2
Die Rabenhöhle

»Was waren das für Chaoten?«, tobte Gunhild. »Denen wünsche ich die Krätze an den Hals!«

Siggi, der käsebleich geworden war, als er auf die Trümmer ihrer Räder starrte, sagte zunächst gar nichts mehr.

»Wir werden laufen müssen«, stellte Hagen nach einer kleinen Weile fest. »Also, auf geht's ...«

»Ja, wir müssen«, sagte auch Siggi seufzend, »wenn wir noch eine möglichst große Strecke trocken schaffen wollen.«

»Wo entlang?«, fragte Hagen.

Siggi dachte kurz nach. »Was ist, Gunhild? Versuchen wir, nach Hause zu kommen, oder laufen wir zum Waldgasthof und rufen von da aus Vati an?«

Das blonde Mädchen überlegte, sah auf das herannahende Gewitter, dessen dunkle Wolkenfront durch die Lücken in den Baumkronen sichtbar war, und blickte sich um.

»Den Weg zum Gasthof kenn' ich nicht so gut, aber es ist auf jeden Fall kürzer als bis nach Hause oder ins Dorf. Gehen wir zum Gasthof, das ist das Beste, und wir haben Chancen, nicht allzu nass zu werden«, entschied sie schließlich. »Das ist auch besser so. Da wir die Typen, die das ...«, die Worte fehlten ihr, und so deutete sie nur auf die traurigen Reste ihrer Fahrräder. »Da uns diese Kerle nicht entgegengekommen sind, müssen die sich zwischen hier und dem Dorf rumtreiben. Ich glaube, es ist besser, denen aus dem Weg zu gehen. Wer Fahrräder so sinnlos zertrümmert, der schlägt auch kleine Kinder.«

»Gut«, meinte Siggi und sah auf die Schrotthaufen zu seinen Füßen. »Nehmen wir die Räder mit?«

Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, was ihm auch fast gelang. Gleichzeitig versuchte sich aber aus den Augenwinkeln umzusehen, ob er irgendetwas Ungewöhnliches entdecken konnte. Angst überkam ihn. Wenn sich diese Kerle hier noch rumtrieben ...?

»Wir lassen sie hier«, bestimmte Gunhild. »Wir können morgen mit Vati hierher fahren, um die Dinger zu holen - oder besser, was davon noch übrig ist. Die Reste mitzuschleppen, hält uns bloß auf.«

»Also, auf geht's. Welche Richtung?«, fragte Hagen, der sich ein wenig unsicher umsah. Er fühlte sich beobachtet, konnte aber nicht sagen, von wo. Auch ihn beschlich Furcht, und er würde heilfroh sein, wenn sie hier wegkämen.

»Auf jeden Fall wieder runter und am Brunnen vorbei«, meinte Siggi. »Dann weiß ich es nicht so genau, aber es muss Hinweisschilder geben.«

»Worauf warten wir noch?«, fragte Gunhild, die nach außen hin unbeeindruckt wirkte; aber auch ihr war es unheimlich zumute. Sie verbarg es nur am besten.

So kletterten sie den Hang wieder hinunter. Die Gespräche waren verstummt. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle drei versuchten auch, so unauffällig wie möglich die Gegend im Auge zu behalten. Aber noch war Hagen der Einzige, der fühlte, dass sie beobachtet wurden. Jemand - oder etwas - schien auf sie zu lauern, schien sie im Auge zu behalten, dass sie nicht mehr entkommen konnten.

Hagen fröstelte, trotz der Gewitterschwüle. Ungewollt lief er schneller.

Sie alle waren so bemüht, die eigene Angst vor den anderen zu verbergen, dass sie die Furcht der Gefährten gar nicht bemerkten. So kamen alle drei schweigend auf dem Weg unten an. Die Unbeschwertheit, die anfangs auf ihrem Ausflug geherrscht hatte, war verflogen.

Das Gewitter rückte immer näher. Die Luft war schwer wie Blei, und der Nebel begann sich zu verdichten. Jedes der drei Kinder fürchtete die Minute, da die Nebelschwaden sich zu einer einzigen grauen Masse zusammenziehen und ihnen die Sicht nehmen könnten. In diesem grauen Wattedunst konnte sich alles verbergen, und das war es, was ihnen Angst machte: das Unbekannte, das Nichtgreifbare, das Unerklärliche.

Unbewusst beschleunigten sie ihre Schritte. Die dunklen Wolken sorgten dafür, dass nicht nur der Nebel aufzog, sondern auch die Sonne verborgen war, sodass es nun weit vor der Zeit zu dämmern begann. Zusätzlich wurde das Licht noch durch die mächtigen Baumkronen gedämpft, die den Weg überdachten. Das Zwielicht wuchs und damit auch die Angst.

Sie kamen an die Abzweigung, die zum Brunnen führte, aber gingen daran vorbei, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden. Sie schwiegen immer noch, weil jeder viel zu sehr damit beschäftigt war, die eigene aufkeimende Angst zu bekämpfen, zu verhindern, dass der Samen der Furcht aufging.

Schließlich war es Hagen, der das Schweigen brach. Er konnte seinen Verdacht nicht mehr für sich behalten. Stolz hin oder her, es war besser, darüber zu reden.

»Hört mal«, begann er vorsichtig. »Ich habe das Gefühl, dass uns jemand beobachtet.«

Siggi und Gunhild sahen Hagen an, ohne im Laufen einzuhalten. Dann blickten sie sich automatisch um, konnten aber nichts entdecken - was nichts heißen wollte, denn die Bäume verschwammen im Nebel, und dunkler wurde es auch. Das Zwielicht konnte den Augen leicht einen Streich spielen.

Irgendwo knackte ein Ast.

»Was - was war das?«, fragte Siggi, und er bemühte sich nicht einmal, seine Stimme furchtlos und unerschrocken klingen zu lassen. »Da war doch ein Geräusch.«

Ein Blitz leuchtete für einen Moment durch die Baumkronen und tauchte den Wald und das dichte Unterholz in ein unwirkliches Licht. Augenblicke später grollte der Donner, schon bedeutend näher als zuletzt.

