Wollen wir wetten?

Wie kamen die beiden Negerlein auf die verschneite Dorfstraße? Und seit wann gab es Türken und Indianer in dieser Gegend? Türken mit roten Mützen und weiten Pluderhosen — und Indianer, die greulich bemalte Gesichter hatten und lange Speere über den Köpfen schwangen?

„Sie werden vom Zirkus sein", meinte der Rabe Abraxas.

Aber die beiden Negerlein waren nicht vom Zirkus, und ebensowenig die Türken und Indianer. Auch die kleinen Chinesinnen und der Menschenfresser, die Eskimofrauen, der Wüstenscheich und der Hottentottenhäuptling stammten nicht aus der Schaubude. Nein, es war Fastnacht im Dorf! Und weil Fastnacht war, hatten die Kinder am Nachmittag schulfrei bekommen und tollten verkleidet über den Dorfplatz.

Die kleinen Türken warfen Papierschlangen. Der Hottentottenhäuptling brüllte: „Uaaah! Uaah!" Der Menschenfresser schrie: „Hungärrr! Hungärrr! Wer will sich frrressen lassen?" Die Chinesenmädchen kreischten auf chinesisch, die Eskimofrauen quietschten in der Eskimosprache, und die Cowboys schössen mit Stöpselpistolen in die Luft. Der Schornsteinfeger schwenkte seinen Pappzylinder, der Kasperl haute dem Wüstenscheich mit der Pritsche eins auf den Turban, und der Räuberhauptmann Jaromir schnitt so grimmige Gesichter, daß ihm der angeklebte Schnurrbart nicht halten wollte und immer wieder herunterfiel.

„Siehst du die kleine Hexe dort?" fragte Abraxas nach einer Weile.

„Wo denn?"

;Na, dort vor dem Spritzenhaus! Die mit dem langen Besen!"

„Ach ja!" rief die kleine Hexe. „Die muß ich mir gleich aus der Nähe begucken!"

Sie lief zu der Fastnachtshexe und sagte: „Guten Tag!"

„Guten Tag!" sagte die Fastnachtshexe. „Bist du vielleicht meine Schwester?"

„Schon möglich", sagte die richtige kleine Hexe. „Wie alt bist du denn?"

„Zwölf Jahre. — Und du?"

„Einhundertsiebenundzwanzigeinhalb."

„Das ist gut!" rief die Fastnachtshexe. „Das muß ich mir merken! Von nun an sage ich, wenn mich die Kinder nach meinem Alter fragen: Zweihundert- neunundfiinfzigdreiviertel!"

„Ich bin aber wirklich so alt!" „Ja, ich weiß, du bist wirklich so alt! Und du kannst ja auch wirklich hexen und auf dem Besen reiten!"


„Und ob ich das kann!" rief die richtige kleine Hexe. „Was wetten wir?"

„Wetten wir lieber gar nichts", sagte die Fastnachtshexe. „Du kannst es ja doch nicht."

„Was wetten wir?" fragte die richtige kleine Hexe noch einmal.

Da lachte die Fastnachtshexe und rief: „Ihr Chinesenmädchen, kommt her! Und ihr Türken und Neger, kommt auch her! Kommt alle her, Wüstenscheich, Eskimofrauen und Menschenfresser! Hier steht eine kleine Hexe, die kann auf dem Besen reiten!"

„Nicht möglich!" sagte der Kasperl.

„Doch, doch!" rief die Fastnachtshexe. „Sie hat mit mir wetten wollen! Nun soll sie mal zeigen, ob sie die Wahrheit gesagt hat!"

Im Nu waren beide Hexen von allen Kindern umringt. Der Schornsteinfeger und der Räuberhauptmann Jaromir, der Kasperl und die Indianer, der Hottentottenhäuptling, die Türken und Negerlein — alle drängten sich lachend und schreiend auf einen Haufen.

„Halte uns nicht zum Narren!" riefen die Eskimofrauen.

„Wir binden dich sonst an den Marterpfahl!" drohte der Indianer Blutige Wolke.

„Wenn du geschwindelt hast", brüllte der Menschenfresser, „dann werde ich dich zur Strafe auffressen! Hörst du? Du mußt nämlich wissen, ich habe Hungärrr!"


„Friß mich nur ruhig auf, wenn du Hunger hast", sagte die kleine Hexe. „Aber du mußt dich dazuhalten, weil ich sonst weg bin!"

Da wollte der Menschenfresser die kleine Hexe beim Kragen packen. Aber die kleine Hexe war schneller. Sie sprang auf den Besen — und hui! war sie hoch in den Lüften.

Der Menschenfresser plumpste vor Schreck auf den Allerwertesten. Negern und Türken, Chinesenmädchen und Eskimofrauen verschlug es die Sprache. Dem Wüstenscheich fiel der Turban herunter, der Räuberhauptmann vergaß das Grimassenschneiden. Blutige Wolke, der tapfere Indianerkrieger, erblaßte unter der Kriegsbemalung. Die Negerlein wurden käsebleich; doch das sah ihnen keiner an, denn sie hatten sich die Gesichter ja glücklicherweise mit Ofenruß eingeschmiert.

Die kleine Hexe ritt lachend rund um den Dorfplatz. Dann setzte sie sich auf den Giebel des Spritzenhauses und winkte hinunter. Der Rabe Abraxas hockte auf ihrer Schulter und krächzte:

„He, ihr dort unten! Glaubt ihr nun, daß sie hexen kann?"

„Aber ich kann noch viel mehr hexen!" sagte die kleine Hexe. „Der Menschenfresser hatte doch solchen Hunger..."

Sie spreizte die Finger und murmelte etwas. Da prasselte auf den Dorfplatz ein Regen von Fast nachtskrapfen und Pfannkuchen nieder! Jubelnd und jauchzend stürzten sich alle Kinder auf die fetten Bissen und aßen sich daran satt. Auch der Men schenfresser verschmähte die Krapfen nicht, obwohl es doch eigentlich gegen seine Gewohnheit war.

Nur die Fastnachtshexe aß nichts davon. Sie schaute der richtigen kleinen Hexe nach, die jetzt kichernd auf ihrem Besen davonritt, und dachte:

„Nein, so etwas, so etwas! Am Ende stimmt es nun doch, daß sie einhundertsiebenundzwanzigeinhalb Jahre alt ist..."

Fastnacht im Walde

„Fastnacht", meinte an diesem Abend der Rabe Abraxas, als sie daheim in der warmen Stube saßen und warteten, bis die Bratäpfel gar wären — „Fastnacht ist eine famose Sache! Nur schade, daß es bei uns im Wald keine Fastnacht gibt!"

„Fastnacht im Walde?" fragte die kleine Hexe und blickte von ihrem Strickstrumpf auf. „Warum soll es bei uns im Wald keine Fastnacht geben?"

Da sagte der Rabe: „Das weiß ich nicht. Aber es ist einmal so, und es läßt sich nicht ändern."

Die kleine Hexe lachte in sich hinein, denn ihr war bei den Worten des Raben ein lustiger Einfall gekommen. Sie schwieg aber vorerst darüber, stand auf, ging zum Ofen und holte die Bratäpfel. Als sie die Äpfel verspeist hatten, sagte sie:

„übrigens, lieber Abraxas — ich muß dich um einen Gefallen bitten... Fliege doch morgen früh durch den Wald und bestelle den Tieren, die dir begegnen werden, sie möchten am Nachmittag alle zum Hexenhaus kommen!"

„Das kann ich schon machen", sagte Abraxas. „Nur werden die Tiere auch wissen wollen, warum du sie einlädst. — Was soll ich da antworten?"

„Antworte", sagte die kleine Hexe wie obenhin, „daß ich sie auf die Fastnacht einlade."

„Wie!" rief Abraxas, als ob er nicht recht gehört habe, „sagtest du: auf die Fastnacht?!"

„Ja", wiederholte die kleine Hexe, „ich lade sie auf die Fastnacht ein — auf die Fastnacht im Walde."

Auf dies hin bestürmte der Rabe Abraxas die kleine Hexe mit tausend Fragen. Was sie denn vorhabe, wollte er wissen; und ob es auf ihrer Fastnacht auch Neger, Chinesen und Eskimos geben werde.

„Abwarten!" sagte die kleine Hexe. „Wenn ich dir heute schon alles verraten würde, dann hättest du morgen den halben Spaß daran."

Dabei blieb es.

Der Rabe Abraxas flog also am nächsten Tag durch den Wald und bestellte den Tieren, sie möchten am Nachmittag alle zum Hexenhaus kommen. Und wenn sie mit anderen Tieren zusammenträfen, dann


sollten sie denen das gleiche bestellen. Je mehr auf die Fastnacht kämen, versicherte er, desto besser. Am Nachmittag kam es auch richtig von allen Seiten herbeigeströmt: Eichhörnchen, Rehe und Hasen, zwei Hirsche, ein Dutzend Kaninchen und Scharen von Waldmäusen. Die kleine Hexe hieß sie willkommen und sagte, als alle versammelt waren:

„Nun wollen wir Fastnacht feiern!"

„Wie macht man das?" piepsten die Waldmäuse.

„Heute soll jeder anders sein, als er sonst ist", erklärte die kleine Hexe. „Ihr könnt euch zwar nicht als Chinesen und Türken verkleiden, aber dafür kann ich hexen!"

Sie hatte sich längst überlegt, was sie hexen wollte.

Den Hasen hexte sie Hirschgeweihe, den Hirschen hexte sie Hasenohren. Die Waldmäuse ließ sie wachsen, bis sie so groß wie Kaninchen waren, und die


Kaninchen ließ sie zusammenschrumpfen, daß sie wie Waldmäuse wurden. Den Rehen hexte sie rote, blaue und grasgrüne Felle, den Eichhörnchen hexte sie Rabenflügel.

„Und ich?" rief Abraxas. „Ich hoffe doch, daß du auch mich nicht vergessen wirst!"

„Aber nein", sprach die kleine Hexe. „Du kriegst einen Eichhörnchenschwanz!"

Sich selber hexte sie Eulenaugen und Pferdezähne. Da sah sie beinahe so häßlich aus wie die Muhme Rumpumpel.

Als sie nun alle verwandelt waren, hätte die Fastnacht beginnen können. Aber auf einmal vernahmen sie von drüben, vom Backofen her, eine heisere Stimme.

„Darf man da mitfeiern?" fragte die Stimme; und als sich die Tiere verwundert umschauten, kam um die Backofenecke ein Fuchs geschlichen.

„Ich bin zwar nicht eingeladen", sagte der Fuchs, „aber sicherlich werden die Herrschaften nichts dagegen haben, wenn ich so frei bin und trotzdem zur Fastnacht komme..."

Die Hasen schüttelten ängstlich die Hirschgeweihe, die Eichhörnchen flatterten vorsichtshalber aufs Hexenhaus, und die Waldmäuse drängten sich schutzsuchend hinter die kleine Hexe.

„Fort mit ihm!" riefen entsetzt die Kaninchen. „Das fehlte noch! Nicht einmal sonst sind wir sicher vor diesem Halunken! Und jetzt, wo wir klein sind wie Waldmäuse, ist es erst recht gefährlich!"


Der Fuchs tat beleidigt. „Bin ich den Herrschaften etwa nicht fein genug?" Schwanzwedelnd bat er die kleine Hexe: „Laßt mich doch mitmachen!"

„Wenn du versprichst, daß du niemandem etwas zuleide tust.

„Das verspreche ich", sagte er scheinheilig. „Ich verpfände mein Wort dafür. Wenn ich es brechen sollte, will ich mein Leben lang nur noch Kartoffeln und Rüben fressen!"

„Das würde dir schwerfallen", sagte die kleine Hexe. „Wir wollen es lieber gar nicht erst soweit kommen lassen!" Und weil sie den schönen Reden mißtraute, so hexte sie kurz entschlossen dem Fuchs einen Entenschnabel.

Jetzt konnten die anderen Tiere beruhigt sein, denn es war ihm beim besten Willen nicht möglich, sie aufzufressen. Sogar die zusammengeschrumpften Kaninchen brauchten ihn nicht zu fürchten.

Die Fastnacht im Walde dauerte bis in den späten Abend. Die Eichhörnchen spielten Fangen, der Rabe Abraxas neckte die bunten Rehe mit seinem buschigen Schwanz, die Kaninchen hopsten dem Fuchs vor dem Schnabel herum, und die Waldmäuse machten Männchen und piepsten den Hirschen zu: „Bildet euch ja nichts ein, ihr seid auch nicht viel größer als wir!" Die Hirsche nahmen es ihnen nicht weiter übel; sie stellten abwechselnd einmal das linke und einmal das rechte Hasenohr auf, und im übrigen dachten sie: Fastnacht ist Fastnacht!

Zuletzt, als der Mond schon am Himmel stand, sagte die kleine Hexe: „Nun wird es allmählich Zeit, daß wir Schluß machen. Aber bevor ihr nach Hause geht, sollt ihr noch etwas zu fressen bekommen!"

Sie hexte den Rehen und Hirschen ein Fuder Heu vor, den Eichhörnchen einen Korb voller Haselnüsse, den Waldmäusen Haferkörner und Bucheckern. Den Kaninchen und Hasen spendierte sie je einen halben Kohlkopf. Zuvor aber hexte sie alle Tiere in ihre gewöhnliche Größe, Gestalt und Farbe zurück — nur den Fuchs nicht.

„Entschuldige", schnatterte der Fuchs mit dem Entenschnabel, „kann ich nicht auch meine Schnauze zurückbekommen? Und wenn du den Rehen und Hasen zu fressen gibst — warum mir nicht?"

„Gedulde dich", sagte die kleine Hexe, „du sollst nicht zu kurz kommen! Warte nur, bis sich die


anderen Gäste empfohlen haben. Bis dahin — du weißt schon!"

Der Fuchs mußte warten, bis auch die letzte Waldmaus in ihrem Loch war. Dann endlich befreite die kleine Hexe auch ihn von dem Entenschnabel. Erleichtert fletschte der Fuchs die Zähne und machte sich heißhungrig über die Knackwürste her, die jetzt plötzlich vor seiner Nase im Schnee lagen.

„Schmecken sie?" fragte die kleine Hexe.

Aber der Fuchs war so sehr mit den Würsten beschäftigt, daß er ihr keine Antwort gab — und das war j a, im Grunde genommen, auch eine Antwort.

Der Kegelbruder

Die Sonne hatte dem Winter Beine gemacht. Das Eis war dahingeschmolzen, der Schnee war zerronnen. Schon blühten an allen Ecken und Enden die Frühlingsblumen. Die Weiden hatten sich stattlich mit silbernen Kätzchen herausgeputzt, den Birken und Haselbüschen schwollen die Knospen.

Kein Wunder, daß alle Menschen, denen die kleine Hexe in diesen Tagen begegnete, frohe Gesichter machten. Sie freuten sich über den Frühling und dachten: Wie gut, daß der Winter endlich vergangen ist! Wir haben uns lang genug mit ihm plagen müssen!

Einmal spazierte die kleine Hexe zwischen den Feldern dahin. Da hockte am Rain eine Frau, die so kümmerlich dreinschaute, daß es der kleinen Hexe zu Herzen ging.

„Was hast du denn?" fragte sie teilnahmsvoll. „Paßt denn ein solches Gesicht zu dem schönen Wetter? Du hast wohl noch gar nicht gemerkt, daß Frühling ist!"

„Frühling?" sagte die Frau mit trauriger Stimme. „Ach ja, du magst recht haben. Aber was nützt mir das? Frühling und Winter, für mich ist es immer das gleiche. Der gleiche Ärger, die gleichen Sorgen. Am liebsten möchte ich tot sein und unter dem Rasen liegen."

„Na, na!" rief die kleine Hexe. „Wer wird denn in deinem Alter vom Sterben reden! Erzähle mir lieber, was dich bedrückt, und dann wollen wir sehen, ob ich dir helfen kann."

„Mir kannst du bestimmt nicht helfen", seufzte die Frau. „Aber ich kann dir ja meine Geschichte trotzdem erzählen. Es handelt sich nämlich um meinen Mann. Der ist Schindelmacher. Als Schindelmacher verdient man sich keine Reichtümer. Aber


wir hätten an dem, was die Schindelmacherei einbringt, genug, um nicht hungern zu müssen. Wenn nur mein Mann nicht das ganze Geld auf der Kegelbahn durchbringen würde! Was er am Tag mit der Arbeit verdient, das verjubelt er Abend für Abend bei seinen Kegelbrüdern im Wirtshaus. Für mich und die Kinder bleibt nichts davon übrig. — Ist das kein Grund, daß ich mich unter die Erde wünsche?"

„Ja, hast du denn nie versucht, deinem Mann ins Gewissen zu reden?" fragte die kleine Hexe.

„Und wie ich geredet habe!" sagte die Frau. „Aber eher könnte man einen Stein erweichen. Er hört nicht auf mich, es ist alles umsonst geredet."

„Wenn Worte nicht helfen, dann muß man ihm eben auf andere Weise beikommen!" meinte die kleine Hexe. — „Bringe mir morgen früh ein paar Haare von deinem Mann. Es genügt schon ein kleines Büschel. Dann wollen wir weitersehen."

Die Schindelmacherin tat, was die kleine Hexe von ihr verlangt hatte. Anderntags in der Frühe kam sie heraus an den Feldrain und brachte ein Büschel Haare von ihrem Mann mit. Das gab sie der kleinen Hexe und sagte:

„Ich habe ihm heute nacht, als er schlief, dieses Haarbüschel abgeschnitten. Hier hast du es! Aber ich kann mir nicht denken, wozu es dir nützen soll."

„Dir und nicht mir soll es nützen!" sagte die kleine Hexe geheimnisvoll. „Geh jetzt nach Hause und warte in Ruhe ab, was geschehen wird. Deinem Mann soll die Freude am Kegeln gründlich vergehen! Noch ehe die Woche um ist, wird er kuriert sein!"

