, fuhr der Alte fort, »öffnet sich für eine Nacht das Tor zum Reich der Alben. Seid also willkommen in der Anderswelt...«

»Das ist doch Schwachsinn!«, entfuhr es Hagen. Er schob das Kinn vor und sah dem Grauen direkt ins Gesicht. »Das glaubt doch kein Mensch - die Anderswelt, das ist doch bloß ein Märchen für Kinder. Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf.«

Siggi blickte entsetzt auf, aber der Alte schmunzelte nur, sah Hagen irgendwie mitleidig an und winkte ab. »Du wirst sehen«, sagte er, »dass ich Recht habe. Du bist in der Anderswelt, nah an deiner Welt und doch weit, weit weg. Erinnere dich, Hagen« - zum ersten Mal benutzte der Graue einen ihrer Namen -, »der Donner am Brunnen; das Gewitter, das irgendwann nicht mehr näher kam; auch die Wege im Wald waren nicht mehr so wie in deiner Welt; das Unterholz wurde dichter; das Zwielicht; der Nebel; die Schwarzalben; die Raben, die euch führten. Hat sich die Welt um dich herum nicht verändert? Du wirst mir glauben müssen, Hagen. Und auch ihr, Gunhild und Siegfried. Ihr habt das Tor aufgestoßen, habt es durchschritten und seid nun in jenem Teil der Welt, der den Menschen eigentlich verschlossen ist.«

Hagen blickte den Alten weiter misstrauisch an; Gunhild konnte man ihre Zweifel im Gesicht ablesen. Und Siggi? Siggi glaubte ihm. Es war so überzeugend, was er sagte. Es musste stimmen. Irgendwie wollte er, dass es wirklich so war ...

Der Alte wandte sich ab, starrte, so schien es Siggi, ins Nichts.

»Und ich hatte gedacht, die alten Sagen wären alle zu Ende«, sagte er mehr zu sich, als zu den Kindern. »Doch alles bewegt sich im ewigen Kreis. Mir scheint, die Nornen meinen es gut mit mir. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, die Geschichte so zu wenden, wie es damals nicht vermochte.« Aus seinen Worten sprach eine wilde, verzweifelte Hoffnung.

Siggi, Gunhild und Hagen sahen sich entgeistert an, sagten aber nichts. In Siggi begannen wieder Zweifel zu keimen. War dieser alte Mann echt, oder war er doch irgendwie nicht richtig im Kopf?

Der Graue war in Gedanken versunken, schien keine Notiz mehr von ihnen zu nehmen.

Siggi beugte sich zu Hagen rüber.

»Willst du ihm nicht«, flüsterte Siggi so, dass nur Hagen und Gunhild ihn verstehen konnten, »von dem Ring erzählen?«

»Ich bin doch nicht blöd!«, zischte Hagen leise zurück. »Ich trau dem durchgeknallten Greis nicht. Denkt dran, ich«, das Wort betonte er besonders, »habe den Ring gefunden. Sagt ihr auch nichts davon. Der Kerl braucht nicht alles zu wissen!«

Hagen wollte offensichtlich die Sache mit dem Ring für sich behalten. Siggi verstand zwar nicht so recht, warum, aber hielt es für besser, dem Wunsch seines Freundes Folge zu leisten, und so nickte er, ebenso wie Gunhild.

Hagen hatte offenbar schon die Frage als Zumutung angesehen. Mürrisch wandte er sich ab. Seine rechte Hand glitt in die Tasche seiner Shorts, und er betastete den Ring. Es war sein Ring; denn er war schließlich den Schacht hinuntergeklettert. Auch wenn Siggi ihn - vielleicht - zuerst gesehen hatte! Kein anderer sollte je Hand an seinen Schatz legen.

Der Graue kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück, und er wandte sich wieder den Kindern zu.

»Gibt es da noch etwas, von dem ihr mir berichten könnt? Irgendetwas Besonderes, das euch aufgefallen wäre?«, fragte er und konnte dabei eine innere Spannung nicht unterdrücken. Sein graues Auge nagelte Siggi und Gunhild förmlich fest. Siggi erschien es, als könne es auf den Grund seiner Seele blicken.

»Nein«, sagte Gunhild, »nicht, dass ich wüsste. Stimmt's, Siggi?«

Der war nur fähig zu nicken, denn sprechen konnte er nicht. Er wusste, er würde nur stammeln, und dann würde der Graue merken, dass er log.

Hagen würdigte den Alten keiner Antwort und schwieg, die Hand fest in der Hosentasche vergraben.

»Und wie kommen wir wieder hier raus?«, fragte Gunhild und sah den Fremden etwas zweifelnd an. Das Schwarze Auge, dachte sie, und musste an sich halten, nicht zu kichern, doch es war eine hysterisches Lachen, keine echte Fröhlichkeit. Wir sind in ein Fantasy-Rollenspiel hineingeraten, und jetzt müssen wieder raus aus dem Verlies. Es war schön und gut, sich vorzustellen, durch eine Fantasiewelt zu streifen; aber daran zu glauben, dass man in einer Welt jenseits der eigenen steckte, das war eine völlig andere Geschichte.

»Diese eine Nacht werdet ihr hier verbringen müssen. Mit dem Licht des neuen Tages ist der Bann gebrochen, der euch hierher gebracht hat, und das Tor zu eurer Welt öffnet sich wieder«, erklärte der Graue. »Nur eine Nacht...«, fügte er, mehr zu sich selbst, hinzu.

»Dann brauchen wir nichts weiter zu tun, als hier in der Höhle zu warten, bis die Sonne aufgeht?«, fragte Hagen spöttisch.

Der Alte fuhr sich mit der Linken übers Kinn. Sein eisgraues Auge war fest auf die Kinder gerichtet.

»Nein«, sagte er, »nein, das wäre nicht gut. Die Swart-alfar, die Schwarzalben, könnten euch hier finden; das wäre zu gefährlich. Sie sind mächtig, und wenn sie kommen, bin nur ich zu eurem Schutz da. Ich habe etwas anderes mit euch vor.«

»Und was?«, fragte Hagen.

