Hier Hühner

Das erste Tier, nach dem wir uns drei Jahre später auf die Suche machten, war die Drachenechse von Komodo. Wie bei den meisten Tieren, die wir uns ansehen wollten, handelte es sich dabei um ein Tier, über das ich nur sehr wenig wußte. Und das wenige, wovon ich wußte, war nicht gerade liebenswert.

Sie sind Menschenfresser.

Das ist an sich noch nicht so schlimm. Auch Löwen und Tiger sind Menschenfresser, und obwohl wir ihnen gegenüber höchst mißtrauisch sind und sie mit ängstlichem Respekt behandeln, bewundern wir sie doch instinktiv. Wir wollen zwar nicht von ihnen gefressen werden, aber die Idee als solche verübeln wir ihnen nicht. Was vermutlich daran liegt, daß wir wie sie Säugetiere sind. Es scheint hier so etwas wie ein erzkonservatives Vorurteil gegenüber anderen Arten am Werk zu sein: ein Löwe ist einer von uns, aber eine Echse nicht. Das gleiche gilt übrigens auch für Fische und erklärt unsere wahnwitzige Angst vor Haien.

Außerdem sind die Echsen von Komodo groß. Sehr groß. Zur Zeit lebt eine auf Komodo, die fast vier Meter lang und im Stehen knapp einen Meter hoch ist, was einem unwillkürlich als völlig unpassende Größe für eine Echse erscheint, vor allem, wenn sie ein Menschenfresser ist und man beabsichtigt, sich auf derselben Insel wie sie aufzuhalten.

Obwohl sie Menschenfresser sind, fressen sie nur selten Menschen, sondern ernähren sich größtenteils von Ziegen, Schweinen, Wild und ähnlichen Tieren, die sie jedoch nur töten, wenn sie nichts bereits Totes finden, weil sie im Grunde ihres Herzens Aasfresser sind. Sie mögen ihr Fleisch am liebsten verdorben und stinkend. Wir mögen unser Fleisch am liebsten anders und neigen dazu, Viechern mit solchen Geschmacksvorstellungen nicht über den Weg zu trauen. Was diese Echsen anging, traute ich ihnen überhaupt nicht über den Weg.

Mark hatte während der vergangenen drei Jahre viel Zeit damit zugebracht, unsere bevorstehenden Expeditionen zu planen, zu recherchieren, Briefe zu schreiben, zu telefonieren und vor allem Naturforschern zu telexen, die sich in den entlegensten Teilen der Welt aufhielten, sowie Reiserouten zu erarbeiten, Empfehlungen und Karten zu beschaffen. Außerdem hatte er sämtliche Visa, Flüge, Schiffspassagen und Unterkünfte organisiert und sie zu guter Letzt noch einmal von vorn organisieren müssen, als sich herausstellte, daß ich mit meinen beiden Romanen nicht fristgerecht fertig würde.

Schließlich war auch das erledigt. Ich ließ mein Haus in der Obhut von Bauarbeitern zurück, die behaupteten, nur noch drei Wochen daran arbeiten zu müssen, und machte mich auf den Weg, meine letzte Verpflichtung zu erfüllen – eine Lesereise durch Australien. Wenn Leute sich über Talkshows im Rundfunk oder Fernsehen beschweren, bei denen sich Autoren über ihr neuestes Werk verbreiten, kann ich das sehr gut nachfühlen. Andererseits schaffen uns solche Auftritte außer Haus und bewahren unsere Familien davor, sich das Gelaber über unser neuestes Werk anhören zu müssen.

Nachdem auch das überstanden war, konnten wir uns endlich auf die Suche nach den Riesenechsen machen.

Wir trafen uns in einem Hotelzimmer in Melbourne und inspizierten die Ausrüstung für unsere Expedition. »Wir«, das waren Mark, ich und Gaynor Shutte, eine Rundfunkjournalistin, die unsere Großtaten für die BBC mitschneiden wollte. Unsere Ausrüstung bestand aus einem gewaltigen Haufen von Kameras, Kassettenrecordern, Zelten, Schlafsäcken, Notapotheken, Moskitonetzen, unidentifizierbaren Gegenständen aus Zeltstoff und Nylon mit Metallösen und Plastikhaken, Regenkutten, Stiefeln, Fackeln und einem Kricketschläger.

Keiner von uns wollte zugeben, den Kricketschläger mitgebracht zu haben. Uns war vollkommen schleierhaft, was er zwischen den anderen Sachen zu suchen hatte. Wir riefen beim Zimmerservice an und baten, man möge uns ein paar Dosen Bier hochbringen und den Kricketschläger wegschaffen, aber niemand wollte ihn haben. Der Zimmerkellner meinte, falls wir uns wirklich auf die Suche nach einer menschenfressenden Echse machen wollten, wäre ein Kricketschläger doch ein ziemlich praktischer Begleiter.

»Wenn ein Drache mit fünfzig Stundenkilometern und schnappendem Kiefer auf Sie zukommt, können Sie ihn so immer noch mit einem Befreiungsschlag durch die Deckung dreschen«, sagte er, stellte das Bier ab und verschwand.

Wir versteckten den Kricketschläger unter dem Bett, öffneten die Bierflaschen und ließen uns von Mark erklären, was auf uns zukommen würde.

»Seit Jahrhunderten«, sagte er, »erzählt man sich in China Geschichten von großen, schuppigen, feuerspeienden Ungeheuern, nur hielt man sie früher für Mythen und schrullige Phantasiegebilde. Die alten Seefahrer haben von ihnen berichtet und ›Hier Drachen‹ auf ihre Karten geschrieben, wenn sie Land entdeckten, das ihnen schon von weitem nicht geheuer war.

Dann, zu Beginn dieses Jahrhunderts, unternahm ein holländischer Flugpionier den Versuch, von Insel zu Insel über den indonesischen Archipel nach Australien zu hüpfen, bekam dabei Probleme mit dem Motor und mußte auf einer kleinen Insel namens Komodo notlanden. Im Gegensatz zu seiner Maschine überstand er den Absturz unbeschadet.

Er suchte nach Wasser. Bei dieser Suche stieß er am Strand auf eine seltsame breite Spur, folgte ihr und sah sich plötzlich einem Ding gegenüber, dessen Anblick ihm ganz und gar nicht geheuer war. Nämlich einem großen, schuppigen, menschenfressenden, gute dreieinhalb Meter langen Ungeheuer. Und was er da anstarrte, ist, wonach wir suchen werden – der Komodo-Waran oder die Drachenechse von Komodo.«

»Hat er überlebt?« fragte ich ohne Umschweife.

»Ja, hat er, im Gegensatz zu seinem Ruf. Er schlug sich drei Monate lang durch und wurde dann gerettet. Aber als er nach Hause kam, hielten ihn alle für verrückt und glaubten ihm kein Wort.«

»Dann gehen also die chinesischen Drachenlegenden auf die Komodo-Warane zurück?«

»Tja, so genau kann man das natürlich nicht sagen. Ich zumindest nicht. Aber einiges spricht dafür. Die Echse ist ein Lebewesen mit Schuppen, sie ist ein Menschenfresser, und obwohl sie nicht gerade Feuer speit, hat sie von allen uns bekannten Lebewesen den mit Abstand übelsten Mundgeruch. Und es gibt noch etwas, was ihr über die Insel wissen solltet.«

»Was?«

»Nimm dir erst noch ein Bier.« Ich nahm mir noch ein Bier. »Auf Komodo«, sagte Mark, »gibt es pro Quadratmeter Boden mehr Giftschlangen als in jedem vergleichbaren Gebiet auf Erden.«

In Melbourne lebt ein Mann, der vermutlich mehr über giftige Schlangen weiß als jeder andere Mensch. Er heißt Dr. Struan Sutherland und hat sich zeit seines Lebens mit dem Studium der Tiergifte beschäftigt.

»Und ich hab's satt«, sagte er, als wir ihn am nächsten Morgen aufsuchten. »Nicht auszuhalten, diese giftigen Biester, diese Schlangen und Insekten und Fische und das ganze Zeug. Blöde Viecher, beißen jeden. Und dann erwarten die Leute von mir, daß ich ihnen sage, was sie dagegen tun sollen. Ich sage ihnen, was sie tun sollen. Sich grundsätzlich nicht beißen lassen. Das ist die Antwort. Ich hab's satt. Hydrokulturen, ja, das ist ein interessantes Thema. Kann Ihnen alles über Hydrokulturen erzählen. Faszinierende Sache, Pflanzen künstlich in Wasser zu züchten, sehr interessante Technik. Wenn man zum Mars oder sonstwohin will, sollte man alles darüber wissen. Wo, sagten Sie, wollen Sie hin?«

»Komodo.«

»Schön, lassen Sie sich nicht beißen, mehr fällt mir dazu nicht ein. Und andernfalls kommen Sie bloß nicht hier angelaufen, weil Sie es erstens nicht rechtzeitig schaffen und ich zweitens wahrscheinlich sowieso nicht hiersein werde. Ich hasse dieses Büro, sehen Sie sich das doch bloß mal an. Alles vollgestopft mit giftigen Tieren. Sehen Sie mal hier, dieser Behälter, randvoll mit Feuerameisen. Giftig. Langweilen mich zu Tode. Na, was soll's. Ich hab Kuchen hier, falls Sie Appetit haben. Möchten Sie ein Stück Kuchen? Wenn ich bloß wüßte, wo ich den gelassen hab, Tee ist auch noch da, aber der schmeckt nicht besonders. Herrgott, jetzt setzen Sie sich doch endlich hin.

Sie wollen also nach Komodo. Na, ich weiß zwar nicht, warum Sie da hinwollen, aber Sie werden schon Ihre Gründe haben. Auf Komodo gibt es fünfzehn verschiedene Schlangenarten, und davon ist die Hälfte giftig. Lebensgefährlich sind aber nur die Kettenviper, die grüne Bambusotter und die indische Kobra.

Auf der Liste der gefährlichsten Schlangen steht die indische Kobra auf Platz fünfzehn, und die anderen vierzehn Arten leben hier in Australien. Kein Wunder, daß ich kaum Zeit für meine Hydrokulturen finde, wo es hier überall nur so wimmelt von Schlangen.

Und Spinnen. Die giftigste Spinnenart ist die Atrax robustus, und die beißt jedes Jahr ungefähr fünfhundert Leute. Da viele von denen anschließend zu sterben pflegten, mußte ich ein Gegengift entwickeln, um nicht dauernd von irgendwelchen Leuten belästigt zu werden. Hat uns Jahre gekostet. Dann haben wir diesen Schlangenbißdetektor entwickelt. Nicht, daß man einen Detektor brauchte, um herauszubekommen, daß man von einer Schlange gebissen wurde – das merkt man ja normalerweise –, aber mit Hilfe des Gerätes kann man erkennen, von was man gebissen wurde, und den Biß anschließend richtig behandeln.

Möchten Sie mal eins von den Geräten sehen? Ich habe ein paar hier, im Giftkühlschrank. Werfen Sie ruhig einen Blick drauf. Ach, sieh an, da ist ja auch der Kuchen. Essen Sie schnell ein Stück, solange er noch frisch ist. Hab ich selbst gebacken.«

Er reichte uns den Schlangenbißdetektor und die steinharten Kuchenstücke, zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück und strahlte uns von dort aus über seine Fliege und den buschigen Bart hinweg vergnügt an. Wir fanden die Geräte beeindruckender als den Kuchen und fragten Sutherland, wie viele Schlangen ihn schon gebissen hätten.

»Keine«, sagte er. »Ein weiteres Gebiet, auf dem ich enorme Fähigkeiten entwickelt habe, ist das Anfassen von Schlangen. Ich überlasse es anderen Leuten. Mach ich nicht selbst. Will ich vielleicht gebissen werden? Wissen Sie, was über mich im ›Who is Who‹ steht? ›Hobbys: Gartenarbeit – mit Handschuhen; Angeln – mit Gummistiefeln; Reisen – mit Umsicht‹. So sieht's aus. Ach, und ich trage ausgebeulte Hosen. Sobald eine angreifende Schlange etwas im Maul hat, beginnt sie Gift zu injizieren. Trägt man eine weite Hose, spritzt der Großteil des Giftes an der Innenseite des Hosenbeines herunter, wo es erheblich besser aufgehoben ist als im Bein. Sie essen Ihren Kuchen ja gar nicht. Na los, runter damit, ist noch jede Menge im Kühlschrank.«

Wir fragten zaghaft an, ob wir vielleicht einen Schlangenbißdetektor nach Komodo mitnehmen könnten.

»Klar können Sie das, klar können Sie das. Nehmen Sie so viele, wie Sie wollen. Wird Ihnen bloß nicht die Bohne nützen, weil die Dinger nur bei australischen Schlangen funktionieren.«

»Na schön, was sollen wir also tun, wenn wir von irgendwas Lebensgefährlichem gebissen werden?« fragte ich.

