Wirbelwind

Von nun an studierte die kleine Hexe täglich nicht sechs, sondern sieben Stunden im Hexenbuch. Bis zur nächsten Walpurgisnacht wollte sie alles im Kopf haben, was man von einer guten Hexe verlangen kann. Das Lernen machte ihr wenig Mühe, sie war ja noch jung. Bald konnte sie alle wichtigen Hexenkunststücke auswendig hexen.

Zwischendurch ritt sie auch manchmal ein bißchen spazieren. Wenn sie so viele Stunden lang fleißig geübt hatte, brauchte sie eine Abwechslung. Seit sie den neuen Besen besaß, geschah es sogar, daß sie hin und wieder ein Stück zu Fuß durch den Wald ging. Denn laufen müssen und laufen können ist zweierlei.

Als sie nun wieder einmal mit dem Raben Abraxas im Wald herumstreifte, traf sie drei alte Weiber. Die drei trugen Buckelkörbe und blickten zu Boden, als suchten sie etwas.

„Was sucht ihr denn?" fragte die kleine Hexe.

Da sagte das eine Weiblein: „Wir suchen nach trockener Rinde und abgebrochenen Ästen."

„Aber wir haben kein Glück damit", seufzte das zweite. „Der Wald ist wie ausgefegt."

„Sucht ihr schon lange?" fragte die kleine Hexe.

„Seit heute morgen schon", sagte das dritte Weib-lein. „Wir suchen und suchen, aber wir haben zusammen noch nicht einmal einen halben Korb voll. Wie

soll das nur werden, wenn wir im nächsten Winter so wenig zu heizen haben?"

Die kleine Hexe warf einen Blick in die Buckelkörbe. Es lagen nur ein paar dürre Reiser darin. „Wenn das alles ist", sagte sie zu den Weibern, „dann kann ich verstehen, warum ihr so lange Gesichter macht. Woran liegt es denn, daß ihr nichts findet?"

„Am Wind liegt's."

„Am Wind?!" rief die kleine Hexe. „Wie kann das am Wind liegen?"

„Weil er nicht wehen will", sagte das eine Weiblein.

„Wenn nämlich kein Wind weht, fällt nichts von den Bäumen herunter."

„Und wenn keine Äste und Zweige herunterfallen — was sollen wir dann in die Körbe tun?"

„Ach, so ist das!" sagte die kleine Hexe.

Die Holzweiber nickten; und eines von ihnen meinte: „Was gäbe ich drum, wenn ich hexen könnte! Dann wäre uns gleich geholfen! Ich würde uns einen Wind hexen. Aber ich kann es nicht."

„Nein", sprach die kleine Hexe, „du kannst das freilich nicht."

Die drei Weiber beschlossen nun heimzugehen. Sie sagten: „Es hat keinen Zweck, daß wir weitersuchen. Wir finden ja doch nichts, solange kein Wind weht. — Auf Wiedersehen!"

„Auf Wiedersehen!" sagte die kleine Hexe und wartete, bis sich die drei ein paar Schritte entfernt hatten.

„Könnte man denen nicht helfen?" fragte Abraxas leise.

Da lachte die kleine Hexe. „Ich bin schon dabei. Aber halte dich fest, sonst verweht es dich!"

Wind machen war für die kleine Hexe ein Kinderspiel. Ein Pfiff durch die Zähne und augenblicklich erhob sich ein Wirbelwind. Aber was für einer! Er führ durch die Wipfel und rüttelte an den Stämmen. Von allen Bäumen riß er die dürren Reiser ab. Rindenstücke und dicke Äste prasselten auf den Boden.

Die Holzweiber kreischten und zogen erschrocken die Köpfe ein. Mit beiden Händen hielten sie ihre Röcke fest. Es fehlte nicht viel, und der Wirbelwind hätte sie umgeblasen. So weit aber ließ es die kleine Hexe nicht kommen, „Genug!" rief sie. „Aufhören!"

Der Wind gehorchte aufs Wort und verstummte. Die Holzweiber blickten sich ängstlich um. Da sahen sie, daß der Wald voller Knüppel und abgerissener Zweige lag. „Welch ein Glück!" riefen alle drei. „So viel Klaubholz auf einmal! Das reicht ja für viele Wochen!"

Sie rafften zusammen, was sie gerade erwischen konnten und stopften es in die Buckelkörbe. Dann zogen sie freudestrahlend nach Hause.

Die kleine Hexe sah ihnen schmunzelnd nach.

Auch der Rabe Abraxas war ausnahmsweise einmal zufrieden. Er pickte ihr auf die Schulter und sagte: „Nicht schlecht für den Anfang! Mir scheint, du hast wirklich das Zeug dazu, eine gute Hexe zu werden."

Загрузка...