13. Die Erscheinung

Ich klebte gerade das größte Pflaster, das ich hatte finden können, auf meinen Fuß, als Liz ins Badezimmer kam. Sie trug ein Nachthemd von Marks & Spencer mit Minnie Mouse auf der Vorderseite.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie.

Ich zog das Pflaster noch einmal ab, um ihr die Verletzung zu zeigen. Zwei von Brown Jenkins klauenartigen Fingernägeln hatten sich wie Kreissägen durch meinen Stiefel gebohrt und mir zwei Schnittwunden zugefügt, die knapp einen Zentimeter lang waren. Die Wunden brannten, und ich hatte last eine Stunde benötigt, um die Blutung zu stoppen.

»Du solltest dir eine Tetanusspritze geben lassen«, sagte Liz. »Wenn Brown Jenkin so dreckig ist, wie du gesagt hast, dann könnte sich das entzünden.«

»Ich sehe es mir morgen früh an«, versprach ich.

Sie zog ihr Nachthemd aus und beugte sich über die Badewanne.

»Das kocht ja fast«, sagte sie. »Du musst eine Haut aus Leder haben.«

»Die Japaner baden immer in kochend heißem Wasser.«

»Ja, und sie essen auch rohen Tintenfisch. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich das auch machen muss.«

Sie ließ kaltes Wasser nachlaufen, dann stieg sie in die Wanne.

»Schlafen die Kinder?«, fragte ich sie.

»Wie tot. Die arme Charity ist sofort eingeschlafen, als ihr Kopf das Kissen berührte.«

»Ich wünschte, ich wüsste, was ich mit ihr machen soll.«

Liz seifte sich Schultern und Nacken ein. »Ich weiß nicht, warum du sie überhaupt erst mitgebracht hast. Sie gehört doch gar nicht hierher.«

»Brown Jenkin wollte sie mit zum Picknick nehmen, darum habe ich sie mitgebracht.«

»David, du kannst doch nicht in Raum und Zeit eingreifen. Du kannst nicht Gott spielen. Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast und ob du es überhaupt gemacht hast, aber du hast ein Mädchen aus der viktorianischen Zeit ins Jahr 1992 gebracht. Wie soll Charity damit zurechtkommen? Im Moment geht es ihr gut, aber sie hat noch keinen Fernseher gesehen. Und was glaubst du, was sie denken wird, wenn ein Jumbojet übers Haus fliegt?«

Ich stand auf und humpelte zum Waschbecken. Im beschlagenen Spiegel sah ich nicht ganz so müde aus, wie ich mich fühlte. Mit dem Finger malte ich meinem Spiegelbild eine Brille auf das Glas.

»Wie lange wird Reverend Pickering dort bleiben?«

Zuerst antwortete ich nicht, sondern starrte weiter mein Spiegelbild an, während ich dem Plätschern des Badewassers lauschte.

»Ich habe gelogen«, räumte ich schließlich ein. »Dennis Pickering ist tot.«

»Was? David! David, sieh mich an! Was soll das heißen? Er ist tot?«

»Es heißt genau das. Er ist tot. Brown Jenkin hat ihn umgebracht. Er hat ihn regelrecht aufgeschlitzt, es war entsetzlich.«

»Oh mein Gott, David! Das sind ja schon drei Tote!«

»Ich habe immer wieder versucht, mir einzureden, dass Harry Martin und Doris Kemble durch einen Unfall ums Leben gekommen sind. Aber ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Brown Jenkin Dennis Pickering getötet hat. Und ich glaube, dass er auch Harry Martin und Doris Kemble ermordet hat. Harrys Gesicht, das ihm vom Kopf gerissen wurde ... Das waren keine Haken. Doris Kemble, die aufgeschlitzt war wie eine Weihnachtsgans. Sie ist nicht einfach von einem Felsen gestürzt. Und jetzt Reverend Pickering ... Gott stehe ihm bei.«

»Rufst du die Polizei an?«

Ich drehte mich um zu ihr. »Warum? Was soll ich denn erzählen? Der Vikar ist vor über hundert Jahren ermordet worden!«