Er sah mich an, als sei ich bescheuert.

»Na, was machen Sie dann wohl?« sagte er. »Sie sterben. Was denn sonst? Deshalb heißt es ja lebensgefährlich.«

»Und was halten Sie davon, die Wunde aufzuschneiden und das Gift herauszusaugen?« fragte ich.

»Können Sie gerne machen«, sagte er. »Ich persönlich halte nicht viel von einem Mund voll Gift. Sämtliche Blutgefäße im Zungenbereich liegen sehr dicht an der Oberfläche, und das Gift wandert direkt in die Blutbahn. Immer vorausgesetzt, Sie bekommen viel von dem Gift heraus, was Ihnen vermutlich nicht gelingt. Und auf einer Insel wie Komodo heißt das, daß Sie sehr schnell sowohl mit einer infizierten Wunde als auch mit einem giftgefüllten Bein zu kämpfen haben. Blutvergiftung, Wundbrand, was Sie wollen. Sie würden es nicht überleben.«

»Wie wär's mit einer Aderpresse?«

»Wunderbar, solange es Ihnen nichts ausmacht, sich nachher das Bein abnehmen zu lassen. Das müßten Sie allerdings, weil es nämlich abgestorben wäre. Und falls Sie es in diesem Teil Indonesiens irgend jemandem zutrauen, Ihnen ein Bein abzunehmen, sind Sie bedeutend mutiger als ich. Nein, es sieht so aus: Alles, was Sie tun können, ist, einen Druckverband genau über der Wunde anzubringen und das gesamte Bein fest, aber nicht zu fest, zu bandagieren. Verlangsamen Sie den Blutstrom, aber schnüren sie ihn nicht ab, wenn Sie an ihrem Bein hängen. Halten Sie das Bein oder jedes andere Körperteil, in das sie gebissen wurden, unterhalb von Herz- und Kopfhöhe. Verhalten Sie sich sehr, sehr ruhig, atmen Sie langsam, und rufen Sie sofort einen Arzt. Auf den werden Sie auf Komodo einige Tage warten müssen, und bis dahin sind Sie sowieso tot.

Die einzige Antwort ist, und das meine ich ernst: Lassen Sie sich nicht beißen. Warum sollten Sie? Sämtliche Schlangen gehen Ihnen aus dem Weg, noch bevor Sie sie zu Gesicht bekommen. Solange Sie vorsichtig sind, müssen Sie sich wegen der Schlangen wirklich keine Sorgen machen. Nein, was Sie allerdings tatsächlich beunruhigen sollte, sind die Meeresbewohner.«

»Was?«

»Seeskorpione, Steinfische, Wasserschlangen. Wesentlich giftiger als das, was an Land lebt. Wenn Sie sich von einem Steinfisch stechen lassen, werden Sie schon vor Schmerz umkommen. Manche Leute ertränken sich, nur um die Qualen zu beenden.«

»Und wo sind diese ganzen Dinger?«

»Im Wasser. Tonnenweise. Würde an Ihrer Stelle nicht zu dicht rangehen. Alles gerammelt voll mit giftigen Tieren. Ich hasse das Zeug.«

»Gibt es irgend etwas, was Sie mögen?«

»Hydrokulturen.«

»Nein, ich meine, gibt es irgendein giftiges Lebewesen, das Sie besonders gern haben?«

Für einen Augenblick sah er aus dem Fenster. »Gab's mal«, sagte er. »Aber sie hat mich verlassen.«


Wir flogen nach Bali.

David Attenborough hat Bali als den schönsten Ort auf Erden bezeichnet, muß aber länger als wir dagewesen sein oder andere Ecken gesehen haben, denn das meiste von dem, was wir während der Vorbereitungen zur Weiterreise dort zu Gesicht bekamen, war gräßlich. Gesehen haben wir nur den Tourismussektor, also jenen Teil, der im Interesse der Menschen, die von weither wegen der Schönheit der Insel nach Bali anreisen, fast genauso aussieht wie überall auf der Welt.

Die engen, matschigen Straßen von Kuta waren gesäumt von Souvenirläden und Hamburgerständen und bevölkert von Massen betrunkener, grölender Touristen, Kamikaze-Motorradfahrern, Verkäufern gefälschter Uhren und kleinen Hunden. Die Kamikaze-Motorradfahrer versuchten, die Touristen und die kleinen Hunde von der Straße zu fegen, während der Kleinbus, in dem wir unsere Koffer für den Großteil des Abends von einem vollen Hotel zum nächsten vollen Hotel beförderten, mit Videospiel-Geschwindigkeit durch die Uhrenverkäufer und Kamikazefahrer raste. Irgendwo, nicht weit von diesem Ort entfernt, in Richtung Inselmitte, mochte sich der Himmel auf Erden verstecken, aber vor die Tore zu diesem Paradies hatte die Hölle einen Haufen Arbeit gestellt.

Die Touristen mit ihren Bierdosen und ihren »Fuck-Off«-T-Shirts mußten jedem ein vertrautes Bild sein, der Engländer in Spanien oder Griechenland im Einsatz erlebt hat, aber mir ging beim Betrachten dieser Szenen plötzlich auf, daß ich mich ausnahmsweise nicht in Grund und Boden schämen mußte. Es waren keine Engländer. Es waren Australier.

Andererseits war die Ähnlichkeit so groß, daß sie mich ins Grübeln über konvergierende Evolution brachte – einen Begriff, den ich vor weiteren Ausführungen besser kurz erkläre.

Frappierend ähnliche, trotzdem ganz und gar nicht miteinander verwandte Lebensformen entwickeln sich aufgrund gleicher Lebensbedingungen in verschiedenen Erdteilen. Beispielsweise verfügt das Aye-Aye, der Lemur, den Mark und ich bei unserer ersten Reise nach Madagaskar aufgespürt hatten, über einen besonders bemerkenswerten Körperteil. Sein Mittelfinger ist bedeutend länger als die anderen Finger und knochendürr, fast wie ein Zweig. Diesen Finger benutzt es, um die Larven, von denen es sich ernährt, unter der Baumrinde herauszuklauben.

Ein anderes Tier, ein in Papua-Neuguinea heimisches, langfingriges Opossum, verhält sich ebenso. Es verfügt über einen langen, dürren Ringfinger für genau denselben Zweck. Zwischen den beiden Tieren besteht keine Verwandtschaft, und was sie verbindet, ist einzig dies: das Fehlen von Spechten.

Es gibt keine Spechte auf Madagaskar, und es gibt keine Spechte auf Papua-Neuguinea. Folglich liegt Nahrung – die Larven unter der Rinde – brach, und in beiden Fällen haben die Säugetiere einen Mechanismus entwickelt, an sie heranzukommen. Der Mechanismus, dessen sich beide bedienen, ist der gleiche – verschiedene Finger, gleicher Grundgedanke. Eine Übereinstimmung, die einzig und allein dem Selektionsprozeß der Evolution zuzuschreiben ist, da die Tiere nicht miteinander verwandt sind.

Einander exakt entsprechende Verhaltensmuster haben sich vollkommen unabhängig voneinander auf beiden Hälften der Erdkugel entwickelt. In den Souvenirläden in Spanien, Griechenland oder auf Hawaii lassen sich die Einheimischen gegen Bezahlung fröhlich beleidigen oder ausnutzen, um das eingenommene Geld dann zum intensiveren Raubbau an ihrem Lebensraum zwecks Anziehung größerer Scharen geldbeladener Räuber auszugeben.

»Schön«, sagte Mark, als wir uns an diesem Abend zum Essen in einem Touristenrestaurant zwischen Plastikblumen. Supermarktmusik und Papierschirmchen zur Verzierung der Drinks einfanden, »ist doch zauberhaft. Jetzt müssen wir uns nur noch eine Ziege besorgen.«

»Hier?«

»Nein. In Labuan Bajo. Labuan Bajo liegt auf der Insel Flores und ist der Komodo nächstgelegene Hafen. Wir werden eines der tückischsten Meere Asiens überqueren müssen. An der Stelle treffen das Südchinesische Meer und der Indische Ozean aufeinander, und das ganze Gebiet ist durchzogen von Gegenströmungen, Stromkabbelungen und Strudeln. Die Überfahrt ist sehr gefährlich und kann bis zu zwanzig Stunden dauern.«

»Mit einer Ziege?«

»Einer toten Ziege.«

Ich spielte mit meinem Essen herum.

»Ideal ist es«, fuhr Mark fort, »wenn die Ziege schon seit gut drei Tagen tot ist und einen anständigen Verwesungsgeruch entwickelt hat. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Drachen angezogen fühlen.«

»Du beabsichtigst, zwanzig Stunden auf einem Boot...«

»Einem kleinen Boot«, ergänzte Mark.

»... bei rauhem Seegang...«

»Höchstwahrscheinlich.«

»... mit einer seit drei Tagen toten Ziege zu verbringen?«

»Ja.«

»Mir fehlen die Worte.«

»Es gibt da noch was, das ich dir vielleicht sagen sollte, und zwar, daß ich keine Ahnung habe, ob irgend etwas von alldem eigentlich stimmt. Es kursieren die widersprüchlichsten Geschichten, von denen einige vermutlich einfach überholt oder komplett erfunden sind. Wir werden uns hoffentlich einen besseren Überblick über die Lage verschaffen können, wenn wir in Labuan Bajo sind. Wir fliegen morgen über Bima und sollten rechtzeitig am Flughafen Denpasar sein. Es war ein Alptraum, die Tickets und den Anschlußflug zu bekommen. Wir dürfen diese Maschine einfach nicht verpassen.«


Wir taten es trotzdem. Auf dem Flughafen erwartete uns ein Ausbruch der Hölle, der aus einem heillosen Durcheinander von Menschen und unüberhörbaren Andeutungen von Gewalttätigkeit bestand. Der Mann am Schalter der Fluggesellschaft teilte uns mit, unser Flug von Bima nach Labuan Bajo sei vom Reisebüro nicht bestätigt worden, also hätten wir keine Plätze. Achselzuckend gab er uns unsere Tickets zurück.

Da man uns gesagt hatte, Indonesien könne man nur in einem Gemütszustand äußerster Gelassenheit in Angriff nehmen, beschlossen wir, es damit zu versuchen. Wir versuchten, dem Mann gelassen klarzumachen, daß auf unseren Tickets, genaugenommen, »bestätigt« stehe, woraufhin er uns erklärte, »bestätigt« bedeute, genaugenommen, gar nicht bestätigt, sondern werde lediglich auf Wunsch gewisser Leute auf die Tickets geschrieben, weil man sich so eine Menge Mühe spare und die Leute dazu bringe, wegzugehen.

Er ging weg. Wir standen gelassen da und fächelten uns mit den Tickets schlechte Luft zu. Hinter dem Schalter war ein Fenster, durch das uns ein schlanker Flughafenangestellter mit schmalem Schnurrbart, schmalem Schlips und einem weißen Hemd mit schmalen Schulterstücken durch die dünnen Rauchschwaden seiner Zigarette teilnahmslos anstarrte. Wir winkten ihm mit unseren Tickets zu, aber er schüttelte nur sehr, sehr bedächtig den Kopf.

Gelassen marschierten wir zum Ticketbüro, wo man uns sagte, man sei nicht zuständig, wir sollten uns an das Reisebüro wenden.

Nach einer Reihe zunehmend weniger gelassener Telefongespräche mit dem Reisebüro auf Bali wußten wir nur, daß die Tickets mit Sicherheit bestätigt worden waren und daß mehr dazu nicht zu sagen sei. Im Ticketbüro sagte man uns, daß sie das mit Sicherheit nicht seien und daß mehr dazu nicht zu sagen sei.

»Wie sieht's denn mit einem anderen Flug aus?« fragten wir. Vielleicht, sagten sie. Vielleicht nächste oder übernächste Woche.

»Nächste oder übernächste Woche?« beklagten wir uns lautstark.

»Moment«, sagte einer der Männer, nahm unsere Tickets und verschwand. Nach ungefähr zehn Minuten kehrte er zurück und gab sie einem anderen Mann, der »Moment« sagte und verschwand. Er kam eine Viertelstunde später zurück, sah uns an und sagte: »Ja? Was kann ich für Sie tun?« Nachdem wir ihm die Situation noch einmal ausführlich geschildert hatten, nickte er, sagte »Moment« und verschwand erneut. Als wir, nachdem einige Zeit vergangen war, fragten, wo er sei, teilte man uns mit, er sei seine Mutter in Jakarta besuchen gegangen, weil er sie seit drei Jahren nicht gesehen habe.

Ob er unsere Tickets mitgenommen habe, wollten wir wissen. Nein, die seien hier irgendwo. Ob wir sie gern zurückhätten?