Die Frau ging nach Hause und wußte sich keinen Reim darauf. Aber die kleine Hexe wußte dafür um so besser, was sie zu tun hatte. Sie verscharrte die

Haare des Schindelmachers am nächsten Kreuzweg. Dazu sprach sie allerlei Zaubersprüche. Zuletzt kratzte sie mit dem Fingernagel genau an der Stelle, wo sie die Haare vergraben hatte, ein Hexenzeichen in den Sand. Dann sagte sie augenzwinkemd zum Raben Abraxas: „Erledigt! Nun kann sich der Schindelmacher auf etwas gefaßt machen!"

Der Schindelmacher ging auch an diesem Abend wieder zum Kegeln. Er trank mit den anderen Kegelbrüdem sein Bier, und dann fragte er:

„Wollen wir anfangen?"

„Fangen wir an!" riefen alle.

„Und wer soll den ersten Schub tun?"

„Der danach fragt!" hieß es.

„Gut", sprach der Schindelmacher und griff nach der Kegelkugel, „dann will ich mal gleich alle neune schieben. Paßt auf, wie sie purzeln werden!"

Erst holte er mächtig aus, und dann schob er.

Die Kugel rollte mit Rumpeldipumpel über die Kegelbahn. Wie ein Kanonenschlag krachte sie unter die Kegel. Rumms! flog dem Kegelkönig der Kopf ab! Die Kugel schoß weiter und schlug mit Getöse ein großes Loch in die Bretterwand.

„Hoi, Schindelmacher!" riefen die Kegelbrüder. „Was machst du denn? Willst du die Kegelbahn einreißen?"

„Sonderbar", brummte der Schindelmacher. „Es muß an der Kugel gelegen haben. Das nächste Mal nehme ich eine andere."

Als er das nächste Mal an die Reihe kam, ging es ihm aber noch schlechter, obwohl er von allen Kugeln die kleinste genommen hatte. Zwei Kegel riß sie in Stücke, daß die Splitter dem Kegeljungen nur so um die Ohren schwirrten — und wiederum schlug sie ein Loch in die Wand.

„Höre mal!" drohten die Kegelbrüder dem Schindelmacher. „Entweder schiebst du von jetzt an ein bißchen sanfter, oder wir lassen dich nicht mehr mitkegeln!"

Der Schindelmacher versprach ihnen hoch und heilig:

„Ich werde mir Mühe geben!"

Beim drittenmal schob er so sachte und vorsichtig, wie er sein Lebtag noch nicht geschoben hatte. Er stupste die Kugel nur mit zwei Fingern an — aber pardauz! fuhr sie zwischen die Kegel und prallte mit solcher Gewalt an den Eckpfosten, daß sie ihn mittendurchschlug!

Da knickte der Pfosten um, und nun krachte die halbe Decke herunter. Es hagelte Bretter und Bal- kentrümmer; Latten, Leisten und Dachziegel prasselten nieder. Es ging zu wie bei einem Erdbeben.

Schreckensbleich starrten die Kegelbrüder einander an. Als sie sich aber vom ersten Entsetzen erholt hatten, packten sie ihre Bierkrüge, warfen sie wutentbrannt nach dem Schindelmacher und riefen:

„Hinaus mit dir! Mach, daß du fortkommst! Mit so einem, der uns die Kegelbahn kurz und klein kegelt, wollen wir nichts zu schaffen haben! Kegle von nun an, mit wem du willst — aber hier ist es aus damit!"

Wie es dem Schindelmacher an diesem Abend ergangen war, so erging es ihm auch an den folgenden Abenden auf den anderen Kegelbahnen im Dorf und in den Nachbardörfern. Spätestens nach dem dritten Schub kam die Decke heruntergerumpelt. Dann flogen die Bierkrüge nach dem Schindelmacher, und die Kegelbrüder wünschten ihn auf den Mond. Noch ehe die Woche um war, durfte er nirgends mehr mitkegeln. Wo er auch auftauchte, hieß es:

„Um Gottes willen, der Schindelmacher! Schnell, schnell, laßt die Kegel verschwinden und packt die Kugeln weg! Dieser Mensch darf sie nicht in die Finger kriegen, sonst gibt es ein Unglück!"

Zum Schluß blieb dem Schindelmacher nichts anderes übrig, als ein für allemal von der Kegelei abzulassen. Statt Abend für Abend ins Wirtshaus zu gehen, blieb er nun immer zu Hause. Das machte ihm anfangs zwar keinen Spaß; aber mit der Zeit gewöhnte er sich daran, denn auch dafür hatte die kleine Hexe mit ihrem Zauberspruch vorgesorgt.

Der Frau und den Kindern war nun geholfen. Von jetzt an brauchten sie nicht mehr zu hungern — und damit konnte die kleine Hexe zufrieden sein.

Festgehext!