»Das werde ich dir gerne sagen«, nahm der Graue den Faden wieder auf, »wenn du mich lässt, mein skeptischer junger Krieger.« Der Alte sah Hagen an.

»Sprich dich aus ...«, sagte Hagen nur.

»Ich werde euch zu den Lichtalben, den Lios-alfar, bringen. Die werden euch diese eine Nacht vor den Swart-alfar schützen. Am Morgen werden sie euch wieder in eure Welt geleiten.«

»Lichtalben? Schwarzalben? Was geht hier eigentlich vor?«, wollte Gunhild wissen.

»Die Lichtalben und Schwarzalben bekriegen sich hier in der Anderswelt seit einer Ewigkeit. Hier in diesen Höhlen tobt der Kampf schon seit vielen hundert Jahren. Keine Seite konnte bisher die Oberhand gewinnen.«

»Die Guten und die Bösen, was?«, meinte Gunhild.

»Was ist Gut, was ist Böse? Das sind zwei Seiten einer Münze. Wer kann schon sagen, welche Seite davon die richtige ist. Der Unterschied liegt im Geist des Betrachters. Die Schwarzalben sind Ymirs Brut, mit denen sollte man so wenig wie möglich zu schaffen haben«, schloss der Graue.

»Wer ist Ymir?«, fragte Gunhild.

Der Alte lehnte sich auf seinen Stab. Dann begann er mit seltsam rhythmischer Stimme zu sprechen:

»Urzeit war's, / da Ymir herrschte;

Nicht war Sand noch See, / noch Salzwogen,

Nicht Erde unten / noch oben Himmel,

Gähnender Abgrund / und Gras nirgends ...«

Er verstummte, sah die Kinder an, bannte sie mit seinem funkelnden Auge.

»Ich will euch erzählen, wie die Zwerge erschaffen wurden. Hört gut zu, denn so hat sich zugetragen:

Am Anfang war Ginnungagap, der klaffende Abgrund. Dies war eine gewaltige, unbegrenzt große Schlucht, die sich unendlich in jede Richtung hin erstreckte und Platz hatte für eine Milliarde von Universen oder noch mehr. Darüber nachzudenken würde einen schwindlig machen, ja, den Verstand rauben; denn sie hatte keine Länge, keine Breite, kein Oben und kein Unten. Am Anfang gab es nichts in Ginnungagap, das ein menschliches Wesen hätte fassen können. Weder Licht noch Dunkelheit, keine Stille, aber auch keinen Ton - nur ein gähnendes Nichts. Obwohl dieses Nichts so ungeheuer und so gestaltlos war, war es doch nicht leer. Denn in ihm lag das Geheimnis der Schöpfung.

Nach dem Urbeginn wurde aus diesem Nichts ein Etwas, und es bildeten sich zwei gegensätzliche Regionen heraus. Auf der einen Seite war das Reich des Feuers, Muspelheim genannt. Kein gewöhnliches Wesen konnte dort leben, denn das Land stand in Flammen und die Luft ebenfalls. Die Hitze war so groß, dass sie noch in Entfernung von Millionen Meilen alles versengte und verdorrte. An den flammenden Grenzen stand ein Riese Wache; sein Name war Surt, und er hielt in seiner Flammenhand ein loderndes Schwert. Sein Haupt und sein Gesicht bestanden aus geschmolzenem Feuer, sein Haar verschoss in alle Richtungen Lichtstreifen wie Kometen, und beständig flossen Lavaströme seinen ungestalten Körper hinunter. Und es heißt, dass er am Ende der Zeit Flammen und Rauch über die Welt schleudern und alles Lebendige zu Asche verbrennen wird.

Das zweite große Reich am anderen Ende der tiefen Schlucht wurde Nibelheim genannt, eine kalte, öde Wildnis aus Eis, Schnee und gefrierendem Nebel. Mitten in Nibelheim sprudelte und schäumte die mächtige Quelle aller Gewässer, Wergelmir, der brüllende Kessel. Alle Flüsse der Urzeit hatten in ihm seinen Ursprung. Ihre Namen waren furchterregend: Lärmender, Stürmender, Schrecklicher oder Blasenbrodler. Der größte von ihnen war Eliwagar, Eiswellen, und aus ihm quoll giftiger Schaum empor, der zu schwarzem Eis gerann und sich zu Zacken und Bergen übereinander türmte, bis der gesamte nördliche Bereich von ihnen erfüllt war.

Irgendwann einmal, das war klar, mussten sich die Reiche von Feuer und Eis in der gähnenden Leere begegnen. Als dies geschah, entstand das erstaunlichste aller Phänomene, das nicht einmal die Götter erklären können: das Leben.

Über die Breite von Ginnungagap bildete sich aus einem Gebräu von giftigen, siedendem Lehm und Eis die Gestalt eines Riesen heraus: sein Kopf, seine Arme, sein Leib und seine schlammbedeckten Beine. Seine Abkömmlinge, die Reifriesen, gaben ihm später den Namen Orgelmir, was Schmutzsieder bedeutet; andere aber nannten ihn Ymir.

Nicht das gesamte Eis von Nibelheim war mit dem Gift Eliwagars durchdrungen; wo es rein war, aber durch das Feuer von Muspelheim geschmolzen wurde, erschien eine riesige Ziege in dem tauenden Eis, Audhumla genannt, die große Amme. Ihr Bauch breitete sich über die Höhen wie eine gigantische Wolke, und ihre Beine waren die Säulen der Erde. Aus ihrem Euter flossen vier Flüsse von Milch, und mit dieser Milch wurde der Riese Ymir ernährt. Audhumla selbst brauchte Nahrung, und sie begann die Eiskontinente um sich herum abzulecken. So wie ein Bildhauer aus einem Steinblock eine Form herausarbeitet, so leckte sie aus dem Eis die Gestalt eines Mannes. Er war von schönem Äußeren, und sein Name war Buri. Buri hatte einen Sohn, der Bor genannt wurde, und Bor nahm sich Bestia zur Frau, die Tochter eines Riesen, und aus ihr wurden drei Söhne geboren, die Ahnherren des Geschlechts der Asen, der Götter des Lichts. Ihre Namen waren Hoch, Ebenhoch und Dritt.«

»Komische Namen«, knurrte Hagen, der sich diese Bemerkung nicht verkneifen konnte.

Der Alte funkelte ihn nur an, fuhr aber fort:

»All diese Wesen, die Vorfahren der Riesen wie der Götter, hatten sich aus dem formlosen All herausgebildet. Doch das Gift Eliwagars wirkte in ihnen nach, bis es zu einer schrecklichen Schlacht zwischen den kosmischen Kräften kam.

Die Reifriesen waren ein gewalttätiges Geschlecht, monströs und laut. Der Sohn des alten Ymir, der aus einer Vereinigung eines Beines mit dem anderen erwachsen war, war ein Wesen mit sechs Köpfen, das Machtbrüller hieß, und dessen Sohn war bekannt als Bergbrüller. Wenn sie und ihr alter Vater Schmutzsieder sich im Rat trafen, gab es einen grässlichen Lärm, und Hoch, Ebenhoch und Dritt, die Söhne Bors, wurden auf das Äußerste gereizt.

Die drei Brüder stritten mit dem alten Riesen Ymir und erschlugen ihn in einem heftigen Kampf. Als er, in Stücke gehauen, niederfiel, floss so viel Blut aus seinem Körper, dass das gesamte Volk der Reifriesen ertrank, bis auf den jüngsten von ihnen, Bergbrüller, und dessen Frau. So konnte das Geschlecht der Riesen weiterbestehen.

Das Blut Ymirs strömte in die gähnende Schlucht und füllte sie aus, sodass sie ein riesiges Meer bildete. Alle Ozeane der Welt haben ihren Quell in diesem Urmeer. Die Söhne Bors schleiften den Leichnam des Riesen in das Meer und zerhackten und zerschnitten ihn, zerrten ihn hierhin und dorthin. In dieser grausigen Arbeit wurde das Fundament der Erde gelegt: Hügel, Ebenen, trockene Flussbetten und leere Seen. In diese Hohlräume ließen sie Ymirs Blut fließen, sodass die Erde vom Meer umgeben war und die Flüsse hineinströmten. Sie zerhackten seine Knochen und schufen daraus die Berge. Seine Haare nahmen sie für die Bäume und Büsche. Und seine Hirnschale wuchteten sie empor, damit sie über der Erde eine Kuppel bildete.

Als nun Finsternis über der Erde lag, da krochen aus Ymirs Fleisch, Maden gleich, Wesen empor. Dies waren die Swart-alfar, die Schwarzalben, die man auch Zwerge nennt. Sie hassten das Licht und hassen es bis zum heutigen Tag. Und als Hoch, Ebenhoch und Dritt sie sahen, da geboten sie den ersten, derer sie habhaft wurden, sich an den vier Enden der Erde aufzustellen. Ihre Namen waren Austri, Sudri, Nordri und Westri, und ihnen wurde das gewaltige Gewicht des Himmelsgewölbes auf die Schultern gelegt. In den Raum unter dem Himmel warfen die Götter Ymirs Gehirn und machten daraus die Wolken.

Befreit von der Aufgabe, die Himmelskuppel halten zu müssen, fingen Bors Söhne die umherfliegenden Funken ein, die von Muspelheim hochgeworfen wurden und brachten sie in der gähnenden Schlucht an, damit sie die Erde beleuchteten. Einige wurden am Himmel befestigt, andere wieder sollten nach einem festen Plan ihren Lauf nehmen. So entstanden die Sterne.

Dem Geschlecht der Riesen schenkten die Götter ein Stück Land an den äußersten Ufern des Ozeans, damit sie sich dort niederlassen konnten. Schließlich nahmen die jungen Götter Ymirs Wimpern und bauten damit eine runde Festung mit felsenähnlichen Mauern rund um die Erde. Diese Festung nannten sie Midgard oder Mittlere Einfriedung.«

Siggi versuchte, sich Wimpern so groß wie Felsen vorzustellen, die einen ganzen Kontinent umspannten, aber alles, was er vor Augen hatte, war ein verschwommenes Bild von riesigen Dimensionen. Doch der Erzähler sprach bereits weiter:

»Eines Morgens nun gingen Hoch, Ebenhoch und Dritt am Gestade des Meeres entlang, als sie zwei Treibholzstämme fanden, die an der Grenzen zwischen Land und festem Meer trieben. Und der Schatten von Ebenhoch fiel auf den einen Stamm und der Schatten Dritts auf den anderen. Hoch sah, wie sich die Schatten ihrer Arme und Beine bewegten. Da ließ er sich vor dem Baumstamm, der dem Ufer am nächsten war, auf die Knie fallen, legte seine Lippen an die Rinde und hauchte ihm seinen göttlichen Atem ein. Alsdann bildete sich aus diesem Stamm, einer Ulme, die Gestalt einer Frau heraus, doch sie war noch leblos, und ihre Augen blickten leer. Hoch beugte sich über den anderen Stamm, der von einer Esche stammte. Wieder hauchte er darauf, und es entstand die Gestalt eines Mannes. Auch er öffnete die Augen und lag regungslos da.

Da wussten die beiden anderen Brüder, dass das Werk ohne ihre Gaben noch nicht vollendet war. Ebenhoch blickte auf die Frau, und er gab ihr die Jugend, die fünf Sinne und den Verstand. Langsam setzte sie sich auf und begann, die herrliche Welt zu bewundern. Dann wandte sie sich um, und ihr Blick fiel auf den Mann. Nun wandte Ebenhoch sich dem Mann zu und verlieh ihm seine Kraft, und auch dieser erhielt die Fähigkeit, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen und zu schmecken.

Dritts Geschenk aber war die Gabe zu reden.

Und die Menschen gingen hinaus, die Welt in Besitz zu nehmen, und die Götter blickten auf ihr Werk und sahen, dass es wohl getan war.

Die Schwarzalben aber, die in den Tiefen von Ymirs Leib in dunklen Höhlen lebten, fühlten nichts als Neid auf die neuen Herren der Welt, und ihr Hass auf die Wesen des Lichts, die solches vollbracht hatten, wurde übermächtig und ist nicht geschwunden bis auf den heutigen Tag.«

Der Alte beendete seine Erzählung. Seine Stimme hatte alle in seinen Bann gezogen; selbst Hagen hatte zum Schluss andächtig gelauscht, und ob er nun etwas von seiner Skepsis verloren hatte oder nicht, so enthielt er sich jedenfalls eines weiteren Kommentars.

»Wir müssen gehen«, sagte der Graue. »Es wird Zeit, sonst finden die Swart-alfar unsere Spur.«

Der Alte packte seinen Stock; die beiden Raben flogen auf und nahmen auf seinen Schultern Platz. Er wandte sich um. »Folgt mir«, sagte er knapp und setzte sich in Bewegung, auf den rechten Gang zu.

Die Kinder folgten ihm; es blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Der Alte hatte sie in dieses Höhlensystem gebracht, und sie waren ihm nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Hagen langte in seine rechte Hosentasche, um sein Taschentuch herauszuholen. Dabei passierte es. Klirrend kullerte der goldene Ring direkt vor Siggis Füße. Gedankenschnell und noch bevor Hagen irgendetwas unternehmen konnte, bückte sich Siggi, hob ihn auf, und ließ in seiner Tasche verschwinden.

»Was war das?«, sagte der Graue, der sich umdrehte.

»Nur eine Münze«, log Siggi, und er wunderte sich, wie glatt ihm diese Lüge über die Lippen kam. »Sie ist mir aus der Tasche gefallen!« Siggi zeigte einen Groschen vor, den er zufällig in der Tasche gehabt hatte.

Hagen stand wie erstarrt und wusste nicht, ob er verärgert oder erfreut sein sollte. Immerhin hatte Siggi das Geheimnis des Rings gewahrt.

Gunhild war völlig fassungslos. Ihr Bruder war der schlechteste Lügner unter der Sonne, und nun hatte er diesen alten Mann belogen, ohne mit der Wimper zu zucken; diesen Mann, der mit seinem Auge auf den Grund der Seele blicken konnte.

»Dann kommt«, sagte der Graue. »Lasst uns nun wirklich gehen!«

Der Alte ging los. Die Kinder folgten ihm im Gänsemarsch: Vorneweg Siggi, dahinter Hagen, und Gunhild bildete den Schluss. Kaum waren sie einige Meter in dem Gang vorangekommen, schob sich Hagen neben Siggi.

»Okay, Siggi. Und nun gib ihn wieder her!«, zischte er in Siggis Ohr.

Der war noch ganz stolz auf seine Tat und hatte mehr Freundlichkeit und ein kleines bisschen Dankbarkeit von Hagen erwartet, und er beschloss spontan, auf stur zu schalten und das Ding erst einmal zu behalten. Hagen könnte ja wenigstens mal Bitte sagen.

»Nein! Nicht jetzt«, widersprach er flüsternd. »Du kriegst ihn später wieder ...«

»Was tuschelt ihr denn da?«, fragte der Alte. »Kann das nicht warten?«

»Nur eine kleine Kabbelei unter Jungs«, sagte Gunhild schnell und drängte sich zwischen Hagen und Siggi.

»Das ist nicht die Zeit und der Ort für Streit«, mahnte der Alte. »Wir müssen weiter. Der Weg ist noch weit, und ich bin, wie ihr sicherlich bemerkt habt, nicht mehr der Jüngste.« Die Stimme des Alten klang wieder amüsiert.

Hagen warf Siggi einen finsteren Blick zu.

»Es ist mein«, zischte er böse. »Ich will ihn wiederhaben. Du willst ihn bloß behalten.«

Siggi würdigte ihn keiner Antwort und ging stur weiter. Er würde, weil Hagen es so gewünscht hatte, den Ring weiter geheim halten. Das war er ihm schuldig. Aber so gierig, eifersüchtig und neidisch brauchte dieser Typ nun wirklich nicht zu sein. Siggi blickte nach vorn und ignorierte den wütenden Hagen.

Gunhild legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete Hagen zu schweigen. Auch Hagen musste einsehen, das der Graue misstrauisch werden würde, wenn sie weiter hinter seinem Rücken tuschelten, und denken, die Kinder hätten etwas vor ihm zu verbergen. Und Hagen war es schließlich, der den Ring unter Verschluss halten wollte.

Also sagte er nichts mehr, doch das hinderte ihn nicht daran, Siggi finstere Blicke zuzuwerfen. Aber der ignorierte ihn einfach.

Gunhild verstand nicht, was Siggi damit bezweckte, aber für sie war es klar, sich vor ihren Bruder zu stellen. Nur, darüber reden würden sie noch. Die Gelegenheit würde kommen.

Die Geschwister wechselten einen Seitenblick, den auch Hagen bemerkte. Seine Miene wurde noch finsterer. Das sollten Freunde sein? Das ließ jemand wie er nicht mit sich machen! Siggi und Gunhild, die er für seine Freunde gehalten hatte, wollten ihn hintergehen. Aber er war auf der Hut und würde im richtigen Moment zuschlagen und sich zurückholen, was ihm gehörte. Das schwor er sich.

Der Gang, dem sie folgten, wurde mal enger, dann verbreiterte er sich wieder zu einer Kammer oder sogar zu einem saalgroßen Raum. Immer wieder kamen sie an Abzweigungen, Kreuzungen und Gabelungen vorbei. Das fahle Licht war allgegenwärtig, manchmal stärker, dann wieder schwächer, und an einigen, wenigen Stellen ließ es fast völlig nach.

Die Kinder waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht mitbekamen, dass auch ihr Führer offensichtlich Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden. Immer wieder verlangsamte er seinen Schritt, als müsste er erst überlegen, in welche Richtung er sich wenden sollte. Dann ging er wieder sehr schnell.

Irgendwann tauchte Siggi wieder aus seiner Versenkung auf, und begann darauf zu achten, wohin sie gingen. Und allmählich kamen ihm Bedenken. Der Graue wirkte nun manchmal wirklich wie ein alter Mann. Siggi fiel auf, dass längst nicht jede seiner Bewegungen so kraftvoll war, wie es ihm noch in der Kammer erschienen war, wo er dem Grauen das erste Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.

