Am Abend kochte Liz ihr viel gerühmtes Chili. Danny schmeckte es nicht besonders, es war für seinen Geschmack zu viel Pfeffer drin, und die Kidneybohnen fand er »eklig«. Er sortierte sie alle auf eine Seite des Tellers, als wären es kleine Steine.
Für mich dagegen war es eine der besten Mahlzeiten seit Monaten, nicht zuletzt, weil ich sie nicht selbst zubereiten musste. Wir aßen im Wohnzimmer, die Teller balancierten wir auf dem Schoss, während wir uns im Fernsehen Die Brücke am Kwai ansahen.
»Was hat der Rattenmann gesagt?«, fragte Liz. Um ihren Kopf hatte sie einen roten Schal gebunden, und sie trug ein weites Baumwollkleid, das irgendwie wie ein Kaftan wirkte. Ihre nackten Zehen mit den lackierten Nägeln lugten unter dem ausgefransten Saum hervor.
»Er tat ein wenig geheimnisvoll, wenn ich ehrlich sein soll. Er sagte, er kenne diese spezielle Ratte. Genau genommen kenne sie jeder im Dorf. Er sagt, dass sie schon so lange hier lebt, dass sich einfach jeder an sie erinnern kann.«
»Ratten leben doch nicht so lange, oder?«
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte ich schulterzuckend. »Jedenfalls hat er gesagt, dass er im Ruhestand ist und nicht interessiert sei.« Mehr wollte ich nicht sagen, um Danny nicht zu beunruhigen. Er musste nichts hören von grellen Lichtern und schrecklichen Stimmen und von Dingen, die einen dorthin verschleppen, wo einen nicht einmal die Zeit finden kann.
Liz kam zu mir und nahm mir den Teller aus der Hand. »Wie wäre es mit noch etwas Wein?«, schlug sie vor.
»Gerne.« Wir gingen in die Küche, während Danny Alec Guinness beobachtete, der den Japanern trotzte.
Liz kratzte die Reste von den Tellern in den Mülleimer, während ich zwei Gläser Piat D'Or einschenkte.
»Das war ein tolles Abendessen, danke.«
»Danny hat es nicht so geschmeckt, würde ich sagen.«
»Danny ist ein unerschütterlicher Fan von Heinz Spaghetti.«
»Das mit der Ratte ist seltsam. Was wirst du jetzt machen?«
»Ich habe Rentokil in Ryde angerufen; sie schicken morgen Nachmittag jemanden her. Aber es war sehr sonderbar. Die Frau des Rattenfängers hat mir erzählt, die Ratte sei in Bonchurch so bekannt, dass sie sogar einen Namen hat. Sie hatte eindeutig sehr große Angst davor. Ich konnte sie nicht dazu bringen, mir diesen Namen zu sagen. Ihr Mann hat ihn mir dann schließlich gesagt.«
Liz spülte die Teller, ich trocknete ab und stellte sie fort.
»Und?«
»Und was?«
»Wie die Ratte heißt, meine ich.«
»Ach so, Brown irgendwas. Brown Johnson oder so.«
Liz legte die Stirn in Falten. »Komisch, ich bin sicher, dass ich so einen Namen schon mal irgendwo gehört habe.«
»Also, ich kenne eine ganze Menge Leute, die Johnson heißen. Und auch einige Leute, die Brown heißen.«
Wir setzten uns wieder hin und leerten unsere Gläser, während wir zusahen, wie William Holden die Brücke über den Kwai in die Luft jagte. Danny war so müde, dass ich ihn ins Bett tragen und ausziehen musste. Ich sah ihm zu, wie er sich die Zähne putzte. Dabei fiel mein Blick auf mein Spiegelbild im Badezimmerfenster. Ich sah dünner und ausgemergelter aus, als ich gedacht hatte.
Liz schaltete das Licht in Dannys Zimmer aus, und gemeinsam gingen wir wieder nach unten. Ich öffnete eine weitere Flasche Piat D'Or, und wir machten es uns auf dem durchgesessenen braunen Sofa gemütlich, während meine zerkratzte LP mit Smetanas Ma Vlast lief. Die Musik beschrieb genau meine Verfassung: aufgewühlt, gefühlvoll, ein wenig aufgeblasen und fremd.
Liz erzählte, dass sie in Burgess Hill zur Welt gekommen sei, einer kleinen hässlichen Stadt in Mid-Sussex. Ihr Vater leitete ein Bauunternehmen, ihre Mutter hatte einen kleinen Glas-und Porzellanwarenladen. Vor sechs Jahren hatte sich ihre Mutter in einen eleganten Reisekaufmann mit einem kleinen gestutzten Schnauzer verliebt, dessen ganzer Stolz ein neuer Ford Granada war. Ihre Eltern ließen sich daraufhin scheiden. Liz hatte gerade erst verarbeitet, dass sie aus einer zerstörten Familie kam. »Viele andere Studenten reden von >Daddy< und >Mom< und sagen >meine Familie<. Ich habe zwei Jahre benötigt, um den Mut zu finden, anderen zu sagen, dass sich meine Eltern getrennt haben. Es tut weh. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Das Schlimmste damals war, wie entsetzlich sie sich beschimpft haben.«
»Hast du einen Freund?«, fragte ich.
»Ich hatte einen. Aber er war zu korrekt für mich. Ihm war es peinlich, wenn ich auf einer Mauer balancierte oder auf der Straße tanzte. Ich habe auch dem Sex abgeschworen. Ich habe beschlossen, keusch und heilig zu sein. Die heilige Elizabeth, die Unberührte.«
»Warum hast du dem Sex abgeschworen?«, fragte ich lächelnd.
»Ich weiß nicht, ich glaube, es lag an Robert. Meinem Freund. Bei ihm kam es mir so kompliziert und so mechanisch vor. Ich hatte immer das Gefühl, dass er versuchte, einen Wagen zu warten.«
Ich lachte. »Keusch bist du wahrscheinlich besser dran.«
»Dir fehlt es, verheiratet zu sein, nicht wahr?«
»Ja und nein. Mir fehlt die Gesellschaft, es fehlt mir, mit jemandem reden zu können.«
»Und die Wagenwartung?«
Ich hob mein Weinglas. Durch das gewölbte Glas konnte ich Liz' verzerrtes Gesicht sehen. »Ja, die fehlt mir auch.«
Es war eine Nacht mit hoher Luftfeuchtigkeit, es ging kaum ein Wind. Hinter den Bäumen klang die See wie eine geisterhafte Frau, die langsam in einem Taftkleid durch einen marmornen Korridor lief. Ich stand am Fenster, als Ma Vlast endete und eine Eule ihren Schrei in die Nacht schickte. Ich überlegte, ob diese siebzig Kinder auf dem Friedhof sie auch hören konnten. Weit entfernt zuckten Blitze. Es war eine Nacht voller Elektrizität, voller Hochspannung.
»Ich gehe schlafen, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Liz.
Ich nickte. »Was soll ich dagegen haben? Fühl dich hier wie zu Hause. Du kannst schlafen gehen und aufstehen, wann immer du willst. Wann fängst du in diesem Vogelpark an?«
»Übermorgen.«
Sie kam zu mir und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Danke, David. Das wird schon werden.«
Ich küsste sie auf die Stirn. »Das glaube ich auch.«
Ich saß allein und ohne Wein da, während ich mir die andere Seite der Platte anhörte. Preludes von Liszt. Aber allein dazusitzen, war nicht das Gleiche. Ich ging in die Küche und stieß auf den Rest eines Notizblockes mit dem Werbeaufdruck vom Schlachter E. Gibson in der High Street in Ventnor. Dann begann ich, Janie einen Brief zu schreiben. Ich schrieb ihr, dass es Danny und mir gut gehe und dass Liz den Sommer bei uns verbringen werde. Ich zögerte einen
Moment lang, dann strich ich den letzten Teil durch. Schließlich zerknüllte ich den ganzen Brief und warf ihn in den Kohleneimer. Es ergab keinen Sinn, alle Brücken hinter mir niederzureißen, wenn es nicht wirklich notwendig war. Immerhin wusste ich nicht, ob Janie und Raymond möglicherweise gar nicht mehr waren als nur gute Freunde.
Du Träumer, dachte ich.
Ich saß noch immer in der Küche vor dem leeren Notizblock, als die Uhr im Flur Mitternacht schlug. Ich musste am nächsten Morgen früh raus, also ging ich von Tür zu Tür, um zu sehen, ob alles verschlossen war; dann schaltete ich das Licht aus. Im Wohnzimmer klapperte ein Fenster. Es war nicht sehr heftig, weil sich die Luft draußen kaum bewegte, aber es war recht laut und unangenehm regelmäßig. Als ich es schließen wollte, sah ich, wie die Blitze über den Horizont zuckten. Die Luft roch nach Ozon.
Von der Decke hörte ich ein leises Kratzen, als würde sich unter den Dielenbrettern im Schlafzimmer etwas schnell und mit Leichtigkeit bewegen, etwas, das Krallen hatte.
Ich möchte den Namen dieses Dings nicht aussprechen.
Ich lauschte, aber das Geräusch war nicht mehr zu hören. Ich schloss und verriegelte das Fenster, sah aber nicht in den Garten. Ich wusste zwar, dass er nicht dort sein würde, ich wusste, dass er nicht mal dort sein konnte - trotzdem wollte ich ihn nicht sehen, den Mann mit dem schwarzen Zylinder, draußen auf der Wiese. Er existierte nicht. Er war nichts weiter als eine optische Täuschung, der Schatten einer vorüberfliegenden Möwe, ein vom Wind mitgerissenes Stück schwarzes Papier.
Ich tastete mich zurück in den Flur, wo durch das Oberlicht über der Eingangstür ein fahler Lichtschein hereinfiel. Ohne das Licht anzuschalten, ging ich auf quietschenden Sohlen bis zum Ende des Flurs gleich neben der Kellertür, wo das Foto hing - Fortyfoot House anno 1888.
Der Mann stand noch immer dort, sein Gesicht ein klein wenig verschwommen, seinen Blick durch mehr als hundert
Jahre hindurch auf mich gerichtet. An dem Tag, an dem er im Garten gestanden hatte, um sich fotografieren zu lassen, hatte Queen Viktoria nur wenige Kilometer entfernt in Osborne residiert, und Oscar Wilde hatte soeben The Happy Prince veröffentlicht.
Eigentlich war es völlig irrational von mir, dass ich nachsah, ob er noch auf dem Bild sei. Aber ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es ihm irgendwie gelungen war, aus dem Bild zu entkommen, um sich im Fortyfoot House zu verstecken; in seinem schwarzen Anzug, mit bleichem Gesicht und zweidimensional.
Schließlich wandte ich mich von dem Foto ab, doch im gleichen Moment war ich sicher, dass sich das Bild geringfügig verändert hatte. Ich sah wieder hin. Er schien an der gleichen Stelle zu stehen wie zuvor, sein Gesichtsausdruck war unverändert. Aber hatte sein Fuß nicht gerade eben noch ein Stück näher an dem Rosenbeet gestanden?
Zu viel Piat D'Or, sagte ich mir. Zu viel Stress, zu viele Sorgen. Ich fing schon an, Gespenster zu sehen. Es war nicht möglich, dass sich etwas in einem hundert Jahre alten Bild bewegte oder veränderte. Der junge Mr. Billings konnte einfach nicht durch die Flure oder durch den Garten von Fortyfoot House spazieren.
Ich ging die Treppe nach oben, das knochenbleiche Licht in meinem Rücken. Ich erreichte den Treppenabsatz und blieb einen Moment an der Tür zum Dachboden stehen. Sie war fest verschlossen und es war weder ein Schlurfen noch ein Kratzen zu hören. Brown Johnson (oder wie die Leute in Bonchurch ihn nannten) war entweder nicht da oder er schlief. Es gab keinen Grund, Angst zu haben.
Wer hat schon Angst vor einer großen braunen Ratte ?
Ich sah nach Danny, der fest schlief. Sein Haar klebte in Strähnen auf seiner Stirn. Ich gab ihm einen Kuss, woraufhin er sich umherwälzte und »Mom« sagte.
Mom, du armer kleiner Kerl. Mom ist auf und davon, zusammen mit Raymond. Mom will nichts mehr von dir wissen.
Die Tür zu Liz' Zimmer war geschlossen. Einen Sekundenbruchteil lang war ich versucht, sie zu öffnen und ihr eine gute Nacht zu wünschen, aber dann entschied ich mich dagegen. Vielleicht würde sie es falsch auffassen. Ich fand sie hübsch und sexy, und ich liebte ihre nackten Zehen und diesen Geruch einer Neunzehnjährigen, aber ich wollte sie nicht anmachen, wenn sie es nicht wollte. Dafür genoss ich ihre Gesellschaft viel zu sehr, von ihrem Chili ganz zu schweigen. Der Gedanke, den Sommer ohne sie zu verbringen, hatte mit einem Mal etwas Tristes.
Ich zog mich aus, wusch mich, putzte mir die Zähne und legte mich erschöpft schlafen. Im gleichen Moment wünschte ich mir, dass ich das Bett zuvor mit mehr Sorgfalt gemacht hätte. Das Laken war voller Falten, in denen sich überall Toastkrümel fanden. Ich versuchte, eine erträgliche Position zu finden, aber schließlich musste ich wieder aufstehen und das Bett neu beziehen.
Ich war noch immer damit beschäftigt, das Bettlaken unter die Matratze zu stecken, als es an meiner Tür klopfte.
»David? Ich bin's, Liz.«
»Augenblick«, sagte ich und legte mich wieder hin, um sie nicht sehen zu lassen, dass ich nackt war. »Okay, du kannst reinkommen.«
Sie betrat mein Zimmer und schloss schnell die Tür hinter sich, als fürchte sie sich vor etwas, das hinter ihr her war. Ihr Haar hatte sie noch immer mit dem roten Seidenschal zusammengebunden, sonst trug sie ein knappes T-Shirt und einen winzigen weißen Spitzenslip. Sie setzte sich auf den Bettrand, aber ihr Gesicht hatte einen ängstlichen Ausdruck, keinen verführerischen.
»Irgendetwas rennt auf dem Dachboden hin und her, ich höre es. Das muss diese Ratte sein.«
»Heute Nacht habe ich noch nichts gehört«, log ich.
»Ich bin sicher, dass es eine Ratte ist«, beteuerte sie. »Sie rennt direkt über meinem Zimmer von einer Seite zur anderen.«
»Ich kann nichts dagegen machen, jedenfalls nicht im Moment. Der Kerl von Rentokil kommt morgen her.«
»Na gut. Ich wollte dich nicht stören, aber ich kann Ratten nicht ausstehen. Die lösen bei mir Gänsehaut aus.«
»Mir geht's nicht anders. Sag mir Bescheid, wenn du wieder was hörst. Ich könnte nach oben gehen und versuchen, sie mit einem Schürhaken zu erschlagen.«
Tolle Aussicht, dachte ich bei mir. Vor allem nach dem Fiasko von heute Morgen. Was mich angeht, werde ich mich so weit von Brown Johnson fern halten, wie es nur geht.
Liz zögerte, dann sagte sie: »Hör mal ... ich weiß, dass sich das bestimmt wie ein Vorwand anhört, aber Ratten machen mir entsetzliche Angst. Meinst du, ich könnte heute Nacht bei dir schlafen? Ich lege auch ein Kissen zwischen uns.«
»Na klar.« Es machte mir nichts aus. Eigentlich gefiel mir der Vorschlag sogar ausgesprochen gut. Ich hatte seit Monaten nicht mehr mit einer Frau in einem Bett gelegen. Dabei ging es mir nicht mal so sehr um die >Wagenwartung<, sondern ums Reden.
Es ist erstaunlich, wie schnell man es leid wird, alleine zu lachen, zu lesen, Musik zu hören und zu essen. Aber allein zu schlafen ist am allerschlimmsten. Man könnte genauso gut im Sarg liegen, in die Dunkelheit grinsen, mit seinem Schwanz spielen und auf Gott warten.
»Das geht schon klar«, sagte ich. »Wenn du solche Angst hast.«
»Ich verspreche dir auch, dass ich morgen früh aus dem Zimmer verschwinde, bevor Danny aufwacht.«
Sie schloss die Tür, hob das Laken und legte sich neben mir ins Bett. Ich rutschte zur Seite, bis zwischen uns gut zwanzig Zentimeter Abstand waren. Zwar legte ich beide Arme eng an meinen Körper, aber es fiel mir sehr schwer, die Nähe, die Wärme, das Parfüm und die nervös machende Anwesenheit einer hübschen jungen Frau zu ignorieren.
»Wann hast du es gehört?«, fragte ich.
»Als du die Treppe heraufkamst. Sie rannte quer über den
Dachboden. Es klang unglaublich groß und schwer, aber nachts scheinen Geräusche lauter als sonst, oder?«
Ich sah zur Decke. »Ich glaube, sie ist auch groß und schwer.«
»Hör auf, ich kriege Angst.«
Seite an Seite lagen wir da und lauschten. Wir hörten, wie die Uhr unten im Flur halb eins schlug und draußen eine nächtliche Brise aufkam, die dann durchs Haus strich und die verschlossenen Türen in ihren Scharnieren rappeln ließ.
»Wir sollten das Licht ausmachen und versuchen, ein wenig zu schlafen«, schlug ich nach einer Weile vor.
Dann lagen wir in der Finsternis da. In Bonchurch gab es keine Straßenlaternen, im Garten war keine Lampe, und der Mond schien auch nicht, sodass die Dunkelheit nahezu vollkommen war. Es war so, als habe man einem einen schwarzen Samtbeutel über den Kopf gestülpt. Ich war mir auf eine unerträgliche Weise Liz' Busen bewusst, der gegen meine rechte Schulter drückte. Auch wenn sie ein T-Shirt trug, konnte ich spüren, wie sanft und schwer ihr Busen war. Jetzt, da sie keines ihrer weiten Baumwollkleider trug, die ihre Figur mehr oder weniger verborgen hatten, konnte ich nicht darüber hinwegsehen, dass sie für ihre Körpergröße und Statur äußerst große Brüste hatte. So verführerisch ihr Gesicht auch gewesen war, so waren Janies Brüste im Vergleich Mückenstiche gewesen, was nachvollziehbar machte, warum mir Liz' Brüste so sehr auffielen.
»Ich glaube, dass uns das Schicksal immer eine zweite Chance gibt«, sagte Liz. »Manchmal sind wir blind oder zu beschäftigt, um es wahrzunehmen, das ist alles. Findest du nicht auch, dass es eine Tragödie ist, wenn zwei Menschen, die zusammen wirklich glücklich sein könnten, auf der Straße aneinander vorbeigehen — nur Zentimeter voneinander entfernt - und es niemals wissen? Oder wenn zwei Menschen über Tausende von Kilometern immer näher aufeinander zukommen, und dann verpasst einer von ihnen seinen Zug, weil er seine Zeitung hat fallen lassen und zurückgegangen war, um sie aufzuheben. Dadurch begegnen sie sich niemals.«
»So was muss ja ständig passieren, das ist das Wahrscheinlichkeitsgesetz.«
»Wie sind wir beide zum Beispiel zusammengekommen?«, fragte Liz. »Du hättest anderswo einen Job für den Sommer bekommen können. Du hättest dein Geschäft weiterführen können, du hättest mit Janie zusammenbleiben können. Und es war nur ein Zufall, dass mir jemand diese Adresse hier gegeben hat.«
»Schicksal«, sagte ich und lächelte, auch wenn sie es nicht sehen konnte. »Und die eine Sache, die uns immer vorantreibt ... dieser seltene und glorreiche Augenblick, wenn sich das Leben als doch nicht so mies erweist.«
Sie streckte ihre Hand nach mir aus, und ihre Fingerspitzen berührten in der Dunkelheit meine Wange. Sie betastete meine Augen und Nase und Lippen, als sei sie blind. »Ich liebe es, Menschen im Dunkeln zu berühren. Sie fühlen sich ganz anders an, die Proportionen ändern sich, je nachdem, wie man jemanden anfasst. Vielleicht verändern sie sich ja wirklich, wer kann das schon sagen? Du könntest dich durchaus in irgendein entstelltes Monster verwandeln. Man muss das Licht schon sehr schnell anmachen, um das finstere Gesicht eines Menschen erblicken zu können - also das Gegenteil von dem freundlichen Gesicht, das sie aufsetzen, um alle glauben zu lassen, dass sie ganz gewöhnlich und normal sind.«
»Denkst du, dass ich mich in ein Monster verwandle?«
»Vielleicht. Aber vielleicht verwandle ich mich ja auch in ein Monster. Was würdest du dann machen?«
»Wie ein Wahnsinniger wegrennen und hinter mir eine Durchfallspur herziehen.«
Sie küsste mich. »Sei nicht eklig.«
Ich erwiderte ihren Kuss. »Ich werde so lange nicht eklig sein, wie du dich nicht in ein Monster verwandelst. Und das betrifft jede Art von Monster.«
Sie küsste mich abermals, doch ich sagte: »Wir sollten jetzt besser schlafen. Du hast versprochen, die heilige Elizabeth, die Unberührte, zu sein, und ich wollte der heilige David, der Göttliche, sein.«
»Kommt drauf an, worin du göttlich bist.«
Wir schafften es, eine einigermaßen bequeme Schlafposition einzunehmen, schlossen die Augen und taten fast eine Dreiviertelstunde so, als würden wir schlafen. Ich lauschte dem Knarren des Hauses, dem Wind, der durch die Eiche wehte, und dem leisen Rauschen der See. Ich lauschte dem Luftzug, der sich um das Haus bewegte, gegen die Fenster klopfte und an den Schlössern rappelte.
Ich lauschte Liz' gleichmäßigem Atem, der zu jemandem gehörte, der schlafen wollte, aber nicht konnte, und der fast im Begriff war, nach unten zu gehen und eine Tasse Tee aufzugießen.
»Liz?«, fragte ich schließlich. »Schläfst du?«
Sie zog das Laken vom Gesicht. »Mein Verstand kommt nicht zur Ruhe.«
»Woran denkst du? An etwas Bestimmtes?«
»Oh ... eigentlich nicht. Arbeit, das College. Ich habe überlegt, ob ich genug Geld zusammenbekommen kann, um mir ein Auto zu kaufen. Ich bin es leid, immer andere zu fragen, ob ich mitfahren kann.«
Es folgte eine lange Stille, dann sagte ich: »Ich kann auch nicht schlafen.«
»Vielleicht bist du es nicht mehr gewöhnt, mit jemandem im Bett zu liegen.«
»Könnte sein.«
Schließlich sagte sie: »Du darfst mich küssen, weißt du? Wir werden nicht von einem bösen Gott dafür bestraft.«
»Ich weiß nicht. Ich möchte nichts anfangen, was ich nicht zu Ende führen kann.«
»Wer redet davon, irgendwas anzufangen? Und wer redet davon, irgendwas zu Ende zu führen?«
Ich legte meinen Arm um ihre Schulter. »Weißt du, was
Danny mich neulich gefragt hat? >Hat Gott sich selbst geschaffen<«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich habe gesagt, er solle nicht albern sein. Dann wurde mir klar, dass ich die Antwort gar nicht weiß. Ich habe die ganze Nacht lang darüber nachgedacht.«
»Gott war vor allem anderen da. Gott war schon immer.«
»Was ist denn das für eine Antwort? Das ist eine faule Ausrede.«
Liz stützte sich auf einen Ellbogen und küsste mich auf meine Wange, dann auf den Mund. Ihre Zunge wanderte zwischen meinen Zähnen umher. Ich versuchte, den Kuss nicht zu erwidern, doch sie schmeckte so, wie ein Mädchen schmecken sollte ... ein wenig süß, ein wenig salzig, Speichel und Parfüm und Wein, und da war ihre schwere warme unter einem T-Shirt verborgene Brust, die sich gegen meinen nackten Arm drückte. Unsere Lippen waren in einen stummen leidenschaftlichen Ringkampf verwickelt. Ich drückte ihre Brüste durch den Stoff, sie waren enorm, vor allem im Vergleich zu denen von Janie. Sie waren wie ein Wirklichkeit gewordener Penthouse-Traum. Mein Schwanz richtete sich schnell und unwiderruflich auf, und ich konnte nichts dagegen tun. Liz nahm ihn in ihre rechte Hand und umschloss ihn kraftvoll, so wie ein Mädchen, das darin einige Übung hat. Sie schob ihre Hand langsam auf und nieder, auf und nieder, bis er fast unerträglich angeschwollen und vor Gleitflüssigkeit völlig nass war.
Ich ließ in der gleichen Zeit meine Hände unter ihr T-Shirt gleiten und umfasste ihre Brüste; mit Zeigefinger und Daumen massierte ich ihre Brustwarzen, bis sie sich steif aufrichteten. Während sie mich küsste und meinen Penis massierte, sang sie mit einer ganz hohen Stimme ein seltsames Lied, das einem Angst einjagen konnte. Liz drehte sich kurz um und zog ihren Slip aus.
»Kondom«, sagte ich mit erstickter Stimme.
»Ich nehme die Pille.«
»Egal ... wir sollten trotzdem eines benutzen!«
»Ich habe kein AIDS, weißt du?«
Bevor ich noch ein Wort sagen konnte, hatte sie sich rittlings auf mich gesetzt. Meinen Schwanz, den sie noch immer fest umschlossen hatte, dirigierte sie zwischen ihre Schenkel. Sie neckte mich einen Moment lang, indem sie ihn über ihre Schamlippen gleiten ließ, ohne mich eindringen zu lassen. Im nächsten Moment presste sie ihren Unterleib dagegen, und ich drang so tief ein, wie es nur möglich war. Ich schloss die Augen. Nach Monaten der Abstinenz, nach Monaten, in denen ich mir immer wieder eingeredet hatte, dass ich das hier nicht brauchte, war es ein Segen. Ich weiß nicht, ob ich laut aufstöhnte, auf jeden Fall beugte sich Liz vor, küsste mich und sagte: »Ssscht, es ist wundervoll.«
Sie bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit auf und nieder, die mich nach und nach immer stärker erregte, aber nicht zu stark. So kam es mir vor, als seien mehrere Stunden vergangen, ehe ich dieses unwiderstehliche Verkrampfen zwischen meinen Beinen verspürte, das mir verriet, dass ich es nicht mehr lange würde aushalten können. Liz begann zu keuchen, ihr T-Shirt klebte auf ihren schweißnassen Brüsten. Ich legte meine Hände fest um ihre Pobacken und presste sie noch stärker auf mich.
In genau dem Augenblick hörten wir auf dem Dachboden ein lautes Poltern. Direkt über uns. So, als habe jemand einen Sessel umgeworfen.
Liz saß wie erstarrt auf mir, meinen Schwanz immer noch tief zwischen ihren Schenkeln vergraben. »Was war das?«, flüsterte sie. »Das war doch keine Ratte?«
»Ich habe doch gesagt, dass sie groß ist.«
»Groß?« In ihrer Stimme schwang Angst mit. »Sie muss ja riesig sein!«
Wir warteten und lauschten, und in dem Moment, als wir im Begriff waren, uns weiter zu lieben, folgte ein weiteres Geräusch: ein entsetzliches Schlurfen, danach ein lautes Gepolter, als sei eine Sammlung Spazierstöcke umgefallen.
Liz erhob sich. Ich spürte den kalten Luftzug zwischen meinen nassen Schenkeln. »Das ist keine Ratte«, sagte sie. »Da oben ist jemand.«
»Ach, komm schon«, protestierte ich. »Warum sollte jemand auf dem Dachboden einen solchen Lärm machen? Es ist eine Ratte. Das klingt nur so schlimm, weil wir uns genau darunter befinden.«
»Vielleicht wohnt da oben jemand, von dem du nichts weißt. Ich habe mal einen Film über einen Mann gesehen, der immer nachts nach unten kam, wenn die Familie schlief, und dann durchs Haus lief.«
»Warum sollte jemand auf einem stockfinsteren Speicher wohnen wollen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht hat sich jemand eingenistet, bevor du hergekommen bist. Jetzt versteckt er sich auf dem Dachboden und wartet, bis du wieder gehst.«
Ich schaltete die Nachttischlampe an. »Leute, die sich verstecken, machen für gewöhnlich nicht einen derartigen Lärm.«
»Vielleicht will er dir Angst einjagen«, überlegte Liz.
»Ich bin oben gewesen«, erklärte ich. »Ich habe etwas gesehen, das wie eine Ratte aussah. Es hat eindeutig nicht wie ein Mensch ausgesehen.«
»Also, ich finde, dass es nach einem Menschen klingt.«
Wir warteten wieder. Ich war frustriert und beunruhigt zugleich. Ich verspürte den Wunsch, einen Schürhaken oder einen Cricketschläger zu nehmen und diesen verdammten Brown Johnson totzuschlagen. Ich fragte mich bloß, ob ich das auch wirklich konnte, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. Was, wenn es keine Ratte war? Wenn es ein Hausbesetzer, ein Landstreicher oder sogar ein Psychopath war, der sich vor dem Licht oder vielleicht vor dem Gesetz versteckte? Was, wenn es nichts in dieser Art war, sondern etwas völlig anderes? Etwas so Entsetzliches, dass niemand es beschreiben konnte?
Was immer es war, es musste verschwinden. Ich war mir bloß nicht sicher, ob ich in der Lage war, dieses Etwas aus dem Haus zu jagen. Wenn die Menschen in Bonchurch seit so vielen Jahren davon wussten, warum hatte sich nicht früher jemand darum gekümmert? Warum hatten die Tarrants nicht versucht, das Ding loszuwerden?
Fünf Minuten lang war nichts mehr zu hören, und schließlich nahm ich Liz an der Hand und sagte: »Komm wieder ins Bett. Wir sollten versuchen, ein wenig zu schlafen.«
»Ich gehe besser wieder in mein Zimmer«, sagte sie. »Wir wollen doch nicht, dass Danny mich hier antrifft.«
»Ich glaube nicht, dass es Danny stören würde.«
»Nein, aber es würde mich stören. Ich bin weder seine Mutter noch deine Geliebte. Wir sind einfach nur beim Vögeln gestört worden.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Ich hatte gehofft, dass wir da weitermachen würden, wo wir aufgehört hatten. Oder dass wir vielleicht einen Teil wiederholen würden. Aber offenbar war Liz nicht in der Stimmung dazu. Ich hatte mindestens fünf freche Antworten auf der Zunge, aber ich biss mir auf die Lippen. Vielleicht war sie ja morgen Abend wieder in der richtigen Stimmung.
Sie kletterte aus dem Bett und zog ihr T-Shirt nach unten, aber ich konnte einen kurzen Blick auf ihre glänzenden dunkelroten Schamlippen werfen. Es war eines von diesen Bildern, die nur einen Sekundenbruchteil währen-, die man aber sein Leben lang nicht vergisst.
»Höschen«, sagte ich und hielt ihren Slip hoch.
»Danke«, erwiderte sie lächelnd. »Schlaf gut.«
Sie hauchte mir einen Kuss zu, dann ging sie aus dem Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Ich blieb, wo ich war, auf einen Ellbogen gestützt, und hatte das Gefühl, dass ich die Frauen niemals verstehen würde. Mein Freund Chris Pert hatte mal gesagt, Frauen seien das einzige unlösbare Problem, das einen sexuell stimulieren könne.
Ich wollte gerade das Licht ausmachen, als sie wieder ins Zimmer zurückkehrte.
»Was ist los?«, fragte ich. Sie sah zutiefst beunruhigt aus, ihre Augen waren weit aufgerissen.
»Vom Dachboden kommt Licht, ein sehr grelles Licht.«
»Da oben gibt es kein Licht. Die Leitungen sind marode.«
»Komm mit und sieh es dir an.«
Ich erhob mich aus dem Bett und griff nach meinen Boxershorts, die so gestreift waren wie Zahnpasta.
»Ich wollte gerade die Tür zumachen, als ich etwas flackern sah. Es sieht so aus, als stimme mