Blinde Panik

Der Alltag schafft Voraussetzungen, von denen man unbewußt ausgeht, und deshalb ist es so verwirrend, wenn man in Australien zum erstenmal den Stöpsel aus einem Waschbecken herauszieht und das Wasser andersherum als gewohnt in den Abfluß kreiseln sieht. Die Gesetze der Physik führen einem vor Augen, wie weit man von zu Hause entfernt ist.

In Neuseeland sind sogar die Wählscheiben der Telefone entgegen dem Uhrzeigersinn numeriert. Das hat mit den Gesetzen der Physik nichts zu tun – man macht es dort einfach anders. Schockierend ist daran nur, daß es einem bislang nie in den Sinn gekommen ist, daß man es überhaupt anders machen könnte. Tatsächlich hat man darüber nicht mal nachgedacht, und plötzlich ist es einfach da – anders. Man verliert den Boden unter den Füßen.

In Neuseeland zu wählen erfordert ein gehöriges Maß an Konzentration, denn alle Ziffern befinden sich dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Wenn man es zügig versucht, wird man sich unweigerlich verwählen, weil unwillkürlich die Gewohnheit einsetzt und alles zunichte macht, bevor man sie unter Kontrolle bekommt. Die Telefoniergewohnheiten sitzen so tief, daß sie zu Voraussetzungen geworden sind, von denen man unbewußt ausgeht.

China liegt auf der Nordhalbkugel, also kreiselt das Wasser, wie bei uns, im Uhrzeigersinn aus dem Waschbecken.

Die chinesischen Wählscheiben sind numeriert wie unsere. Diese beiden Dinge sind einem vertraut. Nur sind sämtliche anderen Dinge anders, und die Voraussetzungen, von denen man unbewußt ausgeht, bescheren einem nichts weiter als Schwierigkeiten und Verwirrung.

Dank dem wenigen, was ich von den China-Erfahrungen anderer Leute wußte, ahnte ich dunkel, daß genau das der Fall sein würde. Ich saß in der Maschine auf dem langen Flug nach Peking, versuchte mir über meine Gewohnheiten klar zu werden, mir alles Vorhandene aus dem Kopf zu schlagen, und kam mir dabei ziemlich dämlich vor.

Ich fing an, mir einen ausgiebigen Rasierwasservorrat zuzulegen. Jedesmal, wenn der Duty-free-Rollwagen vorbeikam, kaufte ich eine Flasche. Derartiges hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nie getan. Meine normale, instinktive Reaktion war immer gewesen, bloß den Kopf zu schütteln und weiter in meiner Zeitschrift zu blättern. Diesmal meinte ich, es wäre Zen-gemäßer zu sagen: »Ja, ist gut. Was haben Sie denn so?« Ich war nicht der einzige, den ich damit völlig überraschte.

»Drehst du jetzt völlig durch?« fragte mich Mark, als ich die sechste Flasche in mein Handgepäck gleiten ließ.

»Ich versuche, die festverankerten Grundvoraussetzungen, auf denen mein rational konstruiertes Verhalten fußt, in Frage zu stellen und zu untergraben.«

»Soll das ›ja‹ heißen?«

»Das soll heißen, daß ich lediglich versuche, ein bißchen lockerer zu werden«, sagte ich. »Und da ein Flugzeug einem nicht gerade viel Raum für eigenmächtige und alternative Verhaltensformen bietet, mache ich das Beste aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.«

»Aha.«

Mark rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her und starrte angestrengt in sein Buch.

»Was willst du denn mit dem ganzen Zeug machen«, fragte er mich etwas später, während wir aßen.

»Weiß nicht«, sagte ich. »Könnte schwierig werden oder?« »Sag mal, bist du wegen irgendwas nervös?«

»Ja.«

»Wegen was?«

»China.«


Inmitten einer der größten, längsten, lautesten, dreckigsten Wasserstraßen der Welt lebt die Reinkarnation einer ertrunkenen Prinzessin oder, besser, leben zweihundert Reinkarnationen ertrunkener Prinzessinnen.

Ob es sich dabei tatsächlich um zweihundert verschiedene Reinkarnationen derselben Prinzessin oder um Reinkarnationen von zweihundert verschiedenen ertrunkenen Prinzessinnen handelt, ist der Legende nicht eindeutig zu entnehmen, und leider sind auch keine Statistiken, wie häufig Prinzessinnen ertrinken, erhältlich, die ein bißchen Licht in die Angelegenheit bringen könnten.

Falls sie alle dieselbe ertrunkene Prinzessin sind, muß diese ein ausgesucht sündhaftes Leben geführt haben, um sich die ständig wiederkehrende Bestrafung, unter den derzeitigen Umständen zu leben, verdient zu haben. Ihre Reinkarnationen werden regelmäßig von Schiffsschrauben zerstückelt, in Fischernetzen voller Haken verwickelt, geblendet, vergiftet und betäubt.

Die Wasserstraße, um die es hier geht, ist der Yangtse Fluß, und die wiedergeborene Prinzessin ist der Baiji, der Yangtse-Delphin.

»Wie stehen eigentlich unsere Chancen, einen Delphin zu finden?« fragte ich Mark.

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer«, sagte er. »Es ist sehr schwierig, aus China Informationen, egal, worüber zu bekommen, und was man bekommt, ist meistens verwirrend. Aber man findet die Delphine – oder auch nicht – nur in ein paar Abschnitten des Yangtse. Hauptsächlich in einem etwa zweihundert Kilometer langen Stück, das bei einer Stadt namens Tongling liegt, in der Provinz Anhui. Dort arbeiten Leute an der Rettung des Baiji, und dort liegt unser eigentliches Ziel. Nach Tongling kommen wir mit dem Boot, von Nanking aus, wo ein gewisser Professor Zhou lebt, ein Delphin-Experte. Nach Nanking kommen wir per Zug, von Shanghai aus. Nach Shanghai kommen wir mit dem Flugzeug, von Peking aus. Wir haben erst mal ein paar Tage in Peking, um uns zu akklimatisieren und herauszufinden, ob uns unsere Reisearrangements eigentlich etwas nützen. Wir müssen ein paar tausend Meilen zurücklegen, und Reisen gilt hierzulande als irrwitzig schwierige Sache.«

»Bleibt uns viel Spielraum, wenn irgendwas schiefgeht?« fragte ich. »Wann erwarten Professor Zhou und die anderen uns denn ungefähr?«

»Uns erwarten?« sagte Mark. »Was meinst du? Die haben noch nie von uns gehört. Man kann mit niemandem in China Kontakt aufnehmen. Wenn wir Glück haben, finden wir sie, und wenn wir noch etwas mehr Glück haben, sind sie sogar bereit, mit uns zu reden. Ich bin nicht mal ganz sicher, daß sie überhaupt existieren. Wir betreten echtes Neuland.«

Wir sahen beide aus dem Fenster. Dunkelheit senkte sich über die bevölkerungsreichste Nation auf Erden.

»Jetzt ist nur noch eine Flasche übrig, Sir«, raunte mir der Steward in diesem Augenblick zu. »Möchten Sie die noch haben, bevor wir den zollfreien Verkauf beenden? Damit hätten Sie dann die gesamte Kollektion.«


Es war schon ziemlich spät, als der klapprige Kleinbus uns abends vor unserem Hotel am Stadtrand von Peking absetzte. Zumindest glaube ich, daß es der Stadtrand war. Es gab keinen Anhaltspunkt, der die nähere Bestimmung der Umgebung erlaubt hätte. Die Straßen waren breit und von Bäumen gesäumt, aber schaurig still. Jedes motorisierte Fahrzeug verursachte ein einsames, ausgeprägtes Knurren, statt in einem allgemeinen Verkehrsbrummen unterzugehen. Da die Straßenlaternen aus nichts weiter als nackten Glühbirnen bestanden, hob das harte Licht jedes Blatt und jeden Ast heraus und warf klare Schatten an die Häuserwände. Vorbeifahrende Radfahrer bewegten sich inmitten ihrer vervielfachten, ineinander verwobenen Schatten über die Straße. Das Gefühl, in einem geometrischen Netz gefangen zu sein, wurde durch das Klacken von Billardkugeln verstärkt, die auf kleinen, unter den Laternen aufgebauten Tischen miteinander kollidierten.

Unser Hotel lag inmitten eines engen Gewirrs kleiner Seitenstraßen, und seine Fassade war gefährlich mit geschnitzten roten Drachen und vergoldeten Pagodenformen dekoriert, den wohl bekanntesten China-Klischees. Wir wuchteten unsere mit Kameraausrüstungen, Aufnahmezubehör, Klamotten und Rasierwasser gefüllten Koffer vor die langen, mit geschnitzten Eßstäbchen, Ginseng und Kräuter-Aphrodisiaka beladenen Glasvitrinen in der Hotelhalle und warteten darauf, uns anmelden zu dürfen.

Mir fiel etwas Komisches auf. Eines dieser winzig kleinen, verwirrenden Details, das einem, wie die Wählscheiben in Neuseeland, klarmacht, daß man sich in einem fernen und fremden Land befindet. Ich wußte, daß die Chinesen ihre Tischtennisschläger traditionell so halten wie wir unsere Zigaretten. Was ich nicht gewußt hatte, war, daß sie ihre Zigaretten so halten wie wir unsere Tischtennisschläger.

Unsere Zimmer waren klein. Ich saß auf der Kante meines Bettes, das für einen halb so großen Menschen wie mich bestens geeignet gewesen wäre, und baute meine konsternierende Rasierwasserflaschensammlung ordentlich neben zwei überladen verzierten rotgoldenen Thermosflaschen auf dem Nachttisch auf. Ich überlegte, wie ich sie loswerden sollte. Ich beschloß, das Problem zu überschlafen. Ich hoffte, das würde mir gelingen. Die Mitteilung, die ich im Gästebuch gelesen hatte, ließ Schlimmes ahnen. Da stand: »Um eine friedliche und gemütliche Atmospähre zu gewährleisten, haben Tanzen, Lärm, Streitereien, Handgreiflichkeiten oder exzessiver Alkoholgenuß und das Verursachen von Ruhestörungen in der Öffentlichkeit zu unterbleiben. Das Mitbringen von Haustieren und Geflügel in das Hotel ist nicht gestattet.«


Der nächste Morgen hielt ein neues Problem für mich parat. Ich wollte mir die Zähne putzen, war aber wegen der leckeren braunen Farbe des aus den Hähnen tropfenden Wassers etwas mißtrauisch. Ich untersuchte die großen, bombastischen Thermoskannen, fand aber darin nur heißes Wasser zum Teekochen. Ich goß etwas Wasser aus der Thermoskanne zum Abkühlen in ein Glas; dann zog ich los, um mich mit Mark und Chris Muir, unserem Tontechniker, zu einem späten Frühstück zu treffen.

Mark hatte schon versucht, mit Professor Zhou, dem Baiji-Experten, telefonisch Kontakt aufzunehmen, was sich als unmöglich herausstellte. Vor unserem Flug nach Shanghai hatten wir noch zwei Tage totzuschlagen; warum also nicht ein bißchen auf Tourismus machen?

Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, um mir endlich die Zähne zu putzen, stellte ich fest, daß das Zimmermädchen mein zum Auskühlen abgestelltes Glas abgewaschen und die Thermoskannen mit frisch gekochtem Wasser gefüllt hatte. Für mich war das ein ziemlicher Rückschlag. Obwohl ich eine Zeitlang versuchte, das Wasser abzukühlen, indem ich es von einem Glas ins andere goß, blieb es so heiß, daß mir die Zahnbürste im Mund verwelkte.

Mir wurde bewußt, daß ich mir eine raffiniertere Strategie zurechtlegen mußte, falls ich noch zum Zähneputzen kommen wollte. Ich füllte das Glas wieder auf, stellte es vorsichtig außer Sichtweite hinten in einen Wäscheschrank und versuchte dann eine der Rasierwasserflaschen loszuwerden, indem ich sie unter dem Bett versteckte.

Mit Sonnenbrillen und Kameras bewaffnet, zogen wir los und verbrachten den ganzen Tag damit, uns in Badaling, eine knappe Stunde von Peking entfernt, die Große Mauer anzusehen. Sie wirkte bemerkenswert frisch errichtet für ein derart altertümliches Monument, und an den Stellen, die wir uns ansahen, war sie das vermutlich auch.

Ich erinnerte mich an einen länger zurückliegenden Besuch in Japan, bei dem ich mir den Gold-Pavillon-Tempel in Kyoto angesehen hatte und einigermaßen überrascht gewesen war, wie unbeschadet er den langen Zeitraum seit seiner Erbauung im 14. Jahrhundert überstanden hatte. Soweit ich wußte, hatte er die Zeit ganz und gar nicht unbeschadet überstanden, sondern war in diesem Jahrhundert schon zweimal bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

»Also ist es nicht das ursprüngliche Gebäude?« hatte ich meinen japanischen Führer gefragt.

»Aber doch, natürlich ist es das«, sagte er nachdrücklich und ziemlich erstaunt über meine Frage.

»Aber es ist abgebrannt?«

»Ja.«

»Zweimal.«

»Öfter.«

»Und wiederaufgebaut worden?«

»Natürlich. Es ist ein historisch bedeutsames Gebäude.«

»Aus völlig neuen Materialien.«

»Aber natürlich. Es war ja abgebrannt.«

»Wie kann es dann dasselbe Gebäude sein?«

»Es ist immer dasselbe Gebäude.«

Ich mußte mir eingestehen, daß das wahrhaftig ein makellos rationaler Standpunkt war, wenn er auch von einer überraschenden Prämisse ausging. Der Geist eines Gebäudes, die dahinterstehende Absicht, seine Gestaltung, all das ist unveränderlich und wesentlich. Was bestehenbleibt, ist die Absicht der ursprünglichen Erbauer. Das Holz, aus dem die Form entsteht, vermodert und wird gegebenenfalls ersetzt. Den ursprünglichen Materialien, die nicht mehr sind als sentimentale Souvenirs aus der Vergangenheit, allzuviel Gewicht beizumessen hieße, das Wesentliche des Gebäudes nicht wahrzunehmen.

Ich konnte mich mit dieser Sichtweise nicht restlos anfreunden, weil sie in krassem Widerspruch zu meinen westlichen Grundvoraussetzungen stand, mußte den Standpunkt jedoch akzeptieren.

Ob dieses Prinzip auch dem Wiederaufbau der Großen Mauer zugrunde liegt, weiß ich nicht, weil ich niemanden auftreiben konnte, der die Frage verstand. Da der erneuerte Bereich allerdings von Touristen und Coca-Cola-Buden und Läden wimmelte, in denen man Mauer-T-Shirts und elektrische Pandabären kaufen konnte, gibt es vermutlich auch noch andere Gesichtspunkte.

Wir kehrten ins Hotel zurück. Das Zimmermädchen hatte mein verstecktes Wasserglas gefunden und ausgespült. Sie mußte gründlich danach gesucht haben, denn sie hatte auch die Rasierwasserflasche unter dem Bett gefunden und wieder ordentlich neben die anderen auf den Tisch gestellt.

»Warum benutzt du das Zeug nicht einfach?« fragte Mark. »Weil ich an allen gerochen hab und sie eklig finde.«

»Dann schenk sie doch irgendwelchen anderen Leuten zu Weihnachten.«

»Ich will sie aber nicht bis dahin rund um die Welt schleppen.« »Erklär mir doch bitte noch mal, warum du sie gekauft hast.« »Weiß ich nicht mehr. Laß uns zum Essen gehen.« Wir gingen in ein Restaurant namens »Crispy Fried Duck« und stießen anschließend, auf unserem Rückmarsch durch den Stadtkern, auf den sogenannten Tiananmen, den Platz des Himmlischen Friedens.


Ich sollte wohl erwähnen, daß das im Oktober 1988 war. Ich hatte, wie die meisten Menschen auf der Welt, noch nie vom Platz des Himmlischen Friedens gehört.

Der Platz ist riesig. Wenn man nachts darauf steht, kann man seine am Horizont verschwimmenden Grenzen kaum erahnen. Am einen Ende ist ein Durchgang zur Verbotenen Stadt, das Tiananmen-Tor, von dem aus das erhabene Antlitz des Großen Vorsitzenden Mao über die Weite des Platzes blickt, bis hin zu dessen entferntestem Punkt, wo das Mausoleum steht, in dem sein Körper zur letzten Ruhe gebettet ist.

Auf dem Platz, unter Maos Blick, herrschte Festtagsstimmung. Große, kunstvoll zu Cartoon-Tieren zurechtgestutzte Büsche waren auf den Platz geschafft worden, um die Olympischen Spiele zu feiern.

Der Platz war nicht voll oder überlaufen – man brauchte mehrere zehn- oder gar hunderttausend Menschen, um das zu bewerkstelligen –, aber er war belebt. Familien mit Kindern (oder häufiger: mit einem Kind) waren unterwegs. Sie gingen herum, plauderten mit Freunden, flanierten so unbeschwert und frei durch die Gegend, als seien sie in ihrem eigenen Garten, und ließen ihre Kinder davonlaufen und mit anderen spielen, allem Anschein nach, ohne sich deswegen Gedanken zu machen. Etwas Vergleichbares ist auf den berühmten europäischen Plätzen kaum vorstellbar und in Amerika vollkommen undenkbar.

Ich wüßte wirklich nicht, daß ich mich in der Öffentlichkeit jemals so ungezwungen und entspannt gefühlt hätte, besonders abends nicht. Das allgegenwärtige Grundrauschen einer argwöhnischen Paranoia – die unwillkürliche Begleiterscheinung, sobald man in westlichen Städten eine Straße betritt – machte sich plötzlich bemerkbar, indem es verstummte. Es war eine äußerst wundersame Stille.

Trotzdem muß ich zugeben, daß dies wahrscheinlich das einzige Mal war, daß wir uns in China so ungezwungen fühlten – beziehungsweise überhaupt ungezwungen. Während der meisten Zeit fanden wir China vertrackt, ärgerlich und weitgehend undurchschaubar; nur dieser eine Abend auf dem Platz des Himmlischen Friedens war ungezwungen. Um so größer war unsere Bestürzung, als dieser Platz einige Monate später jene brutale Verwandlung erfuhr, die im öffentlichen Bewußtsein allen Schauplätzen von Katastrophen widerfährt: Sie werden zu zeitlichen Bezugspunkten, statt wirkliche Orte zu bleiben. Es war »Vor dem Platz des Himmlischen Friedens«, als wir dort waren. Es war »Nach dem Platz des Himmlischen Friedens«, als ihn die Panzer überrollt hatten.


Früh am nächsten Morgen, als die Luft noch feucht und neblig war, kehrten wir auf den Platz zurück und stellten uns in den Schlangen an, die sich tagtäglich um den Platz herum bilden, um in das Mausoleum zu spazieren und am Körper des in einer Plexiglaskiste ruhenden, toten Vorsitzenden Mao vorbeizudefilieren.

Die Länge der Schlange überstieg jedes Vorstellungsvermögen. Sie schlängelte sich im Zickzack hin und her über den Platz und rückte Glied um Glied, Reihe um Reihe mit jeder Windung bedrohlich aus dem Nebel näher, um wieder in ihm zu verschwinden. Zu dritt oder zu viert standen die Menschen nebeneinander aufgereiht, schlurften munter vorwärts über den Platz, wendeten und schlurften munter wieder zurück, wieder und wieder, dabei immer den Befehlen von Beamten folgend, die in Schlaghosen und gelben Anoraks auf und ab marschierten und durch Megaphone bellten. Die ungezwungene Atmosphäre des Vorabends hatte sich im Morgennebel verflüchtigt, und der Platz war zu einem gigantischen Rangierbahnhof degradiert worden.

Nach einigem Zögern stellten wir uns an, mehr oder weniger in der Erwartung, den halben Tag dort zubringen zu müssen, aber die Menschen bewegten sich in gleichmäßigem Tempo an den bellenden Rangiermeistern vorbei, und wir spürten sogar, daß wir beschleunigten, als wir uns der Spitze näherten. Knapp drei Stunden, nachdem wir uns an den Schlangenschwanz gestellt hatten, wurden wir in das mit einem roten Läufer ausgelegte Allerheiligste gehetzt und liefen so respektvoll wie möglich an dem winzigen, pausbackigen , wächsernen Körper vorbei.

Die während ihrer Verfütterung an das Mausoleum so streng und unnachgiebig kontrollierte Schlange löste sich nach dem Ausgang auf der anderen Seite vor den Souvenirshops in ihre Bestandteile auf. Aus der Luft gesehen, mußte das Gebäude große Ähnlichkeit mit einem gigantischen Fleischwolf haben.

Der gesamte Platz und die angrenzenden Straßen waren mit unzähligen Lautsprechern für öffentliche Ansprachen bestückt, aus denen ganztätig Musik quoll. Was während der meisten Zeit gespielt wurde, war schwer auszumachen, weil das ganze System ziemlich im Eimer war und der Klang völlig undechiffrierbar um uns herumhämmerte und -plärrte und -hallte, aber als wir ein paar Minuten später auf das Tiananmen-Tor kletterten, hörten wir wesentlich besser, womit wir beschallt wurden.