Ja, allerdings, erklärten wir. Wir versuchten nämlich gerade, nach Labuan Bajo zu kommen.

Offenbar löste diese Nachricht beträchtliche Bestürzung aus, denn binnen weniger Minuten waren alle Angestellten des Büros zum Mittagessen gegangen.

Langsam wurde uns klar, daß die Maschine ohne uns starten würde. Wir verwarfen die Möglichkeit, den ersten Teil der Reise bis nach Bima zurückzulegen und dann dort auf dem trockenen zu sitzen, und beschlossen statt dessen, auf Bali zu bleiben und uns den Mann vom Reisebüro vorzunehmen. Schluß mit der Gelassenheit.


Ein Kleinbus brachte uns zurück zum Reisebüro, wo wir unter der Last unseres gesamten Gepäcks langsam die Stufen hinaufstürmten und das Angebot, Platz zu nehmen, Kaffee zu trinken und dabei einer Maschine zuzuhören, die bei jedem Telefonklingeln »Greensleeves« anstimmte, wütend zurückwiesen. Es lag eine Art stillschweigendes Entsetzen in der Luft, als ob einer von uns gestorben wäre, aber da wir ungefähr eine Stunde lang von niemandem beachtet wurden, begannen wir schließlich wieder zu zetern und wurden unverzüglich ins Büro des Geschäftsführers geleitet, der uns einen Platz anbot und sagte, die Indonesier seien eine stolze Rasse, und darüber hinaus sei sowieso alles die Schuld der Fluggesellschaft.

Er beruhigte uns anschließend beträchtlich, teilte uns mit, er verfüge auf Bali über einigen Einfluß, und machte uns klar, daß wir auch durch Wutausbrüche nichts an unserer Lage ändern könnten.

Das war ein Standpunkt, mit dem ich mich ziemlich problemlos anfreunden konnte, da ich von Natur aus ohnehin eher ein stillschweigender Nicker und Lächler bin, der Ärger und Frustrationen zunächst die gerunzelte Stirn bietet, um dann einfach ins Bett zu gehen.

Andererseits führte kein Weg an der Feststellung vorbei, daß unser Lächeln und Nicken und freundliches Lachen als Reaktion auf Menschen, die uns freundlich anlachten, praktisch nichts bewirkt hatte, außer, daß irgendwelche Leute häufiger »Moment, Moment« gesagt hatten und nach Jakarta abgereist waren oder uns teilnahmslos durch blasse Rauchschwaden angestarrt hatten. Sobald wir uns allerdings in unsere Wut hineingesteigert und ein bißchen mit den Füßen aufgestampft hatten, wurden wir unverzüglich ins Büro des Reisebüroleiters geführt, der uns nun eifrig versicherte, zu Wutausbrüchen bestehe überhaupt kein Anlaß und daß er speziell für uns einen Sonderflug nach Labuan Bajo arrangieren werde.

Die Sinnlosigkeit unseres Herumgestampfes versuchte er uns mit Hilfe von Karten zu verdeutlichen. »In diesem Bereich«, sagte er und zeigte auf eine große Wandkarte, die halb Asien zeigte, »funktioniert es. Östlich dieser Linie hier funktioniert es nicht.«

Er klärte uns auf, daß man bei Reisen in Indonesien für alles Dringliche immer vier oder fünf Tage einplanen müsse. Wie er sagte, passierten Dinge wie die Geschichte mit unseren belegten Plätzen in der Maschine ständig. Häufig benötige irgendein Regierungsbeamter oder eine andere hochrangige Persönlichkeit überraschend einen Platz, was dann natürlich dazu führe, daß jemand anders seinen Sitz verliere. Wir fragten, ob genau das auch uns zugestoßen sei. Er sagte, nein, das sei nicht der Grund gewesen, nur sollten wir diese Art Grund im Hinterkopf behalten, wenn wir über derartige Probleme nachdächten.

Es war der richtige Moment, den Kaffee anzunehmen.

Er organisierte uns ein Hotelzimmer für die Nacht und eine nachmittägliche Kleinbus-Tour über die Insel.

Wie wir herausfanden, kann man auf Bali gut davon leben, auf Tiere zu deuten. Zuerst muß man sein Tier finden, dann deutet man darauf.

Wenn man es geschickt anstellt, kann man sogar davon leben, auf die Person zu deuten, die auf das Tier deutet. Ein besonders gutes Beispiel für diese Art von Broterwerb entdeckten wir am Strand in der Nähe des berühmten Tempels von Tanah Lot, und offenbar handelte es sich um ein alteingesessenes und florierendes Unternehmen. Oberhalb des Strandes lag eine sehr flache, breite Höhle, in deren Seitenwand sich ein paar gelbe Schlangen häuslich eingerichtet hatten. Vor der Höhle saß ein Mann auf einer Kiste, sammelte Geld ein und deutete auf den Mann in der Höhle. Nachdem man bezahlt hatte, durfte man in die Höhle kriechen, und der Mann in der Höhle deutete auf die Schlangen.

Von diesem Lichtblick abgesehen, war die Tour mit unserem Reiseführer ausgesprochen deprimierend. Als wir ihm erzählten, wir hätten keine Lust, uns die typischen Touristenecken anzusehen, brachte er uns dorthin, wo sie alle Touristen hinbringen, die keine Lust haben, sich die typischen Touristenecken anzusehen. Natürlich sind diese Ecken voller Touristen. Was nicht bedeuten soll, daß wir in irgendeiner Hinsicht weniger Touristen waren als alle anderen, nur wirft es ein Licht auf die leidige Erfahrung, daß alles, was man sehen will, allein durch die Tatsache, daß man es sehen will, verändert wird, was, nebenbei bemerkt, genau die Art von Problemstellung ist, mit der sich Physiker seit Beginn dieses Jahrhunderts herumschlagen. Ich werde nicht darauf herumreiten, daß Bali in einen Original-Bali-Park verwandelt wird, wobei man die Insel nach und nach zerstört, um Platz zu schaffen für einen billigen, künstlichen Abklatsch dessen, was früher einmal da war, weil dieser Vorgang schon zu bekannt ist, um noch irgend jemandem neu zu sein. Ich möchte nur einmal frustriert und wütend aufschreien dürfen. Ich fürchte, ich konnte es kaum erwarten, den schönsten Ort auf Erden wieder zu verlassen.

Am nächsten Tag schafften wir es endlich, vom Flughafen Denpasar aus nach Bima aufzubrechen. Wegen des Tohuwabohus vom Vortag kannte uns praktisch jeder, und der schlanke Mann, der uns durch seine dünnen Rauchschwaden angestarrt hatte, lächelte ununterbrochen und war entsetzlich hilfsbereit.

Aber das sollte uns nur mürbe machen.

In Bima angekommen, teilte man uns mit, vor dem nächsten Morgen werde keine Maschine nach Labuan Bajo weiterfliegen.

Ob wir dann vielleicht wiederkommen wollten? In diesem Augenblick begannen wir ein bißchen auszurasten, wurden dann jedoch unerwartet gepackt, durch die Menge geschubst und in eine baufällige kleine Maschine geschaufelt, die vollbesetzt auf der Rollbahn hockte und auf die Starterlaubnis nach Labuan Bajo wartete.

Auf dem Weg zum Flugzeug kamen wir mitten auf der Rollbahn an einem kleinen, von niemandem beachteten Gepäckwagen vorbei, auf dem sich unser atemberaubender Gepäckberg türmte. Nachdem wir die Maschine bestiegen und Platz genommen hatten, debattierten wir nervös die Frage, ob wir glaubten, daß jemand auf die Idee verfallen würde, das Zeug einzuladen.

Schließlich verlor ich die Nerven, stieg aus dem Flugzeug und begann, über die Rollbahn zurückzulaufen. Sofort wurde ich von Flughafenangestellten aufgehalten und gefragt, was ich vorhätte. Ich sagte mehrmals »Gepäck« und zeigte mit dem Finger darauf. Sie versicherten mir, alles sei in Ordnung, es gebe keinerlei Probleme, und sie hätten alles im Griff. Ich konnte sie schließlich überreden, mir zu dem mitten auf der Rollbahn stehenden Gepäckwagen zu folgen. Ohne nennenswert aus dem Takt zu geraten, hörten sie auf, mir zu versichern, unser Gepäck sei an Bord der Maschine, und halfen mir, es tatsächlich dorthin zu verfrachten.

Nachdem das erledigt war, konnten wir wegen dieser Sache endlich beruhigt sein und anfangen, uns ernsthafte Sorgen über den grauenhaften Zustand des Flugzeugs zu machen.

Die Tür zum Cockpit blieb während der gesamten Flugdauer geöffnet und hätte genausogut völlig fehlen können. Mark erzählte mir, Air Merpati fliege ausschließlich mit gebrauchten Maschinen von Air Uganda, aber das sollte vermutlich ein Witz sein.

Ich betrachte Flugreisen dieser Art immer mit fröhlicher Sorglosigkeit. Normalerweise kratzt mich das alles überhaupt nicht. Ich glaube nicht, daß das etwas mit Mut zu tun hat, denn in Autos bin ich häufig starr vor Schreck, besonders, wenn ich selbst am Steuer sitze. In einem Flugzeug ist man jeder Verantwortung enthoben und kann sich genausogut zurücklehnen und das Knarren und Rütteln des alten Wracks, das von Turbulenzen durch den Himmel geschleudert wird, mit einem schwachsinnigen Lächeln über sich ergehen lassen. Man kann ja sowieso nichts daran ändern.

Mark studierte die Instrumente im Cockpit mit wachsender Neugier und sagte schließlich, die Hälfte funktioniere schlichtweg nicht. Ich lachte, zugegebenermaßen ein bißchen hysterisch, und sagte, das sei wahrscheinlich in Ordnung so. Falls die Instrumente nämlich funktionierten, würden sie die Piloten bestimmt ablenken und verunsichern, und mir wäre durchaus lieb, wenn sie so weitermachten wie bisher. Mark fand diese Bemerkung überhaupt nicht komisch, womit er zweifellos recht hatte, hielt mich aber trotzdem nicht davon ab, noch mal richtig ausgiebig zu lachen und auch während der restlichen Flugzeit nicht mehr damit aufzuhören. Mark drehte sich um und fragte einen der Passagiere hinter uns, ob diese Maschinen gelegentlich abstürzten. Ja, kam die Antwort, aber keine Sorge – es habe schon seit Monaten keinen schweren Absturz mehr gegeben.

In Labuan Bajo zu landen war interessant, weil die Piloten nicht in der Lage waren, die Landeklappen auszufahren. Besonders interessant war für uns auch die Frage, ob wir angesichts der immer näher rückenden Bäume am Ende der Landebahn und der mit vereinter Kraft an einem Hebel in der Kabinendecke zerrenden Piloten weiterleben würden oder nicht. Im letzten Moment gab der Hebel nach, und in gedämpfter und besinnlicher Stimmung knallten wir auf die Rollbahn.

Wir kletterten aus dem Flugzeug und brachten das Flughafenpersonal nach längeren Verhandlungen dazu, auch unser Gepäck auszuladen, da wir es letztlich für eine gute Idee hielten, es mitzunehmen.

In der Ankunftshalle oder vielmehr -hütte des Flughafens erwarteten uns zwei Männer. Sie hießen Kiri und Moose und waren wie die meisten Indonesier, die wir kennenlernten, klein, gertenschlank und drahtig. Wir hatten keine Ahnung, wer sie waren.

Kiri war ein charmanter Mann mit einem nahezu quadratischen Gesicht, einem schwarzen, gewellten Haarschopf und einem dichten schwarzen Schnurrbart, der wie ein Riegel Schokolade auf seiner Oberlippe klebte. Er hatte eine tiefe Stimme, die aber gleichzeitig so dünn und ohne jegliches Volumen war, daß er nur eine Art supercooles Krächzen hervorbrachte. Die meisten seiner Bemerkungen setzten sich aus einem behäbigen, faulen, ausgebufften Lächeln und ein paar abgewürgten, rasselnden Kehllauten zusammen. Er schien mit den Gedanken ständig woanders zu sein. Wenn er einen anlächelte, kam das Lächeln nie an, sondern blieb auf halber Strecke stecken, als gelte es ihm selbst. Moose war wesentlich unkomplizierter, wenn sich auch nach kurzer Zeit herausstellte, daß Moose gar nicht »Moose«, sondern »Mus« hieß, was die Abkürzung von »Hieronymus« darstellte. Ich kam mir ein bißchen blöd vor, weil ich »Moose« verstanden hatte. Es wäre schon ziemlich ungewöhnlich gewesen, einen indonesischen Inselbewohner nach einem großen kanadischen Elch zu benennen. Wohl fast so ungewöhnlich, wie ihn mit unausgesprochener »Hieronie« Hieronymus zu nennen.

Wir hatten eigentlich jemand anderen erwartet, nämlich einen Mr. Condo (ausgesprochen Chondo), unseren Führer. Was mich irritierte, war, daß er als einziger der Indonesier, die wir bisher kennengelernt hatten, mit »Mr.« angesprochen wurde. Den geheimnisvollen und glamourösen Anschein, den ihm der Titel verlieh, konnte er nicht zerstreuen, da er offensichtlich tauchen gegangen war. Kiri und Moose erläuterten uns, er werde in Kürze wieder auftauchen, und sie seien gekommen, um uns das zu sagen.

Wir bedankten uns, verstauten unser gesamtes Gepäck auf der Ladefläche des Lieferwagens, setzten uns obendrauf und holperten von der Ankunftshütte in Richtung der Innenstadt von Labuan Bajo. Im Flugzeug hatte uns jemand erzählt, auf der ganzen Insel Flores gebe es nur drei Lastwagen, und von denen passierten wir auf dem Weg in die Stadt sechs. So gut wie alles, was man uns in Indonesien erzählte, erwies sich als unwahr, manchmal nahezu augenblicklich. Mit einer Ausnahme. Wenn man uns erzählte, etwas werde augenblicklich geschehen, erwies sich das für geraume Zeit als unwahr.

Aufgrund unserer Erfahrungen vom Vortag hielten wir bei der Merpati-Airlines-Hütte und ließen uns unsere Buchung für den Rückflug bestätigen. Das Büro war lediglich mit einem Mann in Gummilatschen besetzt, der sämtliche Flugbuchungen mit einem Armee-Funkgerät vornahm. Da er keinen Stift hatte, mußte er sich an alles nach bestem Wissen erinnern. Ihm wäre es lieber gewesen, wir hätten einfache Tickets statt Hin- und Rückflug gebucht, weil wir die Rückflugtickets dann dort hätten kaufen können. Niemand, sagte er, kaufe Tickets bei ihnen, obwohl sie das Geld gut gebrauchen könnten.

Wir fragten ihn, wie viele Leute für den Rückflug gebucht hätten. Er sah auf eine Liste und sagte »Acht«. Mit einem Blick über seine Schulter stellte ich fest, daß außer unseren drei Namen nur noch ein weiterer auf der Liste stand, und ich fragte ihn, wie er auf die Zahl Acht komme. Er setzte mir auseinander, das sei ganz einfach. Es flögen immer acht Leute mit.

Wie sich einige Tage später herausstellte, hatte er vollkommen recht. Möglicherweise verbirgt sich hinter diesem Umstand ein schwer zu ergründendes Prinzip, das British Airways, der Lufthansa und anderen Fluggesellschaften enorme Gewinne einbrächte, wenn sie herausfänden, worum es sich dabei handelt.

Die Straße in die Stadt war staubig. Die Luft war bedeutend heißer und feuchter als auf Bah und voll von den berauschenden Gerüchen der Bäume und Sträucher. Ich fragte Mark, ob er die Bäume anhand ihrer Gerüche identifizieren könne, und er sagte, nein, er sei Zoologe. Er meinte, einen Gelbhaubenkakadu herauszuriechen, aber auf mehr wollte er sich beim besten Willen nicht festlegen.

Kurz darauf wurden diese schwachen, flüchtigen Düfte vom alles beherrschenden Gestank der Kanalisation von Labuan Bajo verdrängt. Der Laster, mit dem wir in die Stadt polterten, wurde von hüpfenden, lächelnden Kindern umringt, die sich riesig freuten, uns zu sehen, und stolz mit ihrem neuesten Spielzeug angaben, einem einbeinigen Huhn. Die lange Hauptstraße war überfüllt von einigen der drei Laster, die es auf Flores gab, hallte wider vom Lärm der Kinder und dem kratzigen Gurgeln eines auf Band aufgenommenen Muezzins, das aus einem bedenklich unsicher auf einer Wellblech-Moschee thronenden Minarett herunterplärrte. Unerklärlicherweise schienen die Rinnsteine bis zum Rand mit hellglänzendem, grünem Schleim gefüllt zu sein.

Eine Pension oder ein kleines Hotel heißt in Indonesien »Losmen«, und im größten dieser Losmen warteten wir auf Mr. Condos Erscheinen. Da wir noch am selben Nachmittag nach Komodo weiterreisen wollten und das Losmen ohnehin so gut wie leer war, hielten wir es für überflüssig, ein Zimmer zu buchen. Wir vertrieben uns die Zeit im überdachten Innenhof, der zugleich das Eßzimmer war, tranken Bier und plauderten mit den sonderbaren Gästen, die von Zeit zu Zeit eintrudelten. Als wir, da der Nachmittag sich ohne Mr. Condo seinem Ende näherte, endlich kapierten, daß wir an diesem Tag bestimmt nicht mehr nach Komodo kommen würden, hatte sich das Losmen anständig gefüllt, also versuchten wir einigermaßen panisch, einen Schlafplatz aufzutreiben.

Ein kleiner Junge kam zu uns heraus, sagte, es sei noch ein Zimmer frei, falls wir das haben wollten, und führte uns über eine wacklige Treppe nach oben. Wie sich herausstellte, führte der Gang, den wir betraten, nicht in unser Zimmer, sondern war das Zimmer. Wir hatten uns von der Tatsache, daß in ihm keine Betten standen, in die Irre führen lassen, erklärten uns jedoch trotzdem einverstanden und kehrten in den Innenhof zurück, wo wir endlich von Mr. Condo begrüßt wurden, einem kleinen, charismatischen Mann, der sagte, daß alles organisiert sei und wir am nächsten Morgen um sieben in See stechen könnten.

Was ist mit der Ziege? fragten wir besorgt.

Er zuckte die Achseln. Welcher Ziege? fragte er.

Ob wir denn etwa keine Ziege brauchten?

Er versicherte uns, auf Komodo gebe es eine Menge Ziegen.

Oder brauchten wir eine für die Reise?

Wir sagten, das sei unserer Auffassung nach wohl nicht unbedingt nötig, worauf er erwiderte, er habe es nur erwähnt, weil es allem Anschein nach das einzige sei, was wir nicht mitzunehmen beabsichtigten. Wir verstanden das als eine Art satirische Anspielung auf den uns umgebenden kühnen Gepäckberg, lachten höflich und ließen uns von ihm eine angenehme Nachtruhe wünschen.

In Labuan Bajo zu schlafen hat was von einem Ausdauertest.

Im Morgengrauen von den Hähnen geweckt zu werden ist an sich kein Problem. Das eigentliche Problem entsteht erst, wenn die Hähne nicht genau wissen, wann der Morgen denn nun eigentlich graut. Gegen ein Uhr nachts erwachen sie schlagartig kreischend und schreiend zum Leben. Gegen halb zwei bemerken sie ihren Irrtum und halten den Schnabel, kurz bevor die nächtlichen Hunde-Hauptkämpfe eingeläutet werden. Die Veranstaltung beginnt normalerweise mit einigen unbedeutenden Gefechten begeisterter Nachwuchstalente, bevor einem dann der komplette Chor der Schwergewichtsmeister einen nachhaltigen Eindruck des Gefühls vermittelt, mit dem London Symphony Orchestra geradewegs in die Hölle zu rutschen.

Anschließend kann man die pädagogisch wertvolle Erfahrung machen, daß zwei kämpfende Katzen problemlos mehr Krach verursachen können als vierzig Hunde. Es ist bedauerlich, das ausgerechnet um Viertel nach zwei Uhr nachts lernen zu müssen, aber andererseits haben die Katzen von Labuan Bajo auch allen Grund zur Klage. Ihre Schwänze werden bei der Geburt kupiert, weil das angeblich Glück bringen soll, wenn auch vermutlich nicht unbedingt den Katzen.

Sobald die Katzen ihre Ausführungen beendet haben, legen die Hähne wieder los, weil sie urplötzlich meinen, es dämmere. Was natürlich nicht der Fall ist. Bis zum Morgengrauen sind es noch immer zwei Stunden, und bis dahin muß man nur noch den Hup-Wettbewerb der Lieferwagenfahrer durchstehen, der von überraschend im Nebenzimmer ausbrechenden, lautstarken Scheidungsvorbereitungen untermalt wird.

Zu guter Letzt beruhigt sich alles, und dankbar beginnen die Augen in der dämmrigen Ruhe zuzufallen, bis die Hähne fünf Minuten später zum erstenmal ins Schwarze treffen.

Verschlafen und nervös standen wir eine oder zwei Stunden später inmitten unserer Berge von Expeditionsgepäck am Wasser und starrten so unerschrocken wie irgend möglich über das zwanzig Meilen breite, rauheste, turbulenteste Stück Meer im gesamten Osten – den wilden und gefährlichen Treffpunkt zweier gewaltiger aufeinanderprallender Wassermassen, einen brodelnden Aufruhr aus Strudeln und Kabbelungen.

Es sah aus wie ein Mühlteich.

Winzige Wellen von weit entfernten Fischerbooten breiteten sich über das endlose Meer in Richtung Strand aus. Das Licht der Morgensonne lag auf dem Wasser wie auf einem Laken. Mark zufolge drehten über uns kleine Fregattvögel und weißbäuchige Seeadler gelassen ihre Runden. Für mich sahen sie aus wie schwarze Flecken.

Wir waren da, Mr. Condo nicht. Nach ungefähr einer Stunde tauchte aber immerhin Kiri auf, um seiner gewohnten Rolle entsprechend zu erklären, Mr. Condo werde nicht kommen, aber dafür sei ja er, Kiri, da und habe seine Gitarre mitgebracht. Außerdem sei der Kapitän eigentlich gar nicht der Kapitän, sondern dessen Vater. Und wir würden mit einem anderen Boot fahren. Die gute Nachricht war, daß wir definitiv nach Komodo fahren würden und daß die Reise höchstens vier Stunden dauern werde.

Das Boot war ein wirklich schmucker, sieben Meter langer Fischerkahn namens Raodah, und die vollständige Besatzung bestand, nachdem wir alles verladen und vertäut hatten, aus uns dreien, Kiri, dem Vater des Kapitäns, zwei ungefähr zwölfjährigen Jungen, die das Boot steuerten, und vier Hühnern.

Es war ein ruhiger, herrlicher Tag. Die beiden Jungen tollten über das Boot wie Katzen, entrollten und hißten die Segel blitzartig, sobald sich ein Windhauch regte, holten sie dann wieder ein, starteten den Motor und schliefen ein, wann immer der Wind erstarb. Zum erstenmal gab es nichts, was wir tun mußten oder tun konnten, also schlenderten wir an Deck herum, blickten auf das vorbeirollende Meer, beobachteten Haubenseeschwalben und Seeadler, die über uns kreisten, und die fliegenden Fische, die gelegentlich um das Boot herumschwirrten.

Die vier Hühner saßen im Bug des Bootes und beobachteten uns. Eine der verwirrendsten Begleiterscheinungen des Reisens in abgelegenen Gegenden ist die Notwendigkeit, seine Nahrung in unverderblicher Form mit sich zu führen. Für einen Mitteleuropäer, der seine Hühner gewöhnlich in Zellophan verpackt aus dem Supermarkt bezieht, ist es eine unangenehme Erfahrung, während einer langen Bootsreise von vier lebenden Hühnern mit tiefem, grauenvollem Argwohn angestarrt zu werden, ohne diesen irgendwie zerstreuen zu können.

Auch wenn man davon absieht, daß ein indonesisches Inselhuhn vermutlich ein wesentlich natürlicheres und glücklicheres Leben hinter sich hat als seine in englischen Legebatterien gezüchteten Verwandten, wird ein Huhn, mit dem man in einem Boot gesessen hat, wohl auch jene Leute ziemlich aus der Fassung bringen, die sich normalerweise keine Gedanken über den Kauf ofenfertiger Ware machen – was darauf schließen läßt, daß ein tief in die westliche Psyche eingegrabenes Tabu existiert, demzufolge man niemanden ißt, dem man persönlich vorgestellt wurde.

Es war uns nicht bestimmt, alle vier selbst aufzuessen. Jener Gott aus dem komplizierten Hindu-Pantheon, zu dessen bescheidenen Aufgaben es gehört, über Hühnerschicksale zu entscheiden, war an jenem Tag offenbar in ziemlicher Randalierstimmung und hatte eigene Pläne für eine kleinere Verwüstung geschmiedet.

Endlich lag die Insel Komodo vor uns und kroch uns langsam vom Horizont aus entgegen. Die Farbe des Meeres um uns verwandelte sich vom schweren, tintigen Schwarz der letzten Stunden in ein sehr viel helleres, durchlässiges Blau, aber die Insel selbst erschien uns, vielleicht auch nur unseren überaus empfänglichen Sinnen, als eine düstere, finstere Masse, die bedrohlich über die See heranrückte.

