Das hier ist ganz und gar nicht, was ich erwartet hatte. 1985 hatte man mich aufgrund einer Art journalistischen Versehens mit Mark Carwardine nach Madagaskar geschickt, um dort nach einer so gut wie ausgestorbenen Lemurenart zu suchen, dem sogenannten Aye-Aye. Wir drei waren uns vorher nie begegnet. Ich kannte Mark nicht, und ein Aye-Aye hatte – kein Wunder – auch seit Jahren niemand zu Gesicht bekommen.
Die Idee, uns alle so überstürzt ins gleiche Boot zu werfen, stammte von der Magazinbeilage des Observer. Mark ist ein ungemein erfahrener und bewanderter Zoologe, der damals für den World Wildlife Fund arbeitete und dessen Aufgabe im wesentlichen darin bestand, von allem eine Ahnung zu haben. Meine Aufgabe – eine, für die ich absolut qualifiziert bin – bestand darin, ein ungemein unwissender Nicht-Zoologe zu sein, für den alles wie aus heiterem Himmel zu kommen hatte. Das Aye-Aye hingegen mußte nur tun, was die Aye-Ayes seit Millionen von Jahren tun – auf einem Baum sitzen und sich verstecken.
Das Aye-Aye ist ein nachtaktiver Lemur, sieht ausgesprochen merkwürdig aus und scheint aus Teilen anderer Tiere zusammengesetzt zu sein. Es erinnert ein bißchen an eine große Katze mit Fledermausohren, Biberzähnen, einer straußenfederähnlichen Taille, einem knorrigen, astähnlichen Ringfinger und riesigen Augen, die an einem vorbei in eine Welt zu spähen scheinen, die lediglich jenseits der linken Schulter des Betrachters existiert.
Wie praktisch alle Lebewesen auf Madagaskar kommt das Aye-Aye sonst nirgends auf der Welt vor. Sein Ursprung reicht zurück in jene Zeit der Weltgeschichte, als Madagaskar noch Teil des afrikanischen Kontinents war (der seinerseits noch Teil des gigantischen Superkontinents Gondwana war), eine Zeit, zu der die Vorfahren der madagassischen Lemuren die auf der ganzen Welt dominierende Primatenart waren. Als Madagaskar in den Indischen Ozean abdriftete, wurde es von den evolutionären Entwicklungen der anderen Erdteile abgeschnitten. Es ist ein Rettungsfloß aus einer anderen Zeit. Heutzutage gleicht es einem zierlichen, zerbrechlichen, von allem losgelösten Planeten.
Die entscheidende Entwicklung, die an Madagaskar vorbeiging, war das Auftreten der Affen. Sie stammten zwar von den gleichen Vorfahren wie die Lemuren ab, verfügten jedoch über größere Gehirne und waren aggressive Widersacher im Kampf um denselben Lebensraum. Während die Makis sich damit begnügt hatten, in den Bäumen herumzuhängen und sich wohl zu fühlen, waren die Affen ehrgeizig und interessierten sich für alles mögliche, vor allem für Zweige. Wie sie nach kurzer Zeit herausfanden, konnten sie damit Dinge tun, die sie allein nicht fertigbrachten – nach Sachen buddeln, in Sachen herumstochern, auf Sachen herumhauen. Die Affen übernahmen die Erde, und der Lemuren-Zweig der Primatenfamilie starb überall aus – nur auf Madagaskar nicht, das für Millionen Jahre von Affen verschont blieb.
Vor fünfzehnhundert Jahren kamen die Affen dann aber schließlich doch auf Madagaskar an oder, besser gesagt, kamen deren Nachfahren auf Madagaskar an – wir. Dank erstaunlicher Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Zweig-Technologie erreichten wir die Insel mit Kanus, später mit Booten und schließlich mit Flugzeugen und nahmen den Kampf um den Lebensraum ein weiteres Mal auf, diesmal allerdings mit Feuer und Macheten, mit Haustieren, Asphalt und Beton. Und wieder kämpfen die Lemuren ums Überleben.
Meine Maschine voller Affennachfahren landete auf dem Flughafen von Antananarivo. Dort traf ich zum erstenmal mit Mark zusammen, der schon vorausgeflogen war, um die Expedition vorzubereiten, und mich sofort über den Stand der Dinge aufklärte.
»Alles ist schiefgelaufen«, sagte er.
Er war schlank, braun, wortkarg und hatte leichte nervöse Zuckungen. Er erklärte mir, er sei normalerweise bloß schlank, braun und wortkarg, aber die Ereignisse der letzten Tage seien ihm ziemlich an die Nieren gegangen. Wenigstens versuchte er, mir das zu erklären. Seine Stimme, krächzte er, habe er wegen des dauernden Herumschreiens leider auch verloren.
»Ich hätte dich beinahe per Telex abbestellt«, sagte er. »Die ganze Geschichte ist ein Alptraum. Ich bin jetzt seit fünf Tagen hier und warte noch immer darauf, daß überhaupt irgendwas klappt. Der Botschafter in Brüssel hat mir zugesagt, daß der Landwirtschaftsminister uns zwei Landrover und einen Hubschrauber zur Verfügung stellen würde. Jetzt stellt sich heraus, daß sie leider nur ein Moped haben, und das ist kaputt.
Außerdem hat mir der Botschafter versichert, wir könnten direkt in den Norden rauffahren, nur stellt sich jetzt plötzlich heraus, daß die Straße unpassierbar ist, weil sie von den Chinesen neu gebaut wird, was man uns natürlich nicht mitteilen mußte. Und frag mich nicht, was das ›plötzlich‹ bedeuten soll, denn wie es aussieht, sind die Jungs schon seit zehn Jahren dabei.
Ich hab's trotzdem geschafft, ein paar Sachen auf die Beine zu stellen, aber wir müssen sofort los«, fügte er hinzu. »Die Maschine ins Dschungelgebiet startet in zwei Stunden, und wir müssen mit. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es gerade noch, dein überflüssiges Gepäck im Hotel abzuladen. Äh, irgendwas davon ist doch hoffentlich überflüssig?«
Besorgt betrachtete er zuerst den Kofferberg, den ich hinter mir herzerrte, und dann, mit wachsender Panik, die mit Nikon-Kameras, Objektiven und Stativen gefüllten Kisten, die Alain le Garsmeur, unser Fotograf auf dieser Reise, gerade in den Kleinbus verfrachtete.
»Ach, da fällt mir ein ...«, sagte er. »Ich hab eben rausbekommen, daß wir wahrscheinlich keine Erlaubnis zur Ausfuhr von Filmmaterial bekommen werden.«
Einigermaßen benommen bestieg ich den Kleinbus. Nach dem dreizehnstündigen Flug von Paris hatte ich mich auf eine Dusche, eine Rasur und eine Mütze voll Schlaf gefreut, um dann am nächsten milden Morgen bei einer Tasse Tee allmählich zu versuchen, Madagaskar auf der Landkarte zu entdecken. Ich versuchte mich zusammenzureißen und die ganze Sache geistig in den Griff zu bekommen. Plötzlich hatte ich nicht mehr den blassesten Schimmer, was ich, Autor spaßiger Science-Fiction-Abenteuer, hier eigentlich machte. Ich blinzelte in die grelle Tropensonne und fragte mich, was in aller Welt Mark von mir erwartete. Er wieselte durch die Gegend, gab einem Gepäckträger ein Trinkgeld, erklärte einem anderen sehr geduldig, daß er bisher genaugenommen noch keinen unserer Koffer weggetragen habe, führte tiefschürfende Verhandlungen mit dem Fahrer und brachte allmählich etwas wie Ordnung in das Chaos.
Madagaskar, dachte ich. Aye-Aye, dachte ich. Ein so gut wie ausgestorbener Lemur. In zwei Stunden Aufbruch in den Dschungel. Noch nie war es mir so wichtig gewesen, aufgeweckt und geistreich zu klingen.
»Äh, glaubst du eigentlich, daß wir dieses Tier wirklich zu Gesicht bekommen werden?« fragte ich Mark, während er einstieg und die Tür hinter sich zuwarf. Er grinste.
»Tja, der Brüsseler Botschafter meinte, wir hätten nicht den Hauch einer Chance«, sagte er, »also sieht es vielleicht gar nicht so schlecht aus. Willkommen«, fügte er hinzu, während wir mit dem Schlaglochslalom in Richtung Innenstadt begannen, »auf Madagaskar.«
Antananarivo wird »Tananarive« ausgesprochen und wurde während der letzten hundert Jahre meistens auch genauso geschrieben. Als die Franzosen Madagaskar gegen Ende des letzten Jahrhunderts übernahmen (kolonialisierten wäre wohl eine zu nette Umschreibung für das Einmarschieren in ein Land, das, bis die Franzosen plötzlich von der Wanderlust gepackt wurden, ganz gut allein klargekommen war), zeigten sie kein übermäßiges Verständnis für die merkwürdige Angewohnheit der Madagassen, die Anfangs- und Endsilben von Ortsnamen einfach unter den Tisch fallen zu lassen. In ihrer rationalen gallischen Art beschlossen sie also, daß man die Namen ja wohl verdammt noch mal genauso schreiben konnte, wie sie ausgesprochen wurden. Das ist ungefähr so, als würde jemand nach England kommen und uns erzählen, von heute an sollten wir statt Leicester »Lester« schreiben und das auch noch gut finden. Man könnte uns vielleicht zu einer derartigen Schreibweise zwingen, aber gefallen würde es uns nicht – genausowenig wie den Madagassen. Nachdem es ihnen in den siebziger Jahren gelungen war, sich von der französischen Herrschaft zu befreien, führten sie die alten Schreibweisen sofort wieder ein und behielten nur die Kochkünste und die Verwaltung weiter bei.
Es gehört zu meinen eher eigenartigen Lebenserfahrungen, daß mich Verleger infolge einer Idee, die mir als abgebrannter, auf Feldern und in Telefonzellen schlafender Anhalter gekommen war, heute auf teure Lesereisen rund um den Globus schicken und mich in Hotelzimmer stecken, in denen man erst mal einen Haufen Türen öffnen muß, bevor man das Bett findet. Zufällig hatte ich gerade eine solche Tour durch die USA hinter mir, und so reagierte ich, als ich mich jetzt auf dem Betonboden einer spinnenverseuchten Hütte mitten im Dschungel wiederfand – merkwürdig, aber wahr –, mit grenzenloser Erleichterung. Die Wochen sinnbetäubenden American-Express-Lebens fielen von mir ab wie Schlamm unter der Dusche, und ich konnte mich zurücklehnen und dem Genuß hingeben, es auf wunderbare, gelassene, scheußliche Art unbequem zu haben. Mark entging das offenbar, denn als er mir meine Schlafstelle auf dem Boden zeigte, war er anfangs ziemlich besorgt – »Äh, wird das gehen? Eigentlich sollten hier Matratzen liegen... mmh, sollen wir dir den Beton ein bißchen aufschütteln?« –, und ich mußte immer wieder sagen: »Das verstehst du nicht. Das hier ist toll, es ist herrlich. Darauf hab ich mich seit Wochen gefreut.«
In Wirklichkeit konnten wir uns natürlich nicht zurücklehnen. Das Aye-Aye ist ein nachtaktives Tier und trifft keine Verabredungen bei Tageslicht. Die wenigen Aye-Ayes, von deren Existenz man 1985 wußte, fand man (obwohl man sie normalerweise nicht findet) auf einer an der nordöstlichen Küste von Madagaskar gelegenen kleinen, idyllischen Regenwaldinsel namens Nosy Mangabé, auf die man die Aye-Ayes zwanzig Jahre zuvor umgesiedelt hatte. Es war ihr letzter Zufluchtsort, und hätte Mark uns nicht eine Sondergenehmigung der Regierung besorgt, hätten wir die Insel genausowenig betreten können wie jeder andere. Dort stand unsere Hütte, und dort droschen wir uns Nacht um Nacht, bewaffnet mit kleinen, schwachen Taschenlampen (die großen, stärkeren, die wir mitgebracht hatten, befanden sich unter dem »unnützen« Gepäck, das wir im Antananarivo Hilton abgeladen hatten), bei sintflutartigen Regenfällen einen Weg durch den Regenwald, bis... wir das Aye-Aye fanden.
Das war das Außergewöhnliche. Wir fanden dieses Geschöpf nämlich wirklich. Wir bekamen es zwar nur für ein paar Sekunden zu Gesicht, als es einige Meter über unseren Köpfen langsam über einen Ast kroch und mit gleichgültigem Unverständnis durch den Regen auf die merkwürdigen Wesen dort unten heruntersah, aber trotzdem war das einer jener Augenblicke, die einen restlos und nachhältig durcheinanderbringen.
Warum?
Weil ich, wie mir später aufging, ein Affe war, der einen Lemur anstarrte.
Indem wir mit einer 747 von New York und Paris nach Antananarivo und in einer alten Propellermaschine nach Diégo-Suarez geflogen und in einem noch älteren Laster zum Hafen von Maroantsetra gefahren waren, in einem Boot, das so alt und baufällig war, daß man es kaum mehr von Treibholz unterscheiden konnte, nach Nosy Mangabé übergesetzt hatten und schließlich nachts durch den uralten Regenwald gewandert waren, hatten wir sozusagen eine Zeitreise durch alle zurückliegenden Stufen unserer Zweig-Technologie-Forschungen unternommen, bis hin zu jener Umgebung, aus der wir die Lemuren ursprünglich vertrieben hatten. Und dort oben saß einer der letzten Überlebenden dieser Art und betrachtete mich mit, wie ich es nennen würde, gleichgültigem Unverständnis.
Am nächsten Tag saßen Mark und ich in der Morgensonne auf den Stufen vor der Hütte, machten uns Notizen und diskutierten Einfälle für den Artikel, den ich für den Observer über die Expedition schreiben sollte. Mark erklärte mir die Geschichte der Lemuren bis ins Detail, und ich sagte ihm, darin liege für mich eine gewisse Ironie. Für die Lemuren war Madagaskar ein Affen-freier, von Afrika abgetrennter Zufluchtsort gewesen, und jetzt mußte Nosy Mangabé als Affen-freier, von Madagaskar abgetrennter Zufluchtsort dienen. Die Zufluchtsorte wurden immer kleiner, und nun saßen die Affen auch schon auf diesem herum und machten sich Notizen darüber.
»Der Unterschied«, sagte Mark, »besteht darin, daß der erste Affenfreie Zufluchtsort zufällig entstanden ist. Der zweite wurde von den Affen selbst eingerichtet.«
»Folglich muß man wohl fairerweise einräumen, daß die Zunahme unserer Intelligenz uns nicht nur größere Macht, sondern auch ein größeres Verständnis für die Auswirkungen dieser Macht verliehen hat. Dadurch haben wir die Fähigkeit erworben, unsere Umgebung zu beherrschen und darüber hinaus auch uns selbst.«
»Tja, bis zu einem gewissen Grad schon«, sagte Mark. »Bis zu einem gewissen Grad. Im Moment leben auf Madagaskar einundzwanzig Lemurenarten, von denen das Aye-Aye als die seltenste gilt, also mit anderen Worten am dichtesten vor dem Aussterben steht. Vor einiger Zeit waren es noch über vierzig Arten. Gut die Hälfte ist ausgestorben. Und das sind nur die Makis. Praktisch alles, was hier im Regenwald von Madagaskar lebt, existiert sonst nirgendwo auf der Welt – und ist nur ein Zehntel von dem, was mal da war. Und das ist nur Madagaskar. Warst du mal auf dem afrikanischen Festland?«
»Nein.«
»Eine Art nach der anderen verabschiedet sich. Und zwar von den Hauptarten. Es gibt nur noch knapp zwanzig weiße Nashörner, und um die ist ein erbitterter Kampf mit den Wilderern ausgebrochen. Die leben in Zaire. Oder nimm die Berggorillas – obwohl sie zu den engsten lebenden Verwandten des Menschen gehören, haben wir sie in diesem Jahrhundert fast vollständig ausgerottet. Aber das passiert überall, auf der ganzen Welt. Hast du schon mal was vom Kakapo gehört?«
»Vom was?«
»Vom Kakapo. Das ist der größte, dickste und flugunfähigste Papagei der Welt. Lebt in Neuseeland. Ist der seltsamste Vogel, den ich kenne, und wird wahrscheinlich genauso berühmt wie der Dodo, falls er ausstirbt.«
»Wie viele gibt's denn noch von denen?«
»Vierzig, Tendenz fallend. Kennst du den Yangtse-Delphin?«
»Nein.«
»Die Drachenechse von Komodo? Den Rodrigues-Flederhund?«
»Moment mal, Moment mal«, sagte ich. Ich ging in die Hütte, wühlte in den Ameisen herum und zog eine der meistgerühmten Errungenschaften des Affen heraus. Diese Errungenschaft bestand aus einem Haufen zu Brei gestampfter und anschließend zu Zetteln plattgeklopfter Zweige, die von etwas zusammengehalten wurden, das vorher eine Kuh zusammengehalten hatte. Ich nahm meinen Terminkalender mit nach draußen und blätterte ihn durch, während die Sonnenstrahlen durch die Bäume hinter mir fielen, in denen einige der Raufbolde unter den Lemuren sich irgendwas zugrölten.
»Tja«, sagte ich und nahm wieder auf der Stufe Platz. »Ich muß zwar noch ein paar Romane schreiben, aber, äh, hast du 1988 schon was vor?«