Das Tiananmen-Tor ist ein hohes Gebilde mit flacher Front, Torbögen am Boden, durch die man in die Verbotene Stadt gelangt, und einem großen Balkon obendrauf, hinter dem sich eine Reihe von Sitzungssälen befindet.

Das Tor wurde während der Ming-Dynastie gebaut und von den Kaisern zu öffentlichen Auftritten und Bekanntmachungen genutzt. Wie der Platz des Himmlischen Friedens war auch das Tor schon immer ein Brennpunkt in Chinas politischer Geschichte. Wenn man auf den Balkon klettert, kann man an genau der Stelle stehen, von der aus der große Vorsitzende Mao am 1.Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China proklamiert hat. Um die deutlich markierte Stelle herum ist eine Ausstellung mit Fotos von dem Ereignis gruppiert.

Von dort oben hat man einen außerordentlich guten Blick auf die ungeheure Ausdehnung des Platzes. Es ist, als sehe man von einem Berghang über eine Ebene. In politischen Kategorien gedacht, ist der Ausblick sogar noch erstaunlicher, weil er eine Nation umfaßt, die beinahe ein Viertel der Bevölkerung unseres Planeten ausmacht. Die gesamte chinesische Geschichte ist hier sinnbildlich gebündelt, an genau dieser Stelle, und es fällt schwer, dort oben zu stehen und von dieser Macht nicht gelähmt zu sein. Es fällt ebenso schwer, von der Vision des Bauern aus Shao-Shan nicht zutiefst ergriffen zu sein, der diese Macht im Namen des Volkes ergriff und von seinem Volk noch immer, trotz der Greueltaten der Kulturrevolution, als Vater der Nation verehrt wird.

Und als wir an diesem Punkt standen; dem Punkt, an dem Mao stand, als er die Gründung der Volksrepublik China proklamierte, dröhnte aus den öffentlichen Lautsprechern rund um den Platz zuerst »Viva Espana« und dann die Erkennungsmelodie von »Hawaii Fünf Null«.

Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß irgend jemand irgendwo nicht begriffen hatte, worauf es ankam. Ich war nicht mal sicher, daß nicht ich derjenige war.

Am nächsten Tag flogen wir nach Shanghai und fingen an, über die Delphine nachzudenken, auf die wir langsam durch China zukrochen. Um über sie nachzudenken, gingen wir in die Bar des »Peace Hotel«. Es erwies sich als ein zum Denken völlig ungeeigneter Ort, weil man vor lauter Lärm seine eigenen Gedanken nicht verstand, aber wir hatten uns das Hotel sowieso ansehen wollen.

Es ist ein imposantes Überbleibsel aus jener Zeit, als Shanghai noch eine der glanzvollsten und kosmopolitischsten Hafenstädte der Welt war. In den dreißiger Jahren war das Hotel unter dem Namen »Cathay« jedem ein Begriff und der prachtvollste Treffpunkt in der ganzen Stadt gewesen. Hierher kamen die Leute, um sich einander in strahlendem Glanz zu präsentieren. In einer der Suiten schrieb Noël Coward einen Entwurf von »Private Lives«.

Heute blättert die Farbe ab, ist die Halle dunkel und zugig, sind die Plakate, die für die »World Famous Peace Hotel Jazz Band« werben, mit Filzstiften geschrieben und mit Klebeband an den Wandtäfelungen befestigt, aber der Geist der vergangenen »Cathay«-Pracht lauert noch immer zwischen den Kronleuchtern und fragt sich, was in den letzten vierzig Jahren bloß passiert ist.

Die Bar war ein dunkler, niedriger Raum unmittelbar hinter der Eingangshalle. Die »World Famous Peace Hotel Jazz Band« hatte an diesem Abend frei, aber dafür spielte eine Stellvertreterband. Man behauptet, dies sei einer der letzten Orte auf Erden, wo die Musik der Dreißiger noch immer so gespielt würde wie früher. Mag sein, daß die World-Famous-Kapelle dieses Versprechen hält, aber ihre Stellvertreter tun es nicht. Sie hämmerten sich durch endlose Wiederholungen von »Edelweiß«, »Greensleeves« und »Auld Lang Syne«, in die sie gelegentliche Versuche einstreuten, »New York, New York«, »Chicago«, und »I Left My Heart in San Francisco« zu spielen.

Daran waren zwei Dinge eigenartig. Erstens taten sie das nicht nur wegen der Touristen. Dies war die Musik, die wir überall in China hörten, vor allem die ersten drei Titel: im Rundfunk, in Läden, in Taxis, in Zügen, auf den großen Fähren, die ununterbrochen den Yangtse rauf- und runterdampfen. Der Interpret war gewöhnlich Richard Clayderman. Falls sich irgend jemand mal gefragt hat, wer in aller Welt Richard-Clayderman-Platten kauft: Es sind die Chinesen, und von denen gibt es eine Milliarde.

Zweitens war eigenartig, daß die Musik ihnen sichtlich vollkommen fremd war. Na schön, es war ja auch unbestreitbar fremde Musik, aber es wirkte, als spielten sie sie aus einem Sprachführer ab. Jeder vom Trompeter aus dem Stegreif improvisierte Schnörkel, jeder zusätzliche Trommelschlag war durch die Bank ebenso hörbar wie schmerzhaft falsch. Genauso müssen sich die Inder gefühlt haben, als George Harrison in den Sechzigern mit dem Sitarspielen anfing, bevor es dann, nach kurzem Schwelgen, auch allen Nicht-Indern so ging; unbeholfene Wiedergaben indischer Musik haben die im Westen beliebte Musik nie ausstechen können. Wenn die Chinesen den entstellten Versionen von »Auld Lang Syne« und »Little Brown Jug« hingebungsvoll lauschten, hörten sie unbestreitbar etwas ganz anderes als ich, aber ich bekam nicht heraus, was es war.

Während des Reisens in China entdeckte ich mit der Zeit, daß es die Geräusche waren, die mich am meisten irritierten und durcheinanderbrachten.

Als wir in einer der gedämpfteren Ecken der Bar nach einem Tisch suchten, kam mir der Gedanke, daß die Delphine, nach denen wir suchen wollten, mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben mußten. Ihre Sinne müssen restlos überfordert und durcheinander sein.

Es fängt schon damit an, daß der Baiji-Delphin halb blind ist.

Und zwar deswegen, weil es im Yangtse nichts zu sehen gibt.

Das Wasser ist mittlerweile so trüb, daß die Sichtweite lediglich ein paar Zentimeter beträgt, und infolgedessen sind die Augen des Baiji durch Nichtgebrauch verkümmert.

Merkwürdigerweise lassen sich häufig Schlüsse auf gewisse, während der Evolution eines Tieres aufgetretene Veränderungen aus der Entwicklung seines Fötus ziehen. Es ist wie eine Zeitlupenwiederholung.

Die Augen des Baiji liegen, schwach, wie sie sind, ziemlich weit oben auf seinem Kopf, um das Beste aus dem bißchen Licht zu machen, das sie überhaupt erreicht, das heißt aus dem von oben.

Die Augen der meisten anderen Delphine liegen tiefer, an den Seiten des Kopfes, von wo aus sie alles wahrnehmen können, was um sie herum und unter ihnen vorgeht; und an genau diesen Stellen befinden sich auch die Augen des Baiji-Fötus.

In der Wachstumsphase des Fötus wandern die Augen dann jedoch allmählich an den Seiten des Kopfes nach oben, und die Muskeln, die normalerweise für die Abwärtsbewegung des Augapfels zuständig sind, geben sich nicht die Mühe, sich zu entwickeln. Unten gibt es nichts zu sehen.

Es könnte daher durchaus möglich sein, die vollständige Geschichte der Erderosion in den Yangtse durch die Augenwanderung eines Baiji-Fötus graphisch wiederzugeben. (Es könnte ebensogut möglich sein, daß der Baiji einen bereits schlammigen Yangtse vorgefunden und sich lediglich seiner neuen Umgebung angepaßt hat; wir wissen es nicht. In jedem Fall ist der Yangtse aber während der Geschichte der Baiji-Art wesentlich trüber geworden, und zwar vor allem durch menschliches Zutun.)

Um sich zurechtzufinden, muß der Baiji folglich einen anderen Sinn benutzen. Er verläßt sich auf Töne. Er hat ein ungeheuer feines Gehör und »sieht« durch Echopeilung, was bedeutet, daß er Folgen kurzer Schnalzer aussendet und auf das Echo achtet. Außerdem kommuniziert er mit anderen Baijis, indem er Pfeifgeräusche ausstößt.

Seit der Mensch den Motor erfunden hat, muß sich die Flußwelt des Baiji zu einem absoluten Alptraum entwickelt haben.

Die chinesische Infrastruktur ist eher bescheiden. Es gibt Bahnlinien, aber da diese nirgendwo hinführen, ist der Yangtse (der in China »Chang Jiang« – »Langer Fluß« – heißt) die Hauptverkehrsader des Landes. Er ist und war schon immer vollgestopft mit Schiffen – nur daß es früher Segelboote waren. Heute wird der Fluß ununterbrochen von den Motoren rostiger alter Dampfboote, Frachtschiffe, riesiger Fähren, Passagierdampfer und Barkassen aufgewühlt.

»Im Wasser muß es ununterbrochen zugehen wie im Irrenhaus«, sagte ich zu Mark.

»Was?«

»Ich habe gesagt, daß es zwar schon hier bei diesem Krach von der Band schwierig ist, sich zu unterhalten, aber im Wasser ununterbrochen wie im Irrenhaus zugehen muß.«

»Hast du deswegen die ganze Zeit dagesessen und nachgedacht?«

»Ja.«

»Hab mich schon gefragt, warum du so still bist.«

»Ich hab mir vorzustellen versucht, wie man sich als Blinder fühlen würde, der versucht, in einer Disco zu wohnen.

Beziehungsweise in mehreren konkurrierenden Discos.«

»Es ist sogar noch schlimmer«, sagte Mark. »Die Delphine brauchen Töne, um sich zu orientieren.«

»Na gut, dann ist es also wie bei einem Tauben, der in einer Disco wohnt.«

»Wieso?«

»All diese Stroboskoplampen und Lichtorgeln und Spiegel und Laser und so weiter. Ununterbrochen verwirrende Informationen. Nach ein, zwei Tagen würde man restlos konfus und desorientiert anfangen, über die Möbel zu stolpern.«

»Stimmt, und genau das passiert ja auch tatsächlich. Die Delphine werden dauernd von Booten gerammt oder geraden in deren Schrauben oder verheddern sich in Fischernetzen. Normalerweise findet der Delphin mit Hilfe seiner Echopeilung sogar einen kleinen Ring auf dem Meeresboden, also muß die Lage schon ziemlich ernst sein, wenn er nicht mal mehr merkt, daß er kurz davor steht, ein Boot über den Schädel gezogen zu kriegen.