Im Näherkommen lösten sich ihre düsteren Konturen allmählich zu großen, schroffen Felsformationen und dahinterliegenden, mächtigen Verwerfungen auf. Kurz darauf gelang es uns, Einzelheiten der Vegetation auszumachen. Es wuchsen Palmen, allerdings nur sehr wenige. Sie steckten sporadisch in den Abhängen, als habe die Insel Stacheln oder jemand Dartpfeile in die Hügel geschleudert. Der Anblick erinnerte mich an eine Zeichnung aus Gullivers Reisen, auf der Gulliver von den Liliputanern am Boden festgezurrt worden ist und Dutzende von winzigen Liliputanerspeeren in seinem Körper stecken.

Die Bilder, die die Insel der Phantasie aufnötigte, waren hartnäckig. Die felsigen Ausläufer hatten die Form massiver Schneidezähne, und die dunklen, düster stimmenden, graubraunen Hügel waren gewellt wie die schweren Hautlappen einer Eidechse. Ich wußte, daß ich, wäre ich ein Seefahrer in unbekannten Gewässern gewesen, »Hier Drachen« auf meine Seekarte geschrieben hätte.

Je genauer ich die Insel betrachtete, während sie auf der Steuerbootseite an uns vorbeikroch, und je mehr ich mich bemühte, die Eingebungen meiner regen Phantasie zu verscheuchen, desto unwiderruflicher drängten sich diese Bilder auf. Der Kamm eines Hügels, der sich in dicken, tiefzerfurchten Verwerfungen bis ins Wasser erstreckte, hatte die Konturen eines Eidechsenbeines – wenn schon nicht durch seine tatsächliche Form, so doch durch das natürliche Zusammenspiel seiner Umrisse und dank seiner schwerfälligen, mächtigen Struktur.

Es war das erste Mal, daß ich diesen Eindruck hatte, aber während der Reisen, die wir später in diesem Jahr unternahmen, beschlich mich jedesmal wieder das gleiche Gefühl: jedes neue Terrain, das wir irgendwo auf der Welt erkundeten, schien durch eine einzigartige Palette von Farben, Strukturen, Formen und Konturen charakterisiert zu sein; und die Lebensformen, auf die man in diesen Gebieten stieß, schienen oft mit der gleichen unverwechselbaren Palette gemalt. Natürlich kennen wir einige einleuchtende Mechanismen, mit denen sich dieses Phänomen erklären läßt: Für viele Lebewesen ist Tarnung ein überlebenswichtiger Mechanismus, und die Evolution wird sich für die günstigste entscheiden. Nur ist das Ausmaß dieser intuitiven, vielleicht zur Hälfte eingebildeten Übereinstimmungen wesentlich größer und umfassender, als mit diesem Mechanismus erklärt werden kann.

Wir beginnen zur Zeit, viele neue Vorstellungen über die Entstehung von Formen in der Natur zu entwickeln, und so unvorstellbar ist es nicht, daß wir, je mehr wir über die Fraktalgeometrie, die »chaotischen Attraktoren« lernen, die jeder neuen Variante der Chaos-Theorie zugrunde liegen, je mehr wir über die Interaktion zwischen Wachstum und Erosion wissen, vielleicht herausfinden werden, daß diese augenscheinlichen Übereinstimmungen von Form und Struktur nicht nur auf eine Laune oder auf einen Zufall zurückzuführen sind. Vielleicht.

Ich machte Mark gegenüber ein paar Bemerkungen in diese Richtung, und er meinte, ich sei albern. Da er immerhin dieselbe Landschaft betrachtete wie ich, räume ich ein, daß es sich bei der Geschichte um eine trotz der indonesischen Sonne möglicherweise nur halbgare Idee gehandelt haben könnte.

Wir legten an einem langen, wackligen Holzsteg an, der von einem breiten Sandstrand aus ins Wasser ragte. Am landwärts gelegenen Ende des Stegs stand ein Torbogen, von dessen höchstem Punkt uns ein Holzbrett auf Komodo willkommen hieß und so einen bescheidenen Beitrag leistete, unser Gefühl der Unerschrockenheit weiter zu verringern.

Als wir den Torbogen durchquerten, drang uns plötzlich ein starker Geruch in die Nase. Man mußte den Torbogen hinter sich lassen, um ihn wahrnehmen zu können. Solange man auf dem Steg stand, war man noch nicht richtig da und kam nicht in den Genuß des starken, deftigen, abgestandenen Geruchs von Komodo.

Den nächsten schweren Schlag bekam unsere Unerschrockenheit von einem ziemlich ordentlich angelegten Weg. Er führte vom Ende des Stegs aus parallel zum Ufer bis zum nächsten und entscheidenden Schlag gegen unser Gefühl der Unerschrockenheit – einem Besucherdorf.

Das Dorf bestand aus einer Ansammlung leidlich zusammengezimmerter Holzbauten: einem Gebäude, von dem aus die Insel (die ein Naturschutzgebiet ist) verwaltet wird, einer Terrasse mit Cafeteria und einem kleinen Museum. Hinter diesen Gebäuden standen, aufgereiht vor einer abschüssigen, halbkreisförmigen Böschung, ungefähr ein halbes Dutzend Besucherhütten – auf Pfählen.

Es war Mittagszeit, und ein gutes Dutzend Leute saß auf der Terrasse, aß Nudeln und trank Seven-Up; Amerikaner, Holländer, alles, was das Herz begehrt. Wo waren die hergekommen? Und wie waren sie hergekommen? Was war hier eigentlich los?

Vor der Verwaltungshütte stand ein Schild voller Vorschriften, wie zum Beispiel »Melden Sie sich im Nationalpark-Büro«, »Ausflüge außerhalb des Besucher-Zentrums nur in Begleitung von Führern«, »Hosen und Schuhe tragen« und »Achten Sie auf Schlangen«.

Auf dem Boden unter diesem Schild lag ein kleiner, ausgestopfter Drache. Ich sage klein, weil er höchstens einen Meter zwanzig lang war. Er lag flach auf dem Bauch, die vor sich ausgestreckten Vorderbeine und die an seinen langen, spitz zulaufenden Schwanz angelegten Hinterbeine platt auf dem Boden. Als ich ihn entdeckte, war ich zuerst etwas erschrocken, dann ging ich hinauf, um ihn mir anzusehen.

Er öffnete die Augen und sah mich an. Mit einem überraschten Aufschrei machte ich einen Satz rückwärts, was eine Welle höhnischen Gelächters auf der Terrasse auslöste.

»Das ist doch nur ein Drache«, rief ein amerikanisches Mädchen.

Ich ging zu ihr.

»Sind Sie alle schon länger hier?« fragte ich.

»Ach, seit Stunden«, sagte sie. »Wir sind mit der Fähre von Labuan Bajo rübergekommen. Haben die Drachen besichtigt. Stinklangweilig. Das Essen ist grauenhaft.«

»Welcher Fähre?« fragte ich.

»Der, die jeden Tag herfährt.«

»Aha. Verstehe. Von Labuan Bajo aus?«

»Sie müssen rübergehen und sich im Büro ins Gästebuch eintragen«, sagte sie und deutete auf einen Holzbau.

Einigermaßen zerknirscht ging ich zurück und gesellte mich zu Mark und Gaynor.

»Das hatte ich mir vollkommen anders vorgestellt«, sagte Mark, der inmitten unseres kühnen Gepäckberges stand und die vier Hühner in der Hand hielt. »Hätten wir die mitbringen müssen?« fragte er Kiri.

Kiri sagte, es sei immer eine gute Idee, Hühner für die Küche mitzubringen. Andernfalls gebe es nur Nudeln und Fisch zu essen.

»Ich glaube, ich ziehe Fisch vor«, sagte Gaynor.

Kiri erklärte ihr, das sei falsch und daß sie eigentlich Huhn Fisch vorzöge. Leute aus dem Westen, setzte er uns auseinander, zögen grundsätzlich Huhn vor. Das wisse praktisch jeder. Fisch sei nichts weiter als ein billiges Essen für Bauern. Wir würden also Huhn essen, weil das aufregend sei und wir es bevorzugten.

Er nahm die Hühner, die mit einem langen Band zusammengebunden waren, stellte sie neben unserem Gepäck ab und drängte uns die Stufen zum Büro des Nationalparks hinauf, wo uns einer der Parkwächter Fragebögen und Stifte in die Hand drückte. Wir hatten gerade mit dem detaillierten Eintragen unserer Reisepaßnummern, Geburtstage, Heimatländer, Geburtsorte und ähnlichem begonnen, als es draußen mit einemmal zu einem heftigen Tumult kam.

Zuerst beachteten wir den Lärm nicht, weil wir alle Hände voll zu tun hatten, uns an die Mädchennamen unserer Mütter zu erinnern und zu überlegen, wen wir als nächsten Angehörigen auserwählen sollten, aber als der Radau zunahm, begriffen wir plötzlich, daß es sich um das ängstliche Kreischen von Hühnern in Not handelte. Unserer Hühner.

Wir rasten nach draußen. Der ausgestopfte Drache griff unsere Hühner an. Er hatte eins von ihnen im Maul und schüttelte es, verschwand jedoch, als er uns kommen sah, in einer Staubwolke um die Hausecke und über die Lichtung, die mißhandelten, noch immer zusammengebundenen, kreischenden Hühner hinter sich herzerrend.

Als der Drache ungefähr dreißig Meter von uns entfernt war, blieb er stehen, biß die Schnur mit einem fiesen Kopfzucken durch und ließ die restlichen Hühner in Richtung der Bäume wegrennen, wo sie sich kreischend und schreiend in immer kleiner werdenden Kreisen bewegten, während die Parkwächter ihnen hinterherjagten und sie zu umzingeln versuchten. Der Drache, nun befreit von den überzähligen Hühnern, galoppierte ins dichte Unterholz.

Unter allerlei Höflichkeitsbekundungen wie »Nach dir, bitte« und »Nein, bitte nach dir« liefen wir vorsichtig zu der Stelle, wo er verschwunden war, und gelangten schließlich atemlos und etwas nervös dort an. Wir spähten ins Gebüsch.

Der Drache war auf einen großen, vom Unterholz überwucherten Erdwall gekrochen und dort stehengeblieben. Wir konnten wegen der dichten Vegetation nicht näher als bis auf einen Meter an ihn heran, gaben uns allerdings auch keine besondere Mühe.

Er lag ruhig da. Zwischen seinen Zähnen ragte das Hinterteil des Huhns heraus, dessen dürre Beine lautlos in der Luft herumruderten. Die Drachenechse beobachtete uns unbeteiligt mit jenem Auge, das uns zugewandt war – einem runden, dunkelbraunen Auge.

Es hat etwas zutiefst Verstörendes, in ein Auge zu starren, das einen anstarrt, besonders, wenn das starrende Auge beinahe ebenso groß wie das eigene und das Ding, aus dem es starrt, eine Echse ist. Das Blinzeln der Echse war ebenfalls verstörend. Es war nicht die übliche, reflexartige Bewegung, die man von einem Reptil erwartet, sondern ein langsames, bedachtes Blinzeln, das einem das Gefühl vermittelte, die Echse sei sich dessen bewußt, was sie tat.

Nachdem sich das Hühnerhinterteil kurze Zeit freizukämpfen versucht hatte, lockerte der Drache seinen Biß ein wenig, damit sich das Huhn durch seine Bewegungen weiter in den Drachenschlund hineinstoßen konnte. Das wiederholte sich mehrmals, bis nur noch ein einziges dürres Hühnerbein zu sehen war, das grotesk aus dem Maul der Kreatur ragte. Ansonsten bewegte sich die Echse nicht. Sie sah uns einfach nur an. Am Ende waren wir diejenigen, die, von blankem Entsetzen geschüttelt, davonschlichen.

Warum? fragten wir uns, als wir wieder auf der Terrasse saßen und uns mit Seven-Up zu beruhigen versuchten. Alle drei waren wir so aschfahl, als wären wir gerade Zeugen eines gemeinen, heimtückischen Mordes geworden. Aber hätten wir einen Mord beobachtet, hätte uns der Mörder wenigstens nicht so ungerührt ins Auge gesehen wie diese Echse. Vielleicht war es der Eindruck kühler, unerschütterlicher Arroganz, der uns derart aus der Fassung brachte. Nur wußten wir bei all den bösartigen Gefühlen, die wir der Echse anzudichten versuchten, daß es überhaupt keine Echsengefühle waren, sondern unsere eigenen. Diese Echse tat nicht mehr, als ihren Echsen-Beschäftigungen auf einfache, unkomplizierte, echsige Art nachzugehen. Sie wußte nichts von dem Entsetzen, der Schuld, der Schändlichkeit und Widerwärtigkeit, die wir, beispiellos schuldige und schändliche Tiere, ihr aufs Auge zu drücken versuchten. Also prallten all diese Empfindungen, gespiegelt in jenem einen unbeweglichen, desinteressierten Auge, auf uns zurück.

