Ein Pillenschachtel-Hütchen aus Leopardenfell

Indem wir entgegen unserer ursprünglichen Absicht einen Missionsflug nach Zaire nahmen, jagten wir uns selbst einen gehörigen Schrecken ein. Alle planmäßigen Flüge von und nach Kinshasa waren wegen des plötzlichen Ausbruchs eines häßlichen Streits zwischen Zaire und dessen Ex-Kolonialherren, den Belgiern, eingestellt worden, und die Hintertür-Strecke via Nairobi hatten wir nur Marks raffinierten Schachzügen zu verdanken, der von Godalming aus durch die Nacht telexte.

Wir waren gekommen, um Nashörner aufzutreiben: die nördliche Unterart der weißen Nashörner, von denen noch zwanzig in Zaire lebten und acht in der Tschechoslowakei. Die tschechoslowakischen Nashörner leben natürlich nicht in freier Wildbahn und haben es lediglich der lebenslangen fanatischen Arbeit eines Mitte dieses Jahrhunderts verstorbenen Sammlers weißer Nashörner zu verdanken, daß sie überhaupt in der Tschechoslowakei sind. Außerdem leben noch ein paar Exemplare im Zoo von San Diego in Kalifornien. Wir hatten beschlossen, über einen Umweg ins Nashorngebiet zu fahren, um uns unterwegs noch ein paar andere Dinge anzusehen.

Das Flugzeug war ein Sechzehn-Sitzer, der mit uns dreien – Mark, unserem BBC-Tontechniker Chris Muir und mir – sowie dreizehn Missionaren besetzt war. Oder, besser gesagt, nicht mit dreizehn richtigen Missionaren, sondern einer Mischung aus Missionaren, Missionsschullehrern und einem älteren amerikanischen Ehepaar, das sich sehr für Missionsarbeit interessierte und Strohhüte aus Miami, Kameras und entrückte, gütige Blicke zur Schau trug, die es jedem unverhohlen zuteil werden ließ, ob man sie nun wollte oder nicht.

Wir waren zwei Stunden in der brütenden Hitze um das baufällige Zoll- und Einreisebüro in einer der hintersten Ecken des Flughafens von Nairobi herumgekrochen, um unsere Maschine und unsere Mitreisenden auszumachen. Es ist nicht leicht, einen Missionar auf den ersten Blick zu erkennen, aber irgend etwas eindeutig Komisches ging vor sich, denn jedermann bemühte sich, seinen Platz auf der einzigen Sitzgelegenheit, einer schmalen, dreisitzigen Bank, die unter einem Dach im Schatten stand, aufzugeben und seinem Nachbarn anzubieten, so daß die Bank letztlich leer blieb und wir alle blinzelnd und verwelkend in der erblühenden Morgenhitze herumstanden. Nachdem wir das eine Stunde lang getan hatten, murmelte Chris irgend etwas Schottisches in seinen Bart, stellte seine Ausrüstung ab, legte sich auf die leere Bank und schlief, bis die Maschine startbereit war. Ich wünschte, das wäre mir eingefallen.

Einer ganzen Reihe von Marks Bemerkungen hatte ich entnommen, daß er Missionare nicht ausstehen konnte, denen er bei seiner Tätigkeit in Afrika und Asien häufig begegnet war, und als wir über das heiße Flugfeld zur Maschine gingen und unsere zierlichen, engen Sitze einnahmen, wirkte er ungewöhnlich angespannt und verschlossen. Als das Flugzeug dann über die Piste zu rollen begann, nahm auch meine eigene Anspannung zu, da die Begrüßung des Piloten aus einer Beschreibung unserer Reiseroute, einer Erklärung der Sicherheitsvorkehrungen und einem kurzen Gebet zusammensetzte.

Das »Herr, gepriesen sei Dein Name, weil Du diesen Tag für uns gesegnet hast« machte mir noch nicht besonders zu schaffen, aber »Wir legen unser Leben in Deine Hände, Herr« ist, ehrlich gesagt, nicht gerade das, was man von einem Piloten hören möchte, wenn er Vollgas gibt. Unsere Fingerknöchel waren kalkweiß, als wir über die Rollbahn rasselten, und als wir aufstiegen, kam uns eine große, alte, zigarrenförmige Dakota entgegen, die wegen Schlechtwetters über dem Großen Rift Valley mit dreißig Jahren Verspätung zur Landung ansetzte.

Im krassen Widerspruch zu all unseren vernünftigen Erkenntnissen über Geographie und Geometrie ist der Himmel über Kenia schlicht und einfach größer als irgendwo sonst. Wenn man in ihn hineingehoben wird, sieht man sich angesichts des immensen, unbegrenzten Raumes zwischen sich und dem unendlich weit entfernten Horizont von einem Gefühl gesteigerter Ehrfurcht überwältigt.

Andererseits war die Atmosphäre an Bord der Maschine so klaustrophobisch nett, daß einem die Galle hochkam. Alle waren nett, alle lächelten, alle lachten dieses gräßlich gütige, ersterbende Lachen, das einem den letzten Nerv raubt, und alle trugen eigenartigerweise Brillen. Und zwar nicht bloß einfach Brillen. Sie trugen fast alle die gleiche Brillen, mit oben schwarzen und unten durchsichtigen Fassungen, genau die Art, die nur englische Vikare, Chemielehrer und eben Missionare tragen. Wir saßen da und rissen uns zusammen.

Es fällt mir sehr schwer, nicht unmelodisch zu summen wenn ich versuche, mich zusammenzureißen, und dieses Summen muß wohl den Missionar neben mir irgendwie verärgert haben, was er mir signalisierte, indem er mich so lange mit seinem entsetzlich gütigen, ersterbenden Lachen bedachte, bis ich ihn am liebsten gebissen hätte.

Der Missionsgedanke gefällt mir nicht. Genauer gesagt, löst dieses Geschäft bei mir nur Angst und Sorge aus. Ich glaube nicht an Gott, zumindest nicht an jenen Gott, den wir Engländer uns ausgedacht haben, um unseren eigenartigen englischen Bedürfnissen gerecht zu werden, und ganz bestimmt nicht an jene Götter, die man in Amerika erfunden hat und die ihre Schäfchen mit Toupets, Fernsehstationen und – was am allerwichtigsten ist – gebührenfreien Telefonnummern versorgen. Ich wünschte, diejenigen, die an diese Dinge glauben, würden das Zeug für sich behalten und nicht in die Entwicklungsländer exportieren. Ich saß da und betrachtete die Miami-Hüte, die aus dem Fenster auf Afrika herabsahen – da saßen sie zwischen einer unermeßlichen Landmasse und einem unermeßlichen Himmel und lächelten unbegreiflicherweise einen Kontinent an. Ich glaube, Conrad hat mal etwas Ähnliches über ein Boot gesagt.

Sie lächelten dem Mount Kenya zu, strahlten den Kilimandscharo an und waren liebreizend gütig zum Großen Rift Valley, während es majestätisch unter uns durchzog. Sie waren sogar hoch erfreut und glücklich über eine kurze Zwischenlandung in Mwanza, Tansania, was man, wie sich herausstellen sollte, von uns nicht behaupten konnte.

Vor einer Art Bushaltestellenhäuschen, das Mwanza als Flughafen diente, trudelte die Maschine zum Stillstand, und wir wurden gebeten, für eine halbe Stunde auszusteigen und in der »International Transit Lounge« zu warten. Diese Lounge bestand aus einem großen Betonverschlag mit zwei großen, durch einen Gang verbundenen Räumen. Das Gebäude wirkte wie frisch bombardiert – die Wände hatten riesige Löcher, und ein rostiges Drahtgewirr quoll aus ihrem Inneren und durch vergilbte Italienposter. Wir gingen hinein, um die halbe Stunde abzuwarten, stellten die Taschen mit unserer Fotoausrüstung auf den Boden und ließen uns in die lädierten Sitze sacken. Ich kramte eine Zigarette heraus, und Mark kramte seine Kamera heraus, um mich beim Rauchen zu fotografieren. Mehr konnten wir ja nicht tun.

Kurz darauf sah ein Mann in einem braunen schmutzabweisenden Anzug zu uns herein, fand unseren Anblick nicht gerade berauschend und fragte, ob wir Transit-Passagiere wären. Wir sagten, ja, wären wir. Er schüttelte grenzenlos verdrossen den Kopf und sagte, wenn wir Transit-Passagiere wären, müßten wir in dem anderen der beiden Räume sein. Wer das nicht wußte, mußte offensichtlich geisteskrank oder zumindest ziemlich beschränkt sein. Gegen den Türrahmen gesackt, stand er da und zog pikiert die Augenbrauen hoch, bis wir unseren Kram zusammenpackten und durch den Gang in den Nebenraum schleiften. Er sah uns nach, schüttelte den Kopf, verwundert und betroffen darüber, wie heillos dämlich die Menschheit im allgemeinen und wir im besonderen waren, und schloß dann hinter uns die Tür.

Der zweite Raum sah genauso aus wie der erste, abgesehen von einer in eine Wand eingelassenen Luke. In dieser Luke, ein Schalter, lehnte ein großes, abwesend wirkendes Mädchen mit aufgestützten Armen und gegen die Wangenknochen gedrückten Fäusten. Sie beobachtete an der Wand hochkrabbelnde Fliegen, ohne dabei besonderes Interesse an den Tag zu legen, weil die Fliegen nichts Überraschendes taten, aber immerhin taten sie überhaupt irgend etwas. Hinter dem Mädchen stand ein mit Keksen, Schokoladentafeln, Cola und einer Kanne Kaffee vollgestapelter Tisch, und wie eine Horde Wiesel marschierten wir sofort darauf zu. Kurz bevor wir den Tisch erreichten, wurden wir allerdings von einem Mann in einem blauen schmutzabweisenden Anzug abgefangen, der uns fragte, was wir hier zu suchen hätten. Wir setzten ihm auseinander, wir seien Transit-Passagiere auf dem Weg nach Zaire, woraufhin er uns ansah, als habe sich unser Verstand jetzt vollständig verabschiedet.

»Transit-Reisende?« fragte er. »Transit-Reisende dürfen sich hier überhaupt nicht aufhalten.« Er winkte uns mit einer erhabenen Geste vom Snack-Tresen weg, ließ uns unseren ganzen Kram wieder aufsammeln und scheuchte uns durch die Tür und den Gang zurück in den ersten Raum, wo uns der Mann in dem braunen schmutzabweisenden Anzug eine Minute später erneut entdeckte.

Er sah uns an.

Ein zentnerschweres Unverständnis überkam ihn, gefolgt von Traurigkeit, Wut, tiefer Enttäuschung und dem Gefühl, daß die Welt einzig und allein erschaffen worden war, um ihm Verdruß zu bereiten. Er lehnte sich gegen die Wand, runzelte die Stirn, schloß die Augen und kniff sich in den Nasenrücken.

»Sie sind im falschen Raum«, sagte er schlicht. »Sie sind Transit-Passagiere. Bitte gehen Sie in den anderen Raum.«

In Situationen wie dieser fühlt man eine herrliche Ruhe in sich aufsteigen, ganz besonders, wenn auch ein Kiosk mit Erfrischungen darin verwickelt ist. Wir nickten, packten unseren Kram in Zen-Manier zusammen und machten uns durch den Gang auf den Rückweg in den zweiten Raum. Dort sprach uns der Mann im blauen schmutzabweisenden Anzug wieder an, aber diesmal erklärten wir ihm geduldig, daß er sich verpissen könne. Wir brauchten Schokolade, wir brauchten Kaffee, vielleicht sogar ein erfrischendes Päckchen Kekse und beabsichtigten darüber hinaus, das alles auch zu bekommen. Wir ließen ihn sprachlos zurück, warfen unsere Taschen zu Boden, marschierten aufrecht zum Schalter und trafen auf ein größeres, unvorhergesehenes Hindernis.

Das Mädchen wollte uns nichts verkaufen. Es schien sie zu überraschen, daß wir uns überhaupt die Mühe machten, das Thema anzuschneiden. Ohne die Wangenknochen von den Fäusten zu heben, schüttelte sie langsam den Kopf und starrte weiter die Fliegen an der Wand an.

Während des folgenden Gesprächs, das fast so anregend vor sich hin plätscherte wie Gummi aus einem Baum, kristallisierte sich allmählich heraus, daß das Problem folgendes war: Sie war nicht bereit, anderes als tansanisches Geld anzunehmen. Ohne zu fragen, wußte sie, daß wir keins hatten, weil schlicht und ergreifend noch nie jemand tansanisches Geld gehabt hatte. Wir befanden uns in einer internationalen Wartehalle, und im Flughafen gab es keine Wechselstube, folglich konnte jemand, der hierherkam, unmöglich irgendwelche tansanischen Zahlungsmittel bei sich haben, folglich konnte sie auch niemandem etwas verkaufen.

Nach einer mehrminütigen, sinnlosen Diskussion mußten wir uns ihren makellosen Argumenten beugen und die restliche Zeit damit zubringen, mit von nutzlosen Dollar, Pfund, Franc und Kenia-Schillingen ausgebeulten Hosentaschen dazusitzen und den Kaffee und die Schokoriegel trübsinnig anzuschmachten. Das Mädchen sah abwesend die Fliegen an und hatte sich ganz offensichtlich damit abgefunden, daß sie niemals mit jemandem ins Geschäft kommen würde. Nach einer Weile beobachteten auch wir interessiert die Fliegen.

Schließlich sagte man uns, die Maschine sei jetzt wieder startklar, und wir kehrten zu unserer Flugzeugladung Missionare zurück.

Wo, wunderten wir uns, waren sie gewesen, während all das passiert war? Wir fragten nicht. Etwa eine Stunde später landeten wir endlich in Bukavu, und als wir auf die Terminalbaracken des Flughafens zurollten, hallte die Maschine von fröhlichen »Oh, wie schön, der Bischof ist gekommen, um uns zu begrüßen«-Rufen wider. Und da stand er. groß und freudestrahlend in seiner lila Tunika, und er trug eine Brille mit oben schwarzer und unten durchsichtiger Fassung. Die Missionare, die Missionsschullehrer und das amerikanische Paar, das sich sehr für Missionsarbeit interessierte, kletterten lächelnd aus der Maschine, und nachdem wir unsere Kamerataschen unter den Sitzen hervorgezogen hatten, folgten wir ihnen nach draußen.

Wir waren in Zaire.

Was in Zaire so grauenhaft schiefläuft, läßt sich, wenn man mich fragt, am besten durch den Abdruck einer Karte verdeutlichen, die uns einige Tage später von einem Beamten des Fremdenverkehrsverbandes überreicht wurde.

Ein Absatz ist den Touristen zuliebe in englischer Sprache abgefaßt. Er lautet wie folgt:


»Madam, Sir,

im Namen des Vorsitzenden und Gründers des MPR (Mouvement Populaire de la Révolution), des Präsidenten der Republik, seiner Regierung und meiner Landsleute wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen einen wundervollen Aufenthalt in der Republik Zaire.

Sie werden in diesem Land majestätische Sehenswürdigkeiten, eine üppige Flora und eine einzigartige Fauna vorfinden.

Die Aufgeschlossenheit und Gastfreundlichkeit der zairischen Menschen wird Ihnen den Einblick in die Traditionen und Gebräuche unseres Volkes erleichtern.

Unsere junge Nation erhofft sich viel von Ihren Anregungen und dankt Ihnen, daß Sie selbst uns durch Ihre Vorschläge dabei helfen, die Freunde, die Sie zu uns schicken, noch besser willkommen heißen zu können.

Der Fremdenverkehrsminister.«


Das klingt doch ganz anständig. Was einen ins Grübeln darüber bringt, was man denn nun wirklich vorfinden wird, ist der andere Absatz. Den soll man nämlich jedem Zairer zeigen, dem man begegnet, und er lautet wie folgt:


»ZAIRER, HELFT UNSEREN BESUCHERN!

Der Freund, der diese Karte bei sich hat, ist zu Besuch in unserem Land. Er ist unser Gast.

Falls er Fotos machen will, seid zuvorkommend und freundlich. Tragt dazu bei, daß er seinen Aufenthalt genießt, dann wird er wiederkommen und seine Freunde mitbringen.

Indem ihr ihm helft, helft ihr unserem Land. Denkt immer daran, daß uns der Tourismus mit Einnahmen versorgt, die uns die Schaffung neuer Arbeitsplätze, den Bau neuer Schulen, Krankenhäuser, Fabriken und anderer Einrichtungen ermöglichen.

Die Zukunft unseres Fremdenverkehrs hängt davon ab, wie wir unsere Gäste empfangen.«


Es ist schon alarmierend genug, daß eine Ermahnung wie diese überhaupt für notwendig erachtet wird, aber noch wesentlich alarmierender ist, daß dieser Abschnitt ebenfalls nur auf englisch abgedruckt ist.

