Herzklopfen in der Nacht

Würde man ganz Norwegen nehmen, es ein bißchen durchkauen und alle Elche und Rentiere rausschütteln, es dann zehntausend Meilen weit um die Welt schleudern und mit Vögeln auffüllen, wäre das Zeitverschwendung, weil es so aussieht, als hätte das schon jemand getan.

Fjordland, ein ausgedehnter, gebirgiger Landstrich, der in der südwestlichen Ecke von South Island, Neuseeland, liegt, ist eines der erstaunlichsten Fleckchen Erde, die Gott je erschaffen hat, und wenn man es zum erstenmal von einer Klippe aus überblickt, möchte man am liebsten in spontanen Applaus ausbrechen.

Es ist großartig. Es flößt Ehrfurcht ein. Das Land ist in solchem Maße gefaltet und verdreht und zerbrochen, daß einem das Gehirn beim Versuch, wenigstens ansatzweise zu begreifen, was es sich da gerade ansieht, im Kopf zu zittern und zu singen beginnt. Übereinandergeworfene Berge und Wolken, gewaltige Eisströme, die sich Millimeter für Millimeter ihren knackenden Weg durch die Schluchten bahnen, Wasserfälle, die in schmale grüne Täler hinabdonnern, all das erstrahlt dermaßen hell im magisch klaren neuseeländischen Licht, daß es Augen, die an die in den meisten Teilen der westlichen Welt vorherrschenden, eher düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt sind, einfach zu lebendig erscheint, um wahr zu sein.

Als Captain Cook es 1773 vom Meer aus sah, notierte er, daß »die Berge im Inland, so weit das Auge reicht, so dicht beisammenstehen, als wollten sie keine Täler zwischen sich dulden«. Im Laufe von Millionen Jahren haben Gletscher die großen, gabelförmigen Täler aus den Bergen geschürft, und viele sind bis weit ins Landesinnere vom Meer überflutet.

Einige der Klippen fallen mehr als hundert Meter weit steil ins Meer ab, wo sie für weitere hundert Meter steil abfallen. Es wirkt wie ein noch immer nicht ganz abgeschlossener Prozeß. Trotz unbarmherzig peitschenden Windes und Regens ist das Land in seiner ganzen Unermeßlichkeit scharfkantig und gezackt.

Der Großteil des Gebiets ist noch nicht auf dem Landweg erforscht worden. Die einzigen Straßen, auf denen man den Fjorland-Nationalpark erreicht, verlieren sich ziemlich schnell in den Vorgebirgen, und die meisten Touristen erkunden lediglich die Randbereiche. Ein paar Rucksackträger dringen weiter vor, und sehr, sehr wenige erfahrene Camper versuchen, sich dem Kern des Gebiets zu nähern. Wenn man über diese zerklüfteten Massen und unfaßbar tiefen Schluchten schaut, erscheint einem schon die Idee lächerlich, es zu Fuß durchqueren zu wollen, und wirklich erforscht sind nur gewisse, räumlich begrenzte Kessel, die man – genau wie wir – nur mit dem Hubschrauber erreicht.

Bill Black gilt als einer der erfahrensten Hubschrauberpiloten der Welt, und das muß er auch sein. Er klemmt wie ein knuddliger alter Brummbär hinter dem Steuerknüppel und kaut langsam und gleichmäßig Kaugummi, während er mit seinem Hubschrauber geradeaus auf nackte Steilwände zufliegt, um zu testen, ob jemand schreit. In dem Moment, da der Hubschrauber an der Wand zu zerschellen scheint, wird er von einem Aufwind erfaßt und auf unfaßbare Art und Weise hoch und über den Kamm der Klippe getragen, die auf der anderen Seite wieder jäh abfällt und uns über einem Abgrund ausschwingen läßt. Das Tal schlingert unter uns weg, daß einem schlecht wird, und wir fallen ein paar Meter tiefer, um mit Seitendrall durch die nächste Schlucht und auf die nächste Wand zuzuhüpfen, als hingen wir am Ende eines endlosen, von einem Riesen geschwungenen Gummibandes.

Der Hubschrauber senkt die Nase und pladdert an der Wand der Schlucht entlang. Wir schrecken ein paar Vögel auf, die vor uns in die Luft aufsteigen und mit schnellen, abgehackten Flügelschlägen davonfliegen. Mark kramt schnell nach dem Fernglas unter seinem Sitz.

»Keas!« sagt er. Ich nicke, allerdings nur ganz leicht. Mein Kopf muß schon mit genügend gegenläufigen Bewegungen fertig werden.

»Das sind Bergpapageien«, sagt Mark. »Hochintelligente Vögel mit langen, krummen Schnäbeln. Damit können sie Scheibenwischer von Autos reißen – und machen es auch.«

Es irritiert mich immer, wie schnell Mark Vögel erkennen kann, die er noch nie gesehen hat, selbst wenn sie bloß Kleckse am Horizont sind.

»Der Flügelschlag ist unverwechselbar«, erläutert er. »Aber wenn wir nicht in diesem lauten Hubschrauber säßen, wären sie noch einfacher zu erkennen. Sie gehören zu den Vögeln, die während des Fluges hilfreicherweise ihren Namen rufen. Kea! Kea! Kea! Macht sie sehr beliebt bei allen Vogelbeobachtern. Es wäre toll, wenn der Streifenschwirl den Trick auch lernen könnte. Würde das Auseinanderhalten von Heuschreckenschilfsängerarten erheblich vereinfachen.« Er verfolgt ihren Flug noch einige Sekunden, bis sie einen großen Felsvorsprung umrunden und aus unserem Blickfeld verschwinden. Dann läßt er sein Fernglas sinken. Wir waren nicht hergekommen, um uns die Keas anzusehen.

»Sind trotzdem interessante Vögel, mit einigen komischen Eigenarten. Ausgesprochen penibel, was den richtigen Bau ihrer Nester angeht. Man hat mal ein Keanest gefunden, mit dessen Bau die Vögel 1958 begonnen hatten. 1965 haben sie noch immer rumprobiert und Teile dazugesteckt, aber richtig eingezogen waren sie noch nicht. Sind dir in dieser Hinsicht ziemlich ähnlich.«

Als wir den schmalen Ausgang der Schlucht erreichen, halten wir ein paar Meter von einem Wasserfall entfernt kurz an, der zwischen den Felsen hervorbricht, um den hundert Meter unter uns liegenden Fluß mit Wasser zu füllen. Wir starren ihn aus unserer fliegenden Glasblase an, und ich fühle mich plötzlich wie ein Besucher von einem anderen Planeten, der aus dem Himmel herabsinkt, um eine fremdartige Welt genau unter die Lupe zu nehmen. Außerdem fühle ich mich krank, beschließe aber, diese Information für mich zu behalten.

Mit einem kurzen Achselzucken hievt Bill den Hubschrauber wieder nach oben, aus der Schlucht und in den klaren Himmel. Schon die Unermeßlichkeit dieser Massen von Bergen und Raum, die uns lässig umkreisen, überwältigt die räumlichen Prozessoren des Gehirns. Und dann, wenn man gerade meint, all die Wunder entdeckt zu haben, die diese Welt einem zu bieten hat, kurvt man um einen Gipfel und glaubt plötzlich, man beginne das Ganze noch mal von vorn, nur diesmal unter Drogeneinfluß.

Wir gleiten über Gletschergipfel. Der urplötzliche, verschwenderische Lichtaufwand blendet uns für einen Augenblick, aber als das Licht dann zu festen Formen zusammenwächst, scheinen diese Formen aus einem Traum zu stammen. Große, kopflastige Türme, die an deformierte Gigantentorsos erinnern, mächtige, herausgemeißelte Höhlen und Bögen und hier und dort die rissigen und abgeschlagenen Überreste von etwas, das aussieht wie eine Reihe gotischer Kathedralen, die man aus beträchtlicher Höhe abgeworfen hat. Aber alles ist Schnee und Eis. Es sieht aus, als kämen die Geister von Salvador Dali und Henry Moore nachts vorbei, um mit den Urkräften zu spielen.

Wenn ich mit etwas vollkommen Unfaßbarem konfrontiert werde, reagiere ich instinktiv wie jeder zivilisierte Mensch: Ich greife nach meiner Kamera und fotografiere es. Ich spüre, daß ich sehr viel leichter damit klarkommen werde, wenn es bloß drei Zentimeter Farbe in einem Leuchtkasten sind und mein Stuhl nicht dauernd versucht, mich durch die Gegend zu schleudern.

Gaynor, unsere Rundfunkproduzentin, schiebt mir ein Mikrofon unter die Nase und bittet mich zu beschreiben, was wir gerade sehen.

»Was?« sage ich und fasele ein bißchen.

»Mehr«, sagte sie. »Mehr!«

Ich fasele noch ein bißchen weiter. Die Rotorblätter des Hubschraubers säbeln nur ein paar Zentimeter von einem Eisturm entfernt durch die Luft.

Sie seufzt. »Na schön«, sagt sie, »das läßt sich höchstwahrscheinlich zu irgendwas zusammenschneiden«, und schaltet das Tonband wieder aus.

Wir drehen eine weitere bewußtseinszerknüllende Runde um die riesigen Eisskulpturen und jagen dann zurück durch die Schluchten, die jetzt vergleichsweise spießig wirken.

In unserem Hubschrauber sitzt noch ein weiterer Passagier: Don Merton, ein gütiger Mann mit dem Gebaren eines Vikars, der für irgend etwas Abbitte leistet. Er sitzt ruhig da, stößt gelegentlich seine Brille auf dem Nasenrücken zurück und murmelt für sich »ja, ah, ja«, als bestätige all dies eine Vermutung, die er schon seit langem hegt. Tatsache ist, daß er das Gebiet sehr gut kennt. Er arbeitet für das New Zealand Department of Conservation und hat wahrscheinlich mehr als irgendwer sonst zum Schutz der bedrohten neuseeländischen Vogelwelt beigetragen.

Wir sind der Hunderte von Metern steil abfallende Schluchtwand neben uns wieder sehr nah, und ich entdecke, daß wir einem langen, schmalen Pfad folgen, der über eine unfaßbar schmalen Sims zu einem Felsvorsprung hinaufführt, von dem aus man einen ausgedehnteren Teil des Tal überblicken kann. Ich leide an fürchterlicher Höhenangst. Bei meinen knapp zwei Metern Länge wird mir manchmal schon beim Aufstehen schwummerig, und der bloße Anblick des Pfades beschert mir schwarze, verschwommene Alpträume.

»Da sind wir früher oft raufgestiegen«, murmelt Don und beugt sich vor, um es uns zu zeigen.

Ich sehe zuerst ihn erstaunt an und dann wieder hinunter auf den furchterregenden Pfad. Wir schweben jetzt nur einen knappen Meter über ihm, und das dumpfe Wummern der Rotorblätter hallt vom Boden wider. Der Weg ist höchstens sechzig Zentimeter breit, grasbedeckt und rutschig.

»Ja, ganz schön steil«, sagt Don mit einem leisen Lachen, als gebe es sonst keinen Grund, nicht mit dem Fahrrad raufzufahren. »Oben auf der Hügelkette ist ein ›Track and bowl system‹. Wollt ihr's euch mal ansehen?«

Wir nicken nervös, und Bill fliegt weiter.

Ich hatte schon vorher erlebt, daß sich neuseeländische Zoologen den Begriff »Track and bowl system« an den Kopf geworfen hatten, und zwar dermaßen beiläufig, daß ich nicht gleich hatte zugeben wollen, nicht den blassesten Schimmer zu haben, wovon sie eigentlich sprachen. Ich beschloß von der Prämisse auszugehen, daß es irgendwas mit Satellitenschüsseln zu tun haben müsse, und mich dann von da aus allmählich an den wirklichen Sinn heranzutasten. Dadurch schwebte ich zwei Tage lang in einem Zustand vollkommenen Nichtbegreifens, bevor ich schließlich doch den Mut fand, meine Unwissenheit zuzugeben.