Überwältigt von der Vorstellung, daß wir uns vor unserem eigenen Spiegelbild dermaßen erschrocken hatten, saßen wir stumm da und warteten auf das Mittagessen.

Mittagessen.

Angesichts der bisherigen Ereignisse dieses Tages fiel es uns plötzlich schwer, ein Mittagessen auch nur in Erwägung zuziehen.

Wie sich herausstellte, gab es zum Essen kein Huhn. Es gab kein Huhn, weil der Drache es gegessen hatte. Wie die Küche herausgefunden hatte, daß ausgerechnet das Drachenfutter-Huhn jenes gewesen war, das wir andernfalls zum Mittagessen verspeist hätten, war uns nicht ganz klar, aber immerhin hatten wir es diesem Umstand offenbar zu verdanken, daß wir Nudeln ohne alles bekamen.

Wir unterhielten uns darüber, wie leicht man den Fehler begeht. Tiere zu vermenschlichen und seine eigenen Gefühle und Wahrnehmungen unangemessener- und unpassenderweise auf sie zu übertragen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, wie es ist, eine extrem große Echse zu sein, genausowenig wie übrigens die Echse, die sich ja gar nicht bewußt war, eine extrem große Echse zu sein, sondern nur den damit zusammenhängenden Tätigkeiten nachging. Auf ihr Verhalten mit Abscheu zu reagieren bedeutete, fälschlicherweise nach Kriterien zu urteilen, die nur bei der Beurteilung menschlichen Verhaltens angemessen sind. Wir alle richten uns in der Welt häuslich ein und lernen auf unterschiedliche Art und Weise zu überleben. Ein für uns erfolgreiches Verhalten funktioniert bei den Echsen nicht und umgekehrt.

»Zum Beispiel«, sagte Mark, »essen wir unsere eigenen Kinder nicht auf, wenn sie zufällig in Reichweite sind und wir gerade Kohldampf haben.«

»Was?« sagte Gaynor und ließ Messer und Gabel sinken.

»In den Augen eines Erwachsenen ist ein Jungdrache nichts weiter als Futter«, fuhr Mark fort. »Er bewegt sich und hat ein bißchen Fleisch auf den Knochen. Das ist Futter. Natürlich wäre es nicht besonders sinnig, wenn sie all ihre Nachkommen auffressen würden, weil dann die Art aussterben müßte. Die meisten Arten überleben, weil die Erwachsenen den Instinkt entwickelt haben, ihre Kinder nicht zu fressen. Die Drachen überleben, weil ihre Kinder den Instinkt entwickelt haben, auf Bäume zu klettern. Die Erwachsenen sind dazu zu schwer, also sitzen die Kleinen oben in den Bäumen, bis sie groß genug sind. Trotzdem werden einige Babys gefressen, aber das erfüllt auch seinen Zweck. Es hilft den Drachen, wenn das Futter knapp ist, und trägt dazu bei, die Population auf einem gleichbleibenden Niveau zu halten. Manchmal fressen sie die Kleinen aber auch einfach so.«

»Wie viele von den Dingern gibt es denn noch?« fragte ich leise. »Ungefähr fünftausend.«

»Und wie viele waren es ursprünglich?«

»Ungefähr fünftausend. Man geht davon aus, daß, grob geschätzt, immer so viele da waren.«

»Also sind sie eigentlich nicht besonders gefährdet?«

»Doch, sind sie, weil von diesen fünftausend nur dreihundertfünfzig tragende Weibchen sind. Ob das die normale Anzahl ist oder nicht, wissen wir nicht, aber sie erscheint uns eher niedrig. Außerdem sind Tiere, die, wie die Drachen auf diesen paar Inseln hier, in geringer Anzahl auf begrenztem Raum zusammenleben, besonders anfällig für Veränderungen ihrer Lebensräume, und wenn irgendwo Menschen auftauchen, verändern sich diese Lebensräume ausgesprochen schnell.«

»Also sollten wir nicht hier sein.«

»Darüber kann man streiten«, sagte Mark. »Es würde höchstwahrscheinlich irgendwas schiefgehen, wenn das alles hier niemanden interessieren würde. Ein einziger Waldbrand oder eine krankheitsbedingte Abnahme der Wildbestände könnte die Drachen auslöschen. Außerdem stünde zu befürchten, daß die ständig wachsende Inselbevölkerung zu dem Schluß käme, daß es sich ganz gut ohne diese Viecher leben läßt. Es sind äußerst gefährliche Tiere. Es besteht ja nicht bloß die Gefahr, von ihnen gefressen zu werden. Auch wenn man nur gebissen wird, hat man schon richtigen Ärger am Hals. Also, wenn ein Drache ein Pferd oder einen Büffel angreift, wird er nicht unbedingt davon ausgehen, sein Opfer gleich an Ort und Stelle umbringen zu können. Falls der Drache nun in einen Kampf verwickelt wird, könnte er verletzt werden, und da das eigentlich nichts bringt, beißt er sein Opfer manchmal einfach und geht wieder weg. Da die Bakterien, die sich im Speichel des Drachen befinden, allerdings so virulent sind, daß die Wunden nicht verheilen, wird das gebissene Tier normalerweise innerhalb weniger Tage an einer Blutvergiftung eingehen, und anschließend kann der Drache es in aller Ruhe fressen. Er oder ein anderer Drache, wenn der es zufällig vorher findet – sie sind wirklich nicht kleinlich. Für die Art ist es gut und wichtig, daß die Versorgung mit schwerverletzten und sterbenden Tieren überall auf der Insel sichergestellt ist.

Es gab mal einen sehr bekannten Fall, bei dem ein Franzose von einem Drachen gebissen wurde und schließlich zwei Jahre später in Paris gestorben ist. Die Wunde eiterte und heilte einfach nicht. Da es in Paris unglücklicherweise keine Drachen gab, die davon hätten profitieren können, ist die Strategie in diesem einen Fall gescheitert, aber normalerweise funktioniert sie prima. Der Punkt ist einfach, daß man diese Scheißkerle hier auf der Türschwelle liegen hat, und trotz der Toleranz der Dorfbewohner von Komodo und Rinca hat es eine ganze Reihe von Angriffen und Todesfällen gegeben. Also könnte mit der Bevölkerungszunahme auch ein größerer Interessenkonflikt entstehen und gleichzeitig die Bereitschaft abnehmen, sich bei jedem Ausflug in die Gefahr zu begeben, ein Bein abgebissen zu kriegen oder sich die Eingeweide von einem vorbeilaufenden Drachen aus dem Leib reißen zu lassen.

Wie wir ja gesehen haben, ist Komodo mittlerweile ein geschützter Nationalpark. Wir haben den Punkt erreicht, an dem ein aktives und unverzügliches Einschreiten zum Schutz seltener Arten notwendig ist, was üblicherweise durch öffentliches Interesse unterstützt wird. Und öffentliches Interesse wird durch öffentlichen Zugang aufrechterhalten. Wenn man diesen Zugang sorgfältig kontrolliert und die Zerstörung auf ein Minimum begrenzt, funktioniert es prima und ist schön und gut. Glaube ich. Obwohl ich nicht behaupten kann, daß mir dabei ganz wohl ist.«

»Mir ist bei dieser ganzen Insel überhaupt nicht wohl«, sagte Gaynor fröstelnd. »Als ob hier von überallher irgendwas Heimtückisches auf einen zukriecht.«

»Bildest du dir nur ein«, sagte Mark. »Für einen Naturforscher ist es das Paradies.«

Vom Dach der Terrasse war plötzlich ein Glitschen zu hören, und eine große Schlange fiel neben uns zu Boden. Sofort kamen einige Wächter angelaufen und jagten sie zurück in den Busch.

»Das hab ich mir ja wohl nicht eingebildet«, sagte Gaynor. »Ich weiß«, sagte Mark begeistert. »Es ist einfach herrlich.«


Begleitet von Kiri und einem Wächter, zogen wir am Nachmittag los, um die Gegend zu erforschen. Wir fanden zwar keine Drachen, als wir uns unbekümmert durch das Unterholz schlugen, entdeckten aber statt dessen einen Vogel, der mir sofort ans Herz wuchs.

Meinen Ruf als ziemlicher Technik-Freak habe ich mir schwer erarbeitet, und ich bin selten glücklicher als an jenen Tagen, die ich von morgens bis abends damit zubringe, meinen Computer auf das automatische Erledigen einer Aufgabe zu programmieren, die mich bei eigenhändiger Ausführung gute zehn Sekunden kosten würde. Zehn Sekunden, sage ich mir, sind zehn Sekunden. Zeit ist kostbar, und die Einsparung von zehn Sekunden ist es allemal wert, einen Tag fröhlicher Aktivität auf die Suche nach ihrer Einsparungsmöglichkeit zu verwenden.

Der Vogel, auf den wir stießen, heißt Taubenwallnister und hat eine sehr ähnliche Einstellung zum Leben.

Er sieht ein bißchen aus wie ein mageres, lebhaftes Huhn, obwohl er Hühnern gegenüber den Vorteil hat – wenn auch etwas schwerfällig –, fliegen und so den Drachen besser entwischen zu können, die nur in Märchen und einigen der Alpträume fliegen können, von denen ich während meiner Schlafversuche auf Komodo heimgesucht wurde.

Entscheidend ist, daß sich der Taubenwallnister eine wundervolle Methode zur Arbeitseinsparung ausgedacht hat. Die Arbeit, die er sich ersparen möchte, ist das zeitraubende Auf-dem-Nest-Hocken und Eier-Ausbrüten, während er doch zur gleichen Zeit unterwegs sein und etwas erledigen könnte.

An dieser Stelle muß ich einräumen, daß wir genaugenommen nicht auf den Vogel selbst stießen, obwohl wir glaubten, einen durchs Unterholz abzischen gesehen zu haben. Dafür stießen wir aber auf seine arbeitsparende Erfindung, die kaum zu übersehen war. Es handelte sich um einen ungefähr einsachtzig hohen und am Fuß ebenso breiten kegelförmigen Erdwall aus dichtgepreßter Erde und verrottendem Laub. Tatsächlich war der Wall noch wesentlich höher, als er wirkte, weil er selbst in einer wiederum etwa einen Meter tiefen Mulde errichtet worden war.

Ich habe gerade eine gute Stunde damit zugebracht, an meinem Computer ein Programm zu schreiben, das mir unverzüglich das Volumen des Walls mitteilt. Das Programm ist übersichtlich und aufregend, mit allen möglichen Pop-up-Menüs und solchem Zeug, und der Vorteil meiner Arbeitsweise besteht darin, daß ich, falls ich irgendwann den Inhalt eines Taubenwallnister-Nestes ausrechnen will, nur die Grundmaße eingeben muß und von meinem Computer nach einer knappen Sekunde die Antwort erhalte, was natürlich eine wundervolle Zeitersparnis darstellt. Die Kehrseite könnte sein, daß ich wohl nie wieder in die Verlegenheit kommen werde, den Inhalt eines Taubenwallnister-Nestes ausrechnen zu wollen, aber was soll's: Der Rauminhalt dieses Walls betrug knapp sieben Kubikmeter.

Der Wall ist ein vollautomatischer Brutkasten. Die durch die chemischen Reaktionen im verrottenden Laub entstehende Hitze hält die tief im Inneren des Walls verbuddelten Eier warm – und nicht bloß einfach warm. Indem der Taubenwallnister das Material wohlüberlegt aufstockt oder reduziert, kann er genau die Temperatur einstellen, die die Eier benötigen, um angemessen vor sich hin zu brüten.

Der Taubenwallnister muß also zum Ausbrüten seiner Eier nicht mehr tun, als zweieinhalb Kubikmeter Erde auszuheben, das entstandene Loch mit zweieinhalb Kubikmetern verrottendem Laub zu füllen, weitere viereinhalb Kubikmeter Laub zu sammeln, daraus einen Wall zu bauen und die darin entstehende Hitze anschließend ständig im Auge zu behalten und herumzurennen, um hier ein bißchen was draufzulegen und dort ein bißchen was wegzunehmen.

Womit er sich die ganze Mühe erspart, ab und zu auf seinen Eiern zu hocken.

Das heiterte mich unheimlich auf und versetzte mich in eine ausgelassene Stimmung, die während des ganzen Rückwegs zum Besucherdorf anhielt, bis zu genau dem Augenblick, in dem wir die Hütte betraten, die man uns als Schlafquartier zugewiesen hatte.

Sie war ziemlich groß und stand, wie ich schon sagte, auf Pfählen – aus naheliegenden Gründen. Nur war das Holz, das man zum Bau benutzt hatte, halb verfault, in den kleinen Schlafzimmern lagen feuchte, stinkende Matratzen, in allen Ecken hingen bedenklich große Spinnennetze, auf dem Boden lagen tote Ratten, und über allem schwebte der Gestank einer verstopften Toilette.

Wir versuchten spaßeshalber, dort zu schlafen, wurden aber letztlich von den Geräuschen der Ratten vertrieben, die über uns, in den Hohlräumen des Daches, mit irgendwelchen Schlangen kämpften, brachten unsere Schlafsäcke schließlich hinunter zum Boot und schliefen an Deck.


Wir erwachten früh am nächsten Morgen, ausgekühlt und feucht vom Tau, aber in dem guten Gefühl, in Sicherheit zu sein. Wir rollten unsere Schlafsäcke zusammen und machten uns auf den Rückweg über den wackligen Steg und durch den Torbogen.

Wieder fiel uns der Geruch der Insel an, kaum daß wir den Torbogen hinter uns gelassen hatten, und empfing uns in der heimtückischen anderen Welt, auf Komodo.

Man hatte uns angekündigt, daß wir die Drachen an diesem Morgen definitiv zu sehen bekämen. Große Drachen. Wir wußten nicht genau, was uns erwartete, aber es war nicht das, womit wir ursprünglich gerechnet hatten. Es hatte nicht den Anschein, als müßten wir eine tote Ziege am Boden festpflocken und uns dann den ganzen Tag über auf einem Baum versteckt halten.

An diesem Tag sollten sich fast ausschließlich Dinge ereignen, mit denen wir nicht gerechnet hatten, was schon mit der Ankunft von ungefähr zwei Dutzend amerikanischen Touristen auf einem extra gecharterten Boot begann. Die meisten waren im Frührentner-Alter, ausgerüstet mit Kameras, Freizeitanzügen aus Polyamid, goldgeränderten Brillen, kamen, ihrem Akzent nach zu urteilen, aus dem mittleren Westen und sahen in meinen Augen auch nicht unbedingt aus, als wollten sie den ganzen Tag auf einem Baum hocken.

Durch ihre Ankunft gingen wir schwer angeschlagen in die Knie und spürten, daß sich in diesem Moment auch der letzte Hauch von Unerschrockenheit verabschiedete, an den wir uns noch geklammert hatten.

Wir fanden einen Wächter und fragten ihn, was eigentlich los sei. Er sagte, wir könnten vorausgehen, falls wir der großen Gruppe aus dem Weg gehen wollten, also brachen wir unverzüglich auf. Wir wanderten über einen drei oder vier Meilen langen Waldweg, der offenbar sorgfältig angelegt und ebenso sorgfältig ausgetreten war. Die Luft war heiß und stickig, und wir hatten wegen der uns bevorstehenden Ereignisse ein flaues, unsicheres Gefühl in der Magengegend. Nach einiger Zeit hörten wir irgendwo vor uns das leise Läuten einer Glocke und beschleunigten unsere Schritte, um die Ursache herauszufinden. Wir bogen um eine Ecke und sahen uns mit einer Realität konfrontiert, die einem wirklich den Magen umdrehte.

Bis zu diesem Augenblick hatte dem ganzen Erlebnis etwas Traumartiges angehaftet. Es war, als versetzten einen das Durchqueren des Torbogens und das Einatmen des abgestandenen Geruchs dieser Insel in eine Traumwelt, in der Begriffe wie »Drachen«, »Schlange« und »Ziege« fantastische Bedeutungen erlangten, die in der wirklichen Welt weder Entsprechungen noch Konsequenzen hatten. Jetzt aber beschlich mich das Gefühl, der Traum gehe den Bach runter und verwandle sich in genau die Art Alptraum, aus dem man erwacht und feststellen muß, daß man tatsächlich ins Bett gemacht hat, daß einen tatsächlich jemand schüttelt und anschreit und daß der beißende Rauchgeruch tatsächlich daher rührt, daß einem gerade das Dach über dem Kopf abbrennt.

Vor uns stand eine junge Ziege. Sie trug ein Halsband mit Glocke und ließ sich widerwillig von einem Wächter über den Weg führen. Betäubt schlichen wir ihr nach. Gelegentlich trottete sie unschlüssig einige Schritte hinter dem Wächter her, schien dann jedoch plötzlich von einer grauenhaften Vorahnung gepackt zu werden, stemmte die Vorderbeine in den Boden, senkte den Kopf und wehrte sich, verzweifelt meckernd und blökend, gegen das Zerren des Mannes. Der Wächter riß energisch am Seil und schlug der Ziege mit einem Büschel belaubter Zweige, das er in der anderen Hand hielt, gegen die Hinterbeine, bis sie schließlich, weggetreten vor Angst, ein paar Schritte weitertaumelte und -trottete. Für die Ziege bestand kein sichtbarer Anlaß, sich derartig zu fürchten, und, soweit wir das beurteilen konnten, auch kein hörbarer; aber wer weiß schon, was die Ziege von jenem Ort her, auf den wir zusteuerten, riechen konnte.

Unsere ohnehin schon schwer gedrückte Stimmung erhielt die nächste Abreibung von der Seite, aus einer vollkommen unerwarteten Richtung. Wir stießen auf eine runde Betonfläche, die sich mitten auf einer Lichtung befand. Der Kreis hatte einen Durchmesser von zirka sechs Metern und war mit zwei parallel verlaufenden Streifen bemalt, die in der Mitte durch einen geraden schwarzen Strich verbunden waren. Es dauerte eine Weile, bis wir das Symbol erkannten. Dann begriffen wir. Es war ein »H«, nichts weiter. Der Kreis war ein Hubschrauberlandeplatz. Um sich anzusehen, was dieser Ziege bevorstand, reisten also Leute mit dem Hubschrauber an.

Betäubt und benebelt trotteten wir weiter und fanden vollkommen bedeutungslose Dinge urplötzlich zum Brüllen komisch, als marschierten wir vorsätzlich auf etwas zu, das auch uns vernichten sollte.

Der Weg, der vom Hubschrauberlandeplatz wegführte, war noch ordentlicher als der, der hinter uns lag. Er war mehrere Meter breit und zu beiden Seiten von einem stabilen, ungefähr einen halben Meter hohen Holzzaun begrenzt. Wir folgten ihm ein paar hundert Meter weit, bis wir schließlich eine breite, drei Meter tiefe Grube erreichten, in deren Nähe es einiges zu sehen gab.

Links von uns war eine Art Tribüne.

Mehrere Sitzbänke waren, von einem schrägen Dach gegen die Sonne oder andere Witterungseinflüsse geschützt, hintereinander aufgereiht. Am vorderen Geländer der Tribüne waren die beiden Enden eines langen blauen Nylonseils befestigt, das hinunter in die Grube führte und über eine Flaschenzugrolle lief, die ihrerseits an den Ästen eines kleinen, krummen Baumes befestigt war. Am Seil hing ein kleiner Eisenhaken.

Um den Baum herumgruppiert aalten sich sechs große, matschiggraue Drachenechsen im trüben Licht dieses heißen, aber bedeckten Tages und im Verwesungsgestank des Todes. Die größte von ihnen war ungefähr drei Meter lang.

Anfangs fiel es mir wirklich schwer, ihre Größe zu schätzen. Wir waren noch nicht nahe genug, das Licht war zu dunstig und zu grau, um sie mit dem Auge richtig erfassen zu können, und das Auge war schlicht und einfach nicht daran gewöhnt, etwas dermaßen Großes mit einer Echsenform in Verbindung zu bringen.

Ich starrte sie eine Zeitlang entgeistert an, bis ich merkte, daß Mark mir auf den Arm klopfte. Ich sah mich um. Ein großer Drache näherte sich uns von der anderen Zaunseite her.

Er war aus dem Unterholz aufgetaucht, wohl wissend, daß die Ankunft von Menschen mit der Fütterungszeit gleichzusetzen war. Später erfuhren wir, daß die in Grubennähe herumhängende Drachengruppe sich kaum mehr von dort entfernte und eigentlich nur noch darauf beschränkte, herumzuliegen und auf die Fütterung zu warten.

Der Waran tappte auf uns zu, klatschte seine Füße aggressiv auf den Boden, zuerst den linken Vorder- und rechten Hinterfuß, dann das andere Beinpaar, und bewegte sich trotz seines großen Gewichtes leicht und federnd mit der schwingenden, entschlossenen Gangart eines Schlägers. Er ließ seine lange, dünne, bleiche, gespaltene Zunge vor- und zurückschnellen und versuchte, den Geruch toter Dinge aus der Luft zu schmecken.

Er erreichte die gegenüberliegende Zaunseite, begann dort unwirsch auf und ab zu wandern und schwang und schürfte seinen schweren Schwanz erwartungsvoll über den staubigen Boden. Die grobe, schuppige Haut hing ihm locker wie ein Kettenhemd vom Körper und bildete unmittelbar hinter seinem länglichen Totenschädel von einem Gesicht eine Reihe kuhartiger Hautfalten. Die Beine des Warans waren stämmig und muskulös und endeten in Klauen, die man normalerweise am Ende von Messingtischbeinen vorzufinden erwartet.

Das Ding ist nur ein Waran und doch bis zu einem geradezu unwirklichen Grad massiv. Wenn er den Kopf über den Zaun hebt und beim Abdrehen mitschwenkt, fragt man sich unwillkürlich, wie es funktioniert und was für ein Trick dahintersteckt.

In diesem Augenblick kam die Touristengruppe fröhlich, unbeeindruckt und neugierig auf das, was anstand, über den Pfad in unsere Richtung gezottelt. Guck mal, da ist einer von diesen Drachen. Ooh, das ist aber 'n Großer. Sieht ja übel aus, der Bursche!

Das Schlimmste sollte aber noch kommen.

Die Ziege wurde in taktvoller Entfernung hinter der Tribüne geschlachtet. Zwei der Parkwächter drückten die ausschlagende, meckernde Kreatur zu Boden, legten ihren Nacken auf einen Holzklotz und hackten ihr mit einer Machete den Kopf ab. Um die heftige Blutung zu stillen, drückten sie das Büschel Laubzweige auf die Wunde. Es dauerte einige Minuten, bis die Ziege sich nicht mehr regte.

Unmittelbar danach schnitten die Wächter ein Hinterbein für den Drachen hinter dem Zaun ab, nahmen den Rest des Ziegenkadavers und befestigten ihn mit dem Haken an dem blauen Nylonseil. Er schaukelte und schwankte im Wind hin und her, als sie ihn zu den in der Grube liegenden Drachen hinunterkurbelten.

Eine Weile zeigten sich die Drachen allenfalls mäßig interessiert. Es waren wohlgenährte und schläfrige Drachen. Schließlich raffte sich einer auf, näherte sich dem hängenden Kadaver und schlitzte sanft dessen weichen Bauch auf. Ein Riesenschlamassel aus Gedärm glitschte aus der Ziege und ergoß sich über den Kopf des Warans. Dort blieb es eine Zeitlang dampfend liegen. Der Waran schien, jedenfalls für den Augenblick, nicht weiter daran interessiert.

Dann wuchtete sich einer der anderen Drachen in Bewegung und kam näher. Er beschnüffelte und bezüngelte die Luft und begann daraufhin, dem ersten Drachen die Innereien der toten Ziege vom Kopf zu fressen, bis dieser ihn anschnauzte und einen Teil der Mahlzeit für sich beanspruchte. Beim ersten Zuschnappen floß eine grüne Flüssigkeit aus dem glänzenden grauen Knäuel, und im weiteren Verlauf der Mahlzeit wurden die Köpfe aller Drachen triefend naß von dieser grünen Flüssigkeit.

»Mensch, so sind sie richtig riesig. Pauline«, sagte ein neben mir stehender Mann, der durch einen Feldstecher sah. »So wirken sie viel größer, als sie sind. Ich sag dir, wenn man da durchguckt, sind sie tatsächlich so groß, wie ich immer gedacht hab.«

Er gab den Feldstecher an seine Frau weiter.

»O ja, das macht wirklich was aus!« sagte sie.

»Der Feldstecher ist echt große Klasse, Pauline. Und nicht mal schwer.«

Andere Mitglieder der Reisegruppe versammelten sich um die beiden.