»Ich glaube, da ist jemand, der uns verfolgt«, sagte Hagen noch mal. Auch seine Stimme hatte an Festigkeit verloren. »Ich spüre es schon die ganze Zeit, seit wir den Rastplatz verlassen haben. Da ist einer hinter uns.«

»Ach was«, sagte Gunhild. Wenigstens sie versuchte noch, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Die Typen, die unsere Räder demoliert haben, würden uns doch nicht nachschleichen. So wie die sich aufgeführt haben, hätten wir es gleich mit denen zu tun gekriegt.«

»Aber das Geräusch ...?«, wagte Siggi einzuwerfen.

»Das war bestimmt ein Tier«, entgegnete Gunhild, wobei sie keineswegs selbst überzeugt war von dem, was sie als Begründung anbot. Sie erinnerte sich plötzlich an den Donnerschlag am Brunnen; auch der war nicht zu erklären gewesen ...

»Aber ich bin mir sicher«, sagte Hagen. »Da ist wer.«

»Solange er uns nur beobachtet, geht es noch. Außerdem sind wir zu dritt«, entgegnete Gunhild.

Das Mädchen entdeckte einen Stock am Wegrand und nahm ihn auf. Es war ein abgebrochener Ast einer Eiche.

»Sucht euch auch einen Knüppel«, sagte sie. »Den könnt ihr auch als Wanderstab benutzen.«

Die Jungen sahen sich um, und sie fanden auch jeweils einen massiven Stock, den sie als Waffe einsetzen konnten.

»Weiter jetzt«, kommandierte Gunhild. »Das Gewitter rückt näher.«

Als ob der Himmel ihre Worte bestätigen wollte, zuckte wieder ein Blitz über den Himmel, unmittelbar gefolgt von einem Donnerschlag.

Sie rannten weiter. Der Weg schien sich ewig lang hinzuziehen. Der immer dichter werdende Nebel, die einsetzende Dunkelheit und der düstere Wald schienen Hagen jede Orientierung unmöglich zu machen. Er sah sich immer wieder um; denn es war, als bohrten sich Blicke in seinen Nacken.

»Wisst ihr noch, wo es lang geht?«, fragte er besorgt.

»Na klar«, entgegnete Gunhild. »Wir müssen diesen Weg noch ein Stück folgen, dann kommt eine Abzweigung; auf der geht es dann weiter nach unten.«

Siggi war sich nicht so sicher. Der Waldgasthof war ein Ziel für Wanderer und Touristen. In diesen Teil des Waldes kamen Gunhild und er selten, und innerlich verfluchte er sich dafür, den Vorschlag mit dem Gasthof gemacht zu haben. Aber alles Gejammer half nun nicht mehr. Sie mussten sich auf Gunhilds Orientierungssinn verlassen.

Auch Gunhild war sich längst nicht mehr sicher, ob sie auf dem richtigen Weg waren. Alles war so verzerrt, und es wurde immer nebeliger und gespenstischer, und wenn nicht ein Blitz Licht spendete, war die ganze Welt in ein ungewisses Dämmerlicht gehüllt, das ihr mehr zu schaffen machte, als sie zugeben wollte.

»Weiter geht's, Jungs«, munterte sie ihre beiden Gefährten auf. »Wir können noch trocken zum Gasthof kommen. Es scheint, das Gewitter bleibt an einem der Berge hängen.«

Gunhild hatte richtig beobachtet. Blitz und Donner kam nicht näher. Auch der Regen hatte noch nicht eingesetzt. Nur der Nebel wurde immer noch stärker.

Sie packten ihre Stöcke, die im Moment als Wanderstäbe dienten, fester und hasteten weiter den Weg entlang.

Dann stießen sie auf eine Abzweigung und blieben stehen. Nach rechts führte ein weniger gut ausgebauter, schmaler Weg. Das Unterholz und die Bäume reichten bis an die Ränder des Weges; die Baumkronen bildeten quasi ein Dach, sodass kaum Licht auf den Boden fiel. Siggi fiel gleich der Vergleich mit einem Tunnel ein.

Am Wegweiser hingen die leeren Haken. Kein Schild zeigte die Richtung an. Gunhild blieb stehen und versuchte, sich daran zu erinnern, ob der Weg sie zum Waldgasthof brachte oder in eine andere Richtung führte.

»Ist das der Weg, den wir gehen müssen?«, fragte Hagen.

»Sieht unheimlich aus. Ich glaub' nicht, dass das der richtige ist«, mischte sich Siggi ein. »Ich glaube, wir müssen noch weiter und dann nach rechts.«

Gunhild antwortete nicht sofort. Sie versuchte, sich zu erinnern. Eine innere Stimme sagte ihr, dass dies der Weg war, dem sie folgen mussten. Aber sie war sich nicht sicher.

»Wohin also?«, fragte Hagen drängend.

Gunhild sah ihn an. Das Licht eines Blitzes erhellte sein Gesicht, und Gunhild erschrak. Sie meinte, in eine verzerrte Fratze zu blicken. Aber so schnell der Eindruck gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder. Es war wohl doch nur das Licht; denn als der Schein verblasst war, sah Hagens Gesicht so aus wie immer.

»Rechts. Ich bin mir sicher, Vati hat gesagt, das wäre eine Abkürzung«, sagte sie und versuchte dabei ihre Stimme bestimmt und klar klingen zu lassen. Doch Siggi kannte seine Schwester gut genug, um die Zweifel darin zu hören. Er sagte aber nichts, da er selbst nicht weiter wusste.

»Na dann, auf geht's«, ließ sich Hagen vernehmen, der von Gunhilds Unsicherheit nichts bemerkt zu haben schien.