Ein »Track and bowl system« hat rein gar nichts mit Satellitenschüsseln zu tun. Wenn man von einer Gemeinsamkeit absieht – nämlich, daß man beides meist an hochgelegenen, offenen Stellen findet. Es ist ein ziemlich komischer Name für ein extrem komisches Phänomen. Ein »Track and bowl system« sieht zwar nicht besonders dramatisch aus – und wenn man kein neuseeländischer Zoologe ist, könnte man glatt an einem vorbeifliegen, ohne es überhaupt zu bemerken –, ist jedoch Schauplatz einer der eigenartigsten Verhaltensweisen der gesamten Tierwelt.

Der Hubschrauber schwebt jenseits des Kamms hinaus ins Tal, wendet und nähert sich dem Kamm von der anderen Seite, gerät in den Aufwind, dreht sich noch einmal leicht – und setzt auf. Wir sind gelandet. Für einen Augenblick sitzen wir verdutzt in der Stille und können kaum glauben, auf was wir da gerade gelandet sind. Der Kamm ist nur ein paar Meter breit. Er fällt zu beiden Seiten Hunderte von Metern steil ab, und auch vor uns geht es zügig abwärts.

Bill dreht sich um und grinst uns an. »Keine Sorgen«, sagt er, obwohl ich immer geglaubt hatte, das sage man nur in Australien. In Momenten wie diesem braucht man genau diese Art Gedanken, um sich abzulenken.

Nervös klettern wir aus der Maschine und krabbeln, die Köpfe unter den wirbelnden Rotorblättern gesenkt, hinaus auf den Kamm. Um unseren Felsvorsprung herum breitet sich nach drei Seiten ein gezacktes Tal aus, dessen Umrisse weiter unten weicher werden. Direkt vor uns biegt es scharf nach links ab und setzt sich über eine ganze Reihe von schroffen Drehungen und Verwerfungen fort bis zum Tasman-See, einem dunstigen Schimmern in der Ferne. Die wenigen Wolken, die nicht weit über uns hängen, zeichnen auf ihrem langsamen Weg über das Tal dessen Wellenform mit ihren ausgefransten Schatten nach, und das allein vermittelt uns schon ein sehr deutliches Gefühl für Größenordnungen und Verhältnisse.

Mit dem Verstummen der wummernden Rotorblätter des Hubschraubers nimmt das allgegenwärtige Murmeln des Tales allmählich zu und füllt die Stille aus: das dumpfe Donnern der Wasserfälle, das entfernte Zischeln des Meers, das Rascheln des struppigen Grases in der leichten Brise, die Keas, die sich einander vorstellen. Ein Geräusch allerdings werden wir, wie wir wissen, nicht hören – nicht, weil wir zur falschen Tageszeit hergekommen wären, sondern im falschen Jahr. Und richtige Jahre wird es nicht mehr geben.

Bis 1987 war Fjordland die Heimat eines der seltsamsten, schauerlichsten Töne auf Erden. Jahrtausendelang war dieser Ton zur richtigen Jahreszeit und nach Einbruch der Dunkelheit überall in dieser wilden Gipfel- und Tälerlandschaft zu hören gewesen.

Es klang wie ein Herzklopfen: ein tiefes, kraftvolles Pochen, das in den dunklen Schluchten widerhallte. So tief, daß einige Leute behaupteten, es im Magen gespürt zu haben, bevor sie den eigentlichen Klang gehört hätten, eine Art Wummern, ein schweres Luftbeben. Die meisten Leute haben es sowieso nicht gehört und werden es auch nie mehr hören. Es war der Schrei des Kakapo, des alten neuseeländischen Nachtpapageis, der hoch auf einem Felsvorsprung saß und nach einer Gefährtin rief.

Von allen Lebewesen, nach denen wir in diesem Jahr suchten, war der Kakapo vermutlich das eigenartigste, das faszinierendste und außerdem eines der seltensten und am schwersten aufzutreibenden. Früher, bevor Neuseeland von Menschen besiedelt wurde, gab es Hunderttausende von Kakapos. Dann gab es Tausende, dann Hunderte. Dann gab es nur noch vierzig... und es ging abwärts. Hier im Fjordland, das jahrtausendelang die Hochburg des Vogels gewesen ist, scheint es heutzutage keinen einzigen mehr zu geben.

Don Merton weiß besser als sonst jemand über diese Vögel Bescheid und ist zum einen mitgekommen, um uns zu führen, zum anderen aber auch, weil dieser Flug ins Fjordland ihm die Gelegenheit bietet, ein weiteres Mal zu überprüfen, ob der letzte Kakapo unwiderruflich verschwunden ist.


Unser Hubschrauber steht in einem so schwindelerregenden Winkel auf dem Felskamm, daß es aussieht, als werde der kleinste Windstoß ihn sanft ins unter uns liegende Tal wehen. Mark und ich entfernen uns langsam und mit steifem, beklommenem Gang von ihm, als täte uns alles weh. Wir spielen jeden weiteren Schritt zunächst im Kopf durch, bevor wir es wagen, den restlichen Körper zu bewegen. Bill grinst uns, die erdverbundenen Jungs aus der Stadt, verschmitzt an.

»Keine Sorgen«, sagt er fröhlich. »Wo immer wir landen können, setzen wir auf. Don wollte hierher, also hab ich ihn hergebracht. Hätte keine Lust, hier zu sein, wenn's richtig windig wäre, aber das ist es ja nicht.« Er setzt sich auf einen kleinen Felsblock und steckt sich eine Zigarette an. »Im Moment jedenfalls nicht«, fügt er hinzu, starrt in die Ferne und malt sich glücklich aus, welchen Heidenspaß wir alle hätten, wenn plötzlich ein Orkan durchs Tal gerauscht käme.

Gaynor ist im Moment nicht in der Stimmung, sich vom Hubschrauber wegzubewegen, und kommt zu dem Schluß, dies sei genau der richtige Moment, um Bill zu interviewen. Sie zieht die verwickelten bunten Kabel des Kassettenrecorders aus ihrer Umhängetasche und klemmt sich die Kopfhörer ins Haar, ohne dabei auch nur einmal nach rechts oder links in die Tiefe zu sehen. Sie stößt ihm das Mikrofon entgegen und benutzt die andere Hand, um sich selbst nervös auf dem Boden abzustützen.

»Ich fliege schon seit fünfzehn Jahren im Fjordland«, sagt Bill, als sie fertig ist. »Meistens irgendwelche Fernmeldejobs und ein bißchen was für Baustellen. Mach normalerweise nichts mit Touristen. Ist mir auch ganz recht so. Da arbeite ich viel für das Kakapo-Transfer-Programm und fliege die Wildhüter zu den unzugänglichsten Stellen auf Neuseeland. Bei so was ist ein Hubschrauber sehr nützlich, weil er an den unmöglichsten Stellen aufsetzen kann. Sehen Sie die Felsspitze da drüben?«

»Nein!« sagt Gaynor und starrt weiter unverwandt zu Boden. »Ich möchte im Moment nicht hingucken. Sie ... erzählen Sie mir einfach eine Geschichte. Irgend ... irgendwas Lustiges, was Ihnen mal passiert ist. Bitte?!«

»Was Lustiges, ja?« sagt Bill und zieht lange und nachdenklich an seiner Zigarette, während er den Blick durch das Tal schweifen läßt. »Na schön. Ich hab mal meine Hände im Hubschrauber in Brand gesteckt, weil ich ein Streichholz angerissen hab, ohne daran zu denken, daß meine Handschuhe mit Benzin getränkt waren. Dachten Sie an was der Art?«


Don Merton hat sich inzwischen behutsam einige Schritte entfernt und späht gespannt einen Fleck auf dem struppigen Boden an. Er hockt sich hin und fegt sehr vorsichtig lose Erde und Grasstücke aus einer flachen Vertiefung im Boden. Er findet etwas und hebt es auf. Es ist klein, annähernd oval geformt und schwach getönt. Er untersucht es eine Zeitlang gründlich und läßt dann niedergeschlagen die Schultern sinken. Er gibt uns ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Nervös folgen wir der Aufforderung und sehen uns das Etwas an, das er zwischen seinen Fingern hochhält und mit unendlichem Bedauern betrachtet. Es ist ein einzelne, schon etwas ältere Süßkartoffel. Dazu fällt mir eigentlich nichts mehr ein.

Seufzend legt er die Süßkartoffel zurück auf den Boden.

»Wir nennen diese Stelle Kakapo-Castle«, sagt er und blinzelt uns in dem kalten, grellen Sonnenlicht an. »Es ist die letzte bekannte Stelle auf dem neuseeländischen Festland, an der ein Kakapo gebalzt hat. Diese flache Vertiefung in der Erde gehört zu einem ›Track and bowl system‹.«

Ich erkläre gleich, was ein »Track and bowl system« nun eigentlich ist. Zu sehen ist an der Stelle nicht mehr als eine grob in den Boden geschabte Vertiefung. Sie ist unordentlich und ein bißchen überwuchert. Als ich wieder die uns umgebende atemberaubende Landschaft betrachte, komme ich plötzlich nicht mehr ganz mit. Wir waren so weit in dieses unermeßliche, überwältigende Land hineingeflogen, und das alles nur, um diese kleinen, armseligen Kratzer im Boden und kein Ei zu finden. Bloß eine Kartoffel.

Ich mache eine lahme Bemerkung in dieser Richtung. Mark runzelt die Stirn, und Dons Gesichtsausdruck verfinstert sich.

»O nein«, sagt Don, »ich hatte kein Ei erwartet. Kein Ei. Nicht hier. O nein, ganz und gar nicht.«

»Oh«, sage ich. »Als Sie die Kartoffel aufgehoben haben, dachte ich ...«

Mark raunt mir aus dem Mundwinkel zu: »Das hat Don uns doch alles im Hubschrauber erklärt.«

»Im Hubschrauber habe ich nichts verstanden.«

»Sehen Sie, in einem ›Track and bowl system‹ findet man keine Eier«, sagt Don geduldig. »Das ist nur der Balz- und Paarungsbereich. Ich habe die Süßkartoffel selbst hineingelegt, als ich zuletzt hier war, im vorigen Jahr. Wenn ein Kakapo in diesem Gebiet wäre, hätte er die Kartoffel gegessen.« Er hebt sie auf und reicht sie mir.

»Sehen Sie selbst, kein einziger Abdruck. Nicht die kleinste Bißstelle. Außerdem hätte er seinen Balzplatz gestutzt und gesäubert. Kakapos sind sehr akribische Vögel. Wir wissen nicht, was mit dem letzten in diesem Gebiet passiert ist. Kann sein, daß er getötet wurde, möglicherweise von einer Katze. Wir nehmen an, daß sie manchmal so weit heraufkommen. Fjordland ist voll von Katzen, und das bedeutet nichts Gutes für den Kakapo. Obwohl wahrscheinlich nicht alle Katzen auf einen Kakapo losgehen würden. Einige werden versucht haben, einen Kiwi anzufallen – erfolglos –, und infolgedessen vermutlich lieber einen weiten Bogen um Kakapos machen. Andere könnten es versucht und herausgefunden haben, daß man es schafft, und es wieder getan haben. Kakapos sind es grundsätzlich nicht gewohnt, sich zu verteidigen. Sie erstarren einfach, wenn sie eine Katze näherkommen sehen. Obwohl sie kräftige Beine und Krallen haben, verteidigen sie sich nicht damit. Ein Kiwi hingegen prügelt eine Katze in der Regel grün und blau. Weil Kiwis auch miteinander kämpfen. Wenn man zwei in einen Käfig setzt, ist einer von beiden am nächsten Morgen tot.

Der Kakapo kann auch einfach an Altersschwäche gestorben sein. Wir wissen nicht, wie lange sie leben, obwohl sie allem Anschein nach sehr alt werden. Vielleicht so alt wie Menschen. Aber so oder so ist der Kakapo nicht mehr hier, das dürfte wohl feststehen. Jetzt gibt es im ganzen Fjordland keine Kakapos mehr.«

Trotzdem nimmt er mir die Kartoffel wieder ab und legt sie als letzten Ausdruck eines hoffnungslosen Optimismus behutsam wieder an den Rand der Schüssel.