»Dann werde ich es ihnen erzählen.«

»Ach ja? Und dann fragen sie dich, wo er denn ermordet wurde.«

»Und wo wurde er ermordet?«

»Im Wohnzimmer. Danach fragen sie dich, wer ihn ermordet hat. Und du sagst, dass es ein Rattending war. Und dann fragen sie, wann er ermordet wurde. Und dann erklärst du ihnen, dass es 1886 geschehen ist. Ach, übrigens: Wir haben auch ein Waisenkind aus dem Jahr 1886 mitgebracht, das noch nie ein Flugzeug gesehen hat und das nicht weiß, wer die Teenage Mutant Ninja Turtles sind.«

Liz seifte langsam ihre Brüste ein. Sie hielt inne und sah mich wortlos an.

»Tut mir Leid«, sagte ich. »Aber wenn ich schon nicht glauben kann, was passiert ist, wie sollen wir dann die Polizei davon überzeugen? Wir können keinen einzigen Blutfleck auf dem Teppich vorweisen, von der Leiche ganz zu schweigen.«

»Auch nicht, wenn wir noch mal durch die Klapptür hinuntersteigen? «

»Oh, nein!«, sagte ich entschieden. »Durch diese Klapptür werden wir niemals wieder steigen. Die ist zu und bleibt zu.«

»Aber vielleicht könnten wir den Leichnam holen. Sic können ihn doch noch nicht beerdigt haben. Dann können wir beweisen, dass er tot ist. Und dass er ermordet wurde. Und dass wir es nicht waren.«

»Nein, wir gehen nicht wieder durch diese Klapptür. Ende der Diskussion.«

Viel mehr gab es nicht zu sagen. Das Erlebnis hatte mich endgültig davon überzeugt, dass wir Fortyfoot House schon längst hätten verlassen müssen. Was immer hier geschah, es entzog sich meiner Kontrolle, und es ging mich auch nichts an, auch wenn ein Vikar, ein Rattenfänger und eine Cafebesitzerin tatsächlich ermordet worden waren. Und auch wenn Charity und die anderen Waisenkinder im Fortyfoot House talsächlich in Lebensgefahr waren.

Ich zog meine Pyjamahose an und öffnete leise die Schlafzimmertür. Aus Dannys Zimmer waren Stimmen zu hören -er und Charity unterhielten sich. Ich schlich mich durch den Korridor und drückte mein Ohr an die Tür.

»... in Whitechapel, als ich noch ganz klein war. Dann hat mich Mrs. Leyton gefunden und zu Dr. Barnardo gebracht. Der hat mich dann hierher geschickt.«

»Keine ... Eltern?«, hörte ich Danny fragen.

»Ich hab sie nie gekannt. Manchmal meine ich, dass ich mich daran erinnern kann, wie meine Mutter für mich ein Lied singt. Und ich kann ihre schwarzen Stiefel sehen. Aber dann kann ich sie wieder nicht hören und auch nicht sehen. Ich glaube, dass ich das nur träume.«

»Musst du wieder zurückgehen?«

»Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht, was los ist. Ich dachte, ich wäre immer noch hier. Aber ich bin nicht mehr hier. Ich meine, es ist dasselbe Haus, aber meine Freunde sind nicht da, und alles ist irgendwie anders.«

Ich hörte den beiden noch eine Weile zu und stellte erstaunt fest, wie schnell sie auf Spiele und Spielzeug zu sprechen kamen. Danny versuchte, ihr zu erklären, was ein Transformer ist. »Das ist ein Roboter, nur dass er ein Raumschiff ist.«

»Was ist ein roh Botter?«

»Das ist ein Mann aus Metall. Und wenn du klick-klick-klick machst, dann verwandelt er sich in einen intergalaktischen Sternenkreuzer.«

»Einen was?«, kicherte Charity. Als ich sie dann richtig lachen hörte, wusste ich, dass es richtig war, sie zu retten. Außerdem war ich der festen Überzeugung, dass ich sie um jeden Preis hier behalten und beschützen musste.

Liz war schon im Bett, als ich zurückkam. Sie saß da und las Narziss und Goldmund von Hermann Hesse. Ich legte mich zu ihr und sah ihr eine Weile zu.