Die drei Kinder bogen in den schmalen Weg ein, auf dem Gräser wuchsen und der offensichtlich selten benutzt wurde. Immerhin war der Nebel auf diesen Pfad dünner; denn die Bäume hielten ihn zurück. Dafür war es hier dunkler, da die Baumkronen das spärliche Licht noch weiter dämpften. Es war fast wie in einer Vollmondnacht, wie Gunhild bei sich dachte. Das Licht war ungewiss, und die Schattenspiele von Ästen, Zweigen und Unterholz waren verwirrend; sie vermied den Begriff Angst.

Der Weg führte leicht bergab, stellte Siggi fest, und er wusste, dass der Waldgasthof weiter unten lag, also konnte der Pfad nicht völlig verkehrt sein. Und immerhin, er war von Menschen angelegt, und Hinweisschilder hatte es hier auch gegeben. Den Blick fest auf den Boden gerichtet, achtete Siggi nur darauf, wo er hinlief. So musste er sich nicht die Spiele des Zwielichts ansehen, und seine Augen konnten ihm keine Dinge vorgaukeln, die es in Wahrheit nicht gab, die einfach nur eine optische Täuschung waren, auf die er reinfiel. Langsam und schleichend kehrte die Furcht zurück; der Knüppel in seiner Hand gab ihm nur scheinbare Sicherheit.

Sie waren ein Stück weit gegangen, als sie eine Kreuzung erreichten. Ein noch schmalerer Pfad lief parallel zu dem oberen Weg, den sie soeben verlassen hatten.

»Da ist ein Hinweisschild«, sagte Hagen, und alle drei gingen darauf zu.

Es war ein altes verwittertes Schild, das kaum noch zu entziffern war. Offenbar gehörten diese Pfade gar nicht mehr zum Netz der offiziellen Wanderwege, sondern in das Projekt, den Wald wieder naturnäher zu gestalten.

»Was steht drauf?«, fragte Siggi.

» ›Odenhausen 9 Kilometer‹ «, begann Gunhild laut zu lesen. » ›Waldgasthaus Lindenhof 4 Kilometer‹. Also müssen wir weiter nach unten. Dann sind wir bald da.«

Gunhild hatte wieder an Sicherheit gewonnen. Sie schritt geradeaus. Ihre Zweifel waren verflogen; nun hatte sie wenigstens einen Hinweis, wo es lang ging. Die Jungen folgten ihr nach.

Ein Blitz drang mit fahlem Leuchten durch das Blätterdach, und der darauf folgende Donner klang wieder ein Stück näher. Gunhild konnte das nicht mehr erschrecken. Sie mochten noch ein wenig nass werden, aber verlaufen würden sie sich nicht. Außerdem, sagte sich Gunhild, hatten sie eine prima Ausrede für ihre Verspätung. Die Trümmer der Räder oben am Rastplatz sprachen für sich.

Der Weg wurde immer schmaler. Das Gebüsch des Unterholzes rückte immer näher an den Wegrand. Es war, als würden sie durch einen enger werdenden Schlauch gehen. Immer öfter sahen sie im fahlen Licht der Dämmerung Brombeerbüsche an den Seiten, die einen undurchdringlichen stacheligen Verhau bildeten.

Siggi hatte das Gefühl, in eine Falle zu laufen. Er packte seinen Knüppel fester, nicht dass es viel geholfen hätte.

Ihre Gespräche hatten die drei inzwischen völlig eingestellt, und sie machten einfach nur erschöpft einen Schritt nach dem anderen. Es mussten noch mehr als drei Kilometer sein, bis sie ihr Ziel erreichen würden.

Die Furcht griff wieder mit klammen Fingern nach ihren Herzen. Sie kam mit dem Nebel, der nun auch diesen Hohlweg mit seinem grauen Tuch zudeckte. Er kroch ihnen vom Tal her entgegen, verdichtete sich, bis sie keine zwanzig Meter weit sehen konnten. Zur Rechten und Linken gab es ohnehin nur das dichte Unterholz des Waldes, die Dornenranken und die hohen Bäume. Vor ihnen und hinter ihnen war nur noch eine graue, wallende Masse.

Ihre Schritte auf dem halb überwucherten Weg, der Donner und ihr Atem waren die einzigen Geräusche, die sie hörten. Alles war irgendwie unwirklich. Die Welt schien sich zu verändern, die Landschaft schien wieder so zu sein wie zu Zeiten Siegfrieds, des Drachentöters, Hagens und Kriemhilds. Der Wald bekam etwas Sagenhaftes, aber nicht die Leichtigkeit und Lebensfreude eines Feenwaldes; vielmehr wirkte er bedrohlich. Der Nebel war wie der Atem des Lindwurms, und die Bäume sahen im Dunst aus wie Riesen, die mit ihren Ästen, langen Armen gleich, nach ihnen greifen wollten. Das Donnergrollen in der Ferne klang wie das Schnauben des Drachen, und die Blitze, die manchmal noch als fahles Licht durch die grauen Schleier drangen, wirkten wie die Flammenstöße aus seinem feurigen Schlund.

Nur Siggi fühlte sich nicht wie ein Drachentöter. Er wünschte sich nur, diese Wanderung würde ein Ende finden. Er betete, die Lichter des ›Lindenhofs‹ vor sich zu sehen, in eine warme Stube zu kommen und die Eltern anrufen zu können, die ihn dann abholen und diesen Albtraum beenden würden.

Hagens rechte Hand steckte in seiner Tasche. Sie hielt krampfhaft den Ring umklammert, den er gefunden hatte. Er schien ihm Kraft und Selbstbewusstsein zu geben. Mit ihm kämpfte Hagen den stummen Kampf gegen die Furcht, die wieder aufgekommen war. Wie Siggi umklammerte auch er seinen Knüppel, wenngleich mit der Linken, doch alles half nichts. Die Angst kroch seine Glieder hoch. Dieser Nebel dämpfte alles; und mehrmals ertappte er sich dabei, wie er zusammenzuckte, weil er meinte, vor ihnen wäre jemand, aber dann entpuppte sich diese Erscheinung, wenn sie sich langsam aus dem Nebel schälte, als toter Baum oder ein merkwürdig gewachsenes Gebüsch.