Kein Zairer – oder »Zairois«, wie sie sich selbst normalerweise nennen – spricht englisch, oder jedenfalls kaum einer.

Das Prinzip, nach dem Zaire funktioniert und das zu korrigieren diese Karte ein herrlich hoffnungsloser Versuch war, ist ausgesprochen simpel. Jeder Beamte, an den man herantritt, wird einem das Leben so schwer wie nur irgend möglich machen, bis man ihn dafür bezahlt, es zu lassen. Mit amerikanischen Dollar. Danach reicht er einen an den nächsten Beamten weiter, der wieder von vorn beginnt, einem das Leben schwerzumachen. Verglichen mit den alptraumhaften Ausmaßen, die dieser Prozeß später annahm, war unser aus einem zweistündigen feuchten, elenden Hüttenaufenthalt bestehender Einstieg in Zaire bloß ein relativ sanfter Zermürbungsversuch.

Das erste, was wir in der Zollhütte sahen, war ein Bild, das uns eine Vorstellung davon vermittelte, was uns bei unserer Suche nach bedrohten Tierarten in Zaire erwarten würde. Auf dem Bild war ein Leopard zu sehen. Das heißt, auf dem Bild war nur ein Teil des Leoparden zu sehen. Der bewußte Leopardenteil war zu einem ziemlich adretten Pillenschachtel-Hütchen umgestaltet worden und schmückte den Kopf von Marschall Mobuto Sésé Séko Kuku Ngbendu Wa Za Banga, dem Präsidenten der Republik Zaire, der mit gebieterischer Ruhe auf uns herabsah, während zwei seiner Beamten uns in die Mangel nahmen.

Einer der beiden war ein eher freundlicher Mann, der uns gelegentlich Zigaretten anbot, und der andere war ein kleiner, fieser Mann, der unsere Zigaretten klaute. Was natürlich der klassischen Verhörmethode entspricht, die dem Zweck dient, das um Gnade winselnde Opfer an den Rand eines vollständigen seelischen Zusammenbruchs zu treiben. Offenbar hatten sie diese Vorgehensweise irgendwo gelernt und konnten sie sich jetzt einfach nicht mehr abgewöhnen, obwohl sie eigentlich nicht mehr von uns wissen wollten als unsere Namen, Paßnummern und die Seriennummern sämtlicher Ausrüstungsstücke, die wir mitführten.

Da vor allem der Große nichts gegen uns persönlich zu haben schien, während er uns pflichtgemäß durch den Irrsinn geleitete, dem er uns auszusetzen hatte, beschlich mich ein Gefühl merkwürdiger Nähe und bewegender Freundschaft, das ich aus den Beschreibungen der Beziehungen zwischen Folterknechten und ihren Opfern oder Kidnappern und ihren Geiseln kannte. Es entsteht das Gefühl, man sitze im gleichen Boot. Da im Briefkopf der Formulare, die wir ausfüllen mußten, »Belgisch-Kongo« durchgestrichen und mit Bleistift durch »Zaire« ersetzt worden war, mußten sie mindestens achtzehn Jahre alt sein. Das einzige Formular, das sie offenbar nicht vorrätig hatten, war jenes, das wir eigentlich brauchten. Wir waren von Freunden dringend darauf hingewiesen worden, daß wir uns bei der Einreise in Zaire eine Devisen-Einfuhrbestätigung besorgen sollten, um späteren Ärger zu vermeiden. Nach mehrfachem Bitten bekamen wir zu hören, die sei ausgegangen. Man sagte uns, in Goma könnten wir so was bekommen, und das sei dann schon in Ordnung.

Sie spielten mit dem Gedanken, meinen Laptop-Computer zu konfiszieren – für den Fall, daß wir die Regierung damit stürzen wollten –, aber am Ende begnügte sich der kleine, fiese Mann damit, lediglich Chris' Autozeitschrift zu beschlagnahmen – mit der Begründung, er möge Autos –, und dann waren wir frei, jedenfalls fürs erste.

Wir ließen uns von einem entfernt taxiähnlichen Gefährt nach Bukavu bringen. Wie sich herausstellte, war die Stadt enorm weit vom Flughafen entfernt, höchstwahrscheinlich, weil die Taxifahrer darauf bestanden hatten. Während wir über die erschreckend zerfurchte Straße hoppelten, die am Rand des Sees entlangführte und auf der ein Großteil der Bevölkerung von Zaire spazierenzugehen schien, tauchte unser Fahrer immer wieder für geraume Zeit unter das Armaturenbrett. Ich verfolgte das mit einiger Besorgnis, die sich schließlich, als ich mitbekam, was er da eigentlich tat, gehörig steigerte. Er bediente die Kupplung per Hand. Ich überlegte, ob ich den anderen davon erzählen sollte, entschied mich aber schließlich dagegen, weil es sie nur beunruhigt hätte. Mark erwähnte später, während der gesamten Fahrt sei kein anderes Fahrzeug auf der Straße zu sehen gewesen, abgesehen von ein paar Lastern, die schon so lange standen, daß sie keine Hinterachsen mehr hatten. Mir war das nicht aufgefallen, weil ich, nachdem mir klargeworden war, was der Fahrer mit der Kupplung anstellte, die Augen während der restlichen Reise einfach nicht mehr aufgemacht hatte.

Als wir endlich das Hotel erreichten, das für eine so verfallene Stadt wie Bukavu erstaunlich vornehm und geräumig war, waren wir zerschlagen und erschöpft und begannen uns ausgiebig anzugähnen. Das war eine Art wortloses Signal, daß jeder von uns den Anblick der beiden anderen gründlich satt hatte, auch wenn es erst sechs Uhr abends war. Wir gingen in die Zimmer und setzten uns zwischen unsere jeweiligen Gepäckberge.

Ich saß am Fenster und sah zu, wie die Sonne über dem See zu versinken begann, dessen Name mir nicht einfiel, weil alle Karten in Marks Zimmer lagen. Aus dieser Perspektive betrachtet, sah Bukavu, das auf einer in den See ragenden Halbinsel liegt, ziemlich idyllisch aus. Der Kivu-See. Jetzt war mir der Name wieder eingefallen. Ich fühlte mich noch immer ausgesprochen kribblig und schlotterig und kam zu dem Schluß, das Hinausstarren auf den See könne mir helfen.

Er lag freundlich und schimmernd da und ging in der Ferne, wo er auf die Ausläufer der ihn umgebenden Hügel traf, langsam in einen Grauton über. Das half.

Das Licht des frühen Abends warf lange Schatten über die belgischen Kolonialhäuser, die in leuchtende Blüten und Palmen gekuschelt am Hang vor dem Hotel standen. Auch das tat gut. Sogar die gewellten Dächer der weniger feinen, neueren Gebäude wirkten im sanften Licht weniger abweisend. Ich sah den schwarzen Falken zu, die über dem See kreisten, und merkte, daß ich ruhiger wurde. Ich stand auf, fing an, die Sachen auszupacken, die ich für die Nacht brauchte, und wurde von einem friedlichen, wohligen Gefühl erfüllt, einem Gefühl, das nur von der plötzlichen Erkenntnis beeinträchtigt wurde, daß ich bei unserer letzten Übernachtung mal wieder meine Zahnpasta vergessen hatte. Und mein Schreibpapier. Und mein Feuerzeug. Ich kam zu dem Schluß, daß es Zeit war, die Stadt zu erkunden.

Die Hauptstraße war eine finstere Anhöhe, breit, ungepflegt und mit Abfall übersät. Die Läden bestanden größtenteils aus Beton und Schmutz, und da Zaire eine ehemalige belgische Kolonie ist, war jeder zweite Laden, wie in Belgien und Frankreich, eine Pharmacie, nur mit dem Unterschied, daß man zu meiner Verwunderung in keinem dieser Läden Zahnpasta kaufen konnte.

Die meisten anderen Geschäfte waren unidentifizierbar. Als ein Laden auftauchte, dessen Angebot sich unter anderem aus Ghetto-Blastern, Socken, Seife und Hühnern zusammensetzte, erschien es mir nicht allzu abwegig, hineinzugehen und zu fragen, ob sie in einem ihrer Regale auch Zahnpasta oder Papier vergraben hätten, woraufhin sie mich ansahen, als sei ich vollkommen übergeschnappt. Ob ich denn nicht bemerkt hätte, daß dies ein Ghetto-Blaster-, Socken-, Seifen- und Hühnergeschäft sei? Nachdem ich mich eine halbe Meile weit die Straße rauf- und wieder runtergeschleppt hatte, fand ich schließlich beides bei einem winzigen Straßenstand, der, wie sich herausstellte, auch Kugelschreiber, Luftpostumschläge und Feuerzeuge verkaufte und wahrhaftig so ungewöhnlich auf meine Bedürfnisse zugeschnitten zu sein schien, daß ich beinahe gefragt hätte, ob sie nicht auch noch eine Ausgabe des New Scientist hätten.

Als nächstes fiel mir auf, daß man alles Lebenswichtige auf der Straße kaufen konnte. Zum Beispiel Fotokopien. Hier und da standen am Straßenrand alte Fotokopierer auf klapprigen Tapeziertischen, und ein- oder zweimal wurde ich von Straßengaunern abgefangen und gefragt, ob ich vielleicht irgend etwas fotokopiert haben oder mit ihren Schwestern schlafen wolle. Ich kehrte ins Hotel zurück, machte mir einige Notizen auf dem Schreibpapier, das aus unerfindlichen Gründen rosa war, und schlief wie ein Toter.

Am nächsten Morgen flogen wir nach Goma. Dort stellten wir fest, daß man auch bei Inlandsflügen in Zaire wieder die ganze Einwanderungs- und Zollsalbaderei über sich ergehen lassen mußte. Im Büro eines großen, verrohten Flughafenbeamten wurden wir von bewaffneten Männern zu der Frage verhört, weshalb wir aus Bukavu keine Devisen-Einfuhrbestätigung mitgebracht hatten.

Der Hinweis, daß in Bukavu die Formulare ausgegangen waren, zog nicht.

»Fünfzig Dollar«, sagte der Beamte.

Abgesehen von einem kleinen Schreibtisch, in dessen Schublade zwei Bögen Papier lagen, war sein großes, karges Büro leer. Er lehnte sich zurück und starrte an die Decke, die offenbar schon häufiger Zeuge solcher Vorfälle gewesen war. Dann beugte er sich wieder vor und fuhr sich mit den Handflächen langsam von oben nach unten über das Gesicht, als wolle er es abpellen. Er sagte wieder: »Fünfzig Dollar. Pro Person.« Dann starrte er hohl auf eine der Schreibtischecken und ließ einen Bleistift langsam zwischen den Fingern herumrollen. Eine Stunde lang waren wir dem ausgesetzt, dann hatte er unser erbärmliches Französisch satt und ließ uns gehen.

Blinzelnd verließen wir den Flughafen und trafen, wie durch ein Wunder, auf den Fahrer, den Freunde von Mark geschickt hatten und der uns zu den Virunga-Vulkanen bringen sollte, wo die Berggorillas leben.

Wir waren nicht nach Zaire gekommen, um uns die Gorillas anzusehen. Nur ist es kaum möglich, den weiten Weg nach Zaire auf sich zu nehmen und sie sich dann entgehen zu lassen. Ich wollte das gerade damit begründen, daß sie unsere engsten Verwandten sind, bin aber nicht ganz sicher, ob diese Erklärung ausreicht. Meiner Erfahrung nach ist es normalerweise so, daß man sich bei einem Besuch in einem Land, in dem man Verwandte hat, am liebsten flach hinlegen und hoffen möchte, sie bekämen gar nicht mit, daß man in der Gegend ist. Bei den Gorillas setzt man sich aber wenigstens nicht der Gefahr aus, zum Essengehen gezwungen zu werden und sich ein paar Millionen Jahre Familiengeschichte anhören zu müssen, also kann man ungestraft vorbeischauen. Natürlich sind sie nur entfernte Verwandte – n-te Cousins, n-ten Grades. Wir stammen beide vom selben Vorfahren ab, der bedauerlicherweise nicht mehr unter uns weilt und seit Darwins Zeiten Anlaß zu endloser Spekulation darüber gegeben hat, was für eine Art Lebewesen er/sie denn eigentlich gewesen ist.

Der Zweig der Primatenfamilie, dem wir angehören (als reiche, erfolgreiche Angehörige der Familie, diejenigen, denen es gut geht und die sich in jeder Hinsicht um die anderen, weniger gut weggekommenen Familienmitglieder kümmern sollten), ist der der großen Menschenaffen – wir sind große Menschenaffen.

Die anderen großen Menschenaffen sind die Gorillas (die in drei Unterarten eingeteilt sind: Berggorillas, Östliche Flachlandgorillas und Westliche Flachlandgorillas), zwei Schimpansenarten sowie die Orang-Utans von Borneo und Sumatra. Unter diesen sind wiederum die Gorillas, die Schimpansen und wir am engsten verwandt. Von den Gorillas haben wir uns – evolutionsgeschichtlich gesehen – vor kürzerer Zeit getrennt als von den anderen großen Menschenaffen, und deswegen sind die Gorillas enger mit uns verwandt als mit den Orang-Utans. Wir sind wirklich sehr, sehr nahe Verwandte – einander so nah wie der Indische und der Afrikanische Elefant, die ebenfalls einen gemeinsamen ausgestorbenen Vorfahren haben.

Die Virunga-Vulkane, auf denen die Berggorillas leben, erstrecken sich entlang der Grenze zwischen Zaire, Ruanda und Uganda. Etwa zwei Drittel der ungefähr zweihundertachtzig in diesem Gebiet ansässigen Gorillas leben in Zaire, das restliche Drittel in Ruanda. Ich sage ungefähr, weil die Gorillas hinsichtlich evolutionärer Rahmenbedingungen bisher noch nicht weit genug entwickelt sind, um den Nutzen von Pässen, Devisen-Einfuhrformularen und Beamtenbestechung herausgefunden zu haben, und deshalb dazu neigen, hin und her über die Grenze zu wandern, wann immer sie diese tierische, primitive Laune packt. Obwohl einige Versprengte ab und zu einen Abstecher nach Uganda machen, gibt es grundsätzlich keine ständig dort lebenden Gorillas, weil der ugandische Teil der Virungas nur fünfundzwanzig Quadratkilometer groß, ungeschützt und voller Menschen ist, denen die Gorillas, sofern man ihnen die Wahl läßt, lieber aus dem Weg gehen.

Die Fahrt von Goma dauert ungefähr fünf Stunden, und wir brachen so zügig auf, wie das nach zweieinhalb zermürbenden Stunden mit einem Reisebüromitarbeiter, einem Hotel-Manager, einem Mittagessen und einem Besuch in einer der größeren Nationalbanken möglich war – deren Namen hier zu erwähnen stinklangweilig wäre, wenn auch nicht halb so langweilig, wie sich in ihr aufhalten zu müssen.

Zum Überlaufen kam das Faß allerdings erst, als ich in einer Bäckerei von einem Taschendieb ausgenommen wurde.

Ich merkte überhaupt nicht, daß ich von einem Taschendieb ausgenommen wurde – was mich freut, weil ich grundsätzlich am liebsten mit Profis zusammenarbeite. Dafür bemerkten es alle anderen im Laden, und während ich noch mit der Auswahl meiner Brötchen beschäftigt war, wurde der Mann weggereicht und hastig auf die Straße befördert. Dank meiner bescheidenen Zairois-Französischkenntnisse begriff ich nicht, was der Bäcker mir klarzumachen versuchte, glaubte, er empfehle mir seine Rosinenbrötchen, und kaufte ihm deshalb sechs Stück ab.

In diesem Moment traf Mark mit ein paar Dosen Birnen, unseren Passierscheinen für das Gorillagebiet und unserem Fahrer ein, der die Situation sofort erfaßte und mir auseinandersetzte, was passiert war. Er erklärte mir außerdem, die Rosinenbrötchen seien nicht gut, meinte aber, wir sollten sie trotzdem behalten, da die anderen auch nicht besser seien, und irgend etwas brauchten wir schließlich. Er war ein dünner, schlaksiger Moslem mit einem gewinnenden Lächeln, und er reagierte ausgesprochen positiv auf unseren Vorschlag, schleunigst die Kurve zu kratzen.

Wenn Leute vom »schwärzesten Afrika« sprechen, meinen sie in der Regel Zaire. Zaire ist das Land der Dschungel, der Berge, der gewaltigen Flüsse und der Vulkane; das Land, in dem es mehr exotische Tiere gibt, als man vernünftigerweise mit einem Stock in die Flucht zu schlagen versuchen sollte, in dem von der westlichen Zivilisation noch immer weitgehend unberührte Jäger- und Sammler-Pygmäenstämme leben und das weltweit über eines der schlechtesten Verkehrssysteme verfügt. Dies ist das Afrika, in dem Stanley auf Dr. Livingstone zu treffen hoffte.