»Liest du das wirklich mit Vergnügen?«, fragte ich schließlich.

Sie lächelte, ohne aufzublicken. »Hör dir das an: >Glaub mir, ich würde zehntausendmal lieber deinen Fuß streicheln als ihren. Dein Fuß hat mich nie unter dem Tisch gefragt, ob ich lieben könnte.< Weißt du, wovon er redet? Fußfetischismus!«

»Die Kinder sind noch wach«, sagte ich. »Sie reden. Sie scheinen sich gut zu verstehen.«

Eine Zeit lang schwieg Liz, dann klappte sie ihr Buch zu.

Was wirst du machen, David? Du wirst doch nicht länger hier bleiben, oder? Wenn dieser Brown Jenkin Menschen Töten kann ...«

»Keine Sorge«, erwiderte ich. »Ich habe mich schon entschieden.«

»Das ist ja mal was anderes.«

»Ich habe mir deine Kritik zu Herzen genommen, darum. Du hattest völlig Recht, ich habe die Dinge vor mir herge-s< hoben. Ich nehme an, dass ich geglaubt habe, durch eine positive Entscheidung mich immer weiter von der Zeit mit Janie zu entfernen. Inzwischen ist mir klar, dass diese Zeit schon hinter mir liegt, auch wenn ich keinen Entschluss lasse. Auch wenn ich den ganzen Tag im Bett liege und gar nichts mache.«

»Und was wirst du machen?«

»Ich bringe Danny und Charity zu meiner Mutter nach Horley, und dann komme ich zurück und brenne dieses Haus nieder.«

Liz starrte mich fassungslos an: »Du willst was machen? Das kannst du nicht!«

»Das kann ich und das werde ich. Dieses Haus ist besessen oder verflucht. Ich weiß nicht, was der junge Mr. Billings und Kezia Mason vorhatten, ich weiß nicht, wer oder was Brown Jenkin ist oder wer Mazurewicz war. Ich weiß nicht, was dem alten Mr. Billings zugestoßen ist, außer dass er vom Blitz getroffen wurde. Aber dieser Ort steckt voller Geister und Unrast und Geräuschen und Gott weiß was noch alles. Jetzt ist Reverend Pickering tot, und jetzt reicht es. Es muss Schluss sein.«

»Und wenn man dich schnappt?«

»Man wird mich nicht schnappen. Ich werde nicht mal meine Bezahlung einbüßen. Ich werde einfach sagen, dass meine Lötlampe einen Fensterrahmen in Brand gesetzt hat und dann das ganze Haus abgebrannt ist. Großer Gott, das hätte man schon Vorjahren machen sollen.«

»David, das ist ein historisches Bauwerk - du kannst es doch nicht einfach niederbrennen.«

»Das Leben von Menschen ist wichtiger als ein historisches Haus. Und Leute, die tot sein sollten, aber nicht tot sind ... die sind auch wichtiger als dieses Haus.«

Liz legte ihr Buch auf die Decke und ließ sich nach hinten auf ihr Kissen sinken. Ich fand sie mit jedem Augenblick, der verstrich, immer attraktiver. Ich liebte die Art, wie sie aussah, ihre üppigen Brüste, ihren sauberen, seifigen Geruch. Das Einzige, was mir noch immer nicht ganz klar war, betraf die Frage, wie sie wirklich über mich dachte und warum sie hier blieb. Manchmal war sie unnahbar und ungeduldig, dann wieder rücksichtslos kritisch, mal witzig, mal leidenschaftlich. Aber stets kam es mir so vor, als würde sie über einen Witz lachen, den ich nicht richtig verstanden hatte. Und als würde sie Sex nur in ihrem eigenen Kopf erleben, ohne ihre Gefühle mit mir zu teilen.

Sie hatte mir inzwischen einmal einen geblasen, als ich noch im Halbschlaf war. Sie hatte dabei den Kopf weggedreht und alles geschluckt, ohne eine Spur von Lust oder wenigstens Vergnügen zu zeigen.

»Denk morgen drüber nach«, sagte sie.