Dennoch wurde Hagen das Gefühl immer noch nicht los, beobachtet zu werden. Tausend Augen schienen sich in seinen Rücken zu bohren. Aber wenn er sich umwandte, sah er nichts als den Nebel oder das Unterholz an ihrer Seite.

Auch Gunhild war es unheimlich, und wie die Jungen umklammerte sie mit festen Griff ihren Knüppel. Sicher, der Weg führte zum Waldgasthof, aber all das wirkte bedrohlich auf sie. Und die Bedrohung war nicht greifbar. Ein Stock war da wenig nütze. Der Nebel und das Zwielicht spielten auch ihr manchen Streich, und ein paarmal war sie kurz davor, ihren Stock zu erheben; aber da war nichts, auf das sie hätte einschlagen können.

Glücklicherweise hatten sie sich nicht verlaufen oder die ausgebauten Wege verlassen, denn sonst würde alles noch viel schlimmer sein. Bei diesem Wetter konnten sie an jeder menschlichen Behausung um ein paar Meter vorbeimarschieren oder die ganze Nacht im Kreis laufen.

Alle drei hatten Hunger und Durst, aber ihre Angst überlagerte das Verlangen nach Essen und Trinken. Wichtiger war für sie, dass dieser Weg endlich ein Ende fand.

Sie hatten jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren und folgten einfach nur der Richtung, die ihnen der Weg wies. Noch immer ging es bergab, und keiner von den dreien wusste, wie viel von der Strecke sie schon hinter sich und was noch vor sich hatten. Siggi sah auf seine Uhr. Sie war stehen geblieben. Die Batterie war wohl alle.

»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er, und als er seine eigene Stimme hörte, fühlte er sich sofort besser, denn das lenkte ihn von seiner Furcht ab.

»Ich weiß nicht«, antwortete Hagen. »Ich trage keine Uhr. Wo ich herkomme, da gibt's überall welche.« Es klang fast wie ein Vorwurf, als wollte er sagen: Da bin ich nun aus einem zivilisierten Land hergekommen, um bei Nacht und Nebel durch einen Wald zu laufen.

Gunhild sah auf ihre Armbanduhr. »Meine ist stehen geblieben«, sagte sie. »Was ist mit deiner, Siggi?«

»Meine steht auch«, entgegnete Siggi. »Ist deine Batterie auch alle?«

»Muss wohl«, Gunhilds Stimme war voller Zweifel.

»Du hast doch erst gestern 'ne neue Batterie bekommen. Wir waren doch auf dem Weg zum Bahnhof im Laden und haben das Ding auswechseln lassen«, meinte Siggi und blickte sich verstohlen um.

»Vielleicht hat die Tante im Laden die neue Batterie in den Sondermüll geworfen und mir die alte wieder eingebaut. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die mir einfällt.«

Das Gespräch schlief wieder ein, und die drei marschierten weiter durch die Dämmerung. Immer noch rumorte das Gewitter, aber es schien nicht wesentlich näher zu rücken. Es hing wie eine entfernte Drohung über ihnen, die jederzeit herniederkommen konnte.

Plötzlich standen sie wieder an einer Kreuzung. Ein Weg, der ebenso überwuchert war wie der ihre, brach sich seine Schneise aus dem wuchernden Unterholz, wie eine Bresche in einer Mauer. Auf der anderen Seite verschwand er wieder im Dunkel. Ein umgestürzter Wegweiser lag mitten auf der Kreuzung. Die Bruchstelle war alt und bereits von Moos überwuchert, ein Zeichen dafür, dass hier lange kein Waldarbeiter mehr vorbeigekommen war, aus welchen Gründen auch immer.

Gunhild beugte sich über den Pfahl, und las ›Lindenhof 3 Kilometer, Odenhausen 10 Kilometer‹ und ›Rhein 15 Kilometer‹.

Dann untersuchte sie die Bruchstelle und sah sich den Pfahlstumpf an, der wie ein anklagender Finger in den Nebel ragte. Dann erhob sie sich und stellte sich vor, wie der Wegweiser einst gestanden hatte.

»Wir müssen hier nach links«, verkündete sie und schob nach: »Wenn ich mich nicht irre.«

»Hoffentlich irrst du dich nicht«, entfuhr es Siggi.

»Ja, hoffentlich«, gab Gunhild zurück.

»Wir werden es nie herausfinden, wenn wir rumstehen und reden«, gab Hagen sich forsch. »Bisher hat sie Recht behalten. Warum also nicht auch jetzt? Lasst uns gehen!«

Hagen ging voran. Er war stolz auf sich. Jetzt war es ihm gelungen, seine Angst vor den anderen zu verbergen. Dabei konnte er fast körperlich die Blicke dessen oder derer spüren, die ihnen auf den Fersen waren, aber er verheimlichte seine Gefühle. Keiner sollte sagen, er sei ein Feigling. Er würde es allen schon zeigen. Seine Hand hielt bei diesen Gedanken den Ring fest umklammert...

Siggi und Gunhild folgten Hagen, holten ihn ein und gingen zu zweit hinter ihm. Mehr Platz war auf dem Weg nicht. Nebeneinander gehend, streiften sie mit den Armen bereits das Unterholz. Groß und bedrohlich ragten die Stämme der Bäume aus dem Gebüsch hervor, Riesen gleich, die über den Weg wachten.

Gunhild fühlte sich alles andere als wohl. Sie hatte entschieden. Hatte sie sich geirrt, würden sie noch lange durch den Wald stapfen, und dabei wollte sie nichts als hier raus. Sie würde sich sogar das Fußballspiel im Fernsehen anschauen, wenn sie bloß so schnell wie möglich aus diesem verfluchten Wald herauskämen.

Der Nebel umgab sie wie eine bewegliche Wand, die sich vor ihnen zurückzog und hinter ihnen hergeschoben wurde. Die Mauer war weich und nachgiebig, aber zugleich undurchdringlich. Die Blitze wurden zu fahlen Lichtreflexen am Himmel, die Dämmerung schritt voran, und das Donnern drang nur noch gedämpft zu ihnen durch. Siggi glaubte in eine Welt aus Watte zu gehen.

Der Weg war völlig mit Moos und Gräsern überwuchert, die ihre Tritte dämpften, sodass sie kaum ihre eigenen Schritte hörten.

Ein Zweig knackte laut im Wald ...

Siggi erschrak fürchterlich. Er hob seinen Knüppel, doch er vermochte nicht zu sagen, woher das Geräusch gekommen war. Vielleicht von links. Auch Hagen und Gunhild hatten ihre Stöcke erhoben. Eine leichte Brise bewegte die grauen Schleier, die sich aber kaum öffneten, nur träge wallten. Reglos standen die drei, die Knüppel zur Abwehr erhoben. Verzweifelt starrten sie in das dichte, dornige Gebüsch und den Nebel und konnten nichts erkennen.

Gunhild wandte sich um, wollte den Weg fortsetzen. Dann erstarrte sie.

»Da ... da vorne ist jemand ...«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Da!«, rief sie und streckte den Zeigefinger aus.

Siggis und Hagens Köpfe ruckten herum. Auf Anhieb entdeckten sie nichts, aber dann sahen sie es auch.

Vielleicht fünfzehn Schritt vor ihnen, an der Grenze ihrer Gesichtskreises, stand einer. Das unstete Licht, die Nebelschwaden und die Angst der Kinder ließ die Gestalt grotesk und verzerrt wirken, fast wie einen Zwerg. Sie schien nicht größer als sie zu sein, wirkte aber kompakter und muskulöser. Die Kleidung, soweit man etwas davon erkennen konnte, sah seltsam aus. Sie wirkte altertümlich: ein dunkles Wams, das metallisch blinkte, und eine derbe Hose. Vom Gesicht des Wesens war nichts zu erkennen.

Dann war die Gestalt verschwunden, lautlos, wie vom Erdboden verschluckt, als wäre sie nie da gewesen.

Erstarrt standen die Kinder auf dem Pfad, ihre Knüppel wie Schwerter erhoben. Ihr Atem ging flach, der kalte Schweiß stand ihnen auf der Stirn, und das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie in den Nebel, aber es war niemand zu sehen. Keiner wagte, sich zu rühren, und keiner der drei vermochte zu sagen, wie lange sie so dagestanden hatten. Weder Siggi noch Gunhild, ja, nicht einmal Hagen scherte sich noch darum, die Furcht zu verbergen, die sie in Bann geschlagen hatte.

»Was ... was war das?«, entfuhr es Siggi schließlich.

»Ich ...«, begann Gunhild, sie konnte aber nicht weitersprechen; die Worte blieben ihr im Halse stecken.

»Keine Ahnung«, sagte Hagen. »Aber es sah nicht sehr Vertrauen erweckend aus.« Er hielt den Knüppel nun mit beiden Händen umklammert und starrte wie die beiden anderen mit geweiteten Augen, als könnte er damit den Nebel durchdringen und das Wesen auf die Stelle bannen, wo es erschienen war.

Im Wald hinter ihnen knackte ein Zweig. Das Geräusch ließ die Kinder herumwirbeln. Hinter ihnen war noch jemand. Oder war es die Gestalt von eben?

Die Kinder wagten kaum, sich zu bewegen. Sie warteten wie Kaninchen vor der Schlange, was noch passieren würde. Sie starrten hinter sich in den Nebel, aber weder der Nebel noch das Dickicht des Unterholzes gab die Sicht auf den Wald oder auch nur den Weg frei.

»Seht!«, schrie Hagen förmlich, der sich inzwischen einen Dreck darum scherte, ob sie ihn Hasenfuß rufen würden oder nicht. »Seht da!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Da kommen drei...«

Er ließ den Satz unvollendet. Aus dem Nebel schälten sich drei Schatten. Sie sahen fast so verzerrt und grotesk aus wie die Gestalt, die sie vor sich auf dem Weg gesehen hatten. Schweigend, bedrohlich kamen sie heran.

»Lauft!«, rief Gunhild aus. »Lauft!« Sie warf ihren Knüppel weg und rannte los.

Auch die beiden Jungen schüttelten die Erstarrung ab und rannten. Ihre Stöcke ließen sie achtlos fallen; Flucht war ihr einziger Gedanke.

Sie liefen um ihr Leben; durch das Zwielicht, durch den Nebel, einfach nur weg. Das Gras und das Moos des Weges schluckten ihre Schritte, machten alles noch unheimlicher. Weg, nur weg! Ihr keuchender Atem und das entfernte Grollen des Donners waren die einzigen Geräusche, die sie hörten.

»Lauft!«, keuchte Gunhild, die voraus rannte. Sie liefen, wie sie noch nie gelaufen waren.

»Da vorn!«, schrie Hagen und wies auf vier Gestalten, die von rechts aus dem Unterholz brachen. Sie sahen den von vorhin in ihrer Erscheinung ähnlich. Die gleiche altertümliche Kleidung, die gedrungene, muskulös wirkende Gestalt, die geringe Größe.

»Nach links«, rief Gunhild aus, und die drei liefen zwischen zwei Büschen in den Wald hinein, fort von dem Weg. Sie hetzten durch den Wald, kämpften sich an Sträuchern vorbei, wichen den gewaltigen Baumstämmen aus. Sie rannten fast schon automatisch; die Angst stand in ihren Gesichtern.

»Da sind wieder welche!«, keuchte Siggi und wechselte die Richtung. Jetzt wusste er, wie sich das Wild bei einer Treibjagd fühlen musste, und etwas anderes waren sie wohl auch nicht als - Jagdbeute.

Unheimlich waren ihre Verfolger, aber das Erschreckendste an ihnen war nicht ihre Erscheinung, sondern die Lautlosigkeit, mit der sich die Jagd vollzog. Die Schattengestalten bewegten sich ohne jedes Geräusch; sie sprachen nicht einmal.

Wenn ihnen diese Wesen wohlgesinnt waren, so hätten sie etwas gesagt, aber nein, sie hetzten sie in völligem Schweigen. Sie tauchten aus dem Nichts immer wieder auf und trieben sie kreuz und quer durch den Wald. Die drei Kinder hatten inzwischen völlig die Orientierung verloren und rannten einfach nur noch blindlings drauflos.

Ihre Verfolger schienen keine Eile zu haben. Sie begnügten sich damit, die Kinder vor sich her zu treiben. Wann sie ihre Beute zur Strecke brachten, schien ihnen egal zu sein.

Die Kinder hatten keine Ahnung, wie viele es waren. Immer waren es drei oder vier, die ihnen den Weg versperrten oder sie aufzuhalten versuchten. Dabei kamen sie ihnen selten so nahe, dass sie zugreifen konnten; aber das war wohl nur eine Frage der Zeit.

»Da sind sie wieder!«, schrie Gunhild, und ihre Stimme überschlug sich fast. »Seht! Da!«

Sie wichen wieder aus. Plötzlich hatten sie wieder einen Weg unter ihren Füßen.

»Bleibt auf dem Weg! Da sind wir schneller«, keuchte Gunhild.

»Wenn sie uns lassen«, entgegnete Hagen.

Sie rannten den Waldweg entlang, versuchten verzweifelt, Abstand zu ihren Verfolgern zugewinnen, die ihnen aber mühelos folgen konnten oder sie sogar zu überholen vermochten.

»Da vorne!«, rief Hagen aus. Aus dem Nebel schälten sich vier der grotesken Gestalten in ihren altertümlichen Kleidern. Sie standen einfach nur da. Die Kinder schlugen einen Haken, rannten wieder durch das Unterholz, holten sich blutige Striemen an Dornenranken, rissen sich Arme und Beine auf, aber sie rannten.

Plötzlich wuchs vor ihnen eine Felswand auf. Sie war zehn Meter hoch, steil, und man konnte daran auf keinen Fall hochklettern. Der graue Fels war wie die Mauer eines Gefängnisses, und Siggi wusste, sie waren die Gefangenen.

»Wohin jetzt?«, fragte Hagen, nach Luft ringend.

»Runter. Bergab!«, gab Gunhild knapp zur Antwort. Sie liefen die Wand entlang. Der Weg an der Felswand war uneben und voller Steine, denen sie ausweichen mussten.

Ohne Vorwarnung stießen sie auf eine gewaltige Brombeerhecke, die von der Felswand in den Wald hineinführte. Gunhild, die vorne lief, gelang es gerade noch, anzuhalten.

»Vorsicht, Brombeeren!«, stieß das Mädchen hervor. Die Kinder standen vor einem Wall aus Dornen und Ranken.

»Wohin?«, fragte Siggi.

»Hier entlang. Die Büsche müssen irgendwo aufhören«, wies Gunhild den Weg in den Wald. »Zurück können wir nicht!«

»Okay«, keuchte Hagen. »Weiter.«

Sie rannten die Brombeerhecke entlang, wieder in den Wald hinein. Ihnen kam es vor, als nähme dieser grüne, stachelige Wall kein Ende, als würden sie ewig an der lebenden Wand entlanghetzen müssen.

Endlich erreichten sie das Ende der Hecke; sie wollten drum herumlaufen, um weiter ins Tal zu rennen, aber wie aus dem Nichts schälten sich drei Gestalten aus dem Nebel und versperrten ihnen den Weg nach unten.

»Die treiben uns in die Enge«, keuchte Gunhild.

Sie rannten weiter geradeaus, in die einzig mögliche Richtung. Alle drei liefen sie fast nur noch mechanisch. Nicht ihr Bewusstsein steuerte die Bewegung; es war nur der Instinkt, der sie antrieb.

Der Moment, an dem sie erschöpft zusammenbrechen würden, kam näher und näher ...

»Lauft ... lauft«, Gunhild versuchte, die anderen und vor allem sich selbst anzutreiben, um auch die kleinste Chance zu nutzen, diesem Spuk noch zu entkommen. »Lauft... lauft«, kam es im Rhythmus ihrer Schritte.

Ein Zaun stoppte sie. Dahinter ein Abgrund. Über zwanzig Meter ging es steil hinab. Durch den Nebel und die herrschende Dämmerung war es ihnen unmöglich, zu erkennen, wo es einen Weg, einen Stieg nach unten gab.

Einen kurzen Moment hielten die Kinder inne. Ihre Lungen brannten. Atemnot und die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage schnürten ihnen die Kehle zu.

»Was wollen die?«, sagte Siggi keuchend, und gleich darauf musste er husten.

»Weiß nicht«, sagte Hagen. »No idea!«

»Auch kein' Schimmer«, sagte Gunhild knapp.

Keiner von ihnen konnte viel sprechen. Der Durst, der sie nun mit Macht überfiel, und die knappe Luft, die Erschöpfung und die Müdigkeit ließen keine langen Gespräche zu.

»Weiter!«, kommandierte Gunhild. »Vielleicht kommen wir nach unten durch!«

Ohne weitere Worte wollten sie loslaufen, aber von unten kamen gleich drei Gruppen dieser zwergenartigen Geschöpfe lautlos durch den Nebel auf sie zu. Ihnen blieb nur noch der Weg nach oben. Sie warteten nicht ab, um endlich die Gesichter der Wesen erkennen zu können. Keiner von ihnen war neugierig genug, ihre Verfolger dicht genug herankommen zu lassen.

Taumelnd, schwankend kletterten sie bergauf. Von links sahen sie noch zwei Gruppen wie Gespenster aus dem Dunst hervortreten.

»Hört ihr das?« Siggis Stimme war heiser. »Was ist das?«

»Was?«, fragte Hagen zurück.

»Lauscht!«, rief Siggi.

»Gesang ...?« Gunhilds Stimme klang unsicher.