Bis zum 19. Jahrhundert war dieser riesige Abschnitt Afrikas nichts weiter als ein schwarzes Loch auf jeder europäischen Karte des Schwarzen Kontinents, aber kaum war Livingstone in das Innere dieses schwarzen Lochs vorgedrungen, begann es eine ungeheuerliche Anziehungskraft auf die restliche Welt auszuüben.

Die ersten, die ins Land strömten, waren die Missionare: Katholiken, die kamen, um den Eingeborenen von den Irrwegen der Prostestanten zu erzählen, und Protestanten, die kamen, um den Eingeborenen von den Irrwegen der Katholiken zu erzählen. Einig waren sich Protestanten und Katholiken nur in dem Punkt, daß die Eingeborenen sich zweitausend Jahre lang auf einem Irrweg befunden hatten.

Kurz nach den Missionaren folgten Kaufleute auf der Suche nach Sklaven, Elfenbein, Kupfer und geeignetem Land für Plantagen. Mit Hilfe von Stanley, der einen Fünf-Jahres-Vertrag zur Erschließung von Zentralafrika abgeschlossen hatte, beanspruchte König Leopold von Belgien diesen ausgedehnten Landstrich 1885 erfolgreich für sich und setzte dessen Einwohner umgehend einer einzigartig brutalen und skrupellosen Form der Kolonialisierung aus, um ihnen so die Bedeutung des Wortes »falsch« überaus anschaulich und überzeugend zu vermitteln.

Als Nachrichten von den schlimmsten Greueltaten nach außen durchsickerten, zwang man Leopold, »sein« Land der belgischen Regierung zu übergeben, die anschließend tatkräftig dafür sorgte, daß sich so gut wie nichts an den dortigen Zuständen änderte. In den fünfziger Jahren jedoch, als sich die Unabhängigkeitsbewegungen wie ein Lauffeuer über Afrika ausbreiteten, waren die Kolonialherren 1959 nach Unruhen und grauenvollen Massakern in der Hauptstadt Kinshasa derartig angeschlagen, daß sie dem Land für das folgende Jahr die Unabhängigkeit zusicherten. 1971 wurde der Landesname »Belgisch-Kongo« schließlich in »Zaire« geändert.

Zaire ist, am Rande bemerkt, ungefähr achtzigmal so groß wie Belgien.

Wie die meisten Kolonien hatte sich auch Zaire eine alles erstickende Bürokratie zugelegt, deren alleinige Funktion darin bestand, Entscheidungen nach oben an die Kolonialherren des Landes zu verweisen. Beamte vor Ort waren selten befugt, Dinge zu tun, sondern nur, sie zu verhindern, bis die Bestechungsgelder eingegangen waren. Sind die Kolonialherren dann vertrieben, zappelt die Bürokratie weiter wie ein kopfloses Huhn, zu nichts anderem fähig, als sich selbst ein Bein zu stellen, allem und jedem im Weg zu stehen und sich, falls die nötigen Waffen zur Hand sind, in den Fuß zu schießen. Ehemalige Kolonien erkennt man immer an der unverhältnismäßigen Zahl von Menschen, deren einzige Beschäftigung darin besteht, Menschen mit einer Beschäftigung an deren Ausübung zu hindern.

Nach fünf Stunden schläfrigen Geholpers in einem Lastwagen trafen wir in Bukima ein, jenem Dorf am Fuß der Virungas, an dem die Straße endet und von dem aus wir zu Fuß weiterreisen mußten.

Oberhalb des Dorfes, vor einem großen Platz, stand ein lächerlich imposantes Ex-Kolonial-Gebäude, das, abgesehen von einem lächerlich kleinen, in den letzten Winkel gezwängten Büro, leer stand, in dem ein kleiner, uniformierter Mann sich düster grinsend in unsere Gorilla-Passierscheine vertiefte, als habe er so etwas noch nie oder wenigstens seit einer guten Stunde nicht mehr gesehen. Anschließend beschäftigte er sich einige Minuten lang mit einem Kurzwellenfunkgerät, bevor er sich wieder uns zuwandte und sagte, er wisse genau, wer wir seien, habe uns erwartet und werde uns wegen unserer guten Kontakte zum World Wildlife Fund in Nairobi einen zusätzlichen Tag bei den Gorillas zugestehen, und wer zum Teufel wir eigentlich seien, und warum ihm niemand erzählt habe, daß wir kämen?

Da wir nicht meinten, ihm bei der Beantwortung dieser Fragen behilflich sein zu können, ließen wir ihn allein und machten uns auf die Suche nach ein paar Trägern, die uns auf dem dreistündigen Fußmarsch zu unserem Nachtquartier, der Hütte des Wildhüters, begleiten sollten. Sie waren nicht schwer zu finden. Vor unserem Transporter hatte sich eine hoffnungsvolle Schar von ihnen versammelt, und unser Fahrer wollte unbedingt wissen, wie viele wir zum Transport aller unserer Taschen brauchen würden. Er schien das Wort »aller« ziemlich nachdrücklich zu betonen.

Plötzlich wurde uns etwas mit schrecklicher Deutlichkeit bewußt. Wir waren so scharf darauf gewesen, möglichst schnell aus Goma wegzukommen, daß wir einen entscheidenden Aspekt unseres Planes vergessen hatten, nämlich den Großteil unserer Sachen in einem Hotel in der Stadt zurückzulassen. Infolge dieser Nachlässigkeit hatten wir mehr Gepäck bei uns, als wir für den Ausflug zu den Gorillas tatsächlich brauchten.

Wesentlich mehr.

Außer der Gorilla-Beobachtungs-Grundausrüstung – Jeans, T-Shirt, irgendwas Wasserdichtes, einer Tonne Kameras und Dosenbirnen – hatte ich einen immensen Vorrat an schmutziger Wäsche dabei, einen Anzug und Schuhe, die ich bei einem Treffen mit meinem französischen Verleger in Paris getragen hatte, ein Dutzend Computerzeitschriften, ein Wörterbuch, zig Bände von Dickens' »Gesammelten Werken« und das Holzmodell eines Komodo-Warans. Ich halte es für richtig, mit wenig Gepäck zu reisen, aber ich halte es auch für richtig, mit dem Rauchen aufzuhören und rechtzeitig vor Weihnachten einkaufen zu gehen.

Ohne uns anmerken zu lassen, wie entsetzlich peinlich uns die Sache war, wählten wir eine Trägermannschaft aus, die diesen kleinen Berg für uns auf die Virunga-Vulkane schaffen sollte. Es störte sie nicht. Solange wir sie dafür bezahlen konnten, Dickens und Drachen zu den Gorillas rauf- und wieder runterzutragen, war für sie alles in bester Ordnung. Der weiße Mann hatte in Zaire wesentlich Schlimmeres angestellt, wenn auch vielleicht nichts wesentlich Dämlicheres.

Der lange Aufstieg zur Wildhüterhütte war mühsam und häufig von Pausen unterbrochen, in denen wir unsere Zigaretten und Coca-Cola-Vorräte mit den Trägern teilten, während sie die mit Dickens und den Computermagazinen gefüllten Taschen regelmäßig untereinander austauschten und verschiedene neuartige Methoden ausprobierten, sie auf dem Kopf zu behalten.

Die meiste Zeit trampelten wir durch feuchte Sagofelder, und mir kam plötzlich ein ebenso lächerlicher wie beglückender Gedanke. Wir marschierten durch das einzige mir bekannte Anagramm meines Namens – nämlich »Sago Mud Salad«. Ich stellte alberne Mutmaßungen an, welche tiefere, kosmische Bedeutung sich möglicherweise dahinter verbarg, und als ich den Gedanken endlich fallenließ, lag die Hütte, ein eher spartanischer, aber immerhin neuer und solider Holzbau, im schwächer werdenden Abendlicht vor uns.

Feuchte, schwere Nebelschwaden hingen über der Gegend und verhüllten die weit entfernten Vulkangipfel fast vollständig. Den unerwartet kalten Abend verbrachten wir im Schein zischender Grubenlampen; wir aßen unsere Dosenbirnen und das letzte verbliebene Brötchen und unterhielten uns in gebrochenem Französisch mit unseren beiden Führern, die Murara und Serundori hießen.

Beide, unnachahmlich elegante Typen in Tarnanzügen und schwarzen Uniformmützen, hingen schlapp über dem Tisch und streichelten gelangweilt ihre Gewehre. Wie sie uns erklärten, liefen sie bloß in diesem Aufzug herum, weil sie früher zu einer Kommandoeinheit gehört hatten. Alle Führer müßten Waffen tragen, erzählten sie uns, zum einen zum Schutz vor den wilden Tieren, vor allem aber für den Fall, daß sie auf Wilderer stießen. Murara sagte, er selbst habe schon fünf Wilderer erschossen. Achselzuckend fuhr er fort, so was sei pas de problème. Kein Ärger mit Ermittlungen oder ähnlichem; er hatte sie einfach erschossen und war nach Hause gegangen. Er lehnte sich auf seinen Stuhl zurück und befingerte beiläufig das Visier seines Gewehrs, während wir nervös mit unseren Birnenhälften herumspielten.

Natürlich stellt jede Form von Wilderei die größte Bedrohung für das Überleben der Berggorillas dar, aber man fragt sich doch unwillkürlich, ob man das Problem wirklich löst, indem man die Jagdsaison auf Menschen für eröffnet erklärt. Noch sind wir zwar keine gefährdete Art, aber es ist nicht so, daß wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu werden.

Die Wilderei verliert heutzutage allerdings an Bedeutung – zumindest teilweise. Vier Fünftel der derzeit in Zoos lebenden Gorillas wurden ursprünglich aus freier Wildbahn geholt, aber kein öffentlicher Zoo würde heute mehr einen Gorilla annehmen, außer von einem anderen Zoo, weil er andernfalls Schwierigkeiten hätte, seine Herkunft zu erklären.

Trotzdem besteht von Seiten privater Sammler noch immer Nachfrage, und der ungeschützte ugandische Teil der Virungas bleibt das schwache Glied in der Kette. Im September 1988 wurde auf ugandischer Seite ein Gorillababy gefangen. Zwei ausgewachsene Mitglieder seiner Familie wurden erschossen und das Jungtier später von einem Jagdaufseher (der mittlerweile im Gefängnis sitzt) für 15000 Pfund an ruandische Schmuggler verkauft. Das ist der bedrückendste Aspekt dieser Art von Wilderei – für jedes gefangene Jungtier sterben in der Regel mehrere andere Familienmitglieder, weil sie das Junge zu schützen versuchen.

Schlimmer als jene, die Gorillas für ihre privaten Zoos sammeln, sind allerdings diejenigen, die Gorillateile sammeln. Jahrelang herrschte ein reger Handel mit Schädeln und Händen, die an Touristen und Auswanderer verkauft wurden, die irrtümlicherweise glaubten, die Gorillateile würden auf ihrem Kaminsims besser wirken als am Körper der ursprünglichen Besitzer. Auch das geht, Gott sei Dank, mittlerweile zurück, seit eine Vorliebe für beinharte Brutalität als nicht mehr ganz so schicke Lebensart wie früher gilt.

In ein paar Gebieten Afrikas erlegt man Gorillas noch immer, um sie zu essen, allerdings nicht in der Gegend um die Virunga-Vulkane – zumindest nicht vorsätzlich. Das Problem besteht darin, daß sehr viele andere Tiere gejagt werden und Gorillas häufig in Buschbock- oder Ducker-Fallen geraten. Beispielsweise verfing sich im August 1988 ein junger weiblicher Gorilla namens Jozi mit der Hand in einer Antilopen-Fußangel und starb schließlich an einer Blutvergiftung. Zum Schutz der Gorillas sind Patrouillen gegen Wilderer also nach wie vor notwendig.

Außer uns saßen an diesem Abend noch zwei weitere Personen in der Hütte. Und zwar zwei deutsche Studenten, deren Namen ich zwar zwischenzeitlich wieder vergessen habe, die ich aber, da sie nicht von all den anderen deutschen Studenten zu unterscheiden waren, denen wir auf unseren Reisen gelegentlich begegneten, einfach Helmut und Kurt nennen werde.

Helmut und Kurt waren jung, blond, tatkräftig, unglaublich gut ausgerüstet und uns in so gut wie jeder Hinsicht weit überlegen. Am frühen Abend bekamen wir sie kaum zu Gesicht, weil sie schwer mit der Zubereitung ihrer Mahlzeit beschäftigt waren. Dazu gehörte das Errichten eines Steinofens im Freien und anschließend allerlei Hin- und Hergelaufe mit Schüsseln voll kochenden Wassers, Stoppuhren, Taschenmessern und zerstückelten Teilen des örtlichen Wildbestandes. Schließlich setzten sie sich, verspeisten ihr Festmahl mit unerbittlicher Effizienz und weigerten sich auf beleidigende Art und Weise, unseren Dosenbirnenhälften wenigstens einen verächtlichen Blick zuzuwerfen.

Dann kündigten sie an, sie gingen jetzt schlafen, allerdings nicht etwa in der Hütte, sondern in einem mitgebrachten Zelt, das wesentlich besser sei. Es war ein deutsches Zelt. Sie verabschiedeten sich mit einem kur(t)zen Nicken und verschwanden.

Nachdem ich in dieser Nacht einige Zeit wach gelegen und mir Sorgen wegen Muraras und Serundoris gelegentlicher Neigung zum Leute-Erschießen gemacht hatte, begann ich mir schließlich dessen Sorgen wegen Helmut und Kurt zu machen. Ich wünschte mir, sie wären, wenn sie sich schon so verhalten mußten, nicht auch noch ausgerechnet Deutsche. Das war zu leicht. Zu offensichtlich. Es war, als begegnete man einem wahrhaftig dummen Iren, einer wahrhaftig fetten Schwiegermutter oder einem amerikanischen Geschäftsmann, der seinen zweiten Vornamen wahrhaftig mit einer Initiale abkürzt und Zigarre raucht. Man hat das Gefühl, gegen seinen Willen in einer Varietenummer aufzutreten, und möchte sich am liebsten hinsetzen und das Buch umschreiben. Wären Helmut und Kurt Brasilianer oder Chinesen oder Letten oder sonstwas gewesen, hätten sie sich genauso benehmen können, und es wäre überraschend und faszinierend und, was vor allem mich betraf, auch wesentlich einfacher zu beschreiben gewesen. Schriftsteller sollten nicht am Aufrechterhalten von Klischees mitwirken. Ich fragte mich, was ich dagegen unternehmen sollte, kam zu dem Schluß, daß sie einfach Letten sein konnten, wenn ich es wollte, und ging anschließend sehr friedvoll dazu über, mir Sorgen wegen meiner Stiefel zu machen.

Vor dem Schlafengehen hatte Mark mir geraten, nach dem Aufstehen zuerst mal meine Stiefel umzudrehen und auszuschütteln.

Ich fragte ihn, weshalb.

»Skorpione«, erwiderte er. »Gute Nacht.«


Früh am nächsten Morgen erwarteten uns Murara und Serundori vor der Hütte, streichelten ihre Gewehre und Macheten und trugen dabei einen bedeutungsvollen Blick zur Schau, bei dem wir uns nicht sicher waren, ob er uns gefiel. Immerhin hatten sie gute Nachrichten für uns. Da Gorillas nicht dazu neigen, ihre persönlichen Verpflichtungen wegen zu Besuch kommender entfernter Verwandter umzustoßen, begegnete man ihnen manchmal erst nach einem achtstündigen Fußmarsch von der Wildhüterhütte aus. An diesem Tag allerdings, so die gute Nachricht, waren sie nur ungefähr eine Stunde von uns entfernt, also stand uns ein geruhsamer Tag bevor. Wir sammelten unseren Gorilla-Beobachtungs- Kram zusammen, ließen den Drachen, den Dickens und unsere Blitzleuchten wohlbedacht zurück, weil wir davon ausgingen, daß diese Dinge die Gorillas in unterschiedlichem Maße verärgern würden, wünschten Helmut und Kurt, die uns bei der Expedition begleiteten, einen guten Morgen und machten uns gemeinsam auf die Suche nach den Gorillas. Im dunstigen Morgenlicht ragte vor uns der Buckel des Mikeno-Vulkans auf.

Der Wald, in den wir eintauchten, war dicht und feucht, und darüber beschwerte ich mich bei Mark.

Er setzte mir auseinander, daß Gorillas gern in Gebirgsregenwäldern oder Wolkenwäldern leben. Und die befinden sich dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, über der Wolkengrenze und sind ständig klamm. Ständig tropft Wasser von den Bäumen.

»Das ist etwas anderes als der primäre Regenwald im Flachland«, sagte Mark. »Eher ein sekundärer Regenwald, der entsteht, wenn ein ursprünglicher Regenwald abbrennt oder abgeholzt wird.«

»Ich dachte immer, das Hauptproblem bei den Regenwäldern wäre, daß sie nicht nachwachsen, wenn man sie abholzt«, sagte ich.

»Es entsteht kein neuer primärer Regenwald. Na, vielleicht doch, das weiß man nicht. Vielleicht nach Hunderten oder Tausenden von Jahren. Jedenfalls dauert es bedeutend länger, als unsere bisherigen Aufzeichnungen zurückreichen. Und der ursprüngliche Wildbestand wird bis dahin mit Sicherheit ein für allemal verschwunden sein.

Primärer Regenwald ist ein unglaublich komplexes System, aber wenn man dann wirklich mittendrin steht, sieht er halb leer aus. In der Wachstumsphase entsteht ein sehr hohes, dichtes Blätterdach, weil alle Bäume miteinander um das Sonnenlicht wetteifern. Da aber nur sehr wenig Licht durch dieses Dach dringt, hält sich das Pflanzenwachstum am Boden in Grenzen. Dafür entsteht das komplexeste ökologische System der Welt, das nur dazu da ist, die von den Bäumen absorbierte Sonnenenergie über den gesamten Wald zu verteilen.

Wolkenwälder wie dieser hier sind wesentlich einfacher. Die Bäume sind viel niedriger und stehen besser verteilt, deswegen ist auch der Boden dicht bewachsen, was den Gorillas gefällt, weil sie sich gut verstecken können. Und es gibt eine Menge Futter in Reichweite.«

Für uns allerdings wurde das Durchqueren des Waldes wegen der dichten, feuchten Vegetation zu einem harten Stück Arbeit. Murara und Serundori schwangen ihre Macheten so lässig durch das nahezu undurchdringliche Unterholz, daß mir erst nach einiger Zeit aufging, daß mehr dahintersteckte als vages Herumhacken.

Macheten haben eine ganz bestimmte Form, ein bißchen wie die Silhouette einer Banane mit verdicktem Ende. Nicht nur die Neigung und der Winkel der Klinge sind überall verschieden, sie ist auch an jeder Stelle unterschiedlich gewichtet. Es war faszinierend zu beobachten, wie unsere Führer die Richtung ihrer Schläge von einem Hieb zum anderen genau der Pflanzenform anpaßten, die sie abzuschlagen versuchten – mal war es ein dicker Ast, mal waren es Nesselbänke und dann verheddert herunterhängende Kletterpflanzen. Es sah aus wie ein sehr lässiges Tennisspiel, bei dem ein äußerst geschicktes Spielerpaar auf dem Platz stand.

Der Wald war aber nicht nur dicht, sondern auch kalt, feucht und voller großer schwarzer Ameisen, die uns alle bissen – nur Helmut und Kurt nicht, die sich aus Lettland spezielle ameisensichere Socken mitgebracht hatten.

Wir beglückwünschten sie zu ihrer weisen Voraussicht, aber sie zuckten die Achseln und taten es einfach ab. Letten sind immer gut vorbereitet. Sie musterten unsere Aufnahmegeräte und zeigten sich überrascht, daß wir diese Ausrüstung für angemessen hielten. In Lettland gäbe es wesentlich bessere Geräte als unsere. Wir sagten, das könne schon sein, nur wären wir sehr zufrieden mit ihnen, und auch die BBC scheine sie für diesen Auftrag bestens geeignet zu halten. Helmut (oder war es Kurt?) erklärte uns, daß sie in Lettland wesentlich bessere Fernsehanstalten hätten.

Der Ausbruch offener Feindseligkeiten wurde in diesem Moment glücklicherweise von einem Signal unserer Führer verhindert, die uns bedeuteten, uns still zu verhalten. Wir waren nahe bei den Gorillas.

»War doch klar«, sagte Kurt, und ein leichtes Lächeln kräuselte seine schmalen Lippen, als habe er die ganze Zeit über gewußt, daß die Gorillas an genau dieser Stelle sein würden.

Nur war es kein Gorilla, der die Aufmerksamkeit unserer Führer auf sich gezogen hatte, sondern ein Gorillabett. Im Unterholz neben dem Pfad, auf dem wir uns bewegten, war eine tiefe Einbuchtung, in der ein Gorilla die Nacht verbracht hatte. Pflanzen waren abgerissen und übereinandergelegt worden, damit der Gorilla nicht auf dem nachts kalten und klammen Boden liegen mußte.

Was Laien an Zoologen in hohem Maße eigenartig finden, ist ihre unersättliche Begeisterung für Tierexkremente. Ich verstehe ja, daß man aus diesen Exkrementen eine Menge Informationen über die Gewohnheiten und die Ernährungsweise der betreffenden Tiere herauslesen kann, aber nichts erklärt in meinen Augen die ungetrübte Verzückung, die diese Objekte auszulösen vermögen.

Ein kurzer Freudenjapser sagte mir, daß Mark welche gefunden hatte. Er fiel auf die Knie und begann seine Nikon über einem kleinen Haufen Gorillakot abzufeuern.

»Es ist im Nest«, erklärte er mir, nachdem er fertig war, »das ist sehr interessant, mußt du wissen. Die Berggorillas, also die, die hier leben, entleeren sich grundsätzlich in ihre Nester, weil es nachts zu kalt zum Aufstehen ist. Die Westlichen Flachlandgorillas tun das nicht. Für die ist es nicht so problematisch, nachts aufzustehen, weil sie in einem wärmeren Klima leben. Davon abgesehen, ernähren sich die Westlichen Flachlandgorillas von Früchten, was wohl ein weiterer Anreiz ist, sich nicht ins Nest zu scheißen.«

»Verstehe«, sagte ich.

Helmut wollte irgendwas sagen, vermutlich, daß sie in Lettland Gorillas hätten, die diesen weit überlegen seien, aber ich unterbrach ihn, weil ich plötzlich den merkwürdigen, unbehaglichen Eindruck hatte, von einem Laster angestarrt zu werden.

Wir blieben ganz ruhig und sahen uns sehr vorsichtig um. Es war nichts in unserer Nähe, es war nichts in den Bäumen über uns, und es war auch nichts in den Büschen, das uns verstohlen anspähte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis wir überhaupt etwas sahen, aber dann bemerkten wir aus den Augenwinkeln eine kurze Bewegung. Ohne jede Deckung stand etwa dreißig Meter hinter uns auf dem Pfad etwas, das so groß war, daß wir es gar nicht bemerkt hatten. Es war ein Berggorilla oder vielleicht sollte ich besser sagen, ein Gorilla-Berg, der, auf seine Vorderknöchel gestützt, dastand und in dieser Haltung die Form eines großen, muskulösen, schrägen Hauszelts annahm.

Sie werden bestimmt schon häufiger gehört haben, daß diese Geschöpfe furchterregende Bestien sind, und ich möchte hier meinen ureigensten Eindruck hinzufügen: Diese Lebewesen sind furchterregende Bestien. Ich wüßte wirklich nicht, wie man sie sonst beschreiben sollte.

Eine Art summende geistige Lähmung überkommt einen, wenn man einem derartigen Lebewesen zum erstenmal in freier Wildbahn begegnet, und tatsächlich gibt es ja auch keine anderen derartigen Lebewesen. Alle möglichen wilden und schwindelerregenden Gefühle steigen einem ins Hirn, die man nicht einordnen oder benennen kann, vielleicht, weil es Tausende oder Millionen von Jahren her ist, seit diese Gefühle zum letztenmal erweckt wurden.

Ich werde jetzt kurz abschweifen, weil man kaum anders kann, wenn dem rationalen, zivilisierten Verstand (ich verwende diese Begriffe im weitestmöglichen Sinn) Dinge zustoßen, die ebenso unbegreiflich wie unerklärlich, aber nichtsdestotrotz überwältigend sind.

Ich habe von einem Ansatz gehört –, weiß allerdings nicht, wie ernst er zu nehmen ist –, mit dem sich das Gefühl der Höhenangst erklären läßt. Es ist eine Überlegung, die mir instinktiv gefällt und wie folgt lautet.

Das Schwindelgefühl, das wir in der Höhe empfinden, ist nicht allein auf die Angst vor dem Fallen zurückzuführen. Häufig ist es so, daß wir, wenn überhaupt, nur wegen des Schwindelgefühls selbst abstürzen könnten, womit es sich bei dieser Angst bestenfalls um eine ausgesprochen irrationale, sich selbst verwirklichende Befürchtung handeln würde. Nun haben wir aber in längst vergangenen Zeiten auf Bäumen gelebt. Wir sind von Baum zu Baum gehüpft. Gewisse Leute vertreten sogar die Ansicht, wir hätten etwas Vogelartiges in unserer Ahnenreihe. Falls das zutrifft, könnte also irgendein Teil unseres Bewußtseins angesichts eines Abgrunds meinen, er könne einfach reinhüpfen, und versuchen, auch uns dazu zu drängen. Was dabei am Ende herauskommt, ist also ein Konflikt zwischen einem primitiven, atavistischen Teil unseres Bewußtseins, der »Spring!« sagt, und einem modernen, rationaleren Teil des Bewußtseins, der »Um Himmels willen, laß es!« sagt.

Mit Sicherheit hat diese Höhenangst wesentlich mehr mit widerstreitenden inneren Konflikten und Verwirrung zu tun als mit schlichter Furcht. Falls es sich nämlich um Furcht handelt, dann um eine, mit der wir gern herumspielen, die wir als angenehmen Nervenkitzel empfinden und mit der Achterbahn- und Riesenradbauer ihren Lebensunterhalt verdienen.

Das Gefühl, das mich angesichts meines ersten Silberrücken-Gorillas in der Wildnis überkam, war schwindelerregend. Es war, als sollte ich irgend etwas tun, als würde eine Reaktion von mir erwartet, ohne daß ich wußte, was oder wie ich es tun sollte. Mein modernes Bewußtsein sagte einfach: »Lauf weg!«, aber ich konnte nichts weiter tun als dastehen, zittern und glotzen. Es war, als ob uns der richtige Zeitpunkt zwischen den Fingern hindurchglitt, zwischen uns und dem Gorilla in einen unüberbrückbaren Abgrund stürzte und uns hilflos gaffend auf unserer Seite zurückließ. Dem Gorilla war mittlerweile offenbar aufgegangen, daß wir gerade mit dem Fotografieren seines Kots beschäftigt gewesen waren, also stapfte er zurück ins Unterholz.

Wir nahmen die Verfolgung auf, waren aber – im Gegensatz zu ihm – nicht in unserem Element. Wir hätten nicht mal sagen können, wo ungefähr er eigentlich in seinem Element war, und nach einer Weile gaben wir auf und begannen, das Gebiet wieder etwas grundsätzlicher zu erforschen.

Der Gorilla, den wir gesehen hatten, war ein großer, männlicher Silberrücken gewesen. Silberrücken bedeutet, daß sein Rücken silbrig oder grauhaarig war. Nur die Rücken der Männchen verfärben sich, und das auch erst, wenn sie ausgewachsen sind. Gerüchte besagen, daß nur der männliche Anführer einer Gruppe einen silbernen Rücken bekommt, und zwar binnen weniger Tage oder gar Stunden, nachdem er die Führung übernommen hat, aber das ist offensichtlich Blödsinn. Weit verbreiteter und verlockender Blödsinn, aber eben Blödsinn. Und da wir schon beim Thema Blödsinn sind, sollte ich etwas erwähnen, das wir ein paar Tage später während eines Gesprächs mit Conrad Aveling erfuhren, einem Feldforscher aus Goma, der jahrelang für den Schutz der Gorillas in diesem Gebiet zuständig gewesen war.

Als wir Conrad erzählten, wie sehr uns Muraras und Serundoris Schilderungen vom Einfach-Losziehen-und-Wilderer-Umnieten beunruhigt hatten, ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken, klatschte sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen.

»Es ist einfach nicht zu fassen, was diese Burschen den Touristen so alles auftischen! Jetzt sagt bloß, die haben euch auch noch von ihrer Kommando-Vergangenheit erzählt?«

Einigermaßen schüchtern räumten wir ein, sie hätten. Conrad griff sich an die Augenbraue und schüttelte den Kopf.

»Das einzige, was an denen kommandomäßig ist«, sagte er, »ist ihre Uniform. Die kaufen sie nämlich von den Kommandos. Weil sie so gut wie nie bezahlt werden, verscherbeln die Kommandos die Dinger, um sich Essen leisten zu können. Das ist alles völliger Quatsch. Ich hab kürzlich schon mal so eine tolle Geschichte gehört. Ein Tourist hatte einen Führer gefragt – und zwar in Rawindi, wo es keine Gorillas gibt –, also dieser Tourist hatte gefragt: ›Was passiert, wenn ein Gorilla auf einen Löwen trifft?‹ Statt nun zu antworten: ›Tja, da Löwen und Gorillas in völlig verschiedenen Gegenden leben und gar nicht aufeinandertreffen können, ist das eine ziemlich dämliche Frage‹, meinte dieser Führer offenbar, er müsse sich eine originelle Antwort einfallen lassen. Also sagte er: ›Folgendes passiert: Der Gorilla prügelt den Löwen windelweich, rollt seinen Körper in Blätter und Zweige ein und trampelt dann darauf herum.‹ Ich hab von der Geschichte gehört, weil der Tourist anschließend zu mir kam und mir erzählt hat, wie irrsinnig faszinierend er das gefunden habe. Es gefällt mir nicht, wenn sie sich diese originellen Antworten ausdenken. Wenn man ihnen bloß klarmachen könnte, daß sie, falls sie die Antwort nicht wissen oder für nicht besonders interessant halten, das lieber zugeben sollen, als sich kompletten Schwachsinn auszudenken.«

Außer Frage aber stand, daß sich unsere Führer, wenn sie sich nicht gerade irgendwas ausdachten oder ihre Rambo-Phantasien auslebten, wirklich gut im Wald auskannten und eine Menge über Gorillas wußten. Sie hatten (wie Conrad Aveling durchgehend begeistert bestätigte) zwei Mitglieder der Gorillagruppe an den Kontakt mit Menschen »gewöhnt«. Dieses »Gewöhnen« ist ein sehr langwieriges, kompliziertes und heikles Unterfangen, besteht aber, kurz gesagt, darin, Kontakt zu einer Gruppe in der Wildnis aufzunehmen, sie über einen Zeitraum von Monaten oder gar Jahren tagtäglich zu besuchen – sofern man sie findet – und sie so zu trainieren, daß sie die Gegenwart von Menschen dulden, um sie schließlich studieren und selbst in Begleitung von Touristen aufsuchen zu können.

Die Dauer dieser Gewöhnungszeit hängt allein vom dominanten Silberrücken ab. Er ist derjenige, dessen Vertrauen man gewinnen muß. Bei der Familiengruppe, die wir besuchten, hatte es volle drei Jahre gedauert. Conrad Aveling hatte die ersten acht Monate bei diesem Projekt damit verbracht, mit den Gorillas durchs Unterholz zu kriechen, ohne dabei jemals einen von ihnen tatsächlich zu Gesicht zu bekommen, obwohl er häufig nicht weiter als fünf oder zehn Meter von ihnen entfernt war.

»Eins der Probleme bei der Gewöhnung in einer solchen Umgebung ist«, erklärte er uns, »daß man sich vor lauter Dickicht nicht sehen kann und deshalb ständig mit diesen plötzlichen Begegnungen in nur drei, vier Metern Entfernung rechnen muß, wobei man sich aber noch immer nicht sehen kann. Da fährt natürlich jeder aus der Haut. Der Gorilla fährt aus seiner Haut und ich aus meiner. Das ist unglaublich aufregend. Man bekommt einen richtigen Adrenalinstoß. Das Problem mit der Gruppe aus Bukavu war, daß der Silberrücken nicht auf mich losgehen wollte. Ich wollte aber, daß er das tat, weil er sich dann hätte zeigen müssen und begriffen hätte, daß ich keine Bedrohung darstellte. Aber er machte es einfach nicht, sondern umkreiste mich nur weiter. Normalerweise gehen sie auf einen los, und wenn sie das tun und man ihnen Auge in Auge gegenübersteht, haben beide Parteien einen Augenblick Zeit zu begreifen, daß keiner für den anderen eine Bedrohung darstellt, und der Gorilla wird sich zurückziehen.«

»Aber man nimmt doch wohl eine Unterwerfungshaltung ein, oder?« fragte Mark. »Man stellt sich ihm doch nicht?«

»Nein, ich nehme grundsätzlich keine Unterwerfungshaltung ein. Normalerweise kann ich mich vor Angst nicht bewegen.«

Hat der Silberrücken den Menschen erst einmal akzeptiert, schließt sich nicht nur der Rest der Gruppe zügig an, sondern lassen sich interessanterweise auch andere, im selben Gebiet lebende Gruppen gewöhnlich bedeutend schneller an die Gegenwart von Menschen gewöhnen. Ärger gibt es dabei so gut wie nie, vorausgesetzt, alle Beteiligten behandeln einander mit angemessenem Respekt. Die Gorillas sind absolut imstande, deutlich zu machen, wenn sie nicht gestört werden wollen. In einem Fall hatte eine Gorillagruppe wegen eines Zusammentreffens mit einer anderen Gorillagruppe einen besonders stressigen Vormittag verbracht und wollte um nichts in der Welt nachmittags von Menschen belästigt werden; als ein Spurenleser einige Touristen anschleppte und länger als erwünscht blieb, griff sich der Silberrücken die Hand des Spurenlesers und biß ihm ganz behutsam die Uhr ab.

Das Geschäft mit dem Tourismus ist und bleibt vertrackt. Ich selbst hatte die Gorillas schon seit Jahren besuchen wollen, mich jedoch aus Sorge, der Tourismus könne sowohl ihren Lebensraum als auch ihre Lebensgewohnheiten beeinträchtigen, abschrecken lassen. Außerdem besteht die Gefahr, die Gorillas Krankheiten auszusetzen, gegen die sie nicht immun sind. Bekanntlich war ja auch Dian Fossey, die berühmte, einzigartige Vorkämpferin des Gorillaschutzes, die meiste Zeit ihres Lebens eine leidenschaftliche Gegnerin des Tourismus und wollte die Welt von ihren Gorillas fernhalten. Dennoch hat aber auch sie sich gegen Ende ihres Lebens, wenn auch schweren Herzens, zu einer anderen Auffassung durchringen können, und nach heute vorherrschender Meinung ist der Tourismus, solange er sorgfältig kontrolliert und überwacht wird, der einzige Garant für den künftigen Fortbestand der Gorillas. Es ist traurig, aber leider nicht von der Hand zu weisen, daß es letztlich auf simple Ökonomie hinausläuft. Ohne Touristen stellt sich nur die Frage, was zuerst passiert – entweder wird der Lebensraum der Gorillas vollständig zerstört, um als Anbaufläche oder Feuerholz zu dienen, oder die Gorillas werden von Wilderern gejagt, bis sie ausgerottet sind. Ungeschminkt formuliert, sind die Gorillas heute für die Einheimischen (und die Regierung) tot weniger wert als lebendig.

Die Beschränkungen, die mit Nachdruck durchgesetzt werden, sehen so aus: Jede Gorillafamilie darf nur einmal täglich, normalerweise eine Stunde lang, von einer höchstens sechs Personen umfassenden Gruppe besucht werden, deren Mitglieder für dieses Privileg je einhundert US-Dollar zu zahlen haben. Wofür sie die Gorillas unter Umständen nicht mal zu sehen bekommen.

Wir hatten Glück; wir fanden sie. Obwohl es nach unserem ersten kurzen Zusammentreffen mit dem Silberrücken eine Zeitlang nicht so aussah, als sollten wir auf weitere Gorillas stoßen. Wir bewegten uns langsam und vorsichtig durchs Unterholz, während Murara und Serundori regelmäßig Keuch- und Grunzlaute ausstießen. Sinn dieser Übungen war, den Gorillas unser Kommen anzukündigen und zu unterstreichen, daß wir nichts Böses im Schilde führten. Die Geräusche sind Nachahmungen von Lauten, die die Gorillas selbst von sich geben. Obwohl es wohl ziemlich egal ist, ob man sie nun zu imitieren versucht oder nicht. Reinlegen kann man damit sowieso niemanden. Es beruhigt die Gorillas einfach, wenn man immer dasselbe Geräusch macht. Ginge es nach ihnen, könnte man genausogut die Nationalhymne absingen.

Als wir schon kurz davor waren, aufzugeben und umzukehren, versuchten wir es noch einmal mit einem Richtungswechsel, und plötzlich schien der Wald mit Gorillas regelrecht vollgestopft zu sein. In einem Baum, knapp einen Meter über unseren Köpfen, rekelte sich ein Weibchen, das träge mit den Zähnen Rinde von einem Zweig rupfte. Es nahm uns zur Kenntnis, war aber nicht interessiert. Zwei Babys alberten in vier Metern Höhe verwegen in einem ausgesprochen schmächtigen Bäumchen herum, und ein junges Männchen tuckerte auf der Suche nach Eßbarem durchs nahe gelegene Unterholz. Wir starrten die beiden Babys an, erstaunt und fasziniert von der herrlich ausgelassenen Hingabe, mit der sie umeinander und um das grauenhaft dürre Bäumchen wirbelten, das sie für diese Übung auserkoren hatten. Es war kaum zu fassen, daß der Baum sie überhaupt tragen konnte, und tatsächlich konnte er das auch nicht. In völligem Irrglauben, was die Gravitationsgesetze betraf, rauschten sie plötzlich durch die Äste zu Boden und trollten sich verzagt ins Unterholz.

Wir folgten ihnen und begegneten einem Gorilla nach dem anderen, bis wir schließlich auf einen Silberrücken stießen, der unter einem Busch auf der Seite lag, sich mit seinem hinter dem Kopf verschränkten langen Arm am gegenüberliegenden Ohr kratzte und dabei ein einigermaßen untätiges Astbüschel betrachtete. Uns war sofort klar, was er tat. Er lungerte herum. Das war ganz offensichtlich. Oder besser: Die Versuchung, es ganz offensichtlich zu finden, war überwältigend.

Sie sehen aus wie Menschen, sie bewegen sich wie Menschen, sie halten Dinge in den Händen wie Menschen, und ihre Mimik und die ungemein menschlichen Blicke drücken etwas aus, das wir ganz instinktiv als Ausdruck menschlicher Gefühle empfinden. Wir sehen ihnen ins Gesicht und denken: »Wir wissen, wie sie sind«, aber genau das wissen wir nicht. Oder blockieren zumindest jeden möglichen Verständnisschimmer, indem wir uns mit ebenso einfachen wie verlockenden Mutmaßungen begnügen.

Auf Händen und Knien kroch ich langsam und ruhig dichter an den Silberrücken heran, bis ich nur noch einen halben Meter von ihm entfernt war. Er warf mir einen unbeteiligten Blick zu, als sei ich nur irgendwer, der gerade ins Zimmer gekommen war, und setzte seine Betrachtungen fort. Ich schätzte, daß das Tier ungefähr so groß war wie ich – fast zwei Meter –, hielt es aber für ungefähr doppelt so schwer. Größtenteils Muskeln, mit weicher schwarzgrauer Haut, die ihm ziemlich locker und, von groben schwarzen Haaren bedeckt, von der Vorderseite hing.

Als ich mich erneut bewegte, rückte er von mir ab, ungefähr fünfzehn Zentimeter, als ob ich mich etwas zu dicht neben ihn aufs Sofa gesetzt hätte und er jetzt grummelnd ein bißchen Platz machte. Dann legte er sich, die Faust unter das Kinn gestemmt, auf den Bauch und kratzte sich träge mit der anderen Hand die Wange. Ich blieb so ruhig und still wie möglich sitzen, obwohl mir aufging, daß ich gerade von Ameisen zu Tode gebissen wurde. Er sah uns ohne besondere Anteilnahme nacheinander an und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder seinen Händen zu, während er sich mit dem Daumen träge einige Schmutzflecken von einem der Finger kratzte. Ich hatte den Eindruck, daß wir für ihn ungefähr so interessant waren wie ein langweiliger Sonntagnachmittag vor dem Fernseher. Er gähnte.

Es ist so verflucht schwierig, Tiere nicht zu vermenschlichen. Derartige Eindrücke drängen sich einem ununterbrochen auf, weil sie soviel spontanes Wiedererkennen auslösen, wie illusorisch dieses Wiedererkennen auch immer sein mag. Nur auf diese Art und Weise läßt sich vermitteln, an was es erinnerte.

Nach einer längeren schweigsamen Pause zog ich vorsichtig mein rosa Schreibpapier aus der Tasche und begann mir die Notizen zu machen, von denen ich gerade abschreibe. Das schien ihn schon mehr zu interessieren. Ich nehme mal an, daß er vorher einfach noch nie rosa Schreibpapier gesehen hatte. Er verfolgte meine über das Blatt kritzelnde Hand eine Zeitlang mit den Augen, stand schließlich auf und berührte zuerst das Papier und dann die Spitze meines Kugelschreibers – nicht, um ihn mir wegzunehmen oder mich auch nur zu unterbrechen, sondern um zu sehen, was das war und wie es sich anfühlte. Ich war wirklich gerührt und wurde von dem albernen Impuls gepackt, ihm auch noch meine Kamera zu zeigen.

Er zog sich ein Stück zurück und legte sich etwa einen Meter von mir entfernt wieder hin, das Kinn wie zuvor auf die Faust gestützt. Mir gefielen sein ungewöhnlich nachdenklicher Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie sich seine Lippen durch den nach oben gerichteten Druck der Faust aufbauschten. Der beunruhigendste Hinweis auf Intelligenz allerdings schien mir aus den plötzlichen Seitenblicken hervorzugehen, die er mir nicht infolge bestimmter Bewegungen meinerseits zuwarf, sondern offenbar immer dann, wenn ihm gerade eine Idee gekommen war.

Ich begriff, welche Überheblichkeit hinter unserer Annahme steckt, wir könnten ihre Intelligenz beurteilen – als wäre die unsere irgendeine Norm, an der alles andere zu messen ist. Also versuchte ich mir vorzustellen, wie er uns sah, nur ist das natürlich so gut wie unmöglich, weil man beim Versuch, seine Vorstellungslücken zu überbrücken, unwillkürlich wieder bei den eigenen Annahmen landet und die irreführendsten Annahmen zudem ausgerechnet jene sind, von denen man gar nicht bewußt ausgeht.

Ich malte mir aus, wie er da unbeschwert in seiner eigenen kleinen Welt lag, meine Gegenwart darin tolerierte, obwohl er mir, wie ich glaube, womöglich Signale zuschickte, auf die ich nicht zu reagieren wußte. Und dann malte ich mir aus, wie ich da neben ihm saß, geschmückt mit meinen Intelligenzapparaten – meiner Gore-Tex-Kutte, meinem Stift und meinem Papier, meiner autofokussierenden, belichtungsautomatischen Nikon F4 – und meiner ganzen Unfähigkeit, auch nur irgend etwas von dem Leben zu begreifen, das wir hinter uns im Wald zurückgelassen haben – Aber irgendwo in der genetischen Geschichte, die wir alle in jeder einzelnen Körperzelle mit uns herumtragen, bestand eine innige Verbindung zu diesem Lebewesen – für uns so unerreichbar wie die Träume vom letzten Jahr, aber, genau wie diese Träume, immer unsichtbar und unergründlich gegenwärtig.

Was mir daraufhin in den Sinn kam, war, glaube ich, die vage Erinnerung an einen Film, in dem ein New Yorker, Sohn osteuropäischer Einwanderer, aufbricht, um das Dorf zu finden, aus dem seine Familie ursprünglich stammt. Er ist wohlhabend und erfolgreich und erwartet, aufgeregt in Empfang genommen und bestaunt zu werden.

Statt dessen wird er zwar nicht gerade abgelehnt oder gar weggeschickt, aber in einer für ihn vollkommen unverständlichen Art und Weise empfangen. Es irritiert ihn, daß man nicht angemessen auf seine Anwesenheit reagiert, bis er begreift, daß die Zurückhaltung, mit der man ihm begegnet, keine Ablehnung ist, sondern nur der Friede, in dem er als Gast, aber nicht als Störer, jederzeit willkommen ist. Die Geschenke, die er aus der Zivilisation mitgebracht hat, zerfallen in seinen Händen zu Staub, als ihm klar wird, das alles, was er besitzt, nur ein Abglanz dessen ist, was er verloren hat.

Wieder betrachtete ich die Augen des Gorillas, weise und wissende Augen, und machte mir meine Gedanken über die Versuche, Affen eine Sprache beizubringen. Unsere Sprache. Wozu? Es gibt doch genügend Mitglieder unserer eigenen Spezies, die in und mit dem Wald leben und diese Sprache kennen und verstehen. Denen hören wir doch auch nicht zu. Wie kommen wir also darauf, daß wir uns ausgerechnet das anhören würden, was uns ein Affe zu sagen hätte? Oder darauf, daß er uns etwas von seinem Leben mitteilen könnte, in einer Sprache, die nicht aus diesem Leben entstanden ist? Vielleicht, dachte ich, ist es gar nicht so, daß sie eine Sprache erwerben müßten, sondern daß wir eine verloren haben.

Unsere Anwesenheit schien den Silberrücken schließlich doch zu ermüden. Er wuchtete sich auf die Füße und schleppte sich gemächlich in einen anderen Teil seiner Behausung.

Auf dem Rückweg zur Hütte entdeckte ich in meiner Kameratasche eine kleine Dose Thunfisch, die wir nach unserer Rückkehr zusammen mit einer Flasche Bier gierig vernichteten, und das bedeutete, um zwei Uhr nachmittags, das Ende der spaßigen Ereignisse dieses Tages, es sei denn, man hält es für spaßig, einem Paar deutscher, Verzeihung, lettischer Studenten zuzuhören, das einem die Vorzüge seiner Taschenmesser auseinandersetze.

Mark wurde dabei langsam ziemlich fuchsig, was sich daran zeigte, daß er seine Bierflasche ausgesprochen fest mit den Händen umklammert hielt und sie dauernd anstarrte. Kurt fragte uns, was wir als nächstes vorhätten, und wir sagten, wir würden zum Garamba-Nationalpark fliegen und mal sehen, ob wir irgendwelche weißen Nashörner auftreiben könnten. Kurt nickte und sagte, er selbst werde wohl heute nacht mal nach Uganda wandern.

Marks um die Bierflasche geschlungene Fingerknöchel wurden weißer. Nun zieht er es zwar wie die meisten Zoologen ohnehin vor, sich mit Tieren und nicht mit Menschen abzugeben, aber in diesem Fall waren wir uns vollkommen einig. Mir kam in den Sinn, daß wir einen Tag damit zugebracht hatten, völlig verzückt ein paar Berggorillas anzustaunen, daß uns besonders ihre scheinbare Ähnlichkeit mit uns Menschen ergriffen hatte und daß wir gerade diese Eigenschaft für eine ihrer faszinierendsten und fesselndsten hielten. Um anschließend herauszufinden, daß ein paar in Gesellschaft von wirklichen Menschen verbrachte Stunden bloß lästig und etwas verwirrend waren.


Drei Tage später fand ich mich auf einem Termitenhügel stehend wieder, von dem aus ich durch ein Fernglas einen anderen Termitenhügel anstarrte.

Ich wußte, daß ich auf einem Termitenhügel stand, war aber enttäuscht, daß das Ding, das ich anstarrte, kein nördliches weißes Nashorn war, weil wir mehr als eine Stunde lang in der Mittagshitze und mitten in einer Gegend, die man wirklich nur Afrika nennen konnte, entschlossen darauf zugewandert waren.

Außerdem war uns das Wasser ausgegangen. Es war kaum zu glauben, daß ich, der ich vollgestopft mit H. Rider Haggard, Noël Coward und »The Eagle« aufgewachsen war, bei meiner ersten Begegnung mit der wirklichen, echten afrikanischen Savanne zuerst mal geradewegs in der Mittagshitze in sie reinmarschierte und mir dann auch noch das Wasser ausging.

Ich gebe es natürlich nur ungern zu, eben weil ich mit einer gehörigen Portion H. Rider Haggard und so weiter groß geworden bin, aber ich hatte wirklich ein bißchen Angst. Der Grund, weshalb einem nicht mitten in der Savanne das Wasser ausgehen sollte, ist nämlich, daß man das Zeug wirklich braucht. Man kriegt von seinem Körper ständig zu hören, daß er es braucht, und nach einiger Zeit wird er ziemlich ausfallend, was dieses Thema angeht. Davon abgesehen, steckten wir meilenweit im Nirgendwo, und obwohl eine ganze Reihe von Theorien in bezug auf den Standort unseres Landrovers herumschwirrten, hatte bis dahin keine von ihnen einer ernsthaften Überprüfung standhalten können.