»Darf ich auch mal gucken? Wem gehört der?«

»Mann, das war was für Howard!«

»Al? Al, guck dir mal den Feldstecher hier an – und fühl mal, wie schwer der ist!«

Als ich gerade nachsichtig anmerkte, der Feldstecher stelle eigentlich nur eine willkommene Ablenkung dar, um sich die höllische Vorstellung in der Grube nicht wirklich ansehen zu müssen, rief die Frau, die ihn im Moment mit Beschlag belegt hatte, fröhlich: »Gulp, gulp, gulp! Alles weg! Was für ein Verdauungssystem! Jetzt hat er uns gewittert!«

»Der will bestimmt richtig frisches Fleisch«, brummte ihr Mann. »Lebendiges, das noch zuckt.«

Tatsächlich dauerte es fast eine Stunde, bis die Ziege restlos verschwunden war, und zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe bereits schnatternd den Rückweg zum Dorf angetreten. Beim Aufbruch gestand uns eine einsame Engländerin, sie mache sich eigentlich nicht viel aus den Drachen. »Mir gefällt die Gegend«, sagte sie verträumt. »Die Drachen kriegt man halt dazu. Und natürlich ist das Ganze mit all diesen Haken und Ziegen und Touristen wirklich nur eine große Show. Wenn man allein rumlaufen und auf einen von denen treffen würde, ja, das wäre schon was anderes, aber so ist es einfach nur Kasperletheater.«

Nachdem sie alle verschwunden waren, sagte uns der Wächter, wir könnten, falls wir wollten, in die Grube hinunterklettern und uns die Drachen aus der Nähe ansehen, was wir dann auch unter heftigen Schwindelgefühlen taten. Zwei Wächter begleiteten uns, bewaffnet mit langen Stöcken, die sich am Ende gabelten. Damit drückten sie die Drachen am Nacken weg, wenn sie uns zu nahe kamen oder anfingen, aggressiv zu wirken.

Viel zu verängstigt, um wirklich zu begreifen, was wir eigentlich taten, kraxelten und rutschten wir durch eine Rinne nach unten, und binnen weniger Minuten fand ich mich vor dem größten Drachen wieder. Da er schon reichlich gefressen hatte, betrachtete er mich ohne besonderes Interesse. Ein Streifen tropfendes Gedärm hing ihm aus dem offenen Maul, und sein Gesicht glänzte von Blut und Speichel. Das Innere seines Maules war blaß hellrosa gefärbt, und sein stinkender Atem sorgte zusammen mit dem der heißen, fauligen Grubenluft für einen dermaßen überwältigenden Gestank, daß unsere Augen brannten und tränten und wir vor Ekel halb bewußtlos wurden.

Alles, was von der meckernden Ziege übriggeblieben war, der wir über den Weg hinterhergestolpert waren, war ein blutiges, zerfetztes Bein, das am Knöchel vom Haken an dem blauen Nylonseil herunterhing. Nur einer der Drachen interessierte sich noch dafür und kaute lustlos an den Oberschenkelmuskeln herum. Dann bekam er das ganze Bein richtig zu fassen und versuchte, es mit fiesen, ruckartigen Kopfbewegungen vom Haken zu reißen, aber es saß fest. Der Waran zog und zerrte und manövrierte sich selbst immer weiter nach vorn, so daß mehr und mehr von dem Bein in seinem Rachen verschwand, bis nur noch der Huf und der Haken herausragten. Doch schon nach kurzer Zeit gab der Drache es auf, sich damit abzumühen, hockte sich einfach hin und blieb in dieser Pose mindestens zehn Minuten lang reglos sitzen, bis ihm einer der Wächter den Gefallen tat, das Bein unterhalb des Hakens mit der Machete abzuschlagen. Der letzte Ziegenüberrest rutschte dem Echsenmagen entgegen, um dort zusammen mit Knochen, Hufen, Hörnern und allem anderen langsam von den zersetzenden Kräften der Enzyme aufgelöst zu werden, die sich im Verdauungstrakt eines Komodo-Warans aufhalten.

Wir entschuldigten uns und verschwanden.


Das erste der restlichen drei Hühner hatte seinen Auftritt beim Mittagessen, aber uns war nicht nach Huhn. Lustlos schubsten wir die knochigen Teile über unsere Teller und fanden kaum Gesprächsstoff.

Am Nachmittag fuhren wir mit dem Boot zur Hauptsiedlung auf Komodo und trafen uns dort mit einer Frau, die als einzige Überlebende eines Drachenangriffs galt. Sie war bei der Feldarbeit von einer riesigen Echse angefallen worden, und bis die Nachbarn und deren Hunde auf ihre Schreie hin herbeigeeilt waren und die Bestie in die Flucht geschlagen hatten, war eines ihrer Beine vollkommen zerfetzt gewesen. Langwierige Operationen auf Bali bewahrten sie vor einer Amputation, und wie durch ein Wunder schüttelte sie die Infektion ab und überlebte, wenn auch ihr Bein verstümmelt blieb. Man erzählte uns, auf Rinca, der Nachbarinsel, sei ein vierjähriger Junge von einem Drachen geschnappt worden, als er auf der Treppe vor seinem Elternhaus gelegen und gespielt hatte. Die Lebenden bauen ihre Häuser auf Pfählen, aber auf diesen Inseln sind nicht einmal die Toten sicher, und über ihren Gräbern werden scharfkantige Felsbrocken aufgetürmt.

Meinem rationalen westlichen Intellekt und meiner Erziehung zum Trotz überkam mich in diesem Augenblick das Gefühl, in einer archaischen Welt zu leben, die von einem heimtückischen, perversen Gott regiert wurde, und trübte meinen Blick auf alles, was ich an diesem Nachmittag sah – sogar auf die Kokosnüsse. Die Dorfbewohner verkauften uns ein paar und schlugen sie für uns auf. Kokosnüsse sind nahezu perfekt konstruiert. Zuerst bohrt man sie an und trinkt die Milch, dann schlägt man die Nuß mit einer Machete auf und schneidet ein Stück Schale ab, das als Werkzeug zum Herausschneiden des Kokosnußfleisches dient. Was einen an dem verantwortlichen Götterwesen verwundert, ist, daß es etwas zum menschlichen Gebrauch dermaßen perfekt Geeignetes erfindet und es dann in sieben Metern Höhe an einem astlosen Baum aufhängt.

Ich hab mir was Kniffliges einfallen lassen, mal sehen, wie sie damit klarkommen. Oh, sieh mal einer an! Sie haben herausbekommen, wie man auf die Bäume klettert. Hätte ich ihnen nicht zugetraut. Na fein, mal sehen, wie sie das Ding aufkriegen. Hmm, jetzt haben sie also auch noch spitzgekriegt, wie man Stahl härtet. Also gut, Schluß mit der netten Tour. Wenn sie das nächste Mal auf diesen Baum klettern wollen, wird sie unten ein Drache erwarten.

Die Geschichte mit dem Apfel muß ihn doch mehr verärgert haben, als ich gedacht hatte.

Ich ging und setzte mich neben einem Mangrovenbaum an den Strand und betrachtete die sich sanft kräuselnde See.

Ein paar Fische hüpften über den Strand und auf einen Baum, und obwohl ich es eher komisch finde, wenn Fische solche Dinge tun, gab ich mir Mühe, sie nicht dafür zu verdammen. Ich hatte ein ziemlich flaues Gefühl, was meine eigene Art anging, und verspürte keine Neigung, wegen anderer spöttisch die Augenbrauen hochzuziehen. Wenn es ihnen Spaß machte, sollten diese Fische in den Bäumen spielen, soviel sie wollten; solange sie nicht versuchten, sich zu rechtfertigen oder einander weiszumachen, ein heimtückischer Gott sorge dafür, daß sie gern in den Bäumen spielten.

Was meine eigene Art anging, hatte ich ein ziemlich flaues Gefühl, weil wir uns anmaßen, eine Entscheidung zwischen dem, was wir als gut, und dem, was wir als böse bezeichnen, zu treffen. Die Verkörperung dessen, was wir als böse bezeichnen, entdecken wir in Dingen, die nicht in uns sind, sondern in Lebewesen, die von all diesen Fragen nichts wissen, weshalb wir uns von ihnen abgestoßen und uns im Gegensatz zu ihnen gut fühlen können. Und falls es ihnen nicht aus eigener Kraft gelingt, uns ausreichend anzuwidern, heizen wir sie mit einer Ziege an. Sie wollen die Ziege nicht, sie brauchen sie nicht. Falls sie eine wollten, würden sie sie ohne fremde Hilfe finden. Das einzig wirklich Abstoßende, was mit der Ziege geschieht, verursachen in Wirklichkeit wir.

Warum also hatten wir nichts gesagt? Zum Beispiel: »Bringt die Ziege nicht um!«

Tja, dafür gibt es eine ganze Reihe von möglichen Gründen:

- Wenn man die Ziege nicht unseretwegen getötet hätte, dann für andere – zum Beispiel für die amerikanische Touristengruppe.

- Wir begriffen erst, als es bereits zu spät war, was da vor sich gehen sollte.

- Die Ziege hatte sowieso kein besonders angenehmes Leben. Besonders heute nicht.

- Wahrscheinlich hätte sie sonst später ein anderer Drache gekriegt.

- Wenn es nicht die Ziege gewesen wäre, hätten die Drachen eben etwas anderes bekommen, einen Hirsch oder ähnliches.

- Wir mußten für dieses Buch und für die BBC von dem Vorfall berichten. Die vollständige Erfahrung war wichtig, um die Leute detailliert darüber informieren zu können. Eine Ziege wird das ja wohl wert sein.

- Wir waren uns zu fein, »bitte, bringt die Ziege nicht unseretwegen um« zu sagen.

- Wir waren ein Haufen stockfeiger, rationalistischer Drecksäcke.

Das Tolle daran, die einzige zwischen richtig und falsch unterscheidende Art zu sein, ist, daß wir uns immer genau die Regeln ausdenken können, die uns gerade in den Kram passen.


Die Fische hoppelten noch immer unschuldig den Baumstamm rauf und runter. Sie waren ungefähr acht Zentimeter lang und braun-schwarz, mit kleinen Bommelaugen, die dicht nebeneinander auf ihren Köpfen klebten. Sie hoppelten vorbei und benutzten ihre Flossen als Krücken.

»Schlammspringer«, sagte Mark, der in diesem Moment vorbeikam. Er ging in die Hocke, um sie sich anzusehen.

»Was machen sie auf dem Baum?« fragte ich.

»Man könnte sagen, daß sie am Experimentieren sind«, sagte Mark. »Sollte sich herausstellen, daß sie an Land besser zurechtkommen als im Wasser, entwickeln sie sich im Laufe der Zeit möglicherweise zu Landbewohnern. Im Augenblick nehmen sie eine bestimmte Sauerstoffmenge durch die Haut auf, aber von Zeit zu Zeit müssen sie zurück ins Meer, um sich einen Mundvoll Wasser zu holen und es durch die Kiemen zu schleusen. Aber das kann sich ändern. Hat es ja schon gegeben.«

»Was meinst du?«

»Na, es ist mehr als wahrscheinlich, daß das Leben auf diesem Planeten im Wasser begonnen hat und daß die Meereslebewesen auf der Suche nach neuen Lebensräumen aufs Festland gezogen sind. Vor mehr als 350 Millionen Jahren gab es mal einen Fisch, der große Ähnlichkeit mit dem Schlammspringer hatte. Er kam an Land, indem er seine Flossen als Krücken benutzte. Durchaus möglich, daß das der Urahn aller an Land lebenden Wirbeltiere war.«

»Ehrlich? Wie hieß der?«

»Ich glaube nicht, daß er damals schon einen Namen hatte.« »Also ist dieser Fisch, was wir vor 350 Millionen Jahren waren?«

»Gut möglich.«

»Also könnte in 350 Millionen Jahren einer seiner Nachkommen hier mit einer Kamera um den Hals am Strand sitzen und andere Fische aus dem Meer hoppeln sehen?«

»Keine Ahnung. Über so was sollen sich Science-fiction-Autoren den Kopf zerbrechen. Als Zoologen können wir nur sagen, was unserer Meinung nach bisher passiert ist.«

Ich fühlte mich plötzlich, tja, entsetzlich alt, als ein Schlammspringer mit seinem mir jetzt so wunderbar hoffnungslos, grenzenlos und naiv erscheinenden Optimismus an mir vorbeihoppelte. Er hatte einen noch so schrecklich, schrecklich, schrecklich weiten Weg vor sich. Ich hoffte, daß sein Nachfahre, falls er in 350 Millionen Jahren mit einer Kamera um den Hals an diesem Strand säße, das Gefühl hätte, die Reise habe sich gelohnt. Ich hoffte, daß er ein besseres Verständnis seiner selbst und seiner Umwelt haben würde als wir. Ich hoffte, daß ihm etwas Besseres einfallen möge, als andere Lebewesen in Horror-Zirkusnummern zu verwandeln, um ihr Überleben zu sichern. Ich hoffte, daß er, falls jemand nur der schaurigen Show zuliebe versuchte, den entfernten Nachkommen einer Ziege an den entfernten Nachkommen eines Drachen zu verfüttern, dies für falsch halten würde.

Ich hoffte, er würde nicht zu feige sein, dann auch den Schnabel aufzureißen.

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