In der Ferne klang Gesang auf, aber es war kein fröhliches Lied, das da gesungen wurde. Die Weise hatte etwas Bedrohliches. Aber da waren noch mehr Geräusche. Dumpfer Trommelschlag, Schreie und das Klirren von Metall auf Metall.

»Was ist da los?«, wollte Siggi wissen.

»Das hört sich fast an ... wie eine altertümliche Schlacht...«, sagte Hagen ungläubig.

»Und wir werden dahin getrieben.« Gunhilds Stimme war voller Furcht.

Doch ihnen blieb keine wirkliche Wahl: Entweder die Gestalten hinter ihnen schnappten sie, oder sie rannten in die Schlacht oder was immer das für ein Getöse war.

»Weiter! Es ist unsere einzige Chance ...«, gab Gunhild wieder das Kommando.

Siggi spürte die Verzweiflung aufsteigen. In was für ein Abenteuer waren sie hineingeraten? Sie wurden von unheimlichen Gestalten durch den Wald gehetzt; vor ihnen tobte eine Schlacht mit Schwertern ... Er wünschte, er würde schreiend aufwachen, aber nichts geschah. Siggi spürte die schmerzenden Wunden, welche die Dornen und Ranken der Brombeeren gerissen hatten. Da wusste er endgültig, dass er nicht träumte; denn im Traum hat man keine Schmerzen, man spürt sie nicht, weil sie in Wirklichkeit nicht da sind.

Aber aufgeben wollte er nicht. Er konnte sich genauso lange auf den Beinen halten wie Gunhild oder Hagen. Er würde laufen, bis sie alle entkommen waren oder bis sie ...

»Hierher!«

Eine Stimme drang an Siggis Ohr und riss ihn aus seinen Gedanken. Die Kinder blieben abrupt stehen; starr vor Schreck starrten sie vor sich durch das dämmerige Zwielicht, wo der wabernde Nebel von einer plötzlichen Bö aufgerissen wurde. Ein Blitz schuf einen wilden Lichtreflex, und in diesem Moment löste sich eine hoch gewachsene Gestalt aus den Schatten der Bäume.

Es war ein Mann, der ein weiten Umhang und einen tief herabhängenden Schlapphut trug, sodass seine Gesichtszüge unkenntlich blieben. Er stützte sich auf einen langen Stab. Auf seiner Schulter hockte ein großer schwarzer Vogel; aus dem Geäst über ihm flog ein Schatten heran. Siggi, Gunhild und Hagen fuhren zusammen. Der Mann lachte. Es war ein Vertrauen erweckendes, beinahe väterliches Lachen.

»Beruhigt euch, Kinder! Geht hier entlang, und folgt den Raben! Sie werden euch den Weg weisen. Folgt ihnen, und ihr kommt in Sicherheit!«

Der Nebel, der alle Geräusche dämpfte, gab der tiefen Stimme etwas seltsam Zwingendes, als hielte die Welt für einen Augenblick den Atem an. Einen Moment schien der Mann angespannt zu lauschen, dann winkte er ihnen mit seiner Linken.

»Beeilt euch, und habt keine Angst. Folgt nur den Raben ...«, sagte er dann und verschwand im Schatten der Bäume.

Die Vögel flogen auf, und die Kinder setzten sich in Bewegung, ohne ein Wort miteinander zu wechseln oder sich auch nur anzusehen. Es war nicht notwendig. Aber darüber dachte keiner von ihnen nach. Es war das Einzige, was sie tun konnten.

Es schien, als wüssten die beiden Raben genau, was von ihnen verlangt wurde. Siggi wusste, Raben und Krähen waren kluge Vögel, denn sein Onkel Rolf hatte mal eine Rabenkrähe gehabt, und dieses schwarze Huhn, wie Onkel Rolf immer gesagt hatte, war verdammt schlau gewesen. Aber noch am hellen Nachmittag auf dem Berg hätte Siggi abgestritten, dass diese Vögel imstande wären, Menschen durch einen Wald zu führen. Doch diese Vögel schienen es zu können. Sie kreisten langsam vor ihnen zwischen den Bäumen. Auf wundersame Weise teilte sich der Nebel, und es wurde nie zu dämmerig, sodass sie die Raben nie aus den Augen verloren.

Dann schwebten die Raben über dem Hang, und insgeheim hegte Siggi die Befürchtung, dass ihr Weg nun zu Ende war, aber ein kleiner, gar nicht mal so schmaler Grat führte nach unten.

Sie folgten dem Weg, ohne zu zögern. Die Raben hingen in völliger Stille und Erhabenheit über ihnen und schienen über sie zu wachen. Der Schlachtenlärm, das dumpfe Trommeln und der bedrohliche Gesang blieben allmählich zurück, vermischten sich mit einem Donnergrollen, und als die Kinder den Abstieg beendet hatten, war nichts mehr davon zu hören.

Unten war kein Weg im Wald, aber ihre gefiederten Führer wussten, welche Richtung sie einschlagen mussten. Die Kinder rannten längst nicht mehr, sie konnten den Vögeln im Schritt folgen.

Der Weg dehnte sich, und weder Siggi noch Gunhild und erst recht nicht Hagen hatte eine Ahnung, wo sie eigentlich genau waren. Riesige Farne und Sträucher wuchsen vor ihnen auf. Das Unterholz war dicht, aber ihre fliegenden Führer verloren sie nie aus dem Blick. Der Nebel schien immer da von einer Brise fortgetragen zu werden, wo sich die Raben aufhielten. Manchmal erleuchtete ein Blitz gerade im rechten Moment besonders dunkle Stellen, sodass man erkennen konnte, wohin es ging.

Kein Wort fiel zwischen den Kindern. Sie waren wie verzaubert und folgten, ohne zu zögern, ohne Angst, Hast und Eile ihren Führern.

Siggi fühlte sich seltsam erfrischt, als hätte er gegessen, getrunken und geschlafen. Ihm war, als wäre er neu geboren. Der Wald schien ihm wieder mehr ein verwunschener Ort als ein Hort des Schreckens zu sein; es war, wie sich Siggi dachte, eigentlich doch ein netter Wald. Keiner der dunklen Schatten schien mehr eine Gefahr zu bedeuten. Die Kinder sahen sich gar nicht mehr nach ihren zwergenhaften Verfolgern um; sie fürchteten gar nicht mehr, einer könnte in der Nähe sein, und sie hetzen, jagen und ...

Keiner von den dreien fragte sich, wohin die Raben sie führten. Sie alle waren umgeben von Geborgenheit, Sicherheit und einer seltsamen Ruhe. Für die drei stand außer Frage, dass die Raben sie auf einen Weg geleiteten, der sie nach Hause und in die Obhut der Eltern bringen würde. Wo dieser Weg entlangführte, interessierte sie nicht; wichtig war das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Das gelegentliche Grollen des Donners klang in ihren Ohren nur noch wie eine ferne Erinnerung an schlimme Zeiten, aber ein Blick auf die majestätische Erhabenheit, mit der die Raben durch den Wald flogen, ließ selbst diese Erinnerung schwinden.

Sie hatten keine Vorstellung davon, wie lange sie so gegangen waren. Zeit spielte im Moment keine Rolle mehr. Alles würde gut werden, das war das Wichtigste.

Ohne Vorwarnung traten sie aus dem Wald heraus und standen vor einer Felswand, in der ein großes dunkles Loch klaffte, eine der zahlreichen, uralten Höhlen dieser Gegend, die zu Abenteuern einluden.

Noch vor kurzer Zeit hätte die Kinder der Anblick dieses Schlundes in helle Panik versetzt, aber diese Höhle löste kein Erschrecken aus. Die innere Ruhe, die sie erfüllte, ließ sie der Dinge harren, die da kommen mochten.

Die beiden Vögel kreisten vor der Höhle, und im Chor stießen beide einen weithin hörbaren Schrei aus, der in den Ohren der Kinder wie Musik klang. Jeder von ihnen fragte sich, wieso Raben einen so üblen Ruf hatten. Diese beiden hier konnten nicht dafür verantwortlich sein. Sie waren majestätische Vögel, und sie schienen sich dessen bewusst zu sein.

Die Raben flogen den vor der Höhle hängenden Ast einer uralten Eiche an und ließen sich darauf nieder. Dort ordneten sie ihr Gefieder, nicht hektisch, sondern als hätten sie alle Zeit der Welt. Dann schienen sie zu Statuen zu erstarren, Wächtern gleich, die auf ein Ereignis warteten.

»Wir sollen doch wohl nicht in die Höhle gehen?«, fragte Siggi und brach das Schweigen.

»Ich weiß nicht«, sagte Hagen. »Eigentlich will ich nicht. Es ist...«

In die Herzen der drei schlich sich wieder für einen Moment der Schatten der Furcht und des Zweifels.

»Kommt«, ertönte da die vertraute Stimme des Mannes mit dem Schlapphut, dem Umhang und dem Stab. »Kommt herein!«

Wie unter einem geheimnisvollen Zwang setzten sich die Kinder in Bewegung. Die Angst und die Bedenken waren wie weggeblasen. In diesem Moment schien die Wolkendecke zu zerreißen, der Nebel wurde durch eine gewaltige Bö weggefegt und das Licht der untergehenden Sonne fiel in die Höhleneingang.

Siggi, Gunhild und Hagen traten in die Höhle, welche sich als langer Tunnel entpuppte, der nach wenigen Metern einen Knick machte. Der Gang war über zwei Meter hoch. Die letzten Sonnenstrahlen zeigten ihnen den Weg. Dann kamen sie um den Knick herum, und das Licht von draußen verließ sie.

Aber dennoch war es nicht völlig dunkel. Von den Wänden der Höhle ging ein fahles Glimmen aus, matt, aber hell genug, dass man die Hand vor den Augen sehen konnte.

Plötzlich spürte Siggi einen Luftzug über sich. Die Raben strichen über sie hinweg ins Höhleninnere. Er versuchte, sie mit den Augen zu verfolgen, aber die schwarzen Leiber verschmolzen allzu bald mit dem dunklen Hintergrund.

Die Höhle reichte weit in den Berg hinein, weiter, als man es erwartet hätte. Je tiefer sie vordrangen, desto heller wurde das Glimmen, das sie umgab. Sie konnten nun Einzelheiten ausmachen. Die Wände waren aus grauem Stein und schienen teils künstlichen, teils natürlichen Ursprungs zu sein. Hier und da glaubte man, Meißelspuren zu erkennen, doch diese gingen in den gewachsenen Fels über, ohne dass man feststellen konnte, wo jener begann. Doch keiner der drei machte eine Bemerkung darüber; wie im Traum gingen sie weiter.

Dann machte der Gang eine weitere scharfe Biegung und weitete sich zu einer Kammer. In diese Kammer mündete von außen nur der Gang, durch den Siggi, Gunhild und Hagen traten, aber auf der anderen Seite führten zwei Öffnungen, die sich in den Ecken der gegenüber liegenden Wand auf taten, in die Tiefe.

Als Erstes fielen Siggi die Raben auf, die auf einem Felsvorsprung einträchtig nebeneinander hockten. Sie sahen ihn an, und es schien ihm, als wären dies eher Zauberwesen denn wirkliche Vögel.

Die vertraute Silhouette ihres Retters stand neben den Felsvorsprung mit den Raben. Keiner der drei Kinder fragte sich, wieso der Mann nach ihrer wilden Flucht durch den Wald vor ihnen hatte hier sein können. Er war eben einfach da. Er stützte sich auf seinen Stab und hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. Ebenso grau wie der Hut war der weite Umhang, der seine Gestalt umhüllte. Langsam wandte der Mann den Kopf, drehte sich betont ruhig zu ihnen um und sah sie an.

Siggi, Gunhild und Hagen fuhren erschrocken zurück. Der Mann, der sie mit Hilfe der Raben im Wald vor den Zwergenwesen gerettet hatte, besaß nur ein Auge.

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