»Ich habe darüber nachgedacht, und außerdem ist es bereits morgen.«

»Und was wird aus mir?«

»Ich finde schon eine Unterkunft für dich.«

»Und aus uns?«

»Ich weiß nicht. Wir sollten uns damit beschäftigen, wenn es so weit ist. Ich möchte erst Fortyfoot House hinter mich bringen.«

Sie drehte sich um und sah mich ohne zu blinzeln an. In der Iris ihres linken Auges bemerkte ich einen winzigen orangenen Funken. »Ich bin nicht sicher, dass ich das so gemeint habe, als ich dir gesagt habe, du solltest entschlussfreudiger sein.«

»Unangenehme Probleme machen unangenehme Lösungen notwendig.«

»Hmm«, sagte sie und wandte mir demonstrativ den Rücken zu.

Ich griff nach ihrem Buch und las laut vor: »Eines Tages zeigte sie ihm ihre Brüste. Schüchtern öffnete sie ihr Mieder, um ihn die kleine weiße Frucht sehen zu lassen, die darunter verborgen war.«

»Ich wusste, dass du die versauten Stellen sofort finden würdest«, sagte Liz.

Sie drehte sich wieder um zu mir. Der orangene Punkt in ihrer Iris funkelte wie ein Feuer. »Überstürz nichts, David. Ich mache mir etwas aus dir.«

»Wenn das so ist, dann wirst du mir helfen.«

Ich träumte einen finsteren, anziehenden Traum, in dem ich wie ein Drache über einen abfallenden Strand glitt. Das Meer unter mir war schwarz und gallertartig, eher ein Sirup als ein Meer. Ich wusste, dass das Meer voller Taschenkrebse war, Millionen und Abermillionen, die unablässig umherkrabbelten. Der Himmel war schwarzbraun, und ein dröhnender Gong ließ mich fast taub werden.

Die Welt, wie sie war; die Welt, wie sie ist; die Welt, wie sie sein wird.

Ich war noch nicht allzu weit auf die offene See geweht worden, als ich erkannte, dass ich allmählich an Höhe verlor. Ich versuchte, die Beine anzuziehen, damit meine Füße nicht das Wasser berührten, aber der Wind wurde immer schwächer, während ich ständig tiefer sank. Schließlich tauchten meine Füße ins Wasser ein, dann meine Beine, bis ich bis zu meiner Leistengegend eingetaucht war. Das Wasser war eisig kalt, und ich konnte die Taschenkrebse spüren, die auf meinen Füßen, meinen Beinen und meinem Bauch umherkrabbelten.

Ich schrie auf, und im nächsten Moment war ich wach. Mir wurde plötzlich klar, dass ich mir in meine Pyjamahose gemacht hatte, aber zum Glück nicht ins Bett. Schwitzend und zitternd kletterte ich aus dem Bett, um ins Badezimmer zu gehen, wo ich mich auszog und wusch. Im Spiegel sah mein Gesicht verzerrt und hager aus, als habe jemand das Glas zerschlagen.

Während ich mich abtrocknete, vernahm ich wieder das schlurfende, kratzende Geräusch in den Wänden und dann über den Boden des Speichers. Ich hielt inne, um das Geräusch genauer hören zu können, doch im gleichen Augenblick war es schon wieder verstummt. Nur noch das leise Pfeifen des Windes, das Rascheln der Bäume und das mürrische Rauschen der See waren zu hören.

Ich trank zwei Gläser kaltes Wasser und verließ das Badezimmer. Danny und Charity waren inzwischen wohl eingeschlafen, jedenfalls konnte ich sie nicht reden hören. Ich wollte eigentlich nach ihnen sehen, doch die Tür zu ihrem

Zimmer knarrte so laut, dass ich sie vermutlich aufgeweckt hätte.