Und dann sind da natürlich auch noch die Abwässer, die Chemie- und Industrieabfälle und die Kunstdünger, die in den Fluß geleitet werden und das Wasser genauso vergiften wie den Fisch.«

»Also«, sagte ich, »was tut man, wenn man entweder halb blind oder halb taub ist, in einer Disco mit Stroboskop-Light-Show lebt, in der die Abwasserrohre überquellen, einem ständig die Decke und die Ventilatoren auf den Kopf fallen und das Essen schlecht ist?«

»Ich glaube, ich würde mich bei der Geschäftsleitung beschweren.«

»Das können sie nicht.«

»Nein. Sie müssen warten, bis die Geschäftsleitung es selbst merkt.«


Etwas später schlug ich, sozusagen als Vertreter der Geschäftsleitung, vor, wir sollten versuchen, uns anzuhören, wie der Yangtse wirklich unter der Wasseroberfläche klang – ihn also aufnehmen. Da uns das erst jetzt einfiel, hatten wir unglücklicherweise kein Unterwasser-Mikrofon dabei.

»Tja, eins könnten wir machen«, sagte Chris. »Es gibt eine BBC-Standardmethode, Mikros im Notfall wasserdicht zu machen. Man nimmt das Mikrofon und stopft es in ein Kondom. Hat einer von euch beiden Kondome dabei?«

»Äh, nein.«

»Und in euren Kulturbeuteln lungern auch keine rum?« »Nein.«

»Tja, dann sollten wir wohl besser einkaufen gehen.«


Von diesem Zeitpunkt an begann ich in Klangbildern zu denken. In China gibt es zwei unverwechselbare Klänge, drei, wenn man Richard Clayderman mitzählt.

Der erste ist Spucken. Alle spucken. Wo man sich auch aufhält, hört man unentwegt diesen Klang: das langgezogene, saugende Räuspergeräusch, das beim Ansaugen von Schleim in den Mund entsteht, gefolgt vom zischenden Abschußgeräusch der losfliegenden Ladung und, wenn man Glück hat, dem klingenden »Fing« beim Einschlag in einem Spucknapf, von denen es Unmengen gibt. In jedem Zimmer steht mindestens einer. In der Hotelhalle zählte ich ein Dutzend, strategisch günstig in Ecken und Nischen verteilt. Auf den Straßen von Shanghai ist an jeder Ecke ein Spucknapf ins Pflaster eingelassen, der bis oben hin mit Zigarettenstummeln, Abfall und dickem, knotigem, blasigem Schleim gefüllt ist. Man entdeckt auch eine Menge Schilder mit der Aufschrift »Spucken verboten«, aber da sie bevorzugt auf englisch und nicht auf chinesisch beschriftet sind, vermute ich stark, daß sie bloß kosmetischen Wert haben. Ich mußte mir sagen lassen, das Spucken auf der Straße gelte mittlerweile eigentlich als Vergehen, das mit einer Geldstrafe geahndet wird. Sollten diese Bußgelder jemals eingefordert werden, würde die gesamte chinesische Wirtschaft vermutlich zusammenbrechen.

Der andere Klang ist der einer chinesischen Fahrradklingel. Es gibt nur einen Klingeltyp, und der wird von der Seagull-Company hergestellt, die auch chinesische Kameras baut. Die Kameras sind wohl nicht die besten der Welt, aber die Klingeln könnten es durchaus sein, da sie zum intensiven Gebrauch gefertigt sind. Es sind große, solide, rasselnde Chromtrommeln mit einem lang nachhallenden Klingeln, das man unentwegt durch die Straßen tönen hört.

In China fährt jeder Rad. Da private Autos so gut wie unbekannt sind, besteht der Verkehr in Shanghai aus Straßenbahnen, Taxis, Lieferwagen, Lastern und Flutwellen von Fahrradfahrern.

Wenn man zum erstenmal als Beobachter an einer größeren Kreuzung steht, ist man überzeugt, gleich ein größeres Blutbad mitzuerleben. Aus allen Richtungen strömen Fahrradmassen auf die Kreuzung. Laster und Straßenbahnen kacheln bereits darauf herum. Fahrradglocken bimmeln, es wird gehupt wie verrückt, und niemand macht irgendwelche Anstalten anzuhalten. Kurz vor dem unvermeidlichen Zusammenprall schließt man die Augen und wartet auf das grauenhafte Kreischen von zerreißendem Metall, das aber seltsamerweise ausbleibt. Man glaubt es kaum. Ein paar Dutzend Fahrräder und Laster sind geradeaus durcheinandergefahren, als seien sie nichts weiter als Lichtstrahlen.

Beim nächstenmal läßt man die Augen geöffnet und versucht zu begreifen, wie der Trick funktioniert; aber auch bei genauestem Hinsehen kann man die tanzenden, wiegenden Figuren nicht entwirren, mit denen sich die Fahrräder scheinbar körperlos und unter ständigem Klingeln aneinander vorbeibewegen.

In der westlichen Welt ist das Klingeln oder Hupen gewöhnlich ein Ausdruck von Aggressivität. Es beinhaltet eine Warnung oder eine Anweisung: »Mach Platz«, »Komm in die Socken« oder »Wie blöd bist du eigentlich, Schwachkopf?«. Wenn man auf einer New Yorker Straße ein Hupkonzert hört, weiß man, daß die Leute in einer gefährlichen Stimmung sind.

In China bedeutet das Geräusch, wie man mit der Zeit feststellt, etwas vollkommen anderes. Es bedeutet nicht: »Mach Platz, Arschloch«, sondern bloß ein fröhliches »Jetzt komm ich«. Oder vielmehr: »Jetzt komm ich jetzt komm ich jetzt komm ich jetzt komm ich jetzt komm ich .. .«, weil es niemals endet.

Während wir uns auf der Suche nach Kondomen durch die überlaufenen, lauten Straßen von Shanghai schlängelten, kam mir der Gedanke, daß vielleicht auch die chinesischen Radfahrer mit Hilfe einer Art Echopeilung navigieren. »Was denkst du?« fragte ich Mark. »Ich denke, daß du ein paar ganz schön seltsame Ideen hast, seit wir in China angekommen sind.«

»Ja, aber wenn man sich in einem Rudel Radfahrer durch die Gegend schlängelt und alles wie wild klingelt, führt das doch wahrscheinlich zu einer deutlichen räumlichen Vorstellung davon, wo sich alle anderen Radler befinden. Ist dir aufgefallen, daß keiner Licht an seinem Fahrrad hat?« »Ja...«

»Ich habe irgendwo gelesen, daß der Schriftsteller James Fenton mal versucht hat, in China nachts mit einem Fahrrad mit Lampe zu fahren, und von der Polizei angehalten und aufgefordert wurde, sie abzubauen. Sie sagten: ›Wo kämen wir denn hin, wenn alle mit Lampen an ihren Fahrrädern herumfahren würden?‹ Also müssen sie sich wohl auf ihr Gehör verlassen. Außerdem finde ich die innere Ruhe der Radfahrer bemerkenswert.« »Was?«

»Na, ich weiß nicht, wie man das sonst nennen soll. Diese bemerkenswerte, unbeschwerte Gleichgültigkeit, mit der ein Radfahrer schnurstracks in den Weg eines sich nähernden Busses fährt. Sie kommen gerade so um eine Kollision herum, die, wenn wir mal ehrlich sind, den Bus nicht besonders kratzen würde. Aber obwohl sie sich nur um knapp neun Millimeter verfehlen, scheint der Radfahrer das nicht mal mitzukriegen.«

»Was soll er denn da mitkriegen? Der Bus hat ihn doch verfehlt.«

»Aber nur haarscharf.«

»Aber er hat ihn verfehlt. Das ist der entscheidende Punkt.

Wenn du mich fragst, beunruhigen uns solche Beinahezusammenstöße nur, weil sie eine Verletzung unserer Freiräume darstellen. Die Chinesen machen sich nicht viel aus privaten oder persönlichen Freiräumen. Wahrscheinlich halten sie uns in dieser Hinsicht für völlig neurotisch.«


Der »Friendship Store« erschien uns, was den Kondomkauf anging, recht vielversprechend, nur hatten wir mit gewissen Schwierigkeiten zu kämpfen, unsere Kaufabsicht zu verdeutlichen. Von Ladentisch zu Ladentisch zogen wir durch das weitläufige Mammut-Kaufhaus, das aus vielen einzelnen Kabinen, Verkaufsständen und Ladentischen besteht, aber niemand konnte uns weiterhelfen.

Wir begannen an den Ständen, die aussahen, als ob sie medizinische Artikel verkauften, hatten aber kein Glück. Als wir die Stände erreicht hatten, deren Angebot sich aus Buchstützen und Eßstäbchen zusammensetzte, wußten wir, daß wir eine Niete gezogen hatten, aber schließlich fanden wir doch noch eine junge Verkäuferin, die englisch sprach.

Wir versuchten ihr zu erklären, was wir wollten, schienen allerdings ziemlich schnell an die Grenzen ihres Vokabulars zu stoßen. Ich holte mein Notizbuch heraus und zeichnete sehr sorgfältig ein Kondom auf, einschließlich des kleinen Zusatzballons am Ende. Sie betrachtete es stirnrunzelnd, begriff aber noch immer nicht. Sie brachte uns einen Holzlöffel, eine Kerze, eine Art Flaschenöffner und überraschenderweise ein kleines Porzellanmodell des Eiffelturms, bevor sie sich schließlich geschlagen gab.

Ein paar andere Mädchen vom Stand versammelten sich hilfsbereit um uns, mußten vor unserer Zeichnung aber ebenfalls die Waffen strecken. Schließlich nahm ich all meinen nichtvorhandenen Mut und gab eine mimische Darstellung der damit verbundenen Aktivität, und endlich fiel der Groschen.

»Ah!« sagte das erste Mädchen und grinste übers ganze Gesicht. »Ah ja!« Sie strahlten uns alle vergnügt an, als sie endlich begriffen.

»Haben Sie es verstanden?« fragte ich.

»Ja! Ja, ich verstehe.«

»Haben Sie welche da?«

»Nein«, sagte sie. »Haben nicht.«

»Oh.«

»Aber, aber, aber...«

»Ja?«

»Ich dir sagen, wohin du gehen, okay?«

»Haben Sie vielen Dank. Danke sehr.«

»Du gehen Nanking Road 616. Okay. Da haben. Du fragen nach ›Übergummi‹. Okay?«

»Übergummi?«

»Übergummi. Du fragen. Sie haben. Okay. Du schönen Tag.«

Dabei giggelte sie fröhlich hinter vorgehaltener Hand.