Der Rabe Abraxas war ein eingefleischter Junggeselle. Er pflegte zu sagen:

„Als Junggeselle lebt man bei weitem bequemer. Erstens braucht man kein Nest zu bauen. Zweitens braucht man sich nicht mit einer Frau herumzuärgern. Und drittens bleibt es einem erspart, daß man Jahr um Jahr für ein halbes Dutzend hungriger Rabenkinder sorgen muß. Zuerst fressen sie einen arm, und dann fliegen sie sowieso ihrer Wege. Ich weiß das von meinen Geschwistern, die alle seit langem verheiratet sind, und ich möchte mit keinem von ihnen tauschen."

Der Lieblingsbruder des Raben Abraxas hieß Kräx. Er hatte sein Nest auf der alten Ulme am Ufer des Entenweihers im Nachbardorf. Ihn besuchte Abraxas einmal in jedem Jahr, und zwar in der Zeit


zwischen Ostern und Pfingsten. Dann hatte seine Schwägerin die neuen Eier zwar schon gelegt, aber sie hatte sie noch nicht ausgebrütet. Da brauchte Abraxas nicht zu befürchten, daß er dem Bruder und seiner Schwägerin helfen mußte, ihre gefräßigen Rabenküken zu füttern.

Als er diesmal von seinem Besuch bei Kräxens zurückkehrte, merkte es ihm die kleine Hexe von weitem an, daß etwas nicht stimmte. Sie fragte ihn: ,rIst deinem Bruder Kräx etwas zugestoßen?" „Glücklicherweise noch nicht", antwortete Abraxas. „Aber mein Bruder und seine Frau sind in großer Sorge. Es strolchen dort in der Gegend seit einigen Tagen zwei Jungen herum, die steigen auf alle Bäume und heben die Nester aus. Vorgestern haben sie ein Amselnest ausgeplündert und gestern das Nest eines Elstempaares. Die Eier haben sie eingesteckt, und die Nester haben sie in den Entenweiher geworfen. Mein Bruder Kräx ist verzweifelt. Wenn das so weitergeht, wird auch sein eigenes Nest über kurz oder lang an die Reihe kommen."

Da sagte die kleine Hexe: „Dein Bruder Kräx braucht sich nicht zu fürchten. Fliege zurück und bestelle ihm einen Gruß von mir. Wenn die Jungen zu ihm auf die Ulme steigen, dann soll er hierher eilen und es mir sagen. Ich werde ihm diese Tunichtgute vom Leib schaffen!"

„Willst du das wirklich tun?" rief Abraxas. „Du bist eine gute Hexe, da sieht man's wieder! Die Oberhexe wird an dir Freude haben! Ich fliege sofort zu Kräxens und richte es ihnen aus!"

Es vergingen nun einige Tage, ohne daß etwas geschah, und die kleine Hexe dachte schon längst nicht mehr an die beiden Nesträuber. Aber eines Nachmittags gegen Ende der Woche kam Bruder Kräx atemlos angeflattert.

„Sie sind da, sie sind da!" krächzte er schon von weitem. „Komm schnell, kleine Hexe, bevor es zu spät ist!"

Die kleine Hexe war eben dabeigewesen, Kaffee zu mahlen. Sie stellte nun gleich die Kaffeemühle auf den Küchentisch, rannte nach ihrem Besen und sauste mit Windeseile zum Entenweiher. Die Brüder Kräx und Abraxas vermochten ihr kaum zu folgen, so schnell ging das über den Wald hin.

Die beiden Jungen waren inzwischen schon hoch auf der alten Ulme. Sie konnten das Rabennest fast erreichen. Die Kräxin hockte auf ihren Eiern und zeterte.

„Heda, ihr zwei!" rief die kleine Hexe. „Was macht ihr da? Kommt herunter!"

Die beiden erschraken. Dann sahen sie aber, daß nur ein altes Weiblein nach ihnen gerufen hatte. Da steckte der eine Bengel der kleinen Hexe die Zunge heraus, und der andere drehte ihr eine lange Nase.

„Ich sage euch, kommt herunter!" drohte die kleine Hexe, „sonst setzt's was!"

Die Jungen lachten sie aber nur aus, und der eine entgegnete frech: „Komm doch 'rauf, wenn du kannst! Wir bleiben hier oben sitzen, solange wir Lust haben. Bäh!"

„Also gut!" rief die kleine Hexe, „von mir aus bleibt oben!"

Sie hexte die beiden Nesträuber fest. Da konnten sie weder vorwärts noch rückwärts klettern. Sie

























blieben dort kleben, wo sie gerade saßen, als wären sie angewachsen.

Nun fielen Abraxas und das Ehepaar Kräx mit den Schnäbeln und Krallen über die beiden her. Sie zwickten und hackten und kratzten sie, daß an den Jungen kein heiler Fleck blieb. Da fingen die Eierdiebe in ihrer Verzweiflung zu schreien an; und sie schrien so laut und erbärmlich um Hilfe, daß auf den Lärm hin das halbe Dorf an dem Entenweiher zusammenlief.

„Um Himmels willen, was gibt es denn?" fragten die Leute erschrocken. — „Ach, seht mal, das ist ja der Schneider-Fritz und der Schuster-Sepp! Wollten die etwa das Rabennest ausnehmen? Na, das geschieht ihnen recht! Wohl bekomm's ihnen! Warum müssen sie auch auf die Bäume steigen und Eier stehlen?"

Kein Mensch hatte Mitleid mit ihnen. Den Leuten erschien es nur sonderbar, daß der Fritz und der Sepp nicht Reißaus nahmen. Selbst als die Raben endlich von ihnen abließen, blieben sie oben hocken.

„So kommt doch herunter, ihr beiden Helden!" riefen die Leute.

„Wir können nicht!" jammerte Schusters Sepp, und der Schneider-Fritz heulte: „Hu-huuuh, wir sind

festgewachsen! Es geht nicht!"

Das Ende vom Liede war, daß die Feuerwehr ausrücken mußte. Die Feuerwehrleute legten die große Leiter an und holten die beiden Tröpfe herunter. Das glückte der Feuerwehr freilich nur, weil die kleine Hexe den Fritz und den Sepp gerade im rechten Augenblick wieder losgehext hatte.

Vor dem Hexenrat

Das Hexenjahr neigte sich langsam dem Ende zu, die Walpurgisnacht rückte näher und näher. Jetzt wurde es Ernst für die kleine Hexe. Sie wiederholte in diesen Tagen gewissenhaft alles, was sie gelernt hatte. Noch einmal ging sie das Hexenbuch Seite für Seite durch. Es klappte mit ihrer Hexerei wie am Schnürchen.

Drei Tage vor der Walpurgisnacht kam die Muhme Rumpumpel geritten. Sie stieg aus der schwarzen Wolke und sagte: „Ich komme im Auftrag der Oberhexe und lade dich vor den Hexenrat, übermorgen um Mitternacht ist die Prüfung. Dann sollst du am Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide sein. — Du brauchst aber, wenn du es dir überlegt haben solltest, auch nicht zu kommen..."


„Da gibt es doch gar nichts zu überlegen!" sagte die kleine Hexe.

„Wer weiß?" entgegnete achselzuckend die Hexe Rumpumpel. „Vielleicht ist es trotzdem klüger, wenn du daheim bleibst. Ich werde dich gern bei der Oberhexe entschuldigen."

„So?" rief die kleine Hexe. „Das glaube ich! Aber ich bin nicht so dumm, wie du meinst! Ich lasse mir keine Angst machen!"

„Wem nicht zu raten ist", sagte die Muhme Rumpumpel, „dem ist auch nicht zu helfen. Dann also bis übermorgen!" —

Der Rabe Abraxas hätte die kleine Hexe am liebsten auch diesmal begleitet. Aber er hatte im Hexenrat nichts verloren. Er mußte zu Hause bleiben und wünschte der kleinen Hexe, als sie sich auf den Weg machte, alles Gute.

„Laß dich nicht einschüchtern!" rief er beim Abschied. „Du bist eine gute Hexe geworden, und das ist die Hauptsache!"

Schlag zwölf kam die kleine Hexe am Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide an. Der Hexenrat war schon versammelt. Außer der Oberhexe gehörten dazu eine Wind-, eine Wald-, eine Nebelhexe und auch von den anderen Hexenarten je eine. Die Wetterhexen hatten die Muhme Rumpumpel geschickt. Das konnte der kleinen Hexe nur recht sein. Sie war ihrer Sache sicher und sagte sich: Die wird platzen vor Ärger, wenn ich die Prüfung bestehe und morgen mit auf den Blocksberg darf!

„Fangen wir an!" rief die Oberhexe, „und prüfen wir, was die kleine Hexe gelernt hat!"

Nun stellten die Hexen der Reihe nach ihre Aufgaben: Windmachen, Donnemlassen, den roten Stein in der Heide weghexen, Hagel und Regen heraufbeschwören — es waren keine besonders schwierigen Dinge. Die kleine Hexe geriet nicht ein einziges Mal in Verlegenheit. Auch als die Muhme Rumpumpel von ihr verlangte: „Hexe das, was auf Seite drei

hundertvierundzwanzig im Hexenbuch steht!", war die kleine Hexe sofort im Bild. Sie kannte das Hexenbuch in- und auswendig.

„Bitte sehr!" sagte sie ruhig und hexte das, was auf Seite dreihundertvierundzwanzig im Hexenbuch steht: ein Gewitter mit Kugelblitz.

„Das genügt!" rief die Oberhexe. „Du hast uns gezeigt, daß du hexen kannst. Ich erlaube dir also, obwohl du noch reichlich jung bist, in Zukunft auf der Walpurgisnacht mitzutanzen. — Oder ist jemand im Hexenrat anderer Meinung?"

Die Hexen stimmten ihr zu. Nur die Muhme Rumpumpel entgegnete: „Ich!"

„Was hast du dagegen einzuwenden?" fragte die Oberhexe. „Bist du mit ihrer Hexenkunst etwa unzufrieden?"

„Das nicht", versetzte die Muhme Rumpumpel. „Sie ist aber trotzdem, wie ich beweisen kann, eine schlechte Hexe!" Sie kramte aus ihrer Schürzentasche ein Heft hervor. „Ich habe sie während des ganzen Jahres heimlich beobachtet. Was sie getrieben hat, habe ich aufgeschrieben. Ich werde es vorlesen."

„Lies es nur ruhig vor!" rief die kleine Hexe. „Wenn es nicht lauter Lügen sind, habe ich nichts zu befürchten!"

„Das wird sich heraus stellen!" sagte die Muhme Rumpumpel. Dann las sie dem Hexenrat vor, was die kleine Hexe im Lauf dieses Jahres getan hatte: Wie sie den Klaubholzweibem geholfen und wie sie den bösen Förster kuriert hatte; die Geschichten vom Blumenmädchen, vom Bierkutscher und vom Maronimann brachte sie auch vor; vom Ochsen Korbinian, dem die kleine Hexe das Leben gerettet hatte, vom Schneemann und von den Eierdieben erzählte sie gleichfalls.

„Vergiß nicht den Schindelmacher!" sagte die kleine Hexe. „Den habe ich auch zur Vernunft gebracht!"

Sie hatte erwartet, daß sich die Muhme Rumpumpel nach besten Kräften bemühen würde, sie schlecht zu machen. Statt dessen las sie aus ihrem Merkheft nur Gutes vor.

„Stimmt das auch?" fragte die Oberhexe nach jeder Geschichte.

„Jawohl!" rief die kleine Hexe, „es stimmt!" — und war stolz darauf.

In ihrer Freude entging es ihr ganz und gar, daß die Oberhexe von Mal zu Mal strenger fragte. Sie merkte auch nicht, daß die übrigen Hexen bedenklich und immer bedenklicher mit den Köpfen wackelten. Wie erschrak sie daher, als plötzlich die Oberhexe entrüstet ausrief:

„Und so etwas hätte ich morgen nacht um ein Haar auf den Blocksberg gelassen! Pfui Rattendreck, welch eine schlechte Hexe!"

„Wieso denn?" fragte die kleine Hexe betroffen. „Ich habe doch immer nur Gutes gehext!"

„Das ist es ja!" fauchte die Oberhexe. „Nur Hexen, die immer und allezeit Böses hexen, sind gute Hexen! Du aber bist eine schlechte Hexe, weil du in einem fort Gutes gehext hast!"

„Und außerdem", klatschte die Muhme Rumpumpel — „außerdem hat sie auch einmal am Freitag gehext! Sie tat es zwar hinter verschlossenen Fensterläden, aber ich habe zum Schornstein hineingeschaut."

„Wie?!" schrie die Oberhexe, „das auch noch!"

Sie packte die kleine Hexe mit ihren Spinnenfingern und zauste sie an den Haaren. Da stürzten auch alle übrigen Hexen mit wildem Geheul auf das

arme Ding und verbleuten es mit den Besenstielen. Sie hätten die kleine Hexe wohl krumm und lahm geschlagen, wenn nicht die Oberhexe nach einer Weile gerufen hätte:

„Genug jetzt! Ich weiß eine bessere Strafe für sie!" Hämisch befahl sie der kleinen Hexe: „Du wirst auf dem Blocksberg das Holz für das Hexenfeuer

Zusammentragen. Du ganz allein! Bis morgen um Mitternacht mußt du den Scheiterhaufen errichtet haben. Wir werden dich dann in der Nähe an einen Baum binden, wo du die ganze Nacht stehen und zuschauen sollst, wie wir anderen tanzen!"

„Und wenn wir die ersten paar Runden getanzt haben", hetzte die Muhme Rumpumpel, „dann gehen wir hin zu der kleinen Kröte und rupfen ihr einzeln die Haare vom Kopf! Das wird lustig! Das gibt einen Spaß für uns! An diese Walpurgisnacht wird sie noch lange denken!"

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