Gerade wollte ich die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnen, als ich bemerkte, dass unter dem Türspalt ein bläuliches Licht flackerte. Ich blieb stehen und wunderte mich. Es war ganz sicher nicht die Nachttischlampe, sondern wirkte mehr wie das Flackern eines Fernsehers in einem ansonsten völlig dunklen Zimmer. Bloß ... im Schlafzimmer stand kein Fernseher. Vielleicht waren es Blitze, die durch die Vorhänge leuchteten. Das Wetter war in den letzten Tagen ungewöhnlich unbeständig gewesen, und wiederholt hatte ich fernes Donnergrollen gehört, das vom Kanal herüberkam. Es hatte mich an die Berichte erinnert, die besagten, dass die Urlauber an der Südküste Englands im Ersten Weltkrieg das Artilleriefeuer aus Frankreich hatten hören können. Das hatte ich immer als sehr beunruhigend empfunden.

Wieder hörte ich ein Kratzen und Schlurfen, woraufhin mir ein Schauder über den nackten Rücken lief, der mir wie ein leichter Stromschlag vorkam.

Anstatt ins Schlafzimmer zu gehen, kniete ich mich vor die Tür und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Der Luftzug ließ mein Auge tränen, aber trotzdem konnte ich die dunklen Umrisse des Betts erkennen, Liz' Kopf auf dem Kissen und einen Teil des Fensters.

Erneut flackerte das Licht, aber es war ganz sicher kein Blitz. Die Lichtquelle befand sich im Raum, in der gegenüberliegenden oberen Ecke. Das Flackern wurde heller, und jetzt konnte ich Liz deutlich erkennen. Gleichzeitig ertönte ein tiefes, verzerrtes Singen - so tief, dass ich die Vibrationen in meinem Kiefer fühlen konnte. Ygggaaa sotholh nggaaa. Auch wenn es tief und verschwommen war und mehr an eine Orgelpfeife als an eine menschliche Stimme erinnerte, fielen mir Ähnlichkeiten zu den Worten auf, die der alte Mr. Billings im Garten geschrien hatte, als er von der Sonnenuhr mit einem Stromschlag getötet wurde. Nnggg-nggyyaaa nnggg sothoth.

Ich wusste nicht, was diese Worte bedeuten sollten, aber sie wurden auf eine so beharrliche, beschwörende Weise gesungen, dass sie in mir eine irrationale Furcht auslösten, die fast an Panik grenzte. Jemand oder etwas wurde ins Fortyfoot House gerufen - aber wer oder was, das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich war nicht mal sicher, ob ich es mir überhaupt vorstellen wollte.

Diesmal flackerte das Licht sehr grell. Ich war erstaunt, dass es Liz noch nicht geweckt hatte. Ich beschloss, die Tür zu öffnen, doch als ich meine Hand um den Türgriff legte, kam die Lichtquelle in mein Blickfeld, und ich blieb wie erstarrt stehen.

Die Schwester oder Nonne, die ich über mir hatte schweben sehen, hatte mitten im Raum Form angenommen. Eine große schimmernde Gestalt mit einem weiten Schleier und gehüllt in ein blaues Licht, das sich wie eine phosphoreszierende Reihe verblassender Eindrücke auf und ab bewegte.

Der Gesang hielt an. NggGGGaa - sothoth - gnoph-hek -nggaaAA ... Obwohl diese Worte keinerlei Ähnlichkeit zu irgendeiner mir bekannten Sprache aufwiesen, hatte ich das Gefühl, nahe daran zu sein, ihren Sinn zu verstehen. Ihre Bedeutung lag mir förmlich auf der Zunge, nur konnte ich sie nicht in Worte fassen.

Die Nonne glitt über den Fuß des Bettes, hielt einige Zeit inne und schien die schlafende Liz zu beobachten. Dann lehnte sie sich über das Bett. Sie beugte sich nicht vor, sondern veränderte ihre Position zu einem unmöglichen Winkel, bis sie nur noch wenige Zentimeter von der Decke entfernt war.