Bis vor relativ kurzer Zeit – jedenfalls nach evolutionären Maßstäben – bestand die neuseeländische Tierwelt fast ausschließlich aus Vögeln. Nur Vögel konnten den Ort erreichen. Die Vorfahren vieler jetzt dort heimischer Vögel waren ursprünglich hierhergeflogen. Es gab auch noch ein paar Fledermausarten, die Säugetiere sind, aber – und das ist der entscheidende Punkt – es gab keine Räuber. Keine Hunde, keine Katzen, keine Frettchen oder Wiesel, nichts, vor dem die Vögel hätten flüchten müssen.

Und natürlich ist das Fliegen ein Mittel zur Flucht. Es ist ein Überlebensmechanismus, und zwar einer, den die neuseeländischen Vögel nicht unbedingt zu brauchen glaubten. Fliegen ist harte Arbeit und kostet eine Menge Energie.

Und nicht nur das. Auch zwischen dem Fliegen und dem Essen besteht eine enge Verbindung. Je mehr man ißt, desto schwerer fällt einem das Fliegen. Also passierte es immer häufiger, daß die Vögel, statt einen kleinen Snack zu sich zu nehmen und anschließend wegzuflattern, sich zu einem eher umfangreicheren Mahl niederließen und danach ein bißchen spazierenwatschelten.

Als dann schließlich die europäischen Siedler eintrafen und Katzen, Hunde, Wiesel und Opossums mitbrachten, watschelten viele der flugunfähigen neuseeländischen Vögel plötzlich um ihr Leben. Die Kiwis, die Takahes – und die alten Eulenpapageien, die Kakapos.

Unter all diesen Vögeln ist der Kakapo der seltsamste. Na schön, wenn man genau darüber nachdenkt, ist wohl auch der Pinguin ein ziemlich sonderbares Geschöpf, nur ist er auf irgendwie robuste Art sonderbar und bestens an die Umgebung angepaßt, in der er lebt, was man vom Kakapo nicht behaupten kann. Der Kakapo ist ein Vogel in der falschen Zeit. Wenn man einem von ihnen in sein großes, rundes, grünlichbraunes Gesicht sieht, wirkt er auf so heitere, unschuldige Art ahnungslos, daß man ihn am liebsten drücken und ihm sagen möchte, daß alles wieder gut wird, obwohl man weiß, daß das wahrscheinlich nicht stimmt.

Der Kakapo ist ein extrem dicker Vogel. Ein durchschnittlicher, ausgewachsener Kakapo wiegt zwischen sechs und sieben Pfund und kann mit seinen Flügeln bestenfalls ein bißchen herumwackeln, wenn er fürchtet, über irgendwas zu stolpern – aber Fliegen ist mit den Dingern vollkommen ausgeschlossen. Traurig ist nur, daß der Kakapo anscheinend nicht bloß vergessen hat, wie man fliegt, sondern zudem vergessen hat, daß er vergessen hat, wie man fliegt. Ein ernstlich beunruhigter Kakapo bringt es zwar fertig, auf einen Baum zu flitzen und von oben abzuspringen, fliegt aber dann wie ein Stein und landet als wenig eleganter Haufen am Boden.

Im großen und ganzen hat es der Kakapo aber nie gelernt, sich Sorgen zu machen. Er hatte ja nie besonders viel, was ihm hätte Sorgen bereiten können.

Die meisten Vögel werden angesichts eines Räubers zumindest kapieren, daß irgendwas los ist, und sich zügig in Sicherheit bringen, selbst wenn sie dabei irgendwelche im Nest liegenden Eier oder Küken im Stich lassen müssen – aber nicht der Kakapo. Seine einzige Reaktion angesichts eines Räubers ist, ganz einfach nicht zu wissen, was für eine Lebensform das sein soll. Er hat überhaupt keinen Begriff davon, daß irgend etwas möglicherweise auf die Idee verfallen könnte, ihm weh zu tun, also neigt er dazu, völlig verwirrt in seinem Nest hocken zu bleiben und dem anderen Tier den nächsten Zug zu überlassen – der in der Regel schnell kommt und endgültig ist.

Es ist frustrierend, sich den Unterschied klarzumachen, der durch Sprache entstünde. Die Jahrtausende kriechen verdammt langsam vorbei, während die natürliche Selektion von Generation zu Generation fahrig nach dem richtigen Weg stochert und dem komischen, anomalen Kakapo, der ein bißchen bescheuerter ist als seine Zeitgenossen, so lange unbehelligt läßt, bis die gesamte Art endlich auf den Trichter kommt. Das alles ließe sich auf eine Sekunde abkürzen, wenn einer von ihnen sagen könnte: »Solltet ihr eins von diesen Dingern mit Schnurrbart und kleinen, spitzen Zähnen sehen, dann rennt, was das Zeug hält.« Andererseits sind auch Menschen, trotz ihrer beinahe einzigartigen Fähigkeit, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, wenig geneigt, diese Fähigkeit zu nutzen.

Ärgerlich ist nur, daß diese ganze Räubergeschichte in Neuseeland ziemlich plötzlich begann und daß, bis die Natur anfängt, bevorzugt etwas nervösere und leichtfüßigere Kakapos hervorzubringen, einfach keine mehr da sein werden, sofern sie das bewußte Eingreifen des Menschen nicht vor etwas schützt, mit dem sie allein nicht fertig werden. Es wäre hilfreich, wenn viele von ihnen zur Welt kämen, aber damit stoßen wir auf weitere Probleme. Der Kakapo ist ein Einzelgänger: Er mag keine anderen Tiere. Er mag es nicht mal, mit anderen Kakapos zusammenzusein. Wir lernten einen Umweltschützer kennen, der meinte, er habe sich manchmal gefragt, ob der Paarungsruf des Männchens das Weibchen nicht tatsächlich abstößt, was die Art von biologischer Absurdität darstellt, die man sonst nur in Diskotheken findet. Alles, was der Kakapo wegen der Paarung veranstaltet, ist herrlich bizarr, außerordentlich gründlich vorbereitet und fast vollkommen wirkungslos.

Und das tun sie: Das Kakapo-Männchen baut sich ein »Track and bowl system«, das nichts weiter ist als eine grob ausgehobene, flache Bodensenke, zu der ein oder zwei Pfade durch das Unterholz hinführen. Das einzige, was diese Pfade von denen anderer durch die Gegend tappender Tiere unterscheidet, ist, daß die Pflanzen zu beiden Seiten äußerst präzis gestutzt sind.

Dabei achtet der Kakapo auf eine gute Akustik – also wird das »Track and bowl System« häufig vor einer dem Tal zugewandten Felswald zu finden sein –, und wenn die Paarungszeit beginnt, sitzt er in seiner Schüssel und schreit.

Und das ist eine ungewöhnliche Vorführung. Der Kakapo bläst zwei riesige Luftsäcke an seinen beiden Brustseiten auf, versenkt den Kopf dazwischen und beginnt etwas von sich zu geben, was er für aufregende Grunzlaute hält. Diese Laute werden stufenweise tiefer, hallen in seinen beiden Luftsäcken wider, breiten sich dann in der Nachtluft aus und erfüllen die Täler im Umkreis von Meilen mit dem schaurigen Klang eines gewaltigen, in der Nacht schlagenden Herzens.

Der Lockruf ist tief, sehr tief, genau auf der Schwelle zwischen dem, was man gerade noch hören kann, und dem, was man spürt. Das heißt, daß der Ton zwar eine große Reichweite hat, man aber nicht sagen kann, von wo er kommt. Wenn Sie sich mit einer bestimmten Sorte von Stereoanlagen auskennen, werden Sie wissen, daß man sich einen zusätzlichen Lautsprecher, einen sogenannten Sub-Woofer, besorgen kann, der nur die Baßfrequenzen überträgt und den man theoretisch überall im Raum plazieren kann, sogar hinter dem Sofa. Das Prinzip ist dasselbe – man kann nicht sagen, woher der Baß-Sound kommt.

Da das Kakapo-Weibchen genausowenig sagen kann, woher der Kakapo-Schrei kommt, kann man den Lockruf getrost als mangelhaft bezeichnen. »Komm und hol mich!« »Wo bist du?« »Komm und hol mich!« »Wo zum Teufel steckst du denn?« »Komm und hol mich!« »Hör mal zu, soll ich kommen oder nicht?« »Komm und hol mich!« »Herrgott noch mal.« »Komm und hol mich!« »Ach, fick dich doch ins Knie«, wäre wohl die ungefähre Entsprechung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Nun ist es zwar so, daß das Männchen noch eine Vielzahl anderer Geräusche ausstoßen kann, wir jedoch nicht wissen, was sie bedeuten. Na schön, ich weiß ja sowieso nur, was man mir erzählt hat, aber Zoologen, die diese Vögel jahrelang studiert haben, sagen, sie wüßten auch nicht, wozu das alles gut sei. Zu diesen Geräuschen gehören ein hochschwingender, metallischer, nasaler »Tsching«-Ton, Summen, Schnabelklicken, »Skrarken« (Skrarken ist genau das, wonach es klingt – der Vogel macht dauernd »Skrark«), »Kreisch-Krähen«, schweineähnliches Grunzen und Quieken, entenähnliche »Quaks« und eselsähnliche Schreie. Außerdem gibt es noch die aus einer weiteren Unzahl langgezogener, aufgewühlter Klagekrächzer bestehenden Leidensschreie, die die Jungtiere von sich geben, wenn sie über irgendwas stolpern oder aus Bäumen fallen.

Ich habe mir ein Band mit zusammengeschnittenen Kakapo-Lauten angehört, und es ist kaum zu glauben, daß sie alle von einem einzigen Vogel oder auch nur von einem einzigen Tier stammen. Es könnten Schnipsel aus dem Tonstudio von Pink Floyd sein, aber kein Papagei.

Einige dieser Geräusche bekommt man in fortgeschrittenen Balzphasen zu hören. Das »Tschingen« zum Beispiel, das nicht so weit zu hören ist, ist sehr gut anzupeilen und kann einem von nächtelangem Lockrufen aufgerüttelten Weibchen (das Rufen dauert manchmal sieben Stunden pro Nacht, und das für eine Dauer von bis zu drei Monaten) helfen, einen Partner zu finden. Aber auch das funktioniert nicht immer. Fortpflanzungsfähige Weibchen waren berühmt dafür, an gänzlich unbesetzten Schüsseln aufzukreuzen, ein bißchen in der Gegend herumzustehen und dann wieder zu verschwinden.

Es liegt nicht daran, daß sie nicht willig wären. Der Geschlechtstrieb ist bei einem fortpflanzungsbereiten Weibchen extrem ausgeprägt. Man weiß von einem Kakapo-Weibchen, das in einer Nacht zwanzig Meilen marschiert ist, nur um ein Männchen zu besuchen, und dann am nächsten Morgen wieder zurückwanderte. Unglücklicherweise ist jedoch die Phase, in der sich das Weibchen so verhält, ziemlich kurz. Als wäre nicht alles schon schwierig genug, kann das Weibchen nur dann in diese Verfassung geraten, wenn besondere Pflanzen, zum Beispiel die Steineibe, Früchte tragen. Was nur zweimal jährlich der Fall ist. Bis es soweit ist, kann das Männchen schreien, soviel es will, ohne daß es ihm irgend etwas nützt. Die pingeligen Ernährungsbedürfnisse des Kakapo sind wieder ein weites Problemfeld, das einen zur Verzweiflung treiben kann. Es reicht mir schon, nur daran zu denken; also sollten wir das Thema schnell hinter uns bringen. Wenn Sie sich einfach vorstellen, Sie würden als Steward in einer Maschine voller Moslems, Juden, Vegetarier, strenger Vegetarier und Diabetiker versuchen, die Mahlzeiten zu servieren, obwohl sie, weil gerade zufällig Weihnachten ist, nur Truthahn an Bord haben, kommen Sie der Sache aber schon ziemlich nahe.

Es zerrt extrem an den Nerven der Männchen, monatelang in ihren Schüsseln zu hocken und endlos Geräusche von sich zu geben, während sie auf ihre Partnerinnen warten, die ihrerseits darauf warten, daß eine bestimmte Baumsorte Früchte trägt. Als einer der Wildhüter, der im Balzgebiet der Kakapos arbeitete, einmal zufällig seinen Hut auf dem Boden liegenließ, fand er bei seiner Rückkehr einen Kakapo vor, der das Ding zu schänden versuchte. Bei anderer Gelegenheit ließ die Entdeckung von etwas zerzaustem Opossumfell im Paarungsgebiet darauf schließen, daß wieder mal ein Kakapo einen besorgniserregenden Fehler begangen hatte, mit einem Ergebnis, das wohl für keine der beiden beteiligten Parteien besonders befriedigend gewesen sein dürfte.

Was unter dem Strich nach all diesen Monaten des Aushebens und Balzens und Wanderns und Skrarkens und Getues wegen irgendwelcher Früchte herauskommt, ist, daß das Kakapo-Weibchen alle drei oder vier Jahre ein einziges Ei legt, das prompt von einem Hermelin gefressen wird.

Also muß die große Frage lauten: Wie in aller Welt hat es der Kakapo geschafft, sich so lange zu halten?

Als einem mit diesem Vogel konfrontierten Nicht-Zoologen drängte sich mir die Frage auf, ob sich die von allen Zwängen, etwas Wettbewerbfähiges zu produzieren, befreite Natur diesen Vogel nicht einfach am Rande ausgedacht hatte. Einfach nur so hingeschleudert. »Wie wär's, wenn wir noch was von dem hier mit reinpacken? Kann doch nicht schaden, ist vielleicht ganz unterhaltend.«

Der Kakapo ist wahrhaftig ein Vogel, der mich in gewisser Weise an die britische Motorradindustrie erinnert. Alles ging so lange nur nach seiner Nase, daß er am Ende exzentrisch wurde. Die Motorradindustrie reagierte nicht auf die Marktkräfte, weil sie ihr gar nicht richtig bewußt waren. Sie produzierte eine gewisse Anzahl Motorräder, die von einer gewissen Anzahl von Leuten gekauft wurde, und das war's. Dabei war es scheinbar ziemlich egal, daß sie laut und kompliziert zu warten waren, Öl durch die Gegend verspritzten und, wie T. E. Lawrence gegen Ende seines Lebens herausfand, eine sehr eigentümliche Art hatten, um Kurven zu biegen. Das war's, was Motorräder taten, und das war's, was man bekam, wenn man ein Motorrad haben wollte. Ende der Geschichte. Und natürlich war es auch fast das Ende der Geschichte der britischen Motorradindustrie, als die Japaner plötzlich auf die Idee kamen, daß Motorräder nicht unbedingt so sein müßten. Sie konnten schnittig sein, sie konnten sauber sein, sie konnten zuverlässig und kultiviert sein. Dann würden sie vielleicht von jedermann gekauft werden, nicht nur von Leuten, die es für besonders spaßig hielten, den Sonntagnachmittag mit einem öligen Lappen im Schuppen zu verbringen oder gegen Akaba zu marschieren.

Die äußerst wettbewerbsfähigen Maschinen kamen auf den Britischen Inseln an (erneut ist es also eine Inselspezies, die nie gelernt hat, im Wettbewerb zu bestehen. Ich weiß, daß Japan auch aus einem Haufen Inseln besteht, werde des schönen Vergleichs zuliebe aber einfach über diesen Umstand hinwegsehen), und über Nacht waren die britischen Motorräder so gut wie ausgestorben.

So gut wie, aber eben nicht ganz. Sie wurden von einem Rudel Enthusiasten am Leben erhalten, die meinten, daß an den Nortons und Triumphs, mochten sie auch schwierige und bärbeißige Biester sein, doch eine Menge Gutes und Bewahrenswertes war und daß die Welt ohne sie bedeutend ärmer wäre. Während des letzten Jahrzehnts haben sie zahlreiche, schwierige Veränderungen über sich ergehen lassen müssen, sind aber nun wieder aufgetaucht und gelten nach ihrer Überholung als vielgerühmte Maschinen für Motorrad-Liebhaber. Ich fürchte, daß dieser Vergleich jetzt ernsthaft vom Zusammenbruch bedroht ist, also lasse ich ihn wohl besser fallen.


Einige Tage zuvor hatte ich einen Traum gehabt. Ich hatte geträumt, daß ich aufwachte und mich, bewegungsunfähig auf großen, runden, lila und hellblauen Findlingen ausgebreitet und den Kopf angefüllt mit dem bedächtigen Tosen des Meeres, an einem abgelegenen Strand wiederfand. Ich erwachte aus diesem Traum und fand mich, ausgebreitet auf mächtigen, runden, rosa und hellblauen Findlingen und völlig benommen vor Verwirrung, an einem abgelegenen Strand wieder. Ich konnte mich nicht bewegen, weil meine Kameratasche um meinen Hals geschlungen und hinter einem der Findlinge eingeklemmt war.

Ich rappelte mich auf und sah hinaus aufs Meer, um herauszubekommen, wo in aller Welt ich war und ob ich noch immer in einer Traum-Rekursion steckte. Vielleicht saß ich noch immer in einem Flugzeug nach Irgendwo und sah mir nur gerade den Film während des Fluges an. Ich sah mich nach einer Stewardeß um, aber niemand kam mit einem Tablett voller Drinks über den Strand gewackelt. Ich warf einen Blick auf meine Stiefel, und dieser Blick schien in meinem Kopf irgend etwas auszulösen. Ich erinnerte mich deutlich daran, diese Stiefel zuletzt so gründlich betrachtet zu haben, als ich aus einem Morast in Zaire herausstapfte und sie mit afrikanischem Matsch getränkt waren. Ich sah mich nervös um. Nashörner wackelten auch nicht über den Strand. Der Strand befand sich eindeutig nicht in Zaire, weil Zaire ein Binnenland ist und keinen Strand hat. Erneut betrachtete ich meine Schuhe. Sie wirkten eigenartig sauber. Wie war das passiert? Mir fiel wieder ein, daß man mir die Schuhe weggenommen und sie geputzt hatte. Warum sollte das jemand tun? Und wer? Ein Flughafen tauchte verschwommen vor mir auf, und ich erinnerte mich, gefragt worden zu sein, wo ich mit den Schuhen gewesen sei. Zaire, sagte ich. Man nahm mir die Stiefel weg und gab sie mir ein paar Minuten später fleckenlos sauber, desinfiziert und glänzend zurück. Mir fiel wieder ein, daß ich damals gedacht hatte, ich müsse nur daran denken, jedesmal nach Neuseeland zu fliegen, wenn ich meine Schuhe wirklich ordentlich geputzt haben wollte. Neuseeland. Was die Einfuhr irgendwelcher ausländischer Bakterien betraf, waren sie hier, in einem der isoliertesten und unberührtesten Länder der Welt, verständlicherweise eher paranoid. Ich versuchte mich an meine Abreise aus Neuseeland zu erinnern, aber es ging nicht. Folglich mußte ich noch in Neuseeland sein. Gut. Damit hatte ich das Ganze ein bißchen eingegrenzt.

Aber wo?

Ich torkelte etwas schläfrig den Strand hinauf, stolperte über die Findlinge in den gedämpften halluzinatorischen Farben und entdeckte dann von meinem neuen Aussichtspunkt aus Mark, der weit entfernt auf den Knien dahockte und in einen alten Baumstumpf spähte.

»Ein Zwergpinguin. Er mausert sich gerade«, sagte er, als ich ihn endlich erreichte.

»Was?« sagte ich. »Wo?«

»Im Baumstumpf«, sagte er. »Sieh's dir an.«

Ich spähte in den Baumstumpf. Ein schwarzes Augenpaar spähte ängstlich aus einem dunkelblauen, aufgeplusterten Feder-Ball zurück.

Ich ließ mich schlaff auf einen Felsen sinken.

»Sehr schön«, sagte ich. »Wo sind wir?«

Mark grinste. »Dachte ich mir doch, daß du ein bißchen unter dem Jetlag leidest«, sagte er. »Du hast zwanzig Minuten geschlafen.«

»Na fein«, sagte ich gereizt, »aber wo sind wir? Soweit ich es bisher eingegrenzt habe, muß es Neuseeland sein.«

»Little Barrier Island«, sagte er. »Erinnerst du dich? Wir sind heute morgen mit dem Hubschrauber hergekommen.«

»Ah«, sagte ich, »damit ist meine nächste Frage schon beantwortet. Es ist Nachmittag, ja?«

»Ja«, sagte Mark. »Es ist kurz vor vier, und wir werden zum Tee erwartet.«

Von dieser Vorstellung wie vom Donner gerührt, sah ich noch mal den Strand rauf und runter.

»Tee?« sagte ich.

»Bei Mike und Dobby.«

»Bei wem

»Ach, tu einfach nur so, als würdest du sie kennen, wenn wir hinkommen, weil du heute morgen ein Stündchen mit ihnen geplaudert hast.«

»Hab ich?«

»Dobby ist der Wildhüter auf dieser Insel.«

»Und Mike?«

»Seine Frau.«

»Verstehe.« Ich dachte ein bißchen nach. »Ich weiß«, sagte ich plötzlich. »Wir sind hergekommen, um nach dem Kakapo zu suchen. Ja?«

»Korrekt.«

»Werden wir einen finden?«

»Bezweifle ich.«

»Dann erklär's mir noch mal. Warum sind wir hier?«

»Weil dies einer der zwei Orte ist, an denen definitiv Kakapos leben.«

»Aber wir werden wahrscheinlich keinen finden.«

»Nein.«

»Aber wir werden zumindest einen Tee kriegen.«

»Ja.«

»Schön, dann laß uns losgehen und Tee trinken. Erzähl's mir auf dem Weg noch mal. Aber schön langsam.«

»Ist recht«, sagte Mark. Er machte noch einige letzte Bilder von dem kleinen blauen Pinguin, einem Vogel, über den ich niemals mehr erfahren sollte, packte seine Kameras ein, und zusammen machten wir uns auf den Rückweg zum Wildhüterhäuschen.

»Jetzt, da Neuseeland mit Räubern aller Art übersät ist«, sagte Mark, »sind Inseln der letzte mögliche Zufluchtsort für die Kakapos – beziehungsweise geschützte Inseln neben diesen Inseln. Stewart Island im Süden, wo es immer noch ein paar Kakapos gibt, ist mittlerweile besiedelt und nicht mal mehr annähernd sicher. Alle Kakapos, die man dort findet, werden eingefangen und nach Codfish Island geflogen, der nächstgelegenen Insel. Dort werden sie beobachtet und geschützt. Und zwar so gut geschützt, daß ich momentan erhebliche Zweifel habe, ob man uns überhaupt erlauben wird, hinzufliegen. Offenbar gibt es beim DOC einen ziemlichen Aufruhr wegen...«

»DOC?«

»Dem New Zealand Department of Conservation. Sie sind sich nicht einig, ob sie uns auf die Insel lassen sollen. Einerseits meinen sie zwar, wir könnten dem Projekt durch eine gewisse Publicity nützen, aber andererseits meinen sie, daß die Vögel um gar keinen Preis gestört werden sollten. Es gibt überhaupt nur einen einzigen Menschen, der uns helfen könnte, den Vogel zu finden, und der will überhaupt nichts mit uns zu tun haben.«

»Wer ist das?«

»Ein freischaffender Kakapo-Spurenleser namens Arab.« »Aha.«

»Er hat einen Kakapo-Spürhund.«

»Hmm. Klingt, als ob wir genau den Typ Helfer brauchten. Gibt es denn für einen freischaffenden Kakapo-Spurenleser viel zu tun? Ich meine, so viele Kakapos sind doch eigentlich nicht mehr aufzuspüren, oder?«

»Vierzig. Insgesamt gibt es drei oder vier Kakapo-Spurenleser ...«

»Und drei oder vier Kakapo-Spürhunde?«

»Genau. Die Hunde sind speziell darauf abgerichtet, die Kakapos zu wittern. Sie tragen Maulkörbe, damit sie den Vögeln nichts tun können. Man hat sie eingesetzt, um die Kakapos auf Stewart Island einzufangen, damit sie mit dem Hubschrauber nach Codfish Island geflogen oder hierher, nach Little Barrier Island, weitertransportiert werden können. War das erste Mal seit Jahrtausenden, vielleicht sogar Jahrmillionen, daß irgendein Vertreter dieser Art geflogen ist.«

»Und was macht ein Kakapo-Spurenleser, wenn keine Kakapos aufgespürt werden müssen?«

»Er bringt Katzen um.«

»Aus Frustration?«

»Nein. Auf Codfish Island gab es eine regelrechte Wildkatzenplage. Mit anderen Worten, Katzen, die in die Wildnis zurückgekehrt sind.«

»Ich dachte immer, das sei eine künstliche Unterscheidung. Ich dachte, alle Katzen wären Wildkatzen. Sie verhalten sich nur zahm, wenn sie glauben, daß dabei eine milchgefüllte Untertasse für sie rausspringt. Auf Codfish Island bringen sie also Katzen um?«

»Sie haben sie umgebracht. Stück für Stück. Alle Opossums und Wiesel. Im großen und ganzen alles, was sich bewegt hat und kein Vogel war. Das ist nicht besonders nett, aber so sah die Insel nun mal ursprünglich aus, und nur so können die Kakapos überleben – in genau der Umgebung, die Neuseeland vor dem Eintreffen des Menschen war. Ohne Räuber. Hier auf Little Barrier Island haben sie das gleiche gemacht.«

Was in diesem Augenblick passierte, verblüffte mich einigermaßen, bis mir aufging, daß mir genau das gleiche an diesem Tag schon einmal passiert war, nur daß ich es in meinem benebelten, zeitverschobenen Zustand völlig vergessen hatte.

Vom Strand aus waren wir durch dichtes Unterholz, über schlechte, matschige Wege und an ein paar Feldern voller Schafe vorbeigestapft und plötzlich in einem Garten gelandet. Und zwar nicht in einem einfachen Garten, sondern in einem akribisch gemähten und manikürten Garten mit makellosen Blumenbeeten, penibel gestutzten Bäumchen und Büschen, Steingärten und einer kleinen, über einen ebenfalls kleinen Fluß führenden, schmucken Brücke. Es war, als betrete man einen leicht provinziellen Garten Eden, als hätte Gott am achten Tag plötzlich doch wieder losgelegt und begonnen, Rasenmäher, Heckenscheren und diese Dinger zu erfinden, deren Name mir nie einfällt, die aber im wesentlichen aus elektrisch angetriebenen Fäden bestehen.

Und da war auch Mike, die Frau des Wildhüters, und betrat den Rasen mit einem Tablett voller Teeutensilien, über das ich mit freudigen Ausrufen und großem Hallo herfiel.

Mark hatte ich inzwischen verloren. Er stand nur einen knappen Meter von mir entfernt, war aber in eine Volltrance gefallen, deren Untersuchung ich nach kurzem Überlegen auf später verschob, weil ich zuerst unbedingt dem Tee zu Leibe rücken wollte. Mark schien sich die Vögel anzusehen, von denen es in diesem Garten offenbar eine ganze Menge gab. Ich plauderte fröhlich mit Mike, stellte mich ihr noch mal als das entfernt an einen Neandertaler erinnernde Wesen vor, das sie höchstwahrscheinlich am Morgen hoffnungslos benommen aus dem Hubschrauber auf sich hatte zuwanken sehen, und fragte sie, wie sie mit dem Leben hier klarkomme, das sie und Dobby nun seit elfeinhalb Jahren, abgesehen von gelegentlich auftauchenden naturvernarrten Touristen, vollkommen isoliert von der Außenwelt führten.

Sie erklärte mir, daß sie täglich ziemlich viele naturvernarrte Touristen bei sich hätten und sie sich eher Sorgen mache, es könnten zu viele werden. Es passiere so erschreckend schnell, daß versehentlich Räuber auf die Insel mitgebracht würden, und die Schäden wären ausgesprochen ernst. Bei den Touristen, die organisierte Ausflüge auf die Insel unternähmen, sei man zwar sehr vorsichtig, aber große Gefahr gehe von jenen Leuten aus, die mit dem Boot kämen und am Strand Grillpartys veranstalteten. Ein paar Ratten oder eine trächtige Katze reichten aus, um die Arbeit von Jahren zunichte zu machen.

Die Vorstellung, irgend jemand, der einen Partygrill auf eine Insel mitnahm, würde dabei auch notwendigerweise daran denken, eine trächtige Katze einzuladen, überraschte mich, aber Mike versicherte mir, das passiere sehr leicht. Davon abgesehen, habe so gut wie jedes Boot Ratten an Bord.

Sie war eine fröhliche, lebhafte, robuste Frau, und ich hegte den starken Verdacht, daß der eiserne Wille, der dem rauhen Inselgelände aufgezwungen worden war und diesen Teil in einen unerbittlich manikürten Garten verwandelt hatte, ihrer war.

In diesem Moment tauchten Dobby und Gaynor, die ihn interviewt hatte, aus dem hübschen, schindelgedeckten Haus auf. Ursprünglich war Dobby als Mitarbeiter des Katzen-Beseitigungsprogramms auf die Insel gekommen und als Wildhüter des Schutzgebietes dort geblieben, auf einem Posten, den er in achtzehn Monaten würde aufgeben müssen. Die Aussicht behagte ihm ganz und gar nicht. Vom Standpunkt der beiden, von dieser Miniatur-Paradies-Domäne aus gesehen, mußte ihnen ein kleines Häuschen in einer Stadt auf dem Festland hoffnungslos beengend und sterbenslangweilig erscheinen.

Nachdem wir noch ein bißchen weitergeplaudert hatten, ging Gaynor auf Mark zu und bat ihn, eine Beschreibung des Gartens auf Band zu sprechen, aber er winkte sie nur barsch weg und fiel zurück in die Trance, in der er sich jetzt schon seit einer Weile befand. Für einen Menschen wie Mark, der normalerweise freundlich und herzlich ist, war das ein eher komisches Verhalten, also fragte ich ihn, was los sei. Er murmelte irgendwas über Vögel und ignorierte uns wieder.

Ich sah mich noch einmal um. Es waren wirklich eine Menge Vögel im Garten.

Ich muß an dieser Stelle ein Geständnis ablegen, das aus dem Mund von jemandem, der zwölftausend Meilen weit hin- und zurückgereist ist, um einen Papagei zu besuchen, ein bißchen seltsam klingen wird, aber eigentlich mache ich mir gar nicht so fürchterlich viel aus Vögeln. Mag sein, daß es alle möglichen Dinge gibt, die ich an Vögeln interessant finde, aber vom Hocker reißen mich die Viecher nicht. Nilpferde, ja. Es macht mir Spaß, ein Nilpferd anzustarren, bis das sogar dem Nilpferd zu dumm wird und es verwirrt wegwandert. Gorillas, Lemuren, Delphinen kann ich stundenlang begeistert zusehen, von ihrem ganzen Getue mindestens ebenso hypnotisiert wie von ihren Augen. Aber wenn man mich in einen Garten stellt, der voll ist von den exotischsten Vögeln der Welt, macht es mir am meisten Spaß, teetrinkend herumzustehen und mit Leuten zu plaudern. Mir dämmerte allmählich, daß genau das gerade geschah.

»Das«, sagte Mark schließlich mit tiefer, hohler Stimme, »ist...« Ich wartete geduldig.

»Unbeschreiblich!«

Irgendwann gelang es Gaynor dann doch, ihn aus seiner Trance zu reißen, und er begann aufgeregt über die Tuis, die neuseeländischen Tauben, die Glockenvögel, die North-Island-Drosseln, die neuseeländischen Eistaucher, die Rotkappensittiche, die Paradieskasarkas und die Unmengen von Kakadus zu reden, die durch den Garten flatterten und sich gegenseitig über den Rand der Vogeltränke rempelten.

Ich war irgendwie deprimiert, fühlte mich wie ein Verräter, weil ich seine Aufregung nicht teilen konnte, und geriet an diesem Abend ins Grübeln darüber, weshalb ich eigentlich so unheimlich scharf darauf war, einen Kakapo zu finden, obwohl mich Vögel sonst fast völlig kaltließen.

Ich glaube, es liegt an seiner Flugunfähigkeit.

Die Vorstellung, daß dieses Lebewesen etwas aufgegeben hat, wonach sich so gut wie jeder Mensch sehnt, seit die ersten von uns nach oben gesehen haben, hat etwas Fesselndes. Andere Vögel irritieren mich vermutlich nur wegen der großspurigen Seelenruhe, mit der sie durch die Luft flitzen, als ob das gar nichts wäre.

Ich erinnerte mich, im Zoo von Sydney vor Jahren unvermittelt einem frei herumstreifenden Emu von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden zu haben. Man wird ausdrücklich gewarnt, nicht zu dicht an sie heranzugehen, weil sie ziemlich rabiat werden können, aber als ich ihn ansah, fand ich seinen zornigen, starren Gesichtsausdruck absolut herzzerreißend. Weil man nämlich, wenn man einem Emu erst mal ins Gesicht gesehen hat, plötzlich begreift, was es für dieses Lebewesen bedeutet, all die Nachteile mit sich herumzuschleppen, die das Vogeldasein so mit sich bringt – eine lachhafte Körperhaltung, ein hoffnungslos schmuddeliges, sinnloses Federkleid und zwei unbrauchbare Gliedmaßen, ohne dabei jemals das tun zu können, wozu Vögel eigentlich in der Lage sein sollten, nämlich zu fliegen. Damit wird einem schlagartig klar, daß der Vogel vor lauter Wut völlig ausgerastet sein muß.

Ich möchte an dieser Stelle kurz abschweifen, um eine kaum bekannte Tatsache anzuführen: Der Strauß ist, erstaunlich, aber wahr, eines der gefährlichsten afrikanischen Tiere. Nur dringen von Straußen verursachte Todesfälle nicht so recht ins öffentliche Bewußtsein, weil sie in der Regel so entsetzlich würdelos sind. Strauße beißen nicht, weil sie keine Zähne haben. Sie reißen einen nicht in Stücke, weil sie keine Vorderläufe mit Krallen haben. Nein, Strauße treten einen tot. Und wer wollte ihnen daraus schon einen Strick drehen?

Der Kakapo jedoch ist kein wütender oder gewalttätiger Vogel. Er geht seinen verschrobenen Eigenheiten eher gewissenhaft und im stillen nach. Wenn man Leute, die mit Kakapos gearbeitet haben, bittet, sie zu beschreiben, verwenden sie in der Regel Begriffe wie »unschuldig« und »würdevoll«, sogar wenn der Kakapo in diesem Augenblick hilflos aus einem Baum stürzt. Und das finde ich ungeheuer anziehend. Ich fragte Dobby, ob sie den Kakapos auf der Insel Namen gegeben hätten, und er zählte sofort vier davon auf: Matthäus, Lukas, Johannes und Schnark. Recht passende Namen für eine Bande würdevoll behämmerter Vögel.

Fehlt nur noch ein weiterer Gesichtspunkt: Nicht nur, daß der Kakapo etwas aufgegeben hat, was wir alle uns so sehnlich wünschen, macht ihn so unwiderstehlich, sondern auch, daß er damit einen gräßlichen Fehler begangen hat. Er ist ein Vogel, der einem ans Herz wachsen kann. Mir lag wirklich viel daran, einen zu finden.

Während der nächsten zwei oder drei Tage wurde ich zunehmend mürrischer, denn während wir im Regen über endlose Hügelketten zottelten, wurde uns klar, daß wir auf Little Barrier Island keinen Kakapo finden würden. Wir blieben stehen, um Kakas, langschweifige Kuckucke und gelbäugige Pinguine zu bewundern. Wir fotografierten unzählige gescheckte Krähenscharben. In einer Nacht sahen wir einen Eulenschwalm, eine Eulenart, die ihren neuseeländischen Namen »Morepork« dem Umstand verdankt, daß sie ununterbrochen nach zusätzlichem Schweinefleisch schreit. Aber wir wußten, daß wir nach Codfish Island mußten, wenn wir einen Kakapo finden wollten. Und dazu würden wir Arab, den freischaffenden Kakapo-Spurenleser, und den Kakapo-Spürhund des freischaffenden Kakapo-Spurenlesers brauchen.

Nichts deutete darauf hin, daß wir sie auch bekommen sollten. Also flogen wir nach Wellington und bliesen ein bißchen Trübsal.

Wir konnten das Dilemma nachvollziehen, in dem die Leute vom Department of Conservation steckten. Für sie war einerseits der Schutz der Kakapos von übergeordneter Bedeutung, was bedeutete, daß jeder, der nicht lebenswichtig für das Projekt war, von Codfish Island ferngehalten werden mußte. Andererseits stiegen die Chancen, mehr Mittel zum Schutz des Vogels aufzutreiben, je mehr Leute von ihm wußten. Während wir mit unserem Schicksal haderten, wurden wir überraschend gebeten, eine Pressekonferenz über unser Vorhaben abzuhalten, und nahmen das Angebot mit Freuden an. Wir sprachen ernst und freundlich mit der Presse über das Projekt. Wir erklärten ihnen, hier hätten wir einen Vogel, der auf seine Art genauso ungewöhnlich und einzigartig sei wie das berühmteste ausgestorbene Tier aller Zeiten – der Dodo – und selbst vom Aussterben bedroht sei. Es wäre bedeutend besser, wenn er von aller Welt als Überlebender geliebt und nicht, wie der Dodo, als Ausgestorbener bedauert würde.

Das brachte im Department of Conservation offenbar einiges in Bewegung, und wie sich bald herausstellte, setzten sich diejenigen durch, die uns unterstützten. Ein, zwei Tage später standen wir auf der Piste des Flughafens von Invercargill im äußersten Süden von South Island und warteten auf unseren Hubschrauber. Und auf Arab. Wir hatten uns durchgesetzt und hofften, ein bißchen nervös, auch das Richtige getan zu haben.

Begleitet wurden wir von einem Schotten namens Ron Tindal von DOC. Er war uns gegenüber betont offen. Er sagte, unter den Feldforschern herrschten jede Menge Vorbehalte wegen unserer Erlaubnis, nach Codfish zu fahren, aber da Anweisung nun mal Anweisung sei, müßten wir jetzt eben hin. Derjenige, sagte er, der sich besonders wenig mit der Idee anfreunden könne, sei Arab selbst, also sollten wir uns der Tatsache bewußt sein, daß er nur unter Protest komme.

Arab selbst traf ein paar Minuten später ein. Ich wußte nicht genau, wie ich mir einen freischaffenden Kakapo-Spurenleser vorgestellt hatte, aber als wir ihn sahen, war sonnenklar, daß man ihn sogar dann unverzüglich als Kakapo-Spurenleser erkannt hätte, wenn er in einer wahllos zusammengestellten Gruppe von tausend Leuten versteckt gewesen wäre. Er war groß, schlaksig, unglaublich wettergegerbt und hatte einen gräulichen Bart, der bis zu seinem Hund hinunterreichte, der auf den Namen »Boss« hörte.

Er nickte uns kurz zu und hockte sich hin, um ein bißchen Getue wegen seines Hundes zu machen. Dann schien er wohl zu denken, daß er uns gegenüber vielleicht arg kurz angebunden gewesen war, und er beugte sich über Boss, um uns die Hand zu schütteln. Und dann schien er zu glauben, daß er damit nun auch wieder übertrieben hatte, und blickte mit einem wegen des Wetters extrem ärgerlichen Ausdruck nach oben. Mit dieser kurzen Demonstration vollkommener sozialer Konfusion offenbarte er sich als ein in höchstem Maße angenehmer und liebenswerter Mensch.

Dennoch verlief der halbstündige Hubschrauberflug nach Codfish Island etwas angespannt. Unser Versuch, ungezwungen zu plaudern, wurde vom ohrenbetäubenden Donnern der Rotorblätter nahezu vollständig vereitelt. Ein Hubschraubercockpit ist leidlich geeignet, einem begierigen Zuhörer etwas zu erzählen, aber bestimmt nicht der richtige Ort, um mit jemandem warm zu werden.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich hab nur ›Was haben Sie gesagt?‹ gesagt.«

»Aha. Und was haben Sie gesagt, bevor Sie ›Was haben Sie gesagt?‹ gesagt haben?«

»Ich hab nur gesagt: ›Sind Sie häufiger hier?‹, ist aber nicht so wichtig.«

Zuletzt verfielen wir in ein verlegenes, dumpfes Schweigen, das durch die düster über dem Meer hängenden, schweren Sturmwolkenbänke nur noch bedrückender wurde.

Wenig später tauchte Neuseelands am verbissensten geschützte Arche in ihrem ganzen finsteren Umfang aus der glitzernden Dunkelheit vor uns auf: Codfish Island, einer der letzten Zufluchtsorte für viele Vögel, die man sonst fast nirgendwo auf der Welt mehr vorfindet. Genau wie Barrier Island war die Insel erbarmungslos von allem gesäubert worden, was ursprünglich nicht dort gewesen war. Sogar der flugunfähige Weka, ein fieser, aufrührerischer, entenähnlicher Vogel, der in anderen Gebieten Neuseelands zu den Ureinwohnern zählt, war ausgerottet worden. Er gehörte nicht zu den Ureinwohnern von Codfish Island und griff Cooks Sturmschwalben an, die sehr wohl dazugehörten. Um die Insel herum herrschen rauher Seegang und starke Strömungen, deswegen ist es eher unwahrscheinlich, daß es eine Räuber-Ratte von der drei Kilometer entfernten Stewart Island bis hierher schafft. Der Verpflegungsnachschub für die auf der Insel Beschäftigten wird in rattensicheren Räumen gelagert, in rattensichere Container verladen und vor und nach dem Transfer eingehend untersucht. An allen möglichen Bootsanlegestellen der Insel sind Giftköder ausgelegt. Es sind ständig Leute in Bereitschaft, um loszurasen und jede Ratteninvasion im Keim zu ersticken, falls in Inselnähe ein Bootswrack auftaucht.

Der Hubschrauber setzte pladdernd auf, und wir krabbelten, weit vornübergebeugt, mit einem schlechten Gefühl unter den wirbelnden Rotorblättern nach draußen. Wir luden schnell unser Gepäck aus und gingen den grasbewachsenen Hügel vor der Wildhüterhütte hinunter, auf dem wir gelandet waren. Mark und ich sahen uns kurz an und stellten fest, daß wir noch immer vornübergebeugt gingen. Wir waren zwar nicht direkt Ratten, fühlten uns aber genauso willkommen und schickten Stoßgebete gen Himmel, daß diese Expedition nicht fürchterlich ins Auge gehen möge. Arab stolzierte schweigend mit Boss, der jetzt einen festen Maulkorb trug, hinter uns her. Obwohl die Spürhunde streng abgerichtet werden, den von ihnen aufgespürten Kakapos nichts zu tun, spüren sie sie manchmal doch ein bißchen zu enthusiastisch auf. Sogar mit Maulkorb kann ein übereifriger Hund einen Vogel zu Boden stoßen und verletzen.

Die Wildhüterhütte war ein Holzbau mit einem großen Zimmer, das als Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer und Arbeitszimmer diente, und ein paar kleinen Schlafräumen. Es waren schon zwei andere Feldforscher dort untergebracht, einer, der den exzentrischen Namen Phred trug oder zumindest so buchstabierte und sich als Dobbys und Mikes Sohn entpuppte, und ein zweiter namens Trevor. Sie begrüßten uns schweigend, ohne jede Begeisterung, und störten uns nicht weiter beim Auspacken.

Als man uns kurz darauf mitteilte, das Essen sei fertig, hielten wir den Moment für gekommen, einen ernsthaften Versuch zur Verbesserung unseres Ansehens in der Runde zu unternehmen. Ganz offensichtlich hatten unsere Gastgeber keinen Bedarf an Medien-Schickis, die über ihre Insel wüteten und die Vögel mit ihren Videokameras und Filofaxes verschreckten, und hatten sich auch durch die Tatsache, daß wir nichts weiter als einen zierlichen Walkman bei uns hatten, uns sehr bescheiden und wohlerzogen aufführten und nicht ständig versuchten, bei ihnen Gin Tonic zu bestellen, nur geringfügig beschwichtigen lassen. Der Umstand, daß wir statt dessen selbst etwas Bier und Whisky mitgebracht hatten, machte alles ein bißchen einfacher.

Ich war auf einmal richtig gut gelaunt. Wirklich wesentlich besser gelaunt, als ich es während unseres gesamten bisherigen Aufenthaltes in Neuseeland gewesen war. Die Neuseeländer sind grundsätzlich schrecklich nett. Alle, die wir bis dahin kennengelernt hatten, waren schrecklich nett zu uns gewesen. Schrecklich nett und zuvorkommend. Jetzt merkte ich, daß mich all diese unbarmherzige Nettigkeit und Herzlichkeil, der wir ausgesetzt gewesen waren, ganz schön mitgenommen hatte. Die neuseeländische Herzlichkeit raubt einem nicht nur jede Möglichkeit zur Gegenwehr, sondern auch den letzten Nerv, und ich war mittlerweile soweit, daß ich die nächste Person, die mir nett und herzlich gekommen wäre, verprügelt hätte. Jetzt lagen die Dinge aber plötzlich ganz anders, und wir waren gefordert. Ich mußte diese mürrischen Figuren ums Verrecken dazu bringen, uns zu mögen.

Über unserem aus Dosenschinken, Pellkartoffeln und Bier bestehenden Abendessen starteten wir zu einem umfassenden konversationellen Erstschlag, erzählten ihnen alles über unser Projekt und warum wir es durchführten, wo wir bisher gewesen waren, welche Tiere wir gesehen und welche wir vergeblich gesucht hatten, wen wir kennengelernt hatten, warum wir so scharf darauf waren, einen Kakapo zu sehen, wie sehr wir ihre Unterstützung zu schätzen wüßten und wie gut wir ihre Vorbehalte gegen unseren Aufenthalt hier verstehen könnten, um ihnen anschließend intelligente und tiefschürfende Fragen zu stellen, die ihre Arbeit, die Insel, die Vögel und Boss betrafen, und zum Abschluß zu fragen, warum an dem Baum vor dem Haus ein toter Pinguin hing.

Dieses Manöver sorgte offenbar für etwas weniger dicke Luft. Unsere Gastgeber begriffen, daß sie uns nur vom ununterbrochenen Reden abhalten konnten, indem sie selbst etwas sagten. Der Pinguin war, wie uns Phred erklärte, Tradition. Jeden 28. Februar würden sie einen toten Pinguin an den Baum hängen. Es sei eine Tradition, die sie erst an diesem Tag eingeführt hätten und die sie vermutlich nicht aufrechterhalten würden, aber im Augenblick halte sie wenigstens die Fliegen von dem Pinguin fern.

Das hörte sich nach einer unübertrefflich exzellenten Erklärung an. Wir stießen gemeinsam mit einem weiteren Bier auf sie an, und endlich begann sich alles ein bißchen beschwingter zu entwickeln. In rundherum entspannter Stimmung brachen wir mit Arab und Boss in den Wald auf, um zu versuchen, wenigstens einen jener Vögel zu finden, derentwegen wir zwölftausend Meilen weit gereist waren.

Der Wald war gammlig. Was heißen soll, daß er so feucht war, daß jeder umgestürzte Baum, über den wir klettern mußten, unter unseren Füßen zersplitterte und daß alle Äste, an denen wir uns festhielten, wenn wir keinen Stand mehr fanden, in unseren Händen abbrachen. Wir rutschten und schlitterten geräuschvoll durch den Matsch und das durchweichte Unterholz, während Arab uns mühelos und nur dank seiner blaukarierten Jacke zwischen den Bäumen erkennbar vorausstolzierte. Boss bewegte sich in einer chaotischen Umlaufbahn um ihn herum und war, außer als gelegentlich durch das Unterholz aufblitzender schwarzer Schatten, so gut wie nie zu sehen.

Dafür war er aber jederzeit zu hören. Arab hatte eine kleine Glocke an seinem Halsband befestigt, die so hell durch die klare feuchte Luft bimmelte, als albere ein unsichtbarer, geistesgestörter Nikolaus durch den Wald. Dank der Glocke war Arab ständig im Bild darüber, wo Boss herumschnüffelte und was er gerade veranstaltete. Ein aufgeregtes, von Stille gefolgtes Dauerbimmeln konnte darauf hindeuten, daß er einen Kakapo gefunden hatte und ihn nun in Schach hielt. Jedesmal, wenn die Glocke verstummte, hielten wir den Atem an, aber jedesmal hob das Geklingel wieder an, wenn Boss einen neuen Weg fand, auf dem er durch das Unterholz schnüffeln konnte. Hin und wieder bimmelte die Glocke lauter und deutlicher, und Arab rief Boss mit einem kurzen Befehl zu sich zurück. Daraufhin entstand dann eine kurze Unterbrechung, die Mark, Gaynor und ich in einem Fall nutzen konnten, um zu den beiden aufzuschließen.