Für einen kurzen Moment hielt der Graue an einer Gabelung inne. Schwer stützte er sich auf seinen Stab, als könne er nicht mehr weiter. Auch schien er nicht recht zu wissen, ob er sich links oder rechts halten sollte.

»Ihr müsst einen Moment rasten. Ihr seid bestimmt müde«, sagte der Alte, als sorge er sich um seine Schützlinge.

Wieder hatte Siggi das unbestimmte Gefühl, ihrem Retter nicht voll vertrauen zu können. Das erste Mal hatte er es verdrängt, hatte nicht auf seine innere Stimme hören wollen. Das war, als der Graue die Bemerkung über die Geschichte gemacht hatte, die er noch mal ändern zu können hoffte ...

Er war nun froh über Hagens Entscheidung, den Ring geheim zu halten. Und bevor Siggi nicht absolut sicher wusste, ob er dem geheimnisvollen Fremden vertrauen konnte oder nicht, würde er nichts von dem Ring sagen.

»Es muss schwierig sein, sich hier zurechtzufinden«, meinte Gunhild, die genug davon hatte, sich nur mit Hagen und dessen Zorn zu befassen. »Und vor allem, wenn man ein Auge verloren hat. Wie ist das passiert? War das im Krieg?« Sie hatte davon gehört, dass in Kriegen solche Dinge passierten.

»Nein«, antwortete der Graue. »Manchmal muss man etwas opfern, wenn man etwas sehr begehrt. Ich habe mein Auge geopfert. Nun sehe ich mit einem Auge nach außen und mit einem Auge nach innen«, fügte er hinzu.

Es klang wie ein Scherz, aber Siggi spürte trotz der Gelassenheit wieder jene uralte Trauer. Lag es daran, dass er sein Begehren und das damit verbundene Opfer bedauerte? Oder war es etwas anderes?

Jedenfalls hoffte Siggi, dass Hagen dem Alten zugehört hatte. Er riskierte einen kurzen Seitenblick, erntete aber nur ein finsteres Stirnrunzeln. Es schien, als sei sein neuer Freund richtig sauer auf ihn, und Siggi war dankbar, dass seine Schwester in der Nähe war. Sollte Hagen handgreiflich werden, konnte sie schlichten und ihm zur Seite stehen.

»Dann bist du bestimmt einer der Mächtigen in der Anderswelt«, schmeichelte Gunhild ihm und lächelte dabei.

»Nein«, entgegnete der Graue und Siggi hörte neben Trauer nun auch Bitterkeit aus den Worten des Alten. »Das war einmal. Aber dann zerbrach mein Speer, und mit ihm zerbrach meine Macht und mein Einfluss.«

Gunhild verstand überhaupt nichts mehr. Auch sie hatte den Unterton in der Stimme des Alten vernommen, aber sie wusste ihn nicht zu deuten, geschweige denn, was der Graue mit diesen Worten meinte. Aber sie hatte wohl in einer noch nicht verheilten Wunde gerührt und verzichtete darauf, weiter zu fragen. Sie wollte dem Mann nicht wehtun, und irgendwie tat er ihr leid. Gerade an dieser Gabelung war das Licht gedämpfter und noch fahler. Der graue Mann sah bei dieser Beleuchtung wirklich alt und gramgebeugt aus.

Alle schwiegen, Hagen vor Zorn; Gunhild, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte; und Siggi, weil er den Grauen beobachtete. Er versuchte in den Zügen des alten Mannes zu lesen, versuchte herauszufinden, ob sein Misstrauen begründet war oder nicht.

»Kommt, ihr habt euch genug ausgeruht«, sagte der Graue. »Es geht weiter.«

Er stapfte voran. Die Kinder hinterher. Hagen hing seinem Groll nach, Gunhild träumte vor sich hin, und Siggi behielt den Alten im Auge.

Der Alte blieb unsicher, was die Richtung anging. Nie zögerte er lange; es waren immer nur Momente. Aber Siggi bemerkte es wohl, dass er nicht immer wusste, welchen Weg sie nehmen mussten.

Weiter zogen sie durch das fahl beleuchtete Höhlensystem. Der Alte gab gewiss sein Bestes, dessen war Siggi sicher, aber warum sagte er nichts von seinen Schwierigkeiten? War der einzige Grund, dass er die Kinder nicht erschrecken wollte? Das glaubte Siggi nicht. Nein, er wurde nicht schlau aus dem Mann, dem sie gewiss auf der einen Seite einiges zu verdanken hatten, der ihnen aber andererseits längst nicht alles gesagt hatte, was er wusste.

Gleichfalls begann Siggi darüber nachzudenken, wie viel Macht dem Alten wirklich zur Verfügung stand. Konnte er zaubern - richtig zaubern, nicht wie ein Zauberer im Fernsehen oder Zirkus, der mit Tricks und Fingerfertigkeit arbeitete, sondern richtig?

Ihre Rettung vor den unheimlichen Verfolgern - den Schwarzalben, wie der Alte sie genannt hatte - erschien ihm zwar wie Magie. Aber wenn welche im Spiel gewesen war, wie viel davon stammte von dem Alten, oder hatte er nur die Natur der Anderswelt und des Tors genutzt, das sie mit ihrem Tanz um den Brunnen aufgestoßen hatten?

Wieder fand Siggi keine Antwort. Er wusste einfach nicht genug von der ganzen Geschichte; ja, er hatte nicht einmal eine Ahnung, wer ihr geheimnisvoller Retter überhaupt war.

Hat er seinen Namen genannt?, fragte sich Siggi in Gedanken. Die Antwort gab er sich ebenfalls. Nein! Er hatte, wie Siggi sich entsann, nur weise Sprüche von sich gegeben. Irgendetwas stimmte da nicht, und Hagens Wunsch, gleichfalls nicht mit allen Informationen herauszurücken, wurde immer verständlicher.

Siggi glaubte fast, es wäre besser gewesen, noch mehr zu verheimlichen, aber dazu war es jetzt zu spät. Jetzt mussten sie das Beste aus der Lage machen, in der sich befanden.