Ich weiß nicht, wie beunruhigt Mark und Chris zu diesem Zeitpunkt waren, weil man sie – besonders Chris – kaum zu irgendwelchen verständlichen Aussagen bewegen konnte. Chris kommt aus Edinburgh und ist unverkennbar Angehöriger einer nordischen Rasse: rothaarig, bleichhäutig und selig, wenn er, in etwas gehüllt, das wie ein großer, toter Hase aussieht, einen DAT-Recorder und ein Mikrofon durch die schottischen Moore schleppen darf, während Wind und Regen gegen seine zusammengebissenen Zähne klatschen. Die Savanne entspricht nicht ganz seinem Naturell. Inzwischen zog er immer kleiner werdende Kreise, sprach über immer unvernünftiger werdende Dinge und leuchtete wie eine Ampel. Mark wurde rot und einsilbig.

Die beiden Frauen, die uns begleiteten, hielten uns für totale Nieten. Es handelte sich um Kes Hillman-Smith, eine Nashornexpertin, und Annette Lanjouw, eine Schimpansenexpertin.

Kes Hillman-Smith löste mich auf dem Termitenhügel ab. Kes ist eine Expertin für weiße Nashörner, war aber überfordert hinsichtlich des momentanen Aufenthaltsortes der verbliebenen zweiundzwanzig Exemplare in einem Nationalpark, der so groß ist wie Schottland.

Es kann sein, daß ich nicht ganz richtig informiert bin. Was die Größe des Garamba-Nationalparks angeht, scheinen meine Informationen im Widerspruch zu denen anderer Leute zu stehen. Falls es tatsächlich stimmt, daß er nur fünftausend Quadratkilometer groß ist, müßte ich natürlich zugeben, daß er nur so groß wie ein Teil von Schottland ist, aber immerhin groß genug, um zweiundzwanzig Nashörner ausgesprochen wirkungsvoll zu verstecken.

Kes war, wie es sich für eine weltweit anerkannte Nashornexpertin gehörte, von Anfang an sehr skeptisch hinsichtlich des Termitenhügels gewesen, hatte aber, da es die einzige Erscheinung in dem weit entfernten Hitzeflimmern gewesen war, die einem Nashorn zumindest entfernt ähnelte, und wir schon so weit marschiert waren, trotzdem vorgeschlagen, einfach mal hinzugehen.

Kes ist eine imponierende Frau und wirkt, als sei sie gerade aus einem etwas zweifelhaften Abenteuerfilm gesprungen: hager, durchtrainiert, auffallend hübsch und normalerweise mit einem alten Kampfanzug bekleidet, dem eine ganze Reihe von Knöpfen fehlt. Sie kam zu dem Schluß, es sei langsam an der Zeit, sich ernsthaft mit der Karte zu befassen, einer eher holprigen Darstellung der eher holprigen Landschaft. Sie legte unwiderruflich fest, wo der Landrover zu sein hatte, und zwar mit einer derartigen Unbarmherzigkeit, daß der Landrover es kaum wagen konnte, nicht genau dort zu sein – wo wir ihn dann nach einem meilenweiten Marsch auch tatsächlich hinter einem Busch entdeckten, hinter dem er sich mit einer Thermoskanne Tee auf der Rückbank versteckt hatte.

Nachdem wir uns mit einem Becher Tee von der Sorte, die die Wüste zum Blühen und die Engel zum Singen bringt, wiederbelebt hatten, ratterten und rollten wir zurück zu unserer Basis, einem kleinen, nur durch einen schmalen Fluß vom Garamba-Nationalpark getrennten Hüttendorf für Besucher. Wir waren die einzigen Besucher des Parks, der, wie ich bereits sagte, so groß ist wie ein Teil von Schottland. Das ist insofern etwas überraschend, als der Park einer der schönsten von ganz Afrika ist. Er liegt im Nordosten von Zaire, an der Grenze zum Sudan, und ist nach dem Garamba-Fluß benannt, der den Park von Osten nach Westen durchschneidet. Die Vegetation besteht aus einer Mischung aus Savanne, Galeriewald und Papyrussümpfen und beherbergt zur Zeit 53000 Büffel, 5000 Elefanten, 3000 Flußpferde, 175 Kongo-Giraffen, 270 Vogelarten, um die 60 Löwen und einige riesige Elen-Antilopen mit Korkenzieherhörnern. Daß diese riesigen Elen-Antilopen sich überhaupt im Park aufhalten, wissen wir nur, weil wir eine gesehen haben. Zuletzt hatte in den fünfziger Jahren jemand eine dieser Antilopen gesehen. Wir waren hochzufrieden.

Daß der Park nur so spärlich besucht ist, liegt vermutlich zum einen an dem alptraumartigen Verwaltungsirrsinn, der auf jeden Zaire-Besucher einstürmt, zum anderen aber auch daran, daß er vom nächstgelegenen Flughafen, Bunia, mit dem Wagen eine Dreitagesreise weit entfernt ist und sich deshalb nur die wirklich entschlossenen Besucher überhaupt auf den Weg machen.

Wir hatten Glück. Der Senior Management Adviser des Garamba-Rehabilitations-Projekts, Charles Mackie, holte uns mit einer Cessna, die normalerweise zum Verfolgen von Wilddieben eingesetzt wird, vom Flughafen ab. Die unmittelbar neben dem Park gelegene Piste, auf der wir landeten, war nicht mehr als ein flachgeklopftes Stück Gras, über das wir prallten und hüpften, bis die Maschine endlich schlingernd zum Stillstand kam. Es war eine gravierende Veränderung gegenüber den nebligen, kühlen Wäldern um die Virunga-Vulkane – Grasland, das sich in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckte, heiße, trockene Luft, ein Landrover, der über staubige Straßen durch die Savanne holperte, und Elefanten, die sich schwerfällig durch die flimmernde Ferne schleppten.

Am Abend waren wir bei Kes und ihrem Mann Fraser, einem der Park-Aufseher, zum Essen eingeladen. Sie hatten ihr Haus selbst gebaut, draußen im Busch, am Ufer des Flusses. Das Haus ist ein langer, flacher, verschachtelter Bau voller Bücher und größtenteils nicht wettergeschützt – wenn es regnet, hängen sie Planen vor die Fensteröffnungen, in denen die Scheiben fehlen. Während der zweijährigen Bauzeit hatten sie in einer kleinen Lehmhütte gewohnt; mit einem Haus-Mungo, der auf der Suche nach Würmern ständig den Boden aufbuddelte, einem Hund, zwei Katzen – und einem Baby.

Da ihr Haus so offen ist, ist es grundsätzlich voller Tiere. Ein junges Flußpferd kommt zum Beispiel regelmäßig vorbei, um auf den Topfpflanzen im Wohnzimmer herumzukauen. Es bleibt dann häufig über Nacht und schläft, den Kopf neben das Bett des (zweiten) Babys gebettet, im Schlafzimmer. Im Garten gibt es Schlangen und Elefanten, Ratten, die dauernd die Seife auffressen, und Termiten, die hin und wieder die tragenden Pfosten des Hauses wegknabbern.

Die einzigen Tiere, die Kes und Fraser jedoch wirklich beunruhigen, sind die Krokodile, die im Fluß am Ende des Gartens leben. Ihr Hund wurde von einem gefressen.

»Es ist schon ein bißchen besorgniserregend«, erzählte Kes. »Aber wir müssen unser Leben halt den Umständen entsprechend gestalten. In der Stadt müßten wir uns Sorgen darüber machen, daß unsere Kinder von einem Bus überfahren oder entführt werden könnten, genau wie wir uns hier wegen der Krokodile sorgen.«

Nach dem Essen meinten sie, falls wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollten, eines der weißen Nashörner zu Gesicht zu bekommen, wäre es ausgesprochen hilfreich zu wissen, wo sie zur Zeit steckten. Sie schlugen vor, wir sollten uns morgen von Charles mit der Cessna herumfliegen lassen und am Tag darauf noch mal mit dem Landrover rausfahren und sehen, wie dicht wir an die Nashörner herankämen. Sie riefen Charles über ihr wackliges, altes Funkgerät und arrangierten alles für uns.


Charles fliegt seine Maschine so, wie meine Mutter ihr Auto über die Landstraßen in Dorset fährt. Wenn man nicht wüßte, daß sie das seit Jahren tagtäglich eisern tut, würde man sich bibbernd vor Angst im Fußraum verkriechen, statt glasig zu lächeln und »Warte, warte noch ein Weilchen« zu summen.

Charles ist ein schlanker, etwas angespannter Mann und zudem auch noch schüchtern. Manchmal meint man, ihn mit irgend etwas zutiefst beleidigt zu haben, und merkt einen Augenblick später, daß sein plötzliches Schweigen nur darauf zurückzuführen ist, daß er nicht weiß, was er als nächstes sagen soll und es deshalb einfach aufgegeben hat. Andererseits gibt es vom Flugzeug aus soviel zu sehen, daß er erstens sehr gesprächig und zweitens natürlich kaum zu verstehen ist.

Er mußte es dreimal wiederholen, bevor ich meinen Ohren endlich traute – er sagte, er wolle nur schnell die Eier in dem Sattelstorchnest in der Baumkrone zählen, auf die wir zurasten.

Er ging über dem Baumwipfel abrupt in die Schräglage und zog dann anscheinend die Handbremse, während er sich aus dem Fenster lehnte und die Eier zählte – Das Cockpit war erfüllt von »Warte, warte noch ein Weilchen«-Klängen, als die Maschine langsam seitlich abwärtszutrudeln begann. Charles verzählte sich offenbar zweimal, bevor er mit dem Ergebnis zufrieden war, zog den Kopf daraufhin wieder durch das Fenster nach innen, drehte sich um und fragte, ob es uns gut ginge, blickte nach vorn und riß die Maschine Sekundenbruchteile vor unser aller Tod wieder hoch in die Luft.

Aus der Luft wirkt die Savanne wie über das Land gespannte Straußenhaut. Wir passierten eine kleine Elefantenhorde, die nickend und sich verbeugend über die Ebene stampfte. Charles rief uns über die Schulter zu, im Garamba-Nationalpark versuche man Elefanten zu trainieren, und man habe auf diesem Gebiet die ersten nennenswerten Erfolge seit Hannibals Zeiten erzielt. Afrikanische Elefanten sind intelligent, aber berüchtigt für ihre Untrainierbarkeit, weshalb in den alten Tarzanfilmen Indische Elefanten mit angeklebten großen Ohren eingesetzt wurden. Letztlich will man mit dem Projekt erreichen, daß die Elefanten bei Patrouillen gegen Wilderer und bei Touristensafaris eingesetzt werden können. Auch hier werden also Einnahmen aus dem Tourismus als der einzig sichere Weg angesehen, den Fortbestand der bedrohten Tierwelt in ihrem Lebensraum zu gewährleisten.

Wir drehten immer größere Runden und hielten nach allem Ausschau, was entfernt an ein Nashorn erinnerte. Von hier oben wären sie wesentlich einfacher von einem Termitenhügel zu unterscheiden als vom Boden aus, und sei es auch nur wegen der Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen.

Plötzlich sahen wir eins. Und dann, als wir an einer Baumgruppe vorbeiflogen, sahen wir noch eins.

Tatsächlich waren es sogar zwei; eine Mutter und ihre Tochter, die sich nicht weit von uns entfernt wie trabende Felsbrocken über die Steppe bewegten. Sogar aus ein paar hundert Metern Höhe ist es äußerst beeindruckend, solche Gewichtsmassen in Bewegung zu sehen. Als wir den geraden Pfad kreuzten, auf dem Mutter und Tochter liefen, und vor ihnen tiefer gingen und beidrehten, schien es fast, als seien wir Teil einer dreiteiligen physikalischen Versuchsanordnung, deren einer Bestandteil – das Flugzeug – im Gravitationssog der Nashörner herumpendelte.

Beim nächsten Überfliegen gingen wir noch tiefer, folgten, so dicht über ihnen wie nur irgend möglich, genau ihrer Spur, und diesmal hatte ich das Gefühl, an einem militärischen Manöver teilzunehmen, bei dem wir einer monströsen, über die Ebene scheppernden Kavallerie Deckung aus der Luft geben sollten.

Durch den Lärm im Cockpit riefen wir Charles zu, ob es den Nashörnern nichts ausmache, wenn wir so dicht über Ihnen flögen.

»Nicht halb soviel, wie es euch ausmacht«, sagte er. »Nein, das stört die absolut nicht. Ein Nashorn hat vor nichts wirklich Angst und interessiert sich nur dafür, wie irgendwelche Sachen riechen. Wir fliegen ziemlich oft dicht über sie weg, um sie uns genau ansehen zu können, sie zu identifizieren, zu sehen, was sie so machen, ob sie gesund sind und so weiter. Wir kennen sie alle ganz gut, und wir wüßten, wenn sie wegen irgendwas sauer wären.«

Wieder ging mir schlagartig etwas auf, das sich auf diesen Reisen zu einer echten Binsenweisheit entwickelte, nämlich, daß ein Zoobesuch einen ganz und gar nicht darauf vorbereitete, diese Tiere in freier Wildbahn zu erleben – große Tiere, die sich als unumschränkte Herrscher ihrer ureigenen Welt in einem scheinbar grenzenlosen Raum bewegen.

Oder jedenfalls fast unumschränkt. Das nächste Nashorn, das wir ein paar Meilen weiter entdeckten, hatte gerade eine Auseinandersetzung mit einer Hyäne. Die Hyäne umkreiste ihren Gegner argwöhnisch, während das Nashorn sie kurzsichtig über sein gesenktes Horn hinweg beäugte. Nashörner sehen wirklich nicht besonders viel, und wenn sie irgend etwas unbedingt genau erkennen wollen, begutachten sie es in der Regel zuerst mit dem einen und dann mit dem anderen Auge – geradeaus können sie nämlich nicht sehen, weil ihre Augen an den Seiten des Schädels liegen. Charles wies uns beim Überfliegen des Nashorns daraufhin, daß es schon vorher Ärger mit Hyänen gehabt haben mußte: Die Hälfte seines Schwanzes fehlte.

Da ich zu diesem Zeitpunkt ernstlich luftkrank wurde, machten wir uns auf den Rückweg. Sinn des Ausflugs war ja nur gewesen herauszufinden, wo sich die Nashörner aufhielten, und von der vollständigen Population von zweiundzwanzig Exemplaren hatten wir insgesamt acht gesehen. Am nächsten Tag wollten wir auf dem Landweg aufbrechen und versuchen, uns ihnen auf dem Boden zu nähern.


Was viele Leute, die nichts über weiße Nashörner wissen, an ihnen am interessantesten finden, ist ihre Farbe.

Weiß ist es nicht.

Nicht mal annähernd. Es ist eher ein hübsches Dunkelgrau.

Nicht mal irgendein helles Grau, das man gerade noch als nicht ganz lupenreines Weiß durchgehen lassen könnte, sondern ein schlichtes Dunkelgrau. Aus diesem Grund nehmen manche Leute an, die Zoologen seien entweder pervers oder farbenblind, aber das stimmt nicht; sie sind nur ungebildet. »Weiß« ist eine falsche Übersetzung des aus dem Afrikaans stammenden Begriff »weit«, der »breit« bedeutet und sich auf das Maul des Nashorns bezieht, das breiter ist als das des schwarzen Nashorns. Wie es der Zufall will, ist das weiße Nashorn tatsächlich nur ein winziges bißchen heller als das schwarze Nashorn. Wäre das weiße Nashorn dunkler als das schwarze Nashorn, würden viele Leute wohl ziemlich stinkig werden, was schade wäre, weil man beim Nachdenken über das weiße Nashorn wegen einer ganzen Reihe anderer Dinge stinkig werden könnte – zum Beispiel wegen der Dinge, die mit seinem Horn passieren.

Es gibt einen weitverbreiteten Mythos, der erklärt, wozu man Rhinozeroshörner braucht – genaugenommen sind es zwei Mythen. Dem ersten Mythos zufolge ist gemahlenes Rhinozeroshorn ein Aphrodisiakum. Das ist, wie man wohl ungestraft behaupten darf, genau das, wonach es sich anhört – Aberglaube. Es hat wenig mit irgendwelchen medizinischen Erkenntnissen zu tun, dafür aber eine Menge damit, daß ein Rhinozeroshorn ein großes, hochstehendes, hartes Ding ist.

Der zweite Mythos ist, das so gut wie jeder an den ersten Mythos glaubt.