Wir kamen atemlos und naß aus dem Wald auf eine kleine Lichtung getaumelt, wo wir Arab neben Boss hocken und ein kleines Moospolster in den Hohlraum der Glocke drücken sahen, um den Klang etwas zu dämpfen. Er schielte mit seinem trägen, schüchternen Grinsen hoch und erklärte uns, die Glocke dürfe nicht zu laut sein, weil sie die Kakapos sonst nur verscheuchen würde – falls überhaupt welche in diesem Gebiet seien.

Ob er glaube, daß welche in der Nähe seien, fragte Mark. »Oh, in der Nähe sind sie ganz bestimmt«, sagte Arab und fuhr sich mit den Fingern durch den klatschnassen Bart, um sie vom Matsch zu säubern, »zumindest waren sie heute hier in der Gegend. Gibt eine Menge Fährten. Boss wittert zwar dauernd irgendwas, aber die Witterungen verlieren sich. Hier hat's bis vor kurzem eine Menge Kakapo-Aktivität gegeben, aber eben nur bis vor kurzem. Trotzdem ist er sehr aufgeregt. Er weiß mit Sicherheit, daß sie hier irgendwo in der Nähe sind.«

Er spielte eine Zeitlang mit Boss herum und erklärte uns dann, es gebe ernstzunehmende Probleme, Hunde auf das Aufspüren von Kakapos abzurichten, weil die Kakapos, auf die man sie abrichten könne, leider sehr knapp seien. Letztlich, sagte er, laufe es darauf hinaus, die Hunde darauf abzurichten, nichts anderes aufzuspüren. Das Abrichten sei ein langer, anstrengender und für den Hund äußerst frustrierender Ausmerzungsprozeß.

Mit einem letzten Klaps ließ er Boss wieder frei, der zurück in den Busch sprang, um weiter nach Spuren des einzigen Vogels zu schnüffeln und zu stöbern, auf dessen Nichtverfolgung er nicht abgerichtet worden war. Binnen weniger Sekunden war er verschwunden, und das gedämpfte Glockengebimmel verhallte in der Ferne.

Eine Zeitlang folgten wir einem Pfad, der es uns für den Moment erlaubte, mit Arab Schritt zu halten, während er uns einiges über andere Hunde erzählte, die er als Jagdhunde abgerichtet hatte, um die Insel von Räubern zu befreien. Einen der Hunde hatte er besonders ins Herz geschlossen, nämlich ihren Spitzenjagdhund, einen unbarmherzigen Killer. Sie hatten ihn vor ein paar Jahren bis nach Round Island in der Nähe von Mauritius mitgenommen, um ihn bei einem großangelegten Programm zur Beseitigung von Hasen einzusetzen. Wie sich kurz nach der Ankunft unglücklicherweise herausstellte, hatte der Hund panische Angst vor Hasen und mußte wieder nach Hause gebracht werden.

Arab meinte, er habe den Großteil seines bisherigen Lebens auf Inseln zugebracht, und das war kein Zufall: Wegen der Anfälligkeit der ökologischen Systeme von Inseln sind zahlreiche auf Inseln lebende Arten gefährdet, und Inseln dienen zudem häufig als letzter Zufluchtsort für Tiere vom Festland. Arab hatte viele der fünfundzwanzig Kakapos, die auf Stewart Island gelebt hatten, selbst eingefangen und in schalldichten Boxen im Hubschrauber hierher, nach Codfish Island, geflogen. Um den Vögeln die Wiederanpassung zu erleichtern, bemühte man sich grundsätzlich, sie in einem Gelände auszusetzen, das mit dem Fanggelände weitgehend vergleichbar war. Trotzdem war schwer zu sagen, wie viele der Vögel sich anpaßten oder wie viele hier überlebten.

Der Tag verstrich, und die Schatten wurden länger. Besonders aufregend war, daß wir einige Kakapo-Ködel fanden, die wir aufsammelten und zwischen den Fingern zerbröselten und ungefähr so beschnupperten wie ein Weinkenner das Bouquet eines lieblichen Chardonnay von der neuseeländischen North Island. Sie duften lieblich, sauber und nach Kräutern. Beinahe genauso aufregend fanden wir ein paar Farne, auf denen ein Kakapo herumgekaut hatte. Sie knapsen den Farn ab und ziehen ihn dann durch ihren kräftigen Schnabel, so daß am Ende nur ein ordentlicher Ball aus aufgewickelten Fasern zurückbleibt.

Bedeutend weniger aufregend war die Erkenntnis, daß dieser Tag mit Sicherheit ohne Kakapo zu Ende gehen würde. Als der Abend hereinbrach und es leicht zu regnen begann, kehrten wir um und machten uns auf den mühseligen Rückmarsch durch den Wald. Wir verbrachten den Abend in der Hütte, freundeten uns mit der Whiskyflasche an und protzten mit unseren Kameras.

Gegen Ende des Abends erwähnte Arab dann, er habe eigentlich gar nicht ernsthaft damit gerechnet, heute überhaupt einen Kakapo zu finden. Sie sind nachtaktive Vögel und deshalb tagsüber schwer aufzutreiben. Um irgendeine Aussicht auf Erfolg zu haben, müsse man sich auf die Suche machen, wenn gerade genug Tageslicht vorhanden sei, um das Vieh zu erkennen, die Spuren auf dem Boden jedoch noch frisch seien. Man müsse so gegen fünf oder sechs Uhr morgens aufbrechen und nach ihnen suchen. Ob uns das recht sei? Er stand auf und schleifte seinen Bart zu Bett.

Fünf Uhr morgens ist die schrecklichste aller Tageszeiten, besonders wenn der eigene Körper noch verzweifelt damit beschäftigt ist, sich aus seiner Verhedderung mit einer halben Flasche Whisky zu befreien. Wir schleppten uns kalt, mit steifem Hals und Ganzkörperschmerzen aus unseren Kojen. Das Maschinengewehrfeuer aus dem Hauptzimmer entpuppte sich als brutzelnder Schinken, und damit versuchten wir uns wiederzubeleben, während das graue Morgenlicht draußen abscheulich durch den Himmel zu sickern begann. Ich habe nie verstanden, weshalb die meisten Leute soviel Aufhebens um die Morgendämmerung machen. Ich habe ein paar erlebt, und die waren nie so schön wie die auf den Fotos, deren zusätzlicher Vorteil darin liegt, daß man sie sich ansehen kann, wenn man in der richtigen geistigen Verfassung ist, was in der Regel gegen Mittag der Fall sein wird.

Nach einigem Herumgefummel an den störrischen Stiefeln und Kameras stolperten wir schließlich gegen halb sieben aus der Tür und wankten wieder in den Wald. Mark begann sofort, mir irrsinnig seltene Vögel zu zeigen, und ich sagte ihm, er solle das gefälligst einer Parkuhr erzählen. Ein toller Auftakt für einen erbarmungslos ornithologisch ausgerichteten Tag. Gaynor bat mich, während unseres Marsches in den Wald die Umgebung zu beschreiben, und ich teilte ihr mit, wenn sie mir noch ein einziges Mal mit ihrem Mikrofon unter der Nase herumstochere, werde es höchstwahrscheinlich mit meinem Mageninhalt Bekanntschaft machen müssen. Ich fand mich kurz darauf allein wandernd wieder.

Nach einiger Zeit mußte ich mir eingestehen, daß der Wald so übel nicht war. Er war kalt, naß und rutschig und versuchte ständig, mir mit irgendwelchen widerlich verdrehten Wurzeln oder ähnlichem die Schienbeine aus dem Knie zu kurbeln, hatte aber trotzdem eine irgendwie funkelnde Klasse, die auch unter meinen finstersten Blicken nicht weichen wollte. Ron Tindal begleitete uns diesmal und bahnte sich gerade auf seine erschreckend robuste schottische Art einen Weg durch das Unterholz, aber sogar das verursachte mir nach einer Weile keine Kopfschmerzen mehr, da all dieses Glitzern mich langsam, aber auf sehr wohltuende Art zu verzaubern begann. Vor uns, nur flüchtig durch die nebligen Bäume aufblitzend, bewegte sich die blaukarierte Windjacke wie ein Gespenst und folgte dem eifrigen Klingeln von Boss' Glocke.

Nachdem wir uns lange Zeit vorangeschleppt hatten, schlossen wir zu Arab auf, der auf einem schmalen Pfad angehalten hatte und nun im durchweichten Gras hockte.

»Das ist ein ziemlich frischer Ködel«, sagte er und hielt uns eine dunkle, marmorierte Perle zur Untersuchung hin. »Das Weiße hier ist Harnsäure, und die ist noch nicht vom Regen abgewaschen oder von der Sonne getrocknet worden. Sie verschwindet nach ungefähr einem Tag, also stammt das hier hundertprozentig von letzter Nacht. Da wir gestern an genau dieser Stelle waren, müssen wir ihn haarscharf verpaßt haben.«

Na toll, dachte ich. Wir hätten also gestern abend etwas länger hier draußen und heute morgen wesentlich länger im Bett bleiben sollen. Da jetzt jedoch die frühe Morgensonne durch die Bäume zu schimmern begann und dort, wo sie auf den Blättern zierliche Perlenketten aus Tautropfen zum Glitzern brachte, jede Menge zerbrechliche Schönheit hervorzauberte, kam ich zu dem Schluß, daß unser morgendlicher Ausflug nicht nur schlechte Seiten hatte. Um mich herum war wirklich ein solches Glitzern und Glimmen und Gleißen und Glänzen, daß ich darüber nachzudenken begann, weshalb so viele Wörter, die das beschreiben, was die Sonne am Morgen bewirkt, mit »Gl« beginnen, und dies dann auch Mark wissen ließ, der mir sagte, ich solle das gefälligst einer Parkuhr erzählen.

Von diesem kleinen Wortwechsel aufgeheitert, gingen wir weiter. Wir waren noch keine fünf Meter weit gekommen, als Arab, der bereits fünfzehn zurückgelegt hatte, erneut anhielt. Er hockte sich noch einmal hin und deutete auf ein paar undeutliche Buddelspuren am Boden. »Das ist ganz frisch ausgehoben. Wahrscheinlich letzte Nacht. Hat nach der Orchideenknolle hier gebuddelt. Man kann sogar noch die Schnabelabdrücke erkennen.« Es wäre vielleicht der richtige Moment gewesen, hinsichtlich des Ausgangs unserer Expedition ein bißchen aufgeregt und optimistisch zu werden, aber als ich damit anfing, bekam ich sofort Kopfschmerzen und ließ es gleich wieder bleiben. Der blöde Vogel führte uns doch bloß an der Nase herum, und alles würde wieder darauf hinauslaufen, daß wir einen trübsinnigen Abend in der Hütte verbringen, unsere Objektive putzen und versuchen würden, das Ganze auf die leichte Schulter zu nehmen. Wenigstens wäre aber diesmal kein Whisky mehr da, weil wir ihn ausgetrunken hatten, also wären wir beim Verlassen von Codfish Island am nächsten Morgen nüchtern genug, um uns eingestehen zu können, daß wir zwölftausend Meilen weit geflogen waren, um einen Vogel zu treffen, der nicht zu dem Treffen erschienen war, und uns nichts anderes übrigblieb, als die zwölftausend Meilen zurückzufliegen und zu versuchen, irgendwas über ihn zu schreiben. Ich muß in meinem Leben schon Blödsinnigeres getan haben, weiß aber leider nicht, wann. Beim nächstenmal hielt Arab wegen einer Feder an. »Das ist eine ausgefallene Kakapo-Feder«, sagte er, während er sie sanft vom Rand eines Busches pflückte. »Der eher gelben Färbung nach zu urteilen, höchstwahrscheinlich aus der Brustgegend.« »Ganz schön flaumig, oder?« sagte Mark, nahm sie und zwirbelte sie im nebligen Sonnenlicht zwischen seinen Fingern. »Glaubst du, daß sie erst vor kurzem ausgefallen ist?« fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»O ja, die ist ganz bestimmt frisch«, sagte Arab. »Also waren wir bisher noch nie so nah...?« Arab zuckte die Achseln. »Ja, sieht so aus«, sagte er. »Muß aber nicht heißen, daß wir einen finden. Man kann praktisch auf einem draufstehen und ihn trotzdem übersehen. Alles deutet darauf hin, daß hier am frühen Abend ein Kakapo ziemlich aktiv war, kurz nachdem wir gegangen sind. Was bedeutet, daß wir ziemlich schlechte Karten haben, weil es heute nacht geregnet hat und die Fährten zum Teil verwaschen sind. Es gibt hier jede Menge Fährten, nur leider keine eindeutigen. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück.« Wir schleppten uns weiter. Mag sein, daß es jetzt kein Schleppen mehr war. Mag sein, daß unsere Schritte vorübergehend etwas schwungvoller waren, aber als eine halbe Stunde und dann eine Stunde verstrich und die Sonne allmählich höher in den Himmel kletterte, wurde Arab wieder einmal zu einem weit, weit vor uns durch die Bäume schwebenden Gespenst, bis wir ihn schließlich ganz aus den Augen verloren. Schlagartig wich der Schwung aus unseren Schritten. Wir stolperten weiter, geführt von den schwachen Geräuschen von Boss' Glocke, die uns noch immer von der leichten Brise zugeweht wurden, aber dann hörte auch das auf, und wir hatten uns verirrt.

Ron war uns, mit nach wie vor lärmender schottischer Begeisterung, ein Stück vorausgehüpft, geriet jetzt jedoch genau wie wir ins Schwimmen, was den richtigen Weg betraf. Wir kletterten über eine dicht mit Farnen und Baumstumpfen bedeckte Böschung, die zu einer breiten, flachen Senke hinunterführte, in der Ron stand und sich perplex umschaute. Beim Versuch, den matschigen, in die Senke führenden Abhang zu meistern, verlor Gaynor den Halt und rutschte elegant auf dem Hintern nach unten. Ich verfing mich mit meinem Kamerariemen in dem weit und breit einzigen Ast, der nicht bei der leichtesten Berührung abbrach. Mark blieb stehen, um mir beim Entheddern zu helfen. Ron, der wieder mit der Schottenhüpferei angefangen hatte, hoppelte den gegenüberliegenden Abhang hinauf und rief nach Arab.

»Können Sie ihn sehen?« rief Mark.

Mir kam plötzlich eine Idee. Wir hatten uns verirrt, weil Boss' Glocke zu klingen aufgehört hatte. Da Mark offenbar genauso urplötzlich dieselbe Idee gekommen war, platzten wir beide gleichzeitig los. »Haben sie einen Kakapo gefunden?«

Ein Ruf ertönte.

Gaynor drehte sich zu uns um und schrie: »Sie haben einen Kakapo!«

Urplötzlich fingen wir alle mit der Schottenhüpferei an.

Mit viel Geschrei und Hallo kletterten und schlitterten wir hektisch über den Boden der Senke, zerrten uns auf der anderen Seite nach oben und rutschten hinunter in die nächste Senke, an deren gegenüberliegender Seite, auf einer moosbewachsenen Böschung vor einem steilen Abhang, sich ein äußerst eigentümliches Gruppenbild bot.

Es dauerte einen Augenblick, bis ich herausgefunden hatte, womit die Szene Ähnlichkeit hatte, und als es mir klar wurde, blieb ich kurz stehen und näherte mich dann wesentlich behutsamer.

Es war wie ein Marienbildnis.

Arab saß im Schneidersitz auf der moosbewachsenen Böschung, und sein langer, nasser, graumelierter Bart floß ihm in den Schoß. Und in seine Arme gebettet lag, sanft in seinen Bart geschmiegt, ein großer, dicker, verdreckter, grüner Papagei. In stiller Bereitschaft stand Boss neben ihnen und betrachtete sie aufmerksam mit schiefgelegtem Kopf.

Angemessen schweigsam gingen wir zu ihnen hinauf. Aus Marks Kehle drangen leise Grunzlaute.

Der Vogel war sehr ruhig und sehr reglos. Er schien nicht beunruhigt zu sein, schien aber genausowenig zu wissen, was vor sich ging. Der Blick aus seinen großen, schwarzen, ausdruckslosen Augen verlor sich irgendwo in der Ferne. In seinem Schnabel hielt er, zart, aber bestimmt, Arabs rechten Zeigefinger, von dem Blut heruntertröpfelte, und das schien eine sehr beruhigende Wirkung auf den Vogel zu haben. Arab versuchte behutsam, ihn wegzuziehen, aber dem Kakapo gefiel der Finger, und Arab ließ ihn schließlich, wo er war. An Arabs Hand tröpfelte noch ein bißchen mehr Blut herab und vermischte sich mit dem Regenwasser, von dem sowieso schon alles durchtränkt war.

Mark murmelte zu meiner Rechten, welche Ehre es sei, von einem Kakapo gebissen zu werden, was ein für mich kaum nachzuvollziehender Standpunkt war, aber ich hielt den Mund.

Wir fragten Arab, wo er ihn gefunden habe.

»Der Hund hat ihn gefunden«, sagte er. »Ich vermute mal. so ungefähr zehn Meter diesen Hügel rauf, unter dem umgeknickten Baum da. Und als der Hund zu nah rankam, hat unser Freund das Weite gesucht und ist bis hierher runtergelaufen, wo ich ihn eingefangen habe. Er ist aber in guter Verfassung. An seiner schwammigen Brust kann man sehen, daß er dieses Jahr kurz vor dem Balzen steht. Das ist sehr erfreulich. Es bedeutet, daß er sich nach der Umsiedlung gut eingelebt hat.«

Der Kakapo rutschte ein Stück in Arabs Schoß herum und drückte sein Gesicht tiefer in den Bart. Arab strich ihm sehr sanft über die klammen, gesträubten Federn.

»Er ist ein bißchen nervös«, sagte er. »Wahrscheinlich wegen der Geräusche. So verdreckt sieht er nur aus, weil er naß ist. Er hat wohl an einem trockenen Plätzchen gesessen, als Boss ihn gewittert hat, und ist wahrscheinlich vom Geräusch der Glocke oder dem zu nah herankommenden Hund verscheucht worden und den Hügel runtergerannt und wollte nicht mal aufhören zu laufen, als ich ihn längst hatte. Er hält mich nur ein bißchen fest, mehr nicht. Wenn er den Druck erhöhen wollte...« Er zuckte die Achseln. Der Kakapo hatte unverkennbar einen sehr kraftvollen Schnabel. Es sah aus, als habe man ihm einen großen, mit Horn gepanzerten Dosenöffner ins Gesicht geschweißt.

»Er ist absolut nicht so entspannt wie viele andere Vögel«, murmelte Arab. »Eine Menge Vögel sind wirklich entspannt, wenn man sie in der Hand hält. Ich möchte ihn nur nicht zu lange festhalten, weil er naß ist und fürchterlich frieren wird, wenn das Wasser bis auf die Haut dringt. Ich lasse ihn jetzt besser wieder frei.«

Wir traten zurück. Vorsichtig beugte sich Arab mit dem Vogel vor, der seine großen, kräftigen Krallen ausstreckte und schon nach dem Boden scharrte, bevor er überhaupt unten war. Zuletzt ließ er Arabs Finger los, stabilisierte seine Lage auf dem Boden, senkte den Kopf und machte sich dann mit kleinen Schritten davon.


Überglücklich verputzten wir am Abend in der Wildhüterhütte die verbliebenen Biere und vertieften uns in die Aufzeichnungen über sämtliche Kakapos, die nach Codfish Island verlegt worden waren.

Arab hatte sich die am Bein des Vogels befestigte Kenn-Nummer notiert – 8-44263. Er hieß Ralph. Er war vor fast genau einem Jahr von Pegasus Harbour, Stewart Island, nach Codfish umgesiedelt worden.

»Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Ron. »Das sind wirklich sehr, sehr gute Neuigkeiten. Wenn dieser Kakapo schon ein Jahr nach seiner Umsiedlung wieder mit dem Schreien und Balzen beginnt, ist das der bisher deutlichste Hinweis darauf, daß unser Umsiedlungsprojekt funktioniert. Ihr wißt ja, daß wir euch nicht hierhaben wollten und daß wir wegen des Risikos, sie zu erschrecken, keine Kakapos aufspüren wollten, aber wie's aussieht... Also, das ist eine sehr wertvolle Information und wirklich sehr ermutigend.«

Ein paar Tage später stehen wir oben auf Kakapo-Castle im Fjordland und erzählen Don Merton, daß wir unser Verhalten für entschuldbar halten.

»O ja, das denke ich auch«, sagt er. »Mag sein, daß Sie ein bißchen angeeckt und ein paar Leuten auf die Füße getreten sind, aber dafür haben Sie ja auch wirklich etwas in Bewegung gebracht. Die Pressekonferenz hat viel bewirkt, und soweit ich gehört habe, steht die Entscheidung an, das Kakapo-Schutzprogramm ganz oben auf die Dringlichkeitsliste des DOC zu setzen, was wohl bedeutet, daß man uns mehr Mittel zur Verfügung stellen wird. Ich hoffe nur, daß das alles nicht zu spät kommt.

Unter den zur Zeit fünfundzwanzig Kakapos auf Codfish sind nur fünf Weibchen, und genau das ist der kritische Punkt. Wir wissen nur noch von einem auf Stewart Island verbliebenen Kakapo, und der ist ein Männchen. Wir suchen weiter nach Weibchen, bezweifeln aber, daß es noch welche gibt. Selbst wenn man die vierzehn Vögel von der Barrier Island berücksichtigt, sind insgesamt nur noch vierzig Kakapos übrig.

Und es ist so schwierig, diese Mistkerle zur Fortpflanzung zu bewegen. Früher haben sie sich so langsam vermehrt, weil es der einzige Weg war, den Bestand auf dem gleichen Niveau zu halten. Wenn ein Tierbestand so schnell zunimmt, daß die Ernährungs-und Versorgungskapazitäten des Lebensraumes überstiegen werden, stürzt der Bestand wieder in sich zusammen, nimmt dann wieder zu, wieder ab und so weiter. Wenn eine Population zu heftig schwankt, ist nicht mal eine besondere Katastrophe nötig, um die Art zu gefährden. Die eigentümlichen Paarungsgewohnheiten des Kakapo sind, wie so vieles andere, Überlebenstechniken.

Die aber nur funktioniert haben, weil es keine Konkurrenz von außen gab. Jetzt, wo sie von Räubern umgeben sind, kann man kaum etwas für ihr Überleben tun, abgesehen von unserem unmittelbaren Eingreifen. Solange wir noch eingreifen können.«

Das erinnert mich wieder an den Vergleich mit der Motorradindustrie, den ich taktvollerweise für mich behalten hatte. Motorradkonstrukteuren stehen Heilmittel zur Verfügung, die Zoologen nicht besitzen. Als ich Don während unseres vorsichtigen Rückzuges über den Kamm zum Hubschrauber frage, wie er die langfristigen Aussichten für die Kakapos nun wirklich einschätzt, ist seine Antwort überraschend sachlich.

»Na ja«, sagt er mit seinem ruhigen, höflichen Tonfall, »alles ist möglich, und wenn man die Gentechnologie bedenkt – wer weiß. Falls wir sie erhalten können, solange wir leben, ist es an der nächsten Generation, sich der Vögel mit den dann zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln, Techniken und wissenschaftlichen Methoden anzunehmen. Wir können nicht mehr tun, als ihren Fortbestand zu unseren Lebzeiten sichern, sie unserer Nachfolgegeneration in möglichst gutem Zustand übergeben und auf Teufel komm raus hoffen, daß sie so ähnlich über diese Vögel denkt wie wir.«

Ein paar Minuten später steigt unser Hubschrauber über Kakapo-Castle auf, senkt die Nase und macht sich, eine kleine gekratzte Vertiefung und eine einzelne, schon etwas ältere Süßkartoffel hinter sich zurücklassend, auf den Rückweg zum Milford-Sound.

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