Am Morgen, mit dem Licht des neuen Tages, würde der Bann von ihnen genommen, und sie konnten in ihre Welt zurückkehren, aber bis dahin waren sie Gefangene der Anderswelt. Das zumindest glaubte er ihrem Führer, der schweigend vor ihnen her stapfte und inzwischen an fast jeder Gabelung und Kreuzung verharrte. Aber er brauchte ja nicht zu lügen, er brauchte nur nicht alles zu erzählen, was er wusste. Wie sagten Gunhild und er doch immer, wenn sie ein kleines Geheimnis vor ihrem Vater verbergen wollten: Er braucht es ja nicht unbedingt zu erfahren ...

Und eben dieses Gefühl hatte Siggi bei dem Alten. Für ihn war es noch viel leichter, Dinge zu verbergen, ihnen vieles vorzuenthalten. Sie kannten sich in dieser Welt nicht aus. Siggi beschloss, sich bei nächster Gelegenheit mit Gunhild und Hagen zu besprechen; ja, auch mit Hagen, denn sie saßen zu dritt in der Klemme und mussten da gemeinsam auch wieder raus ...

Vor ihnen öffnete sich der Raum. Für einen Moment stockte jedem der Kinder der Atem. Sie waren schon in großen Kammern und Sälen gewesen, aber der hier stellte alles bisher da Gewesene in den Schatten. Er war bestimmt an die hundert Meter lang, schätzungsweise sechzig Meter breit, und wie hoch dieser Höhlendom war, konnte Siggi nicht ermessen. In dem diffusen, fahlen Licht war die Decke überhaupt nicht zu erkennen.

»Ja«, sagte ihr Führer. »Es ist ein Anblick, der auch mir immer wieder Bewunderung abnötigt.«

Überall glitzerte es, als würde Sternenstaub an den Wänden haften. Doch es waren Kristalle, die links und rechts von ihnen aus dem Boden wuchsen, und das schwache, kalte Licht brach sich darin in schillernden Reflexen, grün und blau und gelb, die weit in die Dämmerung streuten. Gebilde wie Eiszapfen zogen sich wie Gitter an den Wänden entlang; irgendwo tropfte Wasser, fiel mit einem klaren, glockenähnlichen Klang in ein unsichtbares Becken. Hier gab es wirklich Wunder zu schauen.

Siggi erkannte, dass ihr Führer sich erst wieder über den Weg klar werden musste, daher nutzte er ihr Staunen, um von seinen Problemen abzulenken.

Schon beim ersten Zählen hatte Siggi mindestens acht Gänge bemerkt, die aus dem Dom führten; als er genauer hinsah, konnte er über ein Dutzend ausfindig machen. Jetzt war der Graue gefordert. Wählte er den falschen Gang, mochte er sie direkt zu den Schwarzalben führen, und das wollte gewiss keiner von ihnen.

Doch die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Rechts von ihnen tauchten sieben oder acht untersetzte Gestalten aus dem diffusen Halblicht auf. Lautlos, unheimlich und gefährlich, genau wie im Wald.

»Da!«, rief Siggi aus, und die kalten Finger der Furcht griffen wieder nach ihm. »Schwarzalben!«

Der Kopf ihres Führers ruckte herum, als würde er aus einem Traum erwachen. Er murmelte etwas, das Siggi nicht verstand, aber dem Klang nach war es ein Fluch, den er zwischen den Lippen zerdrückte.

Hagen und Gunhild erstarrten, ebenso wie Siggi, dem es für einen Moment unmöglich war, sich zu bewegen. Er konnte seinen Blick nicht von den Wesen wenden. Der Name Schwarzalben war sicherlich zutreffend gewählt: Ihre Gesichter war dunkel wie altes, derbes, braunes Leder, und ihre Kleidung war nachtschwarz, auch dort, wo sie metallisch glänzte.

Der Nebel, erkannte Siggi, hatte ihnen keinen Streich gespielt: Diese Wesen waren klein und gedrungen. Hagen überragte sie deutlich, und selbst Siggi, der kleinste ihrer Gruppe, war größer als die Schwarzalben. Dafür wirkten sie unglaublich muskulös.

Die dunklen Gestalten waren keine kleinwüchsigen Menschen; die hatte Siggi schon gesehen. Irgendwie stimmten bei denen die Proportionen nicht, aber bei den Schwarzalben war es anders. Das ganze Volk schien von Natur aus so zwergenhaft zu sein.

Obwohl kleiner als Menschen, wirkten die Wesen bedrohlich; denn ohne jeden Zweifel waren sie stärker als sie. Und die Äxte in ihren Fäusten waren nicht dafür gebaut worden, Bäume zu fällen und Brennholz zu spalten. Das waren Waffen, Waffen für den Kampf. Waffen, um zu töten. Die großen, geschwungenen Klingen blitzten scharf.

Jetzt konnte der Graue zeigen, über welche magischen Kräfte er verfügte. Nur er konnte sie hier wieder rausbringen. Der Stab des Grauen würde bestimmt Blitze schleudern, um die Schwarzalben in die Flucht zu schlagen.

»Geht!«, rief der Graue. »Fort mit euch, Ymirs Gezücht! Erkennt ihr den einäugigen Wanderer nicht, der hoch über euch steht? Swart-alfar, ich befehle euch, geht zurück in die Abgründe, aus denen ihr gekommen seid!«

Obwohl seine Stimme feierlich und imponierend klang, schien sie auf die Nachtgeschöpfe keinen Eindruck zu machen. Im Gegenteil, waren sie bisher nur einige vorsichtig näher gekommen, so drängten nun plötzlich mehr und mehr von ihnen herbei.

»Sie kreisen uns ein«, entfuhr es Gunhild, die als Erstes der Kinder die Starre abschüttelte.

»Lauft!«, befahl der Graue. »Lauft um euer Leben!«

»Kannst du nicht ...?«, begann Siggi hilflos seine Frage.

