Das leicht verhexte Schützenfest

Die Glocken klangen, die Böller knallten, die vielen fröhlichen Leute fanden kaum Platz auf der Festwiese vor der Stadt. Die kleine Hexe hielt Ausschau nach Thomas und Vroni. Sie drängte sich durch die Menge, der Rabe Abraxas renkte sich fast den Hals aus.

Wo steckten die beiden?

Die zwei saßen tief bekümmert hinter dem Festzelt. Dort fand sie die kleine Hexe nach langem Suchen.

„Nanu!" rief sie kopfschüttelnd. „Solche Gesichter? Wie kann man am Schützenfestsonntag solche Gesichter machen?"

„Wir schon", sagte Thomas. „Der Vater hat unseren Ochsen als Preis gestiftet."

„Den Ochsen Korbinian?" fragte die kleine Hexe.

„Ja", schluchzte Vroni, „als Preis für den Schützenkönig."

„Und der wird ihn schlachten und braten lassen", versicherte Thomas, „und hinterher werden ihn alle Schützen gemeinsam aufessen."

„Wenn aber niemand den Ochsen gewinnen würde?" meinte die kleine Hexe. „Es könnte ja sein..."

„Das kann nicht sein", entgegnete Thomas. „Ein Schützenfest ohne Schützenkönig — das gibt es nicht."

„Ach, es gibt vieles", sagte die kleine Hexe. Sie hatte sich längst einen Plan gemacht. „Kommt nur mit, es wird alles gut werden!"


Zögernd folgten die beiden der kleinen Hexe zurück auf den Festplatz. Dort rückten gerade die Schützen an. Vorneweg, mit gezogenem Säbel, marschierte der Hauptmann; und hinterher trottete, über und über mit Bändern und bunten Schleifen behängen, der Ochse Korbinian.


„Hoch!" riefen alle Leute und reckten die Hälse. Denn alle wollten beim Königsschießen dabeisein und sehen, wer nun den Ochsen gewinnen würde.

„Abteilung — halt!" kommandierte der Schützenhauptmann. Dann ließ er die Musikanten auf ihren Trompeten Tusch blasen.


„Ruhe! Der Hauptmann hält eine Ansprache!" zischten die Leute.

„Ich habe die große Ehre", sagte der Hauptmann, „Sie alle auf unserem Schützenfest herzlich willkommen zu heißen! Unser besonderer Dank gilt in dieser Stunde dem Herrn Besitzer des Gasthofs ,Zum doppelten Ochsen', der uns als Siegespreis einen lebenden Ochsen gestiftet hat."

„Hoch!" riefen abermals alle Leute. „Hoch lebe der Ochsenwirt! Vivat der edle Spender!"

Dann schwenkte der Schützenhauptmann den Säbel und sagte: „Hiermit erkläre ich unser Schützenfest für eröffnet!"

Am Ende der Festwiese stand eine hohe Stange. Daran war hoch droben ein hölzerner Adler befestigt, den sollten die Schützen herunterschießen.

Der Hauptmann schoß selbstverständlich als erster von allen — und blitzte gewaltig daneben.

„Kann Vorkommen", sagten die Leute.

Beschämt trat der Hauptmann zurück.

Nun war es am Fähnrich, sein Glück zu versuchen. Er zielte und schoß — aber wiederum ging der Schuß daneben.

Die Leute begannen zu schmunzeln. Bald lachten sie. Daß einmal einer am Adler vorbeischoß, das konnte ja Vorkommen. Wenn aber alle Schüsse von allen Schützen danebenklatschten, so war das zum Totlachen. Hatte es so etwas schon gegeben?

„Unglaublich!" brummte der Schützenhauptmann und kaute verlegen an seinem Schnurrbart. Er wäre vor Schande am liebsten in Grund und Boden versunken. Er ahnte ja nicht, daß die kleine Hexe ihm und den anderen Schützen die Schießgewehre verhext hatte.

Aber die Ochsenwirtskinder, die ahnten es! Sie wurden mit jedem Schuß, der danebenging, lustiger. „Wunderbar!" riefen sie, „wunderbar!"

Als der letzte Schütze geschossen hatte, stupste die kleine Hexe den Thomas an: „Jetzt geh du hin!"

„Was soll ich dort?"

„Schießen!"

Der Junge verstand. Er drängte sich vor, auf den freien Platz vor der Stange.

„Ich werde den Adler herunterschießen."

„Du Knirps?" rief der Schützenhauptmann und wollte ihn wieder wegschicken. Aber da lärmten die Leute: „Nein, er soll schießen! Wir wollen es!" Sie versprachen sich einen besonderen Spaß davon.

Ärgerlich sagte der Schützenhauptmann: „Von mir aus. Er wird nicht viel Glück haben."

Thomas ergriff eine Büchse. Er legte an wie ein Alter und zielte.

Die Leute hielten den Atem an. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen und blickten gespannt nach dem Adler.

Es blitzte, es knallte. Der Adler fiel von der Stange herunter — und Thomas war Schützenkönig!

„Juchhe!" riefen alle und schwenkten die Hüte. „Der Thomas soll leben! Der Thomas vom Ochsenwirt hat den Ochsen gewonnen!"

Sie stürmten den Festplatz und hoben den glücklichen Schützen hoch.

„Auf den Ochsen mit ihm! Auf den Ochsen!"

„Mich auch!" rief die Vroni.

„Komm "rauf!" sagte Thomas. „Es ist ja auch dein Ochse!"

Wenn es nach ihnen gegangen wäre, so hätten die beiden auch gleich noch die kleine Hexe heraufgeholt, auf den Rücken des Ochsen Korbinian. Aber die wollte nicht. Thomas und Vroni mußten allein auf dem Ochsen zur Stadt reiten.

Vorneweg zog die Schützenkapelle und blies einen lustigen Marsch nach dem anderen. Hintennach folgten mit saueren Mienen der Hauptmann und seine Schützen. Die Leute winkten begeistert und riefen: „Bravo! Hoch lebe der Schützenkönig!"

Ein Herr von der Zeitung drängte sich unterwegs an die Kinder heran. Er schlug das Notizbuch auf, zückte den Bleistift und fragte: „Wann soll nun der Ochse gebraten werden?"

„Der Ochse wird überhaupt nicht gebraten", ent- gegnete Thomas. „Der kommt in den Stall, und dort bleibt er."

Die Glocken klangen, die Böller knallten, und niemand bemerkte die kleine Hexe, die hinter dem Festzelt zufrieden auf ihren Besen stieg und davonritt.

„Das ist dir mal wieder gelungen}" lobte Abraxas. „Ich denke, du hast deine Freitagshexerei damit wettgemacht."

Загрузка...