Wahrscheinlich war die Geschichte eine Zeitungsente oder bestenfalls ein Mißverständnis. Es ist nicht schwer zu verstehen, woher diese Idee stammte, wenn man die Unzahl von Dingen berücksichtigt, die zum Beispiel die Chinesen für Aphrodisiaka halten – Affenhirne, Spatzenzungen, die menschliche Nachgeburt, den Penis von weißen Pferden, Hasenhaare aus alten Pinseln und die getrockneten, anschließend sechs Monate in europäischem Branntwein eingeweichten Geschlechtsteile eines Tigermännchens. Ein großes, hochstehendes, hartes Ding wie ein Rhinozeroshorn ist wie geschaffen für eine solche Liste, auch wenn in diesem Zusammenhang vielleicht nicht mehr ganz so leicht nachzuvollziehen ist, was am Zerstampfen von dem Ding so anziehend sein soll. Tatsache ist, daß es keinen Hinweis darauf gibt, daß die Chinesen Rhinozeroshorn für ein Aphrodisiakum halten. Die einzigen Leute, die es glauben, sind Leute, die irgendwo gelesen haben, daß andere Leute es glauben, und die nur zu gern bereit sind, einfach alles zu glauben, was in ihren Ohren irgendwie prima klingt.

Vom Handel mit Rhinohorn als Aphrodisiakum ist nichts bekannt. (Das ist, wie so vieles, nicht mehr ganz richtig. Inzwischen weiß man, daß ein paar Leute im Norden Indiens es verwenden, aber die tun es auch nur, um andere zu ärgern.)

Häufig findet Horn in der traditionellen fernöstlichen Medizin Verwendung, aber der größte Teil des Handels mit Rhinohorn kommt aus einem wesentlich absurderen Grund zustande, und dieser Grund heißt: Mode. Dolchgriffe aus Rhinozeroshorn gelten im Jemen als außerordentlich modische Schmuckstücke für Männer. Das ist es: Modeschmuck.

Sehen wir uns mal die Auswirkungen dieser Mode an.

Bis zu ihrer Entdeckung im Jahre 1903 waren die nördlichen weißen Nashörner in der westlichen Welt unbekannt. Damals waren sie in fünf verschiedenen Ländern äußerst zahlreich vertreten; im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik, dem Sudan, in Uganda und Zaire. Ihre Entdeckung jedoch beschwor Unheil herauf, denn zu seinem eigenen Unglück hat das weiße Nashorn zwei Hörner – womit es für Wilderer gleich doppelt attraktiv ist. Das vordere, längere Hörn wird durchschnittlich sechzig Zentimeter lang; das Horn des Weltrekordhalters war sagenhafte hundertachtzig Zentimeter lang und bedauerlicherweise um die fünftausend Dollar wert.

Bis 1980 waren bis auf tausend Nashörner alle von Wilderern getötet worden. Trotzdem wurden keine ernsthaften Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriffen, und fünf Jahre später erreichte die Population einen Rekord-Tiefstand von dreizehn Tieren, die alle im Garamba-Nationalpark lebten. Die Art stand unmittelbar vor dem Aussterben.

Bis 1984 wurde der fünftausend Quadratkilometer große Garamba-Nationalpark nur von sehr wenigen Angestellten beaufsichtigt. Diese Angestellten waren nicht geschult, wurden oft nicht bezahlt und hatten weder Fahrzeuge noch irgendwelche Ausrüstung. Wenn ein Wilderer ein Nashorn töten wollte, mußte er bloß im Park vorbeischauen. Sogar die Zairer aus der Gegend töteten die Nashörner, um kleine Hornteile zu Ringen zu verarbeiten, die sie vor Gift und bösen Mitmenschen schützen sollten. Der Großteil des Horns aber wurde von Wilderern aus dem Sudan eingesackt. Es wurde in den Sudan geschafft und von dort aus auf den illegalen internationalen Markt geworfen.

Seit dem Beginn des 1984 ins Leben gerufenen Rehabilitationsprojekts hat sich die Situation in Garamba deutlich verbessert. Den heute dort beschäftigten zweihundertsechsundvierzig Mitarbeitern stehen elf Fahrzeuge und ein Leichtflugzeug zur Verfügung, und der Park wird rund um die Uhr von Wachtposten und einer mobilen Patrouille kontrolliert, die in ständigem Funkkontakt miteinander stehen. Zwei im Mai 1984, unmittelbar nach der Aufnahme der Rehabilitationsarbeit, gewilderte Nashörner waren die letzten, die im Park getötet wurden. Der Wilderer wurde geschnappt und festgenommen, konnte später jedoch entkommen. Mittlerweile hat sich die Einstellung zu diesem Thema allerdings so grundlegend geändert, daß man ihn heute nicht wieder entkommen lassen würde. Andere Arten werden weiterhin gewildert, aber zumindest zeigen die intensiven Schutzmaßnahmen der letzten fünf Jahre mittlerweile erste Wirkung. Was bedeutet, daß einige Nashörner geboren wurden und die Population jetzt den geringfügig besseren Stand von zweiundzwanzig Exemplaren erreicht hat.

Zweiundzwanzig.

Ein erstaunlicher Gesichtspunkt der Situation ist folgender: Wenn das Rhinozeroshorn aus Afrika ausgeführt und zu einem geschmacklosen Stück Modeschmuck verarbeitet worden ist, mit dem ein junger Jemenit rumprotzen und Mädchen aufreißen kann, hat es einen Endwert von mehreren tausend US-Dollar. Der Wilderer aber, jener Mann also, der in den Park geht und sein Leben riskiert, um eines der Nashörner zu erschießen, die mit viel Mühe, Zeit- und Geldaufwand geschützt werden, bekommt für das Horn zwischen zehn und fünfzehn Dollar. Der Unterschied zwischen Leben und Tod eines der seltensten und herrlichsten Tiere der Welt beträgt demnach nur ungefähr zwölf Dollar.

Da stellt sich natürlich schnell die Frage – die ich auch tatsächlich stellte –, warum man die Wilderer nicht einfach dafür bezahlt, die Tiere nicht umzubringen. Die Antwort liegt auf der Hand. Wenn jemand einem Wilderer, sagen wir mal, fünfundzwanzig Dollar dafür bietet, ein Tier nicht zu erschießen, und ihm dann jemand anders zwölf Dollar dafür bietet, es zu erschießen, wird der Wilderer höchstwahrscheinlich zu dem Schluß kommen, daß er unter diesen Umständen siebenunddreißig Dollar an einem einzigen Tier verdienen kann. Solange die Hörner wert sind, was sie wert sind, wird immer ein Anreiz für irgendwen bestehen, sich das Geld zu verdienen. Also muß die Frage anders lauten: Wie macht man einem jungen Jemeniten klar, daß ein Dolchgriff aus Rhinozeroshorn kein Männlichkeitssymbol ist, sondern nur signalisiert, daß man ein derartiges Symbol nötig hat?


Vor kurzem wurden zwei voneinander unabhängige, wenn auch nicht bestätigte Sichtungen von weißen Nashörnern im Southern National Park im Sudan gemeldet. Wegen der momentanen politischen Lage dort kann man allerdings nur sehr wenig für sie tun, was letztlich bedeutet, daß lediglich die seit Mitte der achtziger Jahre im Garamba-Park gehaltenen Tiere eine echte Überlebenschance haben. Und obwohl ihre Lage noch immer prekär ist, gibt es zumindest einen Hoffnungsschimmer: sie mit den weiter im Süden lebenden weißen Nashörnern zu kreuzen.

Nördliche und südliche weiße Nashörner gehören zur selben Art, aber ihre Bestände sind schon seit so langer Zeit voneinander getrennt, daß sie eine ganze Reihe von ökologischen und Verhaltensunterschieden entwickelt haben. Wichtiger aber ist, daß die genetischen Unterschiede so gravierend sind, daß Forscher sie als eigenständige Unterarten ansehen und daraus die Vermutung ableiten, daß sie seit über zwei Millionen Jahren voneinander getrennt leben. Heutzutage sind sie durch Tausende von Meilen afrikanischen Regenwaldes, durch Waldgebiete und Savannen permanent voneinander abgeschnitten.

Für einen Laien sind die beiden Arten kaum zu unterscheiden – obwohl der nördliche Vertreter seinen Kopf normalerweise etwas höher trägt als sein südliches Pendant und sie sich auch in den Körperproportionen ziemlich deutlich voneinander unterscheiden.

Zur Zeit ihrer Entdeckung war die nördliche Art wesentlich verbreiteter. Das südliche weiße Nashorn war zwar ein gutes Jahrhundert früher entdeckt worden, galt aber um 1882 als ausgestorben. Um die Jahrhundertwende wurde dann ein kleiner Bestand von etwa elf Tieren in Umfolozi, im Zululand, entdeckt. Um ihr Aussterben zu verhindern, wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, und bis zum Beginn der sechziger Jahre war der Bestand wieder auf ungefähr fünfhundert Tiere angewachsen. Das genügte, um mit dem Umsiedeln einzelner Tiere in andere Parks, Reservate und ins Ausland zu beginnen. Über die gesamte Südhälfte von Afrika verteilt, gibt es heute mehr als fünftausend südliche Nashörner, und damit ist die Art nicht mehr unmittelbar bedroht.

Entscheidend ist jetzt, sofort mit der Rettung der nördlichen weißen Nashörner zu beginnen.


Mit der untergehenden Sonne machten wir uns auf den Weg und setzten uns zu den ortsansässigen Flußpferden. An einer breiten Flußbiegung bildete das Wasser ein tiefes, stilles Becken, und in diesem Becken lagen ungefähr zweihundert grunzende und grölende Exemplare von ihnen. Durch die gegenüberliegende, sehr hohe Böschung entstand eine Art natürliches Amphitheater, in dem sie singen konnten, und so verblüffend klar, wie der Klang um uns herumhallte, kann ich mir nicht vorstellen, daß es in ganz Afrika einen besseren Ort gibt, um Flußpferde grunzen zu hören. Das Licht war warm und klar, und ich saß strahlend vor Staunen da und beobachtete sie eine geschlagene Stunde lang. Die Flußpferde, die uns am nächsten lagen, betrachteten uns mit einer Art begriffsstutziger Angriffslust, die wir ja schon von den Flughäfen in Zaire kannten, aber die meisten lagen einfach mit den Köpfen auf den Hinterteilen ihrer Nachbarn da und trugen ein breites, dümmlich-glückseliges Grinsen zur Schau. Auf meinem Gesicht wird sich wohl etwas Ähnliches abgezeichnet haben.

Mark sagte, er habe auf keiner seiner Reisen in Afrika etwas Vergleichbares gesehen. Garamba, sagte er, biete einem einzigartige Freiheiten, wenn es darum gehe, sich Tieren zu nähern und von anderen Menschen zu entfernen. Das hat natürlich auch seine Kehrseite. Vor kurzem hörten wir, daß ein paar Wochen später jemand, der an genau derselben Stelle saß wie wir, von einem Löwen angegriffen und getötet wurde.

Als ich mich an diesem Abend hinlegen wollte, entdeckte ich etwas sehr Interessantes. Beim ersten Betreten meiner Hütte am Vortag war mir aufgefallen, daß man das Moskitonetz über dem Bett zu einem riesigen Knoten zusammengebunden hatte. Ich benutze den Begriff »aufgefallen« im weitestmöglichen Sinne. Es war zusammengeknotet, und als ich ins Bett gehen wollte, mußte ich es auswickeln, um es über das Bett zu drapieren. Weiter hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht.

In dieser Nacht fand ich heraus, weshalb man Moskitonetze zu Knoten zusammenbindet. Es hat einen unangenehm einfachen Grund, und ich mag es kaum zugeben. Man macht es, damit keine Moskitos reinkommen.

Ich kletterte ins Bett und stellte allmählich fest, daß in meinem Netz fast so viele Moskitos waren wie draußen. Das Netz war also ungefähr so sinnvoll wie der wunderbare Zaun, den die Australier quer durch ihren Kontinent gebaut hatten, um die Karnickel fernzuhalten, die sich schon auf beiden Seiten davon tummelten. Nervös leuchtete ich mit meiner Taschenlampe in die Netzkuppel. Sie war schwarz von Moskitos.

Ich versuchte sie rauszufegen und wurde ein paar los. Ich nahm das Netz vom Deckenhaken und schüttelte es energisch aus. Das weckte erstens die Mücken und zweitens ihr Interesse. Ich wendete das ganze Ding, trug es nach draußen, schüttelte es dort noch ein ganzes Stück kräftiger, bis es aussah, als sei ich die meisten von ihnen losgeworden, nahm es wieder mit ins Zimmer, hängte es auf und kletterte ins Bett. Sofort wurde ich von allen Seiten wie wild gestochen. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in die Kuppel. Sie war noch immer schwarz von Mossies. Ich nahm das Netz wieder herunter, breitete es auf dem Boden aus und versuchte die Moskitos mit der Kante meines tragbaren Computers abzukratzen, der, da die Batterien rausgefallen waren, ohnehin zu nichts mehr nutze war. Funktionierte nicht. Ich startete einen zweiten Versuch, diesmal mit der Kante meines Schreibblocks. Das war schon etwas wirkungsvoller, hätte mich jedoch gezwungen, in den nächsten Tagen zwischen Dutzenden verschmierter Moskitoleichen zu schreiben. Ich hängte das Netz wieder auf und ging ins Bett. Es war noch immer voller Moskitos, die jetzt allesamt in der richtigen Stimmung waren, kraftvoll zuzustechen. Wütend und aufgeregt summten und sirrten sie um mich herum.

Na gut.

Ich nahm das Netz ab, legte es auf den Boden und sprang darauf herum. Ich sprang so lange darauf herum, bis ich sicher war, mindestens sechsmal auf jeden Quadratzentimeter des Dings gesprungen zu sein, und sprang dann noch ein bißchen weiter darauf herum. Dann fand ich ein Buch und klatschte alles damit ab. Dann sprang ich noch ein bißchen darauf herum, klatschte wieder mit dem Buch auf das Netz, trug es nach draußen, schüttelte es aus, nahm es wieder mit nach drinnen, hängte es auf und krabbelte zurück ins Bett. Das Netz wimmelte jetzt von sehr wütenden Moskitos. Zu diesem Zeitpunkt war es vier Uhr morgens, und als Mark mich um sechs Uhr wecken kam, um zum Nashörnersuchen aufzubrechen, war ich nicht in der Stimmung für wilde Tiere und sagte ihm das auch. Er lachte aufmunternd, wie er immer lachte, und bot mir ein halbes Dosenwürstchen zum Frühstück an. Ich nahm das Würstchen und einen Becher Pulverkaffee und marschierte runter zum ungefähr vierzig Meter weit entfernten Flußufer. Ich stand knöcheltief im kühlen, sanft fließenden Wasser, lauschte den frühmorgendlichen Geräuschen der Vögel und Insekten, biß in mein Würstchen und begann nach einiger Zeit unter die Lebenden zurückzukehren, weil mir dämmerte, wie grotesk ich aussehen mußte.

Als Charles und Annette Lanjouw mit dem Landrover eintrafen, luden wir unseren Kram für den Tag ein und machten uns auf den Weg.

Während wir über die Savanne in das Gebiet holperten und ratterten, in dem wir die Nashörner am Vortag vom Flugzeug aus gesehen hatten, fragte ich ganz beiläufig, ganz sachlich, einfach nur interessehalber, ob Nashörner eigentlich gefährlich seien oder nicht.

Mark grinste und schüttelte den Kopf. Er sagte, wir müßten schon wirkliches Pech haben, um von einem Nashorn verletzt zu werden. Das schien mir zwar die Frage nicht ganz zu beantworten, aber andererseits wollte ich auch nicht unnötig darauf herumreiten. Ich hatte ja nur aus beiläufiger Neugier heraus gefragt. Mark fuhr trotzdem fort.

»Man hört eine Menge Zeug, das einfach nicht stimmt«, sagte er, »oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit aufgebauscht ist, damit es dramatisch klingt. Es stört mich wirklich, wenn Leute so tun, als wären die Tiere, auf die sie treffen, gefährlich. Nur, damit man sie für besonders mutig oder unerschrocken hält. Das ist wie Seemannsgarn. Viele von den frühen Entdeckern waren wirklich entsetzliche Aufschneider. Wenn die Schlangen gesehen haben, waren sie nachher, in den Erzählungen, doppelt oder viermal so lang, Absolut unschuldige Anakondas wurden zu zwanzig Meter langen Monstern, die nur auf der Lauer lagen, um Leute zu Tode zu quetschen. Alles völliger Quatsch. Nur der Ruf der Anakonda ist ein für allemal im Eimer.«

»Aber die Nashörner sind absolut ungefährlich?«

»Ach, mehr oder weniger. Auf schwarze Nashörner sollte man ein bißchen achtgeben, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Man sagt ihnen nach, daß sie ohne ersichtlichen Grund aggressiv werden, und ich nehme mal an, daß sie sich diesen Ruf größtenteils selbst zu verdanken haben. In Kenia hat mich mal ein schwarzes Nashorn erwischt, als ich nicht aufgepaßt hab, und meinen Wagen, den ich mir für den Tag von einem Freund geliehen hatte, schwer verbeult. Er hatte den Wagen erst seit ein paar Wochen. Sein vorheriger Wagen, den ich mir fürs Wochenende geliehen hatte, war von einem Büffel schrottreif getrampelt worden. Das war alles äußerst peinlich. Hallo, haben wir was gefunden?«

Charles hatte den Landrover zum Stehen gebracht und suchte den Horizont mit seinem Feldstecher ab.