Ich sah, dass Liz sich umherwälzte. Ich wusste nicht, wie gefährlich diese Erscheinung war und was sie wollte, aber mir war klar, dass ich nicht länger untätig zusehen konnte. Ich riss die Tür mit solcher Gewalt auf, dass sie mit Wucht gegen die Wand schlug - nicht so sehr, um die Gestalt zu erschrecken, sondern um mir selbst Mut zu machen. Als ich dann aber splitternackt vor dem Bett stand, zog sich meine

Kehle zusammen und erlaubte mir nicht mehr als ein heiseres, hohes: »Aaahh!«

Mit einem donnernden Getöse begann sich die Gestalt über dem Bett umzudrehen, und unter dem Schleier konnte ich ein Gesicht erkennen, eine Totenmaske mit leeren Augenhöhlen, eingefallenen Wangen und bösartig aussehenden Zähnen. Meine Kehle schnürte sich völlig zu, und ich konnte nichts anderes machen, als dazustehen und die Gestalt entsetzt anzustarren.

Ich hörte ein Geräusch, das so klang, also würden sich tausende Liter Wasser auf einmal aus einer riesigen Zisterne ergießen, ein rauschendes, donnerndes, wegtreibendes Geräusch. Die Erscheinung schien in der Decke aufzugehen, die Arme verschmolzen mit Liz' Armen, das abscheuliche Gesicht glitt in Liz' Gesicht. Einen Moment lang richteten sich Liz' Haare auf und waren von winzigen Funken umgeben. Sie öffnete die Augen, die für den Bruchteil einer Sekunde rot aufflackerten.

Dann kehrte Ruhe ein, unheimliche Stille. Sogar der Wind gab keinen Laut mehr von sich, und das Meer flüsterte nicht mehr. Liz sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, während ich sie anstarrte.

»Was ist los?«, fragte sie schließlich. »Warum stehst du da?«

»Ich ... habe was getrunken.«

»Wo ist dein Schlafanzug, dir muss eiskalt sein.«

»So kalt ist es nicht.«

»Na gut, aber würdest du wieder ins Bett kommen, oder willst du die ganze Nacht dastehen und mir Angst einjagen?«

»Ich ... ja, natürlich«, sagte ich, während ich sie immer noch durchdringend ansah. »Geht es dir gut?«

»Sicher, warum sollte es mir nicht gut gehen?«

»Ich meine, fühlst du dich gut?«, fragte ich.

Sie lachte mit einem ungeduldigen Unterton. »Natürlich. Warum auch nicht?«

Ich legte mich wieder ins Bett, und sofort legte sie ihren Arm um mich und presste sich an mich. Ihre Brüste an meiner

Seite, ihre Hüften gegen meine Waden. Sie nahm meine rechte Brustwarze zwischen Zeigefinger und Daumen.

»Ich dachte, dir wäre nicht kalt«, sagte sie spielerisch.

»Ist es auch nicht. Ich habe mich nur erschrocken, weiter nichts.«

»Erschrocken? Wieso?«

»Dieses Ding, das ich schon mal gesehen hatte ... diese Nonne. Ich sah sie im Zimmer, als du geschlafen hast. Sie hatte sich irgendwie über dich gebeugt.«

»Was meinst du damit?«, fragte sie lächelnd.

»Ich weiß nicht, ich habe es einfach nur gesehen. Sie beugte sich über dich, und dann verschwand sie.«

Sie ließ ihre Finger an meiner Seite nach unten wandern und traf einen Nerv, der mich aufzucken ließ. »Ich glaube, du hast zu viel getrunken.«

»Liz, ich habe es gesehen. Es war direkt hier über dem Bett.«

Sie streichelte und kniff mich und fuhr mit ihren Nägeln über meine Schenkel, und dann begann sie, meinen Penis zu massieren. Ich griff nach ihrer Hand und stoppte sie. »Nicht. Mir ist jetzt nicht danach.«

Sie küsste mich, wollte aber nicht aufhören. Sobald ich ihr Handgelenk losließ, begann sie wieder, mich zu massieren. Heftig anstatt leidenschaftlich bohrte sie ihre Fingernägel tief in meine Haut.

»Das tut weh«, protestierte ich.

»Ach, Liebster«, zog sie mich auf. »Kannst du nicht ein klein wenig Schmerz ertragen? Ich dachte, Männer lieben den Schmerz.«

Sie machte weiter und wurde dabei immer gröber, bis ich schließlich erneut ihre Hand nahm und festhielt. »Liz, es tut mir weh. Genug ist genug.«

»Sag mir nicht, dass es dir nicht gefällt. Du hast einen Ständer wie ein Besenstiel.«

»Es tut mir weh, und ich bin nicht in der Stimmung dafür.«

Sie stieß einen Lacher aus, der so schrill war, dass er sich last wie ein Schrei anhörte. Ich hatte sie noch nie so lachen hören und spürte, wie eine Gänsehaut meinen Körper überzog. Sie zog die Decke fort und hockte sich auf meinen Oberkörper, ihre Knie presste sie gegen meine Rippen, und ihre Hände drückten meine flach auf das Bett. Auch wenn sie so zierlich war, fühlte sie sich doch kraftvoll an. Es war so dunkel, dass ich kaum ihr Gesicht sehen konnte, aber ich erkannte ihre strahlenden Zähne und ihre leuchtenden Augen. Sie atmete schwer und tief, ihr Brustkorb hob und senkte sich, und mit ihm ihre vollen Brüste.

»Liz?«, rief ich vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, sie nicht mehr zu kennen.

»Warum bist du geblieben?«, fragte sie außer Atem.

»Was? Wovon redest du?«

»Warum bist du geblieben? Warum bist du nicht abgereist, als du gemerkt hast, dass etwas nicht stimmt?«

Ich versuchte mich aufzurichten, doch sie drückte mich zurück auf das Kissen.

»Liz«, sagte ich. »Bist du das, oder ist das jemand anderes?«

Erneut lachte sie so schrecklich. »Nach wem sehe ich denn aus? Mein Gott, David, du bist so ein Dummkopf!«

Ich atmete tief ein und bemühte mich, ruhig und vernünftig zu bleiben. Es fiel mir schwer, weil ich schon immer dazu geneigt hatte, mit der Tür ins Haus zu fallen. »Liz ...«, begann ich, aber sie drückte ihre Fingerspitzen auf meine Lippen und sagte: »Psscht, du verstehst das nicht, und du musst es auch nicht verstehen.«

»Verstehen? Was muss ich nicht verstehen? Liz, das ist ja lächerlich!«

Aber sie beugte sich vor und küsste mich einfach, auf ineine Augenlider, auf den Mund, dann fuhr sie mit ihrer Zunge an meinen Lippen entlang. Aus irgendeinem Grund war ich mit einem Mal ruhig, als sei es egal, was sie sagte oder tat. Als sei es einfacher, liegen zu bleiben und das zu tun, was sie von mir verlangte. Ihre Zunge erkundete meine Zähne, und dann berührten sich unsere Zungenspitzen. Im gleichen

Moment fühlte ich, dass etwas Unbeschreibliches zwischen uns ausgetauscht wurde, so wie ein tiefes Geheimnis, das man mit einem anderen Menschen teilt.

Für einen Moment sah ich in ihren Augen das rötliche Leuchten, und ich verstand Dinge, die ich niemals hätte verstehen sollen. Es gibt keinen Gott, es hat ihn nie gegeben, es wird ihn nie geben, aber es gab immer die Großen ... einige strahlend in ihrer Güte, einige zurückgezogen und distanziert, einige zu abscheulich und Furcht erregend, als dass ein menschliches Wesen sie verstehen könnte. Liz richtete sich auf, und im gleichen Augenblick verschwand dieses Verstehen. Aber ich hatte das Gefühl, dass etwas Gewaltiges und Dramatisches geschehen und dass ich Teil davon sein würde.

Liz rutschte weiter nach oben, bis ihre Knie zu beiden Seiten meines Kopfs ruhten und ihre Scham nur ein paar Zentimeter von meinem Mund entfernt war. Sie verströmte das starke unverkennbare Aroma von Sex. Ich sah zu ihr hinauf. Mit beiden Händen hatte sie sich am Kopf des Betts aufgestützt, und aus meiner Blickrichtung war ihr Gesicht von dem v-förmigen Tal ihrer Brüste und dem glänzenden Dreieck ihres Schamhaars eingerahmt.