»Kann ich nicht was?«

»Zaubern und sie so in die Flucht schlagen.«

»Meine Macht zerbrach mit dem Speer; was mir geblieben ist, reicht nicht aus, um uns gegen so viele zu helfen«, sagte der Graue. »Also lauft!«

Seine letzten Worte waren ein Schrei, der tausendfach an den Wänden widerhallte. Das riss die Kinder endgültig aus ihrer Lähmung.

Sie rannten los. Keiner achtete darauf, wohin er lief; jeder stürzte in eine andere Richtung. Die Gruppe, die sie im Wald gebildet hatten, war plötzlich aufgelöst - zerbrochen wie die Macht des Grauen.

Siggi bemerkte es als Erster. Instinktiv war er in die Richtung gelaufen, aus der sie gekommen waren. Aber es war zu spät, um noch umzukehren; also rannte er einfach weiter.

Wie aus dem Nichts wuchs ein Schwarzalbe vor ihm auf. Siggi duckte sich und schlug einen Haken. Er spürte noch den Luftzug der Hände an seiner Schulter.

Er spürte wie sein Verfolger das Gleichgewicht verlor und stürzte. Siggi nutzte die Chance und rannte.

Hagen war in den nächstliegenden Gang geflüchtet. Als er sich umwandte, stellte er fest, dass die anderen nicht hinter ihm waren. Er war allein. Das war bestimmt Siggis Schuld, war das Erste, was ihm durch den Kopf ging. Der war auch schuld, dass er, Hagen, den Ring nicht mehr hatte. Nun hatte Siggi sie absichtlich gespalten, in der Hoffnung, dass er den Ring für sich behalten konnte. Aber Hagen würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen; er würde den Schwarzalben entkommen und sich das wiederholen, was ihm zustand - den Ring.

Hinter sich erkannte er zwei oder drei Schatten, die ihm folgten. Hagen rannte, so schnell er nur konnte. Seine Schuhe hämmerten auf den Stein der Höhle.

»Ihr kriegt mich nicht!«, rief er laut.

Er wusste nicht wie lange er gelaufen war, dann gabelte sich der Gang. Der linke Weg führte leicht bergauf, der rechte bergab. Hagen entschied sich dafür, bergab zu laufen; das war leichter.

Er rannte in den Gang hinein. Inzwischen hatte er bestimmt schon einen ziemlichen Vorsprung, dachte er, und seine Gedanken begannen abzuschweifen. Der Ring. Alles in seinen Überlegungen kreiste nur noch um den Ring und wie er Siggi das Ding wieder abnehmen könnte.

»Das zahle ich dir heim, du Wicht«, sagte er halblaut. »Ich kriege dich!«

Ohne es richtig zu merken, war er an mehreren Kreuzungen und Gabelungen vorbeigekommen, und hatte die Richtung geändert. In Wirklichkeit war er längst wieder auf dem Weg dorthin, von wo er gekommen war. Doch er hatte ganz anderes im Sinn.

»Siggi und Gunhild sind bestimmt diesen Kerlen direkt in die Arme gerannt«, brummelte er halblaut vor sich hin. »Ich muss rausfinden, wo die Schwarzalben hausen, dann hole ich mir den Ring und lasse die beiden schmoren. Das haben sie verdient, weil sie mir Freundschaft vorgetäuscht und mir meinen Ring weggenommen haben.«

Hätte er sich umgesehen, wäre ihm der Schatten aufgefallen, der sich unauffällig näherte, sich geräuschlos anschlich. Noch zehn Meter, noch neun, noch acht...

»Es ist mein Ring. Ich habe ihn gefunden!« Hagen war in seinem Zorn nicht aufzuhalten. Längst war er in Schritttempo verfallen, glaubte er doch die Verfolger abgehängt zu haben, doch das Unheil kam immer näher.

»Niemand legt mich ungestraft rein. Ich ...«

Diesen Satz sprach er nicht mehr zu Ende. Zwei schwielige Hände packten ihn. Bevor es sich versah, war er gefesselt, geknebelt - und gedemütigt. Er hatte geglaubt, den Dunklen ein Schnippchen geschlagen zu haben und war geradewegs in ihre Falle getappt. Er würde Siggi und Gunhild wiedersehen - im Verlies der Schwarzalben ... Gunhild hatte sich hinter dem Grauen gehalten, der zielstrebig auf einen Gang zuhielt. Sie folgte ihm. Eine dunkle Gestalt sprang aus den Schatten auf sie zu, aber der Alte schlug dem Alben seinen Stab an den Kopf, dass der Angreifer zu Boden ging.

Die Nachtwesen näherten sich lautlos. Keiner gab irgendwelche Befehle. Schweigend zu kämpfen und zu jagen schien ihre Art zu sein.

Der Alte und Gunhild erreichten die Gangöffnung. Der Graue schob das Mädchen hinein, und wirbelte herum. Keinen Moment zu früh. Mit seinem Stab, der ihm den Vorteil der größeren Reichweite gab, wehrte er einen weiteren Gegner ab.

»Siggi und Hagen sind noch da draußen!«, rief Gunhild. »Wir müssen ihnen helfen!«

»Wie denn, Kind? Siggi ist irgendwo am anderen Ende, und Hagen ist in einem Gang verschwunden.«

»Aber ...«, wollte Gunhild einwenden, sie wurde aber rüde unterbrochen.

»Ich habe genug damit zu tun, uns zu helfen. Die beiden müssen sehen, wie sie zurechtkommen«, sagte der Alte und hielt mit seinem schweren Stab, den er scheinbar mühelos schwang, zwei Swart-alfar in Schach. Doch Gunhild, die links hinter ihm an der Wand lehnte, konnte sehen, dass ihm der Schweiß im Gesicht stand.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Dunklen die Oberhand bekamen. Und dann waren da noch Siggi und Hagen. Gunhild hoffte inständig, dass wenigstens sie es schaffen würden zu entkommen. Durch seinen Haken hatte Siggi einen Vorsprung gewonnen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Hagen in einen Gang abtauchte und der Graue und Gunhild auf einen anderen zuhielten und wie der Alte mit seinem Stab einen Schwarzalben niederstreckte.

Dann hatte Siggi keine Zeit mehr, um sich um die anderen zu kümmern; denn der Swart-alf hatte sich wieder aufgerafft und hängte sich an seine Fersen, wie Siggi durch einen hastigen Blick über die Schulter mitbekam.

Renn, renn um dein Leben!, war sein einziger Gedanke. Er wich einem weiteren Schattenwesen aus. Seine langen Beine waren von Vorteil; im Weglaufen war er immer besser gewesen als im Kämpfen. Er musste es schaffen, zu Gunhild und dem Alten oder zu Hagen aufzuschließen, damit ihre Gruppe nicht auseinander brach. Wenn es ihm nicht gelang, waren sie eine leichte Beute.

Siggi hielt kurz inne, um sich zu orientieren. Er konnte sehen, wo der Graue war, weil sein Stab wie eine Schlange vorzuckte und einen der Gegner von den Beinen fegte. In welchen Gang Hagen verschwunden war, konnte Siggi nicht mehr sagen.

Also war ihm die Entscheidung abgenommen. Er musste zu Gunhild und dem Alten.

Die Schwarzalben kamen zu zweit langsam näher. Er würde ihnen ausweichen müssen. Das war jetzt wie Weglaufen beim Fangen auf dem Schulhof, und das beherrschte er sehr gut.

Seine Rechte fuhr in die Hosentasche, um sein Taschentuch herauszuholen, damit er sich den Schweiß abwischen konnte, der ihm in die Augen lief. Dabei fuhr sein Daumen in den Ring. Er zog die Hand aus der Tasche und sah das Missgeschick. Der Ring steckte fest.

Siggi schloss die Hand zur Faust, so konnte er den Ring nicht verlieren. Hektisch wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß ab und wartete auf seine Gegner.

Die Schwarzalben blieben stehen, schauten irritiert in Siggis Richtung und schienen etwas zu suchen. Siggi begriff nicht, was das sollte, bis ihm ein Gedanke kam, der so einleuchtend und faszinierend war, dass er es selbst kaum glauben konnte.

Er hob den Arm und winkte. Die Schwarzalben reagierten nicht. Es war, als sähen sie ihn überhaupt nicht...

Das ist der Ring!, jubelte Siggi innerlich. Der Ring macht mich unsichtbar.

Neue Zuversicht durchströmte ihn. Jetzt hatte er eine echte Chance, zu Gunhild durchzukommen.

Fast hätte er vor Triumph laut aufgejuchzt, aber im letzten Moment beherrschte er sich. Ganz vorsichtig, möglichst ohne ein Geräusch zu machen, wandte er sich der Seite zu, wo der Gang war, in dem sich Gunhild und der Graue befanden.

Siggi wagte kaum zu atmen. So leise er konnte, schlich er in die Richtung, wo er seine Schwester und den Alten vermutete. Er beschloss, den Ring im letzten Moment wieder abzunehmen und das Geheimnis erst mal vor allen, auch vor Gunhild, aber eben besonders vor dem Grauen zu verbergen.

Vorsichtig pirschte er sich an den Gang heran. Er blickte über seine Schulter zurück. Da, wo er sich vor einigen Augenblicken noch aufgehalten hatte, standen jetzt drei von den dunklen, gedrungenen Gestalten. Drei weitere traten aus dem beiden Gängen, die hinter ihm gewesen waren in den Felsendom. Ihre ganze Haltung zeigte völlige Ratlosigkeit.

Siggi grinste ...

In diesem Moment war er neben einem Gang, und ein Swart-alf trat daraus hervor. Siggi erstarrte. Die düstere, zwergenhafte Gestalt tappte keine Armeslänge von ihm entfernt in den Dom hinein, auf die sechs Ratlosen zu. Sie schienen ihn zu suchen.

Siggi wusste nicht, wie lange er gebraucht hatte, aber schließlich war er nur noch wenige Meter von dem Gang entfernt, wo der Stab des Grauen immer wieder die Angriffe zweier Schwarzalben abwehrte. Die Schläge kamen immer blitzartig, wie zustoßende Schlangen, aber in längeren Abständen. Klar, lange würde der Alte das nicht mehr durchhalten.

Siggi beschloss, bis zum letzten Moment zu warten, dann würde er den Ring abnehmen und in den Gang stürzen.

Vorsichtig schlich er näher, sah dabei auf den Boden, um sich nicht durch einen lockeren Stein zu verraten, den er wegkickte. Jetzt war es Zeit für ein Dribbling anderer Art.

Drei Meter vor der Öffnung des Ganges hielt er an. Er holte noch einmal tief Luft.

Dann riss er sich den Ring von der Hand und schrie: »Gunhild, ich komme!«

Zwei, drei Schritte, und er stürzte sich in den Gang. Die Nachtgeschöpfe waren völlig überrumpelt und konnten nicht mehr eingreifen, und der Graue war geistesgegenwärtig genug, ihm auszuweichen.

Siggi und Gunhild fielen sich in die Arme ...

»Wie hast du es geschafft?«, keuchte der Alte. »Wie bist du an den Swart-alfar vorbeigekommen?«

Siggi überlegte keine Sekunde.

»Ich hab' sie ausgetrickst«, sagte er ganz in der Manier des Grauen, der nicht nachfragen konnte, weil die Dunklen wieder angriffen.

Der Graue wehrte sie mit seinem Stock ab, aber Siggi, der kurz zu ihm aufgesehen hatte, war klar, dass dies nicht mehr lange so weitergehen konnte.

Sollte schließlich doch alles umsonst gewesen sein? Er hatte sich für so klug gehalten, aber jetzt...

In diesen Moment der Verzweiflung klang hinter ihnen ein unerwarteter Laut auf, ein klarer, heller, durchdringender Ton. Der Hall eines einzelnen Hornsignals brach sich vielfach an den Felswänden und brauste wie ein Sturmwind durch die Gänge.

»Die Lios-alfar kommen!«, entfuhr es dem Alten. »Wir sind gerettet.«

Siggi und Gunhild fielen sich in die Arme.

Stumm, wie sie gekommen waren, zogen sich die Nachtgeschöpfe in die Dämmerung zurück.

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