»Okay«, sagte er. »Ich glaube, ich sehe eins. Ungefähr zwei Meilen entfernt.«

Wir sahen alle durch unsere eigenen Feldstecher und folgten seinen Anweisungen. Noch war die frühe Morgenluft kühl, und kein Hitzenebel briet den Horizont. Nachdem ich endlich begriffen hatte, welche Baumgruppe vor dem buschigen Hügel wir ansehen sollten, entdeckte ich schließlich links davor etwas, was verdächtig nach dem Termitenhügel aussah, bei dessen Verfolgung wir uns zwei Tage zuvor beinahe umgebracht hätten. Es verhielt sich sehr ruhig.

»Sicher, daß es ein Nashorn ist?« fragte ich höflich.

»Klar«, sagte Charles. »Todsicher. Wir lassen den Landrover hier stehen. Sie haben ein sehr feines Gehör, und wenn wir näher ranfahren, vertreibt sie das Geräusch des Wagens. Also gehen wir zu Fuß.«

Wir packten unsere Kameras zusammen und gingen los. »Leise«, sagte Charles.

Wir gingen leiser.

Es war schwierig, sich so leise durch eine sumpfige Senke zu kämpfen, während unsere Stiefel und sogar unsere Knie fröhlich im Matsch herumfurzten und -rülpsten. Mark unterhielt uns zusätzlich, indem er uns interessante Dinge zuflüsterte.

»Wußtet ihr eigentlich«, sagte er, »daß Bilharziose die nach Zahnfäule zweithäufigste Krankheit der Welt ist?«

»Nein, wirklich?« sagte ich.

»Hochinteressante Krankheit«, sagte Mark. »Man bekommt sie vom Waten in verseuchtem Wasser. Im Wasser brüten winzige Schnecken und dienen winzigen Parasitenwürmern als Wirte, die sich dann ihrerseits an deine Haut klammern. Wenn das Wasser durch die Poren einzieht, rutschen sie mit in den Körper und greifen deine Blase und die Eingeweide an. Man merkt es, wenn man's hat. Es ist wie eine wirklich üble Grippe mit Durchfall, und außerdem pißt man Blut.«

»Ich dachte, wir sollten leise sein«, sagte ich.

Nachdem wir die andere Seite der Senke erreicht hatten, versammelten wir uns hinter ein paar Bäumen, wo Charles die Windrichtung überprüfte und uns weitere Anweisungen gab.

»Ihr müßt noch was über die Art und Weise wissen, wie ein Nashorn seine Welt sieht, bevor wir einfach reinplatzen«, flüsterte er uns zu. »Trotz ihrer Größe und Hörner und dem ganzen Zeug sind sie im Prinzip sanfte und friedliche Lebewesen. Auf ihre Sehkraft, die gering ist, verlassen sie sich nur, wenn es um sehr grundlegende Informationen geht. Falls dieses Nashorn jetzt fünf Tiere wie uns auf sich zukommen sieht, wird es nervös werden und weglaufen. Also müssen wir dicht hintereinander im Gänsemarsch gehen. Dann wird es uns für ein einziges Tier halten und nicht so beunruhigt sein.«

»Ein ganz schön großes Tier«, sagte ich.

»Das macht nichts. Vor großen Tieren hat es keine Angst, nur vor vielen. Außerdem müssen wir uns gegen den Wind nähern, also von hier aus einen weiten Bogen um es herum machen. Ihr Geruchssinn ist wirklich enorm ausgeprägt. Eigentlich ist das ihr wichtigster Sinn. Ihr ganzes Weltbild setzt sich aus Gerüchen zusammen Sie ›sehen‹ in Gerüchen. Die Nasengänge eines Nashorns nehmen sogar mehr Platz in Anspruch als sein Gehirn.«

Von unserem Standort aus war es endlich möglich, das Tier mit bloßem Auge auszumachen. Wir waren etwas weiter als eine halbe Meile von ihm entfernt. Das Nashorn stand auf freier Flur da und wirkte, wann immer es sich für einen Augenblick völlig still hielt, wie ein freiliegender Felsvorsprung. Ab und zu schwenkte es seinen langen, schrägen Kopf von einer Seite zur anderen und bewegte seine Hörner ruckartig auf und ab, während es sanft und friedfertig das Gras abrupfte. Das war kein Termitenhügel.

Wir machten uns wieder auf den Weg, sehr leise, ständig anhaltend, uns duckend und die Richtung wechselnd, damit das Nashorn unsere Witterung nicht aufnehmen konnte, während der Wind, dem das ganze Hin und Her völlig schnurz war, ebenfalls ständig die Richtung wechselte. Schließlich erreichten wir eine weitere kleine Baumgruppe, die knapp hundert Meter von dem Geschöpf entfernt war, das sich durch unser Näherkommen bisher offenbar nicht gestört fühlte. Von jetzt an lag allerdings nur noch freies Feld zwischen ihm und uns. Wir blieben ein paar Minuten stehen, um es zu beobachten und zu fotografieren. Falls unser nächster Annäherungsversuch es tatsächlich verscheuchte, wäre dies dafür die letzte Gelegenheit. Das Tier stand leicht von uns abgewandt und rupfte weiterhin Gras ab. Der Wind wehte schließlich doch aus einer für uns günstigen Richtung, und wir machten uns nervös und leise wieder auf den Weg.

Es war ein bißchen wie dieses Spiel aus meiner Kinderzeit, bei dem ein Kind mit dem Gesicht zur Wand steht, während die anderen sich von hinten anzuschleichen und es zu berühren versuchen. Wer mit dem Gesicht zur Wand steht, dreht sich ab und zu um, und jeder, der sich in diesem Moment bewegt, muß den ganzen Weg zurückgehen und noch mal von vorn anfangen. Normalerweise wird das Kind dabei zwar nicht in der Lage sein, jeden, der ihm nicht in den Kram paßt, mit einem neunzig Zentimeter langen Horn zu durchbohren, aber sonst war es so ziemlich das gleiche.

Das Nashorn ist natürlich ein Pflanzenfresser. Es lebt vom Grasen. Je näher wir herankrochen und je monströser es vor uns aufragte, desto widersinniger wirkte sein sanftes Tun. Es war, als beobachtete man einen Bagger, der in aller Ruhe Unkraut jätete.

Als wir noch ungefähr vierzig Meter entfernt waren, hörte das Nashorn plötzlich auf zu kauen und blickte auf. Langsam wandte es den Kopf in unsere Richtung und betrachtete uns mit tiefstem Argwohn, während wir uns alle erdenkliche Mühe gaben, wie möglichst kleine und friedfertige Tiere auszusehen. Es betrachtete uns eingehend, ohne dabei erkennbar etwas zu begreifen, aus kleinen, schwarzen Augen, die uns von beiden Seiten seines Hornes aus träge anstarrten. Man versucht unweigerlich, den Gedankengängen eines Tieres zu folgen, und muß, wenn es sich dabei um ein drei Tonnen schweres Nashorn handelt, dessen Nasengänge mehr Platz einnehmen als sein Gehirn, ebenso unweigerlich scheitern.

Die Welt der Gerüche ist dem modernen Menschen so gut wie verschlossen. Nicht, daß wir etwa keinen Geruchssinn hätten – wir schnüffeln an unserem Essen oder unserem Wein, wir riechen gelegentlich eine Blume und merken gewöhnlich, wenn irgendwo Gas austritt, aber normalerweise ist alles irgendwie verschwommen. Wenn wir lesen, daß Napoleon in einem Brief an Josephine »Wasch dich nicht – ich komme heim« schrieb, finden wir das amüsant und tun es gern als leicht schrulliges Verhalten ab. Wir sind so sehr daran gewöhnt, das Sehen, dicht gefolgt vom Hören, für die beherrschende Wahrnehmungsart zu halten, daß wir uns eine Welt, die sich vor allem mit Hilfe des Geruchssinns erschließen läßt, nicht vorstellen können (wobei sich das Wort »vorstellen« eigentlich schon selbst verrät). Es ist eine Welt, die sich von unseren geistigen Zentraleinheiten nicht erhellen läßt – oder zumindest, mangels Übung, nicht mehr erhellen läßt. Für den Großteil der Tiere aber ist der Geruchssinn der wichtigste Sinn. Er verrät ihnen, was eßbar ist und was nicht (während wir uns nach dem Verpackungstext und dem Verfalldatum richten). Er führt sie zu Futterquellen außer Sichtweite (wir wissen immer schon, wo die Läden sind). Er funktioniert auch nachts (wir machen das Licht an). Er verrät ihnen die Anwesenheit und die Stimmung anderer Lebewesen (wir verwenden Sprache). Außerdem verrät er ihnen, welche anderen Lebewesen sich in der näheren Umgebung herumgetrieben und was sie in den letzten ein oder zwei Tagen getan haben (wir wissen es einfach nicht, solange sie keine Nachricht hinterlassen haben). Nashörner verdeutlichen anderen Tieren ihre Bewegungen und grenzen ihr Territorium ab, indem sie in ihrem Kot herumstampfen und überall auf ihrem Weg Geruchsspuren hinterlassen – was nicht die Art von Nachricht ist, die wir sonderlich schätzen.

Wenn wir unerwartet etwas riechen, das wir nicht sofort zuordnen können und das nicht besonders lästig ist, ignorieren wir es einfach, und das entspricht vermutlich der Reaktion des Nashorns, als es uns entdeckte. Es schien keine bestimmte Entscheidung wegen uns zu treffen, sondern einfach zu vergessen, daß es eine Entscheidung zu treffen hatte. Das Gras präsentierte ihm einen unermeßlich reichhaltigeren und interessanteren Sinneseindruck, also fuhr das Tier fort, es abzurupfen.

Wir krochen dichter heran. Als wir uns schließlich bis auf fünfundzwanzig Meter Entfernung genähert hatten, gab Charles uns ein Zeichen anzuhalten. Wir waren nah genug dran. Wirklich nah genug. Wir waren sogar atemberaubend nah dran.

Das Tier war an den Schultern ungefähr einen Meter achtzig hoch, und bis zum Hinterteil und den muskelbepackten Hinterbeinen nahm seine Höhe gleichmäßig ab. Schon die bloße Größe jedes einzelnen seiner Körperteile übte eine erschreckende Anziehungskraft auf den Verstand aus. Als das Nashorn ein Bein leicht bewegte, rollten die mächtigen Muskeln unter seiner dicken Haut so mühelos wie einparkende Volkswagen.

Da die Geräusche unserer Kameras es zu verwirren schienen, sah es wieder auf, aber nicht in unsere Richtung. Offenbar wußte es nicht, was es davon halten sollte, und nach einer Weile graste es weiter.

Der leichte Windhauch, der uns entgegengeweht hatte, begann die Richtung zu ändern, und wir wanderten mit und lagen dem Nashorn kurz darauf etwas frontaler gegenüber. Das erschien uns in unserer von visueller Wahrnehmung beherrschten Weltsicht etwas eigenartig, aber solange uns das Nashorn nicht riechen konnte, war es ihm völlig egal, wie wir aussahen. Dann drehte es sich von selbst noch etwas weiter in unsere Richtung, und plötzlich kauerten wir voll im Blickfeld des Monsters. Es schien ein bißchen nachdenklicher zu kauen, beachtete uns aber für den Moment nie weiter. Ein paar Minuten lang beobachteten wir es aus dieser Position, und auch unsere Kamerageräusche schienen nicht länger zu stören. Wir wurden, was Lärm betraf, etwas sorgloser, fingen an, uns über unsere Reaktionen zu unterhalten und brachten das Nashorn endlich doch dazu, etwas unruhiger zu werden. Es hörte mit dem Grasen auf, hob den Kopf und sah uns etwa eine Minute lang unbewegt an, wußte aber noch immer nicht genau, was es tun sollte.

Und wieder stelle ich mir vor, wie ich hier den ganzen Nachmittag schreibend in meinem Arbeitszimmer sitze und mir allmählich klar wird, daß der Geruch, den ich vorhin bemerkt habe, noch immer da ist, und wie ich mich langsam frage, ob ich mich nicht nach irgendwelchen Anhaltspunkten für seine Herkunft umsehen sollte. Ich würde beginnen, mich nach etwas umzusehen, nach etwas Sichtbarem: einer Flasche, die umgekippt ist, oder irgendwas Elektrischem, das durchschmort. Der Geruch ist ein Hinweis daß ich mich nach etwas umsehen sollte.

Für das Nashorn war unser Anblick nur der Hinweis, da es nach etwas schnüffeln sollte, also begann es, die Luft etwas sorgfältiger zu durchschnuppern. In diesem Moment drehte der Wind und nahm uns die letzte Deckung. Das Nashorn fuhr zusammen, wandte sich von uns ab und polterte wie ein gelenkiger Kleinpanzer über die Ebene davon.

Wir hatten unser nördliches weißes Nashorn gesehen, und es war Zeit, nach Hause zu gehen.

Am nächsten Tag flog Charles uns über die Straußenhautsavanne zurück zum Flughafen von Bunia, von wo aus wir gezwungen waren, mit einem Missionarsflug nach Nairobi zurückzufliegen. Die Maschine stand bereits abflugbereit auf der Piste, und ein Vertreter der Fluggesellschaft versicherte uns, daß es trotz all unserer bisherigen Erlebnisse keine Probleme geben werde und daß wir direkt zur Maschine gehen könnten. Ein paar Minuten später wurden wir aufgefordert, noch mal kurz ins Einwanderungsbüro zu kommen. Unsere Taschen könnten wir in der Maschine lassen. Wir gingen zum Einwanderungsbüro, wo man uns aufforderte, unsere Taschen mitzubringen. Wir brachten unsere Taschen hin. Teuer aussehende Kameraausrüstungen.

Dann sahen wir uns einem großen zairischen Beamten in schmuckem blauem Anzug gegenüber, den wir schon beim Ausladen des Gepäcks aus Charles' Maschine auf der Rollbahn hatten herumlungern sehen. Ich hatte das Gefühl gehabt, er taxiere uns äußerst sorgfältig.

Er untersuchte ausgiebig unsere Pässe, bevor er unsere Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis nahm, und ließ, als er uns dann schließlich ansah, ein breites Lächeln über sein Gesicht kriechen.

»Sie sind über Bukavu eingereist?« fragte er uns. In Wirklichkeit sagte er das auf französisch, also taten wir, was uns die Erfahrung gelehrt hatte, und stellten uns mit dem Verstehen ziemlich blöd an. Schließlich räumten wir ein, sofern wir die Frage richtig verstanden hätten, sei die Antwort, ja, wir seien über Bukavu eingereist. »Dann«, sagte er ruhig und triumphierend, »müssen Sie auch über Bukavu wieder ausreisen.«

Er machte keine Anstalten, uns unsere Pässe zurückzugeben.

Wir sahen ihn verdutzt an.

Er erklärte es uns behutsam. Touristen, sagte er, hätten das Land von genau dem Flughafen aus zu verlassen, über den sie eingereist seien. Grinsen.

Wir verstanden keine Silbe von dem, was er gesagt hatte. Das entsprach sogar fast der Wahrheit. Es war die abwegigste Idee aller Zeiten. Er hielt noch immer unsere Pässe in der Hand. Neben ihm saß ein junges Mädchen und schrieb gewissenhaft Daten aus den Pässen anderer Besucher ab, Informationen, die höchstwahrscheinlich nie wieder das Tageslicht erblicken würden.

Wir standen herum und diskutierten, während unsere Maschine draußen auf der Piste wartete, nach Nairobi starten zu können, aber der Beamte saß einfach da und hielt unsere Pässe zurück. Wir wußten, daß es Blödsinn war. Er wußte, daß wir wußten, daß es Blödsinn war. Ohne dieses Wissen hätte es nicht halb soviel Spaß gemacht. Er lächelte uns wieder an, bedachte uns mit einem träge zufriedenen Achselzucken und bürstete sich beiläufig einen kleinen Fussel vom Arm des schmucken blauen Anzuges, an dessen Kosten wir uns ganz offensichtlich nicht unerheblich beteiligen sollten.

Von der Wand über ihm blickte die Gestalt des Präsidenten Mobuto ernst aus einem lädierten Rahmen ins Leere, das prachtvolle Pillenschachtel-Hütchen aus Leopardenfell auf dem Kopf.

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