Wir dankten ihnen noch einmal überschwenglich und machten uns unter viel Gewinke und Gelächle auf den Weg. Die Nachricht schien sich in Windeseile verbreitet zu haben, und alle winkten uns zu. Sie waren offenbar ganz fürchterlich erfreut, daß wir sie gefragt hatten.

Als wir in der Nanking Road 616 ankamen – ein weiteres kleineres Kaufhaus und kein Bordell, wie wir fast befürchtet hatten –, ließ uns unsere Aussprache von »Übergummi« zunächst im Stich und sorgte für eine neuerliche Welle verdatterten Nichtbegreifens.

Diesmal ging ich direkt zu meiner mimischen Darstellung über, die uns vorher soviel genützt hatte, und scheinbar erfüllte sie auch hier ihren Zweck. Die Verkäuferin, eine nicht mehr ganz junge Dame mit strenger Frisur, marschierte schnurstracks auf einen Schubladenschrank zu, brachte von dort ein Päckchen mit und legte es triumphierend vor uns auf die Ladentheke.

Geschafft, dachten wir, öffneten das Päckchen und stellten fest, daß es einen albernen Plastikstreifen mit Pillen enthielt.

»Richtige Idee«, sagte Mark mit einem Seufzer. »Falsche Methode.«

Wir gerieten schnell wieder ins Schwimmen, als wir der jetzt leicht gekränkten Dame zu erklären versuchten, daß das nicht genau das sei, was wir suchten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine Menge von ungefähr fünfzehn Schaulustigen um uns versammelt, von denen uns einige meiner Überzeugung nach den ganzen Weg vom »Friendship Store« aus gefolgt waren.

Was man in China sehr schnell herausfindet, ist, daß wir alle irgendwie im Zoo sind. Wenn man sich auch nur eine Minute lang nicht bewegt, versammeln sich die Leute um einen herum und starren einen an. Das Entnervende daran ist, daß sie nicht gespannt oder wißbegierig starren, sondern bloß, oft genau vor einem, dastehen und einen so ausdruckslos ansehen wie einen Werbespot für Hundefutter.

Schließlich schob sich ein junger, käsiger Mann mit Brille durch die Menge und sagte, er spreche ein bißchen englisch und ob er helfen könne.

Wir bedankten uns und sagten ja, wir wollten Kondome kaufen, Übergummis, und wären ihm sehr dankbar, wenn er das für uns erklären könne.

Er warf uns einen verwirrten Blick zu, nahm das von uns abgelehnte Päckchen vom Tisch vor der gekränkten Verkäuferin und sagte: »Nicht wollen Übergummi. Das besser.«

»Nein«, sagte Mark. »Wir wollen unbedingt Übergummi, keine Pillen.«

»Warum wollen Übergummi? Pillen besser.«

»Sag du's ihm«, sagte Mark.

»Um Delphine aufzunehmen«, sagte ich. »Also, eigentlich nicht die Delphine selbst. Was wir vorhaben, ist, die Geräusche im Yangtse aufzunehmen, im ... Sehen Sie, wir brauchen eins, um es über das Mikrofon zu ziehen und...«

»Ach, erzähl ihm doch einfach, daß du jemanden flachlegen willst«, murmelte Chris auf schottisch. »Und daß du's nicht mehr aushältst.«

Aber inzwischen wich der junge Mann schon nervös vor uns zurück, plötzlich begreifend, daß wir gemeingefährliche Irre waren, denen man am besten jeden Gefallen tat und dann aus dem Weg ging. Er raunte der Verkäuferin etwas zu und zog sich eilig in die Menge zurück.

Die Verkäuferin zuckte die Achseln, sackte die Pillen wieder ein, öffnete eine andere Schublade und zog eine Schachtel mit Kondomen heraus.

Wir kauften neun, nur um sicherzugehen.

»Die haben auch Rasierwasser«, sagte Mark, »Falls es dir ausgeht.«


Nachdem es mir bereits gelungen war, eine der Rasierwasserflaschen im Hotel in Peking wegzuwerfen, versteckte ich im Zug nach Nanking eine weitere unter meinem Sitz.

»Weißt du eigentlich, was du da tust?« sagte Mark, als er mich dabei erwischte. Ich hatte geglaubt, er schlafe.

»Ja. Ich versuche, diese blöden Dinger loszuwerden. Hätte ich das Zeug bloß nie gekauft.«

»Nein, es steckt mehr dahinter. Ein Tier, das in einem neuen Territorium herumstreunt, einem, mit dem es nicht vertraut ist, markiert seinen Weg mit Düften, um es für sich zu beanspruchen. Erinnerst du dich an die ringelschwänzigen Lemuren auf Madagaskar? Die haben Duftdrüsen an den Handgelenken. Sie reiben ihre Schwänze zwischen den Handgelenken und schwenken die Schwänze dann durch die Luft, um den Duft zu verteilen und das Territorium so für besetzt zu erklären. Deswegen pinkeln Hunde auch an Laternenpfähle. Du tust nichts weiter, als deinen Weg durch China mit Duftmarkierungen zu versehen. Alte Gewohnheiten sind schwer totzukriegen.«

»Weiß einer von euch zufällig«, fragte Chris, der seit ungefähr einer Stunde, schläfrig gegen das Fenster gelümmelt, dagelegen hatte, »wie Nanjing auf chinesisch ungefähr aussieht? Ich frag bloß, damit wir's wissen, wenn wir da sind.«


In Nanking konnten wir zum erstenmal einen Blick auf den Fluß werfen. Obwohl Shanghai als Tor zum Yangtse gilt, liegt es in Wirklichkeit nicht am Yangtse selbst, sondern an einem damit verbundenen Fluß namens Huangpu. Nanking liegt direkt am Yangtse.

Es ist eine finstere Stadt, oder zumindest kam sie uns so vor. Das Gefühl, in die Fremde verschlagen zu sein, bekam uns fester in den Griff. Die Menschen hier, die wir restlos undurchschaubar fanden, starrten uns entweder an oder ignorierten uns. Ich mußte an ein Gespräch denken, das ich auf dem Flug nach Peking mit einem Franzosen geführt hatte.

»Es ist schwierig, mit den chinesischen Menschen ins Gespräch zu kommen«, hatte er gesagt. »Was einerseits an der Sprache liegt, sofern man nicht chinesisch spricht, aber auch daran, daß sie wirklich sehr, sehr viel hinter sich haben. Deswegen halten sie es für sicherer, einen zu ignorieren. Man zahlt ihnen dasselbe, ob sie nun mit einem reden oder nicht, also... pfffft. Kann schon sein, daß sie vielleicht ein bißchen mehr reden, wenn man sie besser kennt, aber... pfffft.«

Das Gefühl, entwurzelt zu sein, wurde durch das Jing Ling, ein im Stadtzentrum befindliches, größeres Hochhaushotel im westlichen Stil, verstärkt. Es war ein unpersönlich riesiges, konferenztaugliches, Drehtür-und-Atrium-beherrschtes, modernes Hotel von der Sorte, die ich grundsätzlich von ganzem Herzen hasse, aber plötzlich erschien es uns wie eine Oase.

Wie Ratten aus einem sinkenden Schiff machten wir uns schnurstracks auf den Weg zur Bar im obersten Stockwerk und verschanzten uns hinter einer Schar von Gin-Tonic-Gläsern. Nachdem wir etwa zwanzig Minuten in dieser unerwartet vertrauten Umgebung verbracht hatten, stellten wir beim Betrachten der riesigen, fremden, düsteren Stadt durch die Panoramafenster fest, daß wir alle uns wie Astronauten in einem monströsen Lebenserhaltungssystem fühlten, die auf das feindliche und unfruchtbare Terrain eines unbekannten Planeten hinabsahen.

Wir alle wurden plötzlich von dem Wunsch gepackt, nicht mehr nach da draußen gehen, uns nicht mehr anstarren, ignorieren und anspucken oder Fahrräder in unsere Privatsphäre eindringen lassen zu müssen. Unglücklicherweise waren im Jing Ling keine Zimmer frei, und so wurden wir in die Nacht hinausgeworfen, um in einem wirklich finsteren, verfallenen Hotel am Stadtrand unterzukommen, wo wir mal wieder dasaßen und über die Delphine und darüber nachdachten, wie wir unsere Aufnahmen machen sollten.


An einem grauen, nieselregnerischen Tag standen wir am Ufer des Yangtse und blickten auf das große, vorbeiströmende Meer aus Schlick, das sich träge aus Chinas Innerstem ergießt. Der einzige Farbklecks in der finsteren, von dunkelbraun zu grau übergehenden Landschaft, vor der die langen, schwarzen, rauchspeienden Silhouetten der dieselgetriebenen Dschunken den Fluß hinaufstampften und -brummten, war ein kleines zugeknotetes rosa Kondom, das schlaff am Ende eines an Chris' Bandgerät befestigten Kabels baumelte. Das gedämpft an unsere Ohren dringende Vorbeizischen unsichtbarer Fahrradmassen klang wie Hufgetrappel in der Ferne. Von hier aus betrachtet, erschien uns unsere Verwirrung in Shanghai wie eine verschwommene, angenehme Erinnerung an zu Hause.

Da der Fluß am Ufer für unser Klangexperiment nicht tief genug war, stapften wir durch den stärker werdenden Regen auf die Docks zu, um nach einer tieferen Stelle zu suchen.

Wir erwiderten die gelegentlichen, hartnäckigen Rufe von Fahrradrikschas mit einem Kopfschütteln, schon viel zu tief in unsere düstere Stimmung versunken, um eine Erleichterung überhaupt noch in Betracht ziehen zu können.

Wir fanden eine vorübergehend verlassene, am knarrenden Dock herumlungernde Passagierfähre und stapften mühsam über die Gangway. Die Fähren sind große, klotzige Fünfdecker-Keile, die sich tagtäglich – jeweils mit mindestens tausend eingeklemmten, Richard-Clayderman-beschallten Passagieren an Bord – wie monströse, fleckige Zitronentortenstücke den Yangtse rauf- und runterquälen. Durch eine Reihe von Schotten gelangten wir auf ein über dem Wasser liegendes Deck, von dem aus Chris einige hoffnungslose Versuche unternahm, das kleine rosa Ding mit dem Knopfmikrofon in die trüben Fluten zu schlenkern. Zunächst kam es, vom Winde verweht, überhaupt nicht bis nach unten und trieb dann, als es endlich ins Wasser fiel, dreist auf der Oberfläche.

Unter uns war ein weiteres Deck, das jedoch, wie sich herausstellte, nicht ganz leicht zu finden war – das Innenleben des Bootes leitete uns ununterbrochen mit verriegelten Türen um. Am Ende entkamen wir dem Irrgarten und betraten erneut ein über dem Wasser gelegenes Deck, diesmal einige Meter tiefer.

Das Mikrofon weigerte sich weiterhin beharrlich, in den dickflüssigen, braunen Fluten zu versinken, bis wir es mit meinem Hotelzimmerschlüssel aus Peking beschwerten, den ich versehentlich mitgenommen hatte. Das Mikro machte sich, in sein Kondom gehüllt, auf den Weg in die Tiefe, und Chris begann mit der Aufnahme.

Ein Boot nach dem anderen kroch donnernd an uns vorbei über den Fluß. Es waren größtenteils sechs bis zehn Meter lange, rußgeschwärzte Dschunken, deren kleine Besatzungen uns manchmal mit verwirrter Neugier und manchmal überhaupt nicht ansahen. Am Heck jeder Dschunke rüttelte und brüllte ein betagter Dieselmotor, der schwarze Wolken in die Luft stieß und die Schraube im Wasser antrieb.

Nachdem wir einige Minuten auf Deck verbracht hatten, tauchte plötzlich ein Mitglied der Fährenbesatzung auf und zeigte sich überrascht, uns dort anzutreffen. Wir verstanden natürlich kein Mandarin, aber die Frage »Was, zum Teufel, macht ihr denn da?« hat in jeder Sprache einen vertrauten Klang.

Allein die Vorstellung, einen Erklärungsversuch für unser Verhalten zu unternehmen, gab uns den Rest. Wir einigten uns darauf, ihm mit Hilfe von eindeutigen mimischen Bemühungen und symptomatischem Gelächter klarzumachen, daß wir völlig irre wären. Es klappte. Er schluckte es, hing aber trotzdem weiterhin im Hintergrund herum, um uns im Auge zu behalten. Schließlich zerrte Chris unsere Vorrichtung aus dem Wasser nach oben, trocknete sie ab und zeigte sie ihm. Als der Matrose erkannte, daß es ein Kondom war, das wir im Wasser hatten herumbaumeln lassen, schien ihm ein Licht aufzugehen.

»Ah!« sagte er. »Ficky ficky!« Er grinste glückselig und stieß sich den rechten Zeigefinger ein paarmal in die geballte linke Hand. »Ficky ficky!«

»Ja«, stimmten wir ihm zu. »Ficky ficky.«

Hocherfreut über diese endgültige Klärung, marschierte er davon und ließ uns mit der Aufnahme allein, die wir uns abwechselnd über Kopfhörer anhörten.

Was wir hörten, waren nicht genau die Geräusche, die wir erwartet hatten. Da sich Wasser bestens zur Ausbreitung von Schallwellen eignet, hatte ich damit gerechnet, den schweren, hämmernden Widerhall der Boote deutlich zu hören, die an uns vorbeigestampft waren. Aber weil das Wasser den Schall so gut überträgt, hörten wir mehr, das heißt alles, was; in der Umgebung von vielen, vielen Meilen im Yangtse passierte. Es war ein grandioses, kakaphonisches Durcheinander.

Was wir statt des Dröhnens jeder einzelnen Schiffsschraube hörten, war ein unaufhörliches, gellendes Schmettern, in dem man nichts, überhaupt nichts auseinanderhalten konnte.


Zum Glück existierte Professor Zhou wirklich. Und er existierte nicht nur, sondern war, als Mark ihn an der Universität von Nanking besuchen ging (ich war an dem Tag krank), sogar anwesend und erklärte sich bereit, vorbeizukommen und mit uns im Jing-Ling-Hotel zu Abend zu essen (bis dahin ging es mir wieder besser, weil das Restaurant ziemlich gut war.)

Er war ein kultivierter, freundlicher, ungefähr sechzigjähriger Mann. Er wies uns gnädig in die ungewohnte Speisekarte ein und machte uns mit einer örtlichen Spezialität bekannt, der sogenannten Nanking-Ente. Was, wie sich herausstellte, einer Peking-Ente annähernd entsprach (beziehungsweise »Beijing-Ente«, wie man heute sagt – oder, um absolut genau zu sein, Szechwan-Ente, was genau das ist, was wir jahrelang unter dem Namen »Peking-Ente« gegessen haben. Man hatte uns in Peking eine wunderbare Szechwan-Ente aufgetischt, weil man in Peking Szechwan-Ente ißt. »Peking-Ente« ist etwas anderes und wird in zwei Gängen aufgetragen, von denen man den zweiten normalerweise vernachlässigen kann.) Um das Ganze zu beenden: Wie sich zeigte, hatte die Nanking-Ente sehr viel Ähnlichkeit mit einer Peking-Ente, abgesehen davon, daß das ganze Ding durch das Auftragen einer festen, zentimeterdicken Salzschicht ungenießbar wird. Professor Zhou gab zu, daß die Ente auf diese Art und Weise nicht annähernd so angenehm schmecke, aber so werde sie in Nanking nun mal zubereitet.

Professor Zhou hieß uns in China willkommen, zeigte sich überrascht und erfreut, daß wir einen so weiten Weg auf uns genommen hatten, um uns die Delphine anzusehen, sagte, er werde alles in seinen Kräften Stehende tun, um uns zu helfen, glaube aber nicht, daß es uns etwas nützen werde. In China sei alles ein bißchen schwierig, vertraute er uns an. Er versprach zu versuchen, die Leute vom Delphin-Projekt anzurufen und ihnen unsere Ankunft anzukündigen, hielt das aber nicht für besonders aussichtsreich, weil er sie, unabhängig von unserem Besuch, schon seit Wochen zu erreichen versuchte.

Er sagte, ja, wir hätten recht. Der Lärm im Yangtse sei ein ernstzunehmendes Problem für die Delphine und beeinträchtige ihre Echopeilung erheblich. Die Delphine hätten es sich angewöhnt, beim Klang eines Bootes weit zu tauchen, unter Wasser die Richtung zu wechseln, unter dem Boot hindurchzuschwimmen und hinter ihm wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn sie jetzt unter dem Boot seien, gerieten sie durcheinander und tauchten zu früh wieder auf, genau unter den Schiffsschrauben.

All diese Veränderungen seien sehr plötzlich eingetreten, sagte er. Der Yangtse sei für Millionen Jahre unverschmutzt geblieben, die Wasserqualität habe sich jedoch in den letzten paar Jahren dramatisch verschlechtert, und den Delphinen sei keine Zeit geblieben, sich umzugewöhnen.

Daß es die Delphine überhaupt gab, war erst seit relativ kurzer Zeit bekannt. Die Fischer hatten schon immer von ihnen gewußt, aber Fischer unterhielten sich nicht oft mit Zoologen, und in der chinesischen Geschichte habe es außerdem eine schmerzliche Phase gegeben, in der niemand mit irgendwelchen Wissenschaftlern gesprochen, sondern sie bloß wegen des Tragens von Brillen ständig bei der Partei denunziert hatte.

Der erste Delphin wurde 1914 entdeckt, nicht im Yangtse, sondern im Dongting-See, als ein zu Besuch in China weilender Amerikaner ihn tötete und mit zurück ans Smithsonian Institut nahm. Unbestreitbar hatte man es mit einer neuen Flußdelphinart zu tun, aber darüber hinaus interessierte sich niemand sonderlich für die Tiere.

Als Professor Zhou dann in den späten fünfziger Jahren von einer Feldforschungsreise, auf der er Vögel studiert hatte, zurückkehrte, erwartete ihn ein nicht klassifiziertes Skelett. Es handelte sich um die gleiche Delphinspezies, nur daß dieses Exemplar nicht im Dongting-See entdeckt worden war, wo die Art nicht mehr existierte, sondern im Yangtse.

Er befragte einige der ortsansässigen Fischer, die sagten, sie würden ab und zu einen Delphin sehen. Und daß sie die versehentlich gefangenen als Futter verkauften. Diejenigen, die sich in den Angelleinen verfingen, mußten lange leiden, denn die Leinen, die die Fischer an den Ufern des Yangtse traditionell verwenden, sind mit Hunderten von langen, blanken Haken gespickt.

Im Umkreis von Nanking wurden eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt, aber für einige Zeit beendete dann die Kulturrevolution all diese Aktivitäten. Die Forschungen wurden in den siebziger Jahren wieder aufgenommen, blieben aber wegen der enormen Kommunikationsprobleme in China örtlich begrenzt, so daß niemand wirklich genau sagen konnte, wie selten das Tier tatsächlich war oder in was für einer mißlichen Lage es sich befand.

Das änderte sich 1984.

Einige Bauern fanden ein Stück stromaufwärts von Tonking einen gestrandeten Baiji im seichten Wasser. Sie meldeten den Fund der Landwirtschaftlichen Kommission der Kommunalregierung von Tongling, wo man sich der Sache annahm und jemanden losschickte, sich den Fisch anzusehen.

Das förderte unverzüglich eine ganze Menge Dinge zutage.

Alle möglichen Leute tauchten plötzlich auf und sagten, sie hätten auch einen Delphin gesehen, der von einem Boot gerammt, in einem Netz gefangen oder irgendwo als blutiges Schlamassel angeschwemmt worden sei.

Das Gesamtbild, das sich aus all diesen Einzelinformationen ergab, war alarmierend. Sehr schnell wurde erschreckend deutlich, daß dieser Delphin nicht nur selten, sondern akut vom Aussterben bedroht war.

Professor Zhou wurde aus Nanking hinzugezogen, um die weiteren Schritte festzulegen. An dieser Stelle nimmt die Geschichte eine ungewöhnliche und dramatische Wendung, denn nachdem er die weiteren Schritte festgelegt hatte ... folgten die Einwohner von Tongling seinen Anweisungen.

Innerhalb von Monaten wurde ein gewaltiges Projekt mit dem Ziel in Angriff genommen, im Yangtse ein Schutzgebiet für die Delphine einzurichten, das heute, fünf Jahre später, nahezu fertig ist.

»Das sollten Sie sich ansehen«, sagte Professor Zhou. »Es ist sehr gut. Ich werde alles tun, um Ihr Kommen dort telefonisch anzukündigen, also können Sie ruhig... wie sagt man?«

Ich sagte, »ruhig« klinge in meinen Ohren prima. Gegen Ruhe hatte ich absolut nichts einzuwenden.

»Gewiß? Bestimmt? Ah... sicher. Sie können daher ruhig sicher sein, daß man sie nicht erwarten wird. Also werde ich Ihnen auch noch einen Brief mitgeben.«


Aus mehreren Gründen, die damit zusammenhingen, daß wir einen Umweg machten, um uns eine Alligatorfarm anzusehen, von der wir dann von der Polizei weggejagt wurden, weil wir nicht die erforderlichen Alligator-Passierscheine hatten, nahmen wir letztendlich ein Taxi nach Tongling, eine Strecke von höchstens hundertzwanzig Meilen. Was das Taxi betraf, hatten wir eine besondere Vereinbarung getroffen. Teil dieser Vereinbarung war, daß wir keinen besonders guten Fahrer hatten und das Taxi auch nicht besser war; wir erreichten Tongling in eher angespannter Verfassung.

Ausländer dürfen in China nicht Auto fahren, und die Gründe liegen auf der Hand. Die Chinesen fahren oder radeln nach Gesetzen, die für einen nichteingeweihten Betrachter einfach undurchschaubar sind, wobei ich nicht nur an die Gesetze der Straßenverkehrsordnung denke, sondern auch an die Gesetze der Physik. Gegen Ende unseres Aufenthaltes in China hatte ich mich damit abgefunden, daß der eigene Chauffeur, wenn er hinter einem anderen Wagen oder Laster auf einer zweispurigen Straße fährt und ihm zwei andere Fahrzeuge entgegenkommen, von denen eins gerade das andere überholt, unverzüglich ebenfalls ausschert und zum Überholen ansetzt. Wundersamerweise geht es letztlich immer gut.

Nicht gewöhnen konnte ich mich allerdings an folgende Situation: Das Fahrzeug vor einem überholt das Fahrzeug davor, und der eigene Chauffeur schert aus und überholt das überholende Fahrzeug genau in dem Moment, da einem drei andere Fahrzeuge entgegenkommen, die das gleiche Manöver veranstalten. Man darf wohl davon ausgehen, daß Sir Isaac Newton schon vor langer Zeit als bourgeoiser, kapitalistischer Speichellecker enttarnt worden ist.


In Tongling angekommen, übermannte uns wiederum eine wehmütige Sehnsucht nach der fröhlichen, vertrauten Behaglichkeit von Nanking.

Um die Empfangsbroschüre für Touristen zu zitieren, die ich in meinem kahlen Hotelzimmer vorfand: »Als aufstrebende industrielle Bergbaustadt hat Tongling bereits die Gründung etlicher Nichteisenmetall-Hütten, Chemie-, Textilmaterial-, Elektronik- und Maschinenbau-Industrien sowie eisen-, stahl- und kohleverarbeitender Betriebe erlebt; besonders die nichtmetallischen, verhütteten Baustoffe und die chemische Industrie tragen bei unverändert besten Entwicklungsaussichten dazu bei, Tongling zum Hauptproduktionszentrum der Region zu machen.«

Tongling war nicht schön. Es war ein öder, grauer, abweisender Ort, und ich faßte unverzüglich den Plan, hier eine territoriale Rasierwassermarkierung abzuschlagen.

Ich nahm die Broschüre mit und traf mich im ebenfalls kahlen Restaurant des Hotels mit Mark und Chris. Wir waren Vorschlägen gegenüber, zumindest was das chinesische Essen betraf, bisher sehr aufgeschlossen und bereit, manchmal geradezu verwegen bereit gewesen, alles zu essen, was man uns vorsetzte. Vieles war köstlich gewesen, vieles weniger und einiges für einen westlichen Gaumen eher erschreckend.

Das Hotelessen in Tongling fiel eindeutig in die erschreckende Kategorie, auch und vor allem die Tausendjährigen Eier. Die Bezeichnung ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen, sondern bloß als eine Art Hinweis darauf, wie erschreckend sie sind.

Die Eier werden in grünem Tee angekocht und dann drei Monate lang in einer Packung aus Schlamm und Stroh begraben. In dieser Zeit wird das Eiweiß hellgrün und fest, und das Eigelb wird sehr, sehr dunkelgrün und matschig. Erschreckend ist daran, daß man sie anschließend als Delikatesse vorgesetzt bekommt, während man, wenn man so was zu Hause in der Speisekammer fände, erst mal ein paar Fachleute zu Rate ziehen würde. Wir kämpften ein bißchen mit dem Gericht, gaben es schließlich auf und sahen die Broschüre noch einmal durch, in der ich einen weiteren Abschnitt entdeckte: »Bereits beschlossen wurde die Schaffung eines Wasserschutzgebietes im Yangtse-Fluß, um den Lipotes vexillifer, eine äußerst seltene Säugetiergattung zu schützen, die heute als ›Panda des Wassers‹ angesehen wird.«

»Hast du dir mal das Bier angesehen, das du da trinkst?« fragte mich Mark.

Ich betrachtete die Flasche. Es hieß »Baiji-Bier«. Auf dem Etikett war ein Delphinbild, und auf dem Deckel stand sein lateinischer Name, Lipotes vexillifer.

»Als wir heute nachmittag in die Stadt gefahren sind, ist mir noch ein anderes Hotel aufgefallen«, sagte Chris. »Ich hab gedacht, das ist ja ein ziemlich komischer Zufall, es heißt Baiji-Hotel. Sah einen Hauch besser aus als diese Bruchbude.«

Aber auch wenn wir nicht im richtigen Hotel waren, so doch jedenfalls am richtigen Ort.


Ein weiterer Tag verging, bevor wir mit Hilfe von Professor Zhous Schreiben einen englischsprechenden Führer und ein kleines Boot auftreiben konnten, um endlich zu tun, weshalb wir gekommen waren: auf den Yangtse hinausfahren und selbst nach Baiji-Delphinen suchen.

Bis zu diesem Zeitpunkt lagen wir bereits zwei oder drei Tage hinter unserer ursprünglichen Planung zurück und mußten am nächsten Morgen mit einer Fähre nach Wuhan aufbrechen. Uns blieben folglich nur ein paar Stunden Zeit, nach einem der seltensten im Wasser lebenden Säugetiere der Welt zu suchen, und zwar in einem Fluß, in dem man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Unser kleines Boot tuckerte von einem kleinen, überlaufenen Kai hinaus zu einer breiten Stelle des dreckig-braunen Flusses. Wir fragten Mr. Ho, unseren Führer, wie er unsere Erfolgsaussichten einschätze.

Er zuckte die Achseln.

»Na ja, es leben nur zweihundert Baijis auf diesen zweitausend Kilometern. Und der Yangtsee ist sehr breit. Nicht gut, glaube ich.«

Wir tuckerten für einige Zeit dahin und fuhren am gegenüberliegenden Ufer entlang langsam zwei Kilometer flußaufwärts. Dort war das Wasser seichter, und es herrschte kein so starker Bootsverkehr. Aus genau diesem Grund halten sich auch die Delphine bevorzugt in Ufernähe auf, womit ihre Chancen steigen, sich in den Fischernetzen zu verfangen, die, wie wir im Vorbeifahren sahen, von am Ufer stehenden Bambusspanten ins Wasser hingen. Die Fischbestände im Yangtse nehmen ab, und bei all dem Krach fällt es den Delphinen immer schwerer, die verbliebenen Fische zu »sehen«. Ich konnte mir gut vorstellen, daß sich ein Delphin von einem Netz voller Fische in Lebensgefahr locken ließ.

Wir erreichten eine vergleichsweise ruhige Stelle in Ufernähe, und der Bootsführer schaltete den Motor aus.

Mr. Ho erklärte uns, dies sei eine gute Stelle zum Warten. Vielleicht. Hier waren vor kurzem Delphine gesehen worden. Er sagte, das könne vorteilhaft sein oder auch nicht. Entweder seien sie hier, weil sie vor kurzem hiergewesen seien, oder sie seien nicht hier, weil sie vor kurzem hiergewesen seien. Damit schienen alle Möglichkeiten erschöpft, also setzten wir uns und warteten.

Die ungeheure Ausdehnung des Yangtse wird einem besonders bewußt, wenn man ihn sorgfältig zu beobachten versucht. Welchen Abschnitt? Wo? Eine leichte Brise wehte, kräuselte die Oberfläche, und nachdem wir den Fluß bloß ein paar Minuten lang betrachtet hatten, begannen unsere Augen zu flattern. Jeder flüchtige schwarze Schatten einer tanzenden Welle sieht im Nu aus wie das, was man sehen möchte, und ich hatte nicht mal ein vernünftiges Bild dessen vor meinem geistigen Auge, wonach ich eigentlich Ausschau halten sollte.

»Weißt du, wie lange sie an der Oberfläche bleiben?« fragte ich Mark.

»Ja...«

»Und?«

»Sieht nicht gut aus. Der Delphin durchstößt die Oberfläche zuerst beim Blasen, mit der ›Fettlinse‹ seiner Stirn, dann kommt seine kleine Rückenflosse hoch, und dann taucht er wieder weg.«

»Und wie lange dauert das?«

»Nicht mal eine Sekunde.«

»Oh.« Das mußte ich erst mal verdauen. »Dann werden wir wohl kaum einen zu sehen kriegen, stimmt's?«

Mark wirkte deprimiert. Seufzend öffnete er eine Dose Baiji-Bier und nahm einen kräftigen, eher komplizierten Schluck, um die Augen nicht vom Wasser wenden zu müssen.

»Na, vielleicht sehen wir ja wenigstens einen finnenlosen Schweinswal«, sagte er.

»Die sind nicht so selten wie die Delphine, oder?«

»Na ja, sie sind im Yangtse nicht ernsthaft bedroht. Man schätzt, daß es noch ungefähr vierhundert gibt. Sie haben hier die gleichen Probleme, nur kommen sie auch in den chinesischen Küstengewässern und weiter westlich vor, bis rüber nach Pakistan, sind also als Art nicht so akut gefährdet. Sie sehen wesentlich besser als der Baiji, deswegen kann man davon ausgehen, daß sie noch nicht solange existieren. Da! Da ist einer! Ein finnenloser Schweinswal!«

Ich kam gerade noch rechtzeitig, um einen schwarzen Umriß ins Wasser zurückfallen und verschwinden zu sehen. Er war weg.

»Finnenloser Schweinswal!« rief Mr. Ho uns zu. »Haben Sie gesehen?«

»Ja, haben wir, danke!« sagte Mark.

»Woher wußtest du, daß es ein finnenloser Schweinswal war?« fragte ich ziemlich beeindruckt.

»Aus zwei Gründen, wenn man's genaunimmt. Zum einen konnten wir ihn richtig erkennen. Er ist hoch aus dem Wasser aufgestiegen. Finnenlose Schweinswale tun so was. Baijis tun es nicht.«

»Du meinst, wenn man ihn richtig erkennt, muß es ein finnenloser Schweinswal sein.«

»So ungefähr.«

»Und was ist der andere Grund?«

»Na, er hatte keine Finne.«

Eine Stunde verstrich. Ein paar hundert Meter von uns entfernt brummten große Frachtschiffe und Barkassen den Fluß hinauf. Ein Ölfleck trieb an uns vorbei. Hinter uns flatterten die Fischernetze im Wind. Ich dachte, daß der Begriff »gefährdete Art« zu einer Phrase geworden war, die keine lebendige Bedeutung mehr hatte. Man hört es einfach zu oft, um noch unbelastet darauf reagieren zu können.

Als ich dem Wind beim Kräuseln der galligen Yangtse-Oberfläche zusah, wurde mir mit schmerzhafter Deutlichkeit bewußt, daß irgendwo unter mir oder um mich herum intelligente Lebewesen, deren Wahrnehmungswelt wir uns nicht einmal andeutungsweise vorstellen können, in einer gärenden, vergifteten, betäubenden Welt lebten und daß sie ihr Leben höchstwahrscheinlich in ständiger Verwirrung, ständigem Hunger, ständigem Schmerz und ständiger Furcht verbrachten.


Wir erlebten keinen Delphin in freier Wildbahn. Wir wußten, daß wir uns zumindest einen würden ansehen können, denjenigen, der als einziger seiner Art im Hydrobiologischen Institut in Wuhan in Gefangenschaft gehalten wird, waren aber trotzdem deprimiert und enttäuscht, als wir am frühen Abend in unser Hotel zurückkehrten.

Dort stellten wir umgehend fest, daß es Professor Zhou schließlich doch gelungen war, jemanden wegen unserer Ankunft zu alarmieren, und wurden zu unserer Überraschung von einer ungefähr zwölfköpfigen Delegation des Tongling Baiji Conservation Committee der Kommunalverwaltung von Tongling begrüßt.

Leicht verdattert wegen dieses unerwarteten, offiziellen Interesses, wo wir uns gerade darauf eingestellt hatten, uns gemütlich in ein Bier zu vertiefen, wurden wir in einen großen Sitzungssaal des Hotels geführt und zu einem großen Tisch geleitet. Etwas besorgt, nahmen wir neben einem extra zu diesem Anlaß herbeigeschafften Dolmetscher an der einen Tischseite Platz, während sich die Mitglieder des Komitees auf der anderen Seite formierten.

Für einen Augenblick saßen sie still da, alle mit vor sich auf dem Tisch ordentlich aufeinandergelegten Händen, und sahen uns distanziert an. Kurzzeitig schwirrte mir die Halluzination im Kopf herum, wir würden gleich die Anklageschrift eines ideologischen Tribunals zu hören bekommen, aber dann ging mir auf, daß ihr distanziertes, förmliches Verhalten vermutlich nur bedeutete, daß sie uns gegenüber mindestens so gehemmt waren wie wir ihnen gegenüber.

Einige von ihnen hatten eine Art grauen Uniformrock an, einer trug den alten, blauen maoistischen Waffenrock, die anderen waren zwangloser gekleidet. Ihr Alter reichte von etwa Mitte Zwanzig bis Mitte Sechzig.

»Das Komitee heißt Sie in Tonling willkommen«, begann der Dolmetscher, »und fühlt sich durch Ihren Besuch geehrt.« Er stellte sie der Reihe nach vor, woraufhin die Genannten uns jeweils mit einem leicht nervösen Lächeln zunickten. Einer war der stellvertretende Leiter des Projekts, ein anderer der leitende Schriftführer der Gesellschaft, ein anderer der stellvertretende leitende Schriftführer und so weiter.

Ich saß mit dem Gefühl da, daß wir mitten in einem gigantischen Mißverständnis steckten, und gab mir alle erdenkliche Mühe, intelligent auszusehen und mir nicht anmerken zu lassen, daß ich bloß ein Science-Fiction-Komödienschreiber auf Urlaub war.

Mark hingegen schien sich absolut wohl zu fühlen. Er erklärte kurz und bündig, wer wir waren, ließ dabei den Teil mit der Science-Fiction-Komödie aus, umriß Sinn und Gegenstand unseres Projekts, schilderte, weshalb wir uns für den Baiji interessierten, und stellte ihnen eine intelligente Eröffnungsfrage zum Bau des Schutzgebietes.

Meine Anspannung ließ nach. Natürlich, wurde mir klar, war es ein fester Bestandteil von Marks Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, geistreich in ihm unbekannten Sprachen mit großen Komitees über Schutzprojekte zu sprechen.

Sie erkärten uns, das Delphin-Schutzgebiet sei ein sogenanntes »halbnatürliches Schutzgebiet«. Das angestrebte Ziel sei, die Tiere in einem eingegrenzten Bereich zu halten, ohne sie aus ihrer natürlichen Umgebung zu entfernen.

Ein Stück flußaufwärts von Tongling, gegenüber der Stadt Datong, befindet sich eine ellenbogenförmige Flußbiegung. In der Beuge dieses Ellenbogens liegen zwei dreieckige Inseln, zwischen denen sich ein Kanal gebildet hat. Der Kanal ist ungefähr eineinhalb Kilometer lang, fünf Meter tief und zwischen vierzig und zweihundert Meter breit, und genau dieser Kanal wird das halbnatürliche Schutzgebiet der Delphine sein.

An beiden Enden des Kanals werden zur Zeit Zäune aus Bambus und Metall errichtet, durch die das Wasser des Hauptflusses ununterbrochen strömen kann. Um das zu bewerkstelligen, müssen gewaltige Umbauarbeiten vorgenommen werden. Auf einer der beiden Inseln werden eine große Tierklinik und Auffangbecken zum Halten verletzter oder frisch gefangener Delphine errichtet. Auf der anderer entsteht eine Fischfarm, um ihnen Nahrung zu bieten.

Es ist ein enorm umfangreiches Projekt.

Es ist sehr, sehr kostspielig, sagte das Komitee feierlich und dabei könne man nicht einmal sicher sein, daß es funktionieren werde. Trotzdem müßten sie es versuchen. Der Baiji, erklärten sie uns, bedeute ihnen sehr viel, und es sei ihre Pflicht, ihn zu schützen.

Mark fragte sie, wie in aller Welt sie das Geld dafür aufgetrieben hätten. Alles sei in so unglaublich kurzer Zeit in dis Tat umgesetzt worden.

Ja, sagten sie, wir mußten sehr, sehr schnell arbeiten.

Sie hatten das Geld aus vielen Quellen bekommen. Ein beträchtlicher Anteil stammte von der Zentralregierung und die Kommunalregierung hatte sogar noch etwas mehr beigesteuert. Außerdem waren große Summen von der Menschen und von Firmen aus der Gegend gespendet worden.

Darüber hinaus, sagten sie etwas zögernd, hätten sie begonnen, sich mit Öffentlichkeitsarbeit zu beschäftigen, und würden es sehr begrüßen, wenn wir uns dazu äußerten. Chinesen verstünden wenig von solchen Dingen, während wir als Leute aus dem Westen, doch gewiß Experten wären.

Zuerst, sagten sie, hatten sie die örtliche Brauerei überredet, den Baiji als ihr Markenzeichen zu verwenden. Ob wir Baiji-Bier probiert hätten? Es sei ein gutes Bier und heute in ganz China sehr beliebt. Danach waren andere gefolgt. Das Komitee hatte begonnen...

An dieser Stelle stießen wir auf ein geringfügiges Vokabelproblem, und erst nach einer kurzen Diskussion mit dem Dolmetscher kam die richtige Formulierung schließlich zum Vorschein.

Sie hatten begonnen, Lizenzvereinbarungen zu treffen. Ortsansässige Firmen mußten Geld in das Projekt investieren und durften im Gegenzug das Baiji-Symbol verwenden, das dadurch seinerseits wieder für eine gute Publicity für den Baiji-Delphin sorgte.

Und so gab es mittlerweile nicht nur Baiji-Bier, sondern auch ein Baiji-Hotel, Baiji-Schuhe, Baiji-Cola, Baiji-computergesteuerte-Waagen, Baiji-Toilettenpapier, Baiji-Phosphordüngemittel und Baiji-Bentonit.

Bentonit kannte ich nicht, also fragte ich, was das sei.

Sie erläuterten, Bentonit sei ein Bergbauprodukt, das man zur Herstellung von Zahnpasta, beim Eisen- und Stahlgießen sowie als Zusatz für Schweinefutter verwende. Baiji-Bentonit sei ein sehr erfolgreiches Produkt. Ob wir, als Experten, ihre Öffentlichkeitsarbeit für gut hielten?

Wir sagten, sie sei ganz wunderbar, und gratulierten ihnen.

Es freue sie sehr, sagten sie, das von westlichen Experten zuhören.

Wir waren wegen dieser Lobpreisungen mehr als nur ein bißchen beschämt. Es war kaum vorstellbar, daß man irgendwo in der westlichen Welt imstande wäre, mit einer solch sagenhaften Geschwindigkeit, Phantasie und gemeinschaftlichen Entschlossenheit auf ein derartiges Problem zu reagieren. Obwohl uns das Komitee mitgeteilt hatte, man hoffe, nachdem Tongling vor kurzem zum erstenmal für Besucher geöffnet worden sei, daß die Delphine und das halbnatürliche Schutzgebiet der Gegend Touristen und Touristikeinnahmen brächten, lag auf der Hand, daß diese Einnahmen nicht der ausschlaggebende Beweggrund gewesen waren.

Zum Schluß sagten sie: »Die in diesem Gebiet lebenden Menschen verdienen etwas daran – das ergibt sich von selbst –, aber wir haben weiterreichende Pläne, nämlich, den Delphin als Art zu schützen, ihn nicht in unserer Generation aussterben zu lassen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu schützen. Da wir wissen, daß nur noch zweihundert Exemplare dieser Tierart existieren, könnte sie aussterben, falls wir keine Maßnahmen ergreifen, es zu verhindern, und sollte das geschehen, müßten wir uns vor unseren Nachfahren und späteren Generationen schuldig fühlen.«

Als wir das Zimmer verließen, waren wir, zum erstenmal in China, gehobener Stimmung. Es schien uns, als hätten wir – trotz der gestelzten und unbeholfenen Förmlichkeit des Treffens – zum ersten und einzigen Mal einen flüchtigen Einblick in die chinesische Denkweise erhalten. Sie begriffen es als ihre natürliche Pflicht, dieses Tier zu schützen, sowohl um seiner selbst willen als auch für zukünftige Generationen. Es war das erste Mal, daß wir über unsere eigenen Grundvoraussetzungen hinausblicken und ihre hatten einsehen können.

Wild entschlossen, sie zu genießen, bestellte ich an diesem Abend noch einmal Tausendjährige Eier.

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