»Du zögerst, David«, sagte sie in einem ungewöhnlichen Tonfall. »Warum? Magst du den Geschmack nicht?«

»Liz«, setzte ich an, doch mein Verstand war in einem langsamen Wirbel aus Gefühlen, Angst und Verlangen gefangen. Stell dir vor, du würdest eine Frau treffen, die alles machen würde, was du möchtest ... absolut alles. Hatte ich das gesagt? Oder Liz? Ich war nicht sicher. Doch wie sie da über meinem Gesicht hockte, sah ich mich selbst, wie ich mit ihr Dinge tat, die Janie niemals zugelassen hätte. Ich sah schwarze Nylonstrümpfe, weiße Schenkel, feuchte Lippen, volle Brüste, durchnässte Seide.

Mit einer unerträglich langsamen rotierenden Bewegung senkte sich Liz auf meinem Mund herab. Ich erlebte einen warmen, triefnassen Kuss, der mich fast erstickte. Meine Zunge erkundete langsam ihre Schamlippen, spielte mit ihrem Kitzler und glitt dann tief in ihre Vagina. Lippen wurden gegen Lippen gedrückt, der Kuss war vollkommen. Während sie sich noch heftiger auf mich drückte, kreiste meine Zunge tief in ihrem Unterleib.

Obwohl Liz ekstatische Schreie ausstieß und obwohl ich in Speichel und Gleitflüssigkeit fast ertrank, hatte das hier mit Sex oder Liebe nichts zu tun. Das geschah nicht um der Liebe willen, nicht mal um der Lust willen. Es war etwas anderes. Auch wenn ich es nicht wirklich verstand, kam es mir vor wie die Zeugung eines Kindes.

Oder die Zeugung von etwas ... etwas anderem.

Ich erinnere mich, dass sich Liz schließlich von meinem Gesicht erhob. Sie kniete lange Zeit auf dem Bett und beobachtete mich, während mein Kopf auf dem Kissen ruhte und die warme Nachtluft meine Lippen trocknete. Ab und zu berührte sie meine Brust und zeichnete irgendwelche Muster, die mir wie Blumen oder Kleeblätter oder Sterne vorkamen.

»Weißt du was?«, sagte sie leise. »Als ich noch klein war, hat mich meine Mutter immer zu meinem Bruder in die Schule geschickt, damit ich ihm das Essen brachte. Draußen sah ich stets die kleinen Kinder spielen, und ich stellte mir immer vor, dass ich selbst gerne ein Baby hätte.«

Ich schloss die Augen, weil ich mich unerträglich müde fühlte. Auch wenn Fortyfoot House es nicht geschafft hatte, mich umzubringen, so hatte es mir doch alle Kräfte geraubt. »Ich muss einfach schlafen, ich kann nicht mehr«, murmelte ich.

Liz machte unterdessen mit diesem Muster weiter: »Ich habe immer meinen Bruder gehört, wenn er sang: >Tu, ta, ti; bu, ba, bi ... ubanu, am-matu, ganu, ashlu.<«

Ich schlief, aber ich hörte noch immer ihre Stimme. Es war, als könnte sie ihre Stimme in meinem Kopf ertönen lassen, ob ich nun schlief oder wach war. Ich träumte, dass ich wieder an einem düsteren und windstillen Tag über den Ozean glitt. Liz stand am Strand, und obwohl ich ziemlich schnell flog, blieb sie immer gleich weit von mir entfernt und redete weiter, während ihr Gesicht halb unter Verbänden verdeckt war. »Tu, ta, ti; bu, ba, bi...«

Dann - ohne Vorwarnung — war es Morgen, die Sonne schien unbarmherzig grell ins Zimmer. Liz schlief noch, sie hatte den Mund geöffnet, ihr Haar war zerzaust. Ich verließ vorsichtig das Bett und ging zum Fenster. Die See glitzerte im Schein der Sonne.

Während ich dastand und aus dem Fenster sah, war ich fast im Begriff, mir einzureden, dass es ein Verbrechen wäre, Fortyfoot House niederzubrennen. Aber so schön es auch gelegen war, so war das Haus selbst bösartig und beunruhigend. Und es hatte die entsetzlichsten Folgen für jeden, der versuchte, etwas dagegen zu unternehmen. Ich war sicher, dass ich das nächste Opfer sein würde, wenn ich es nicht in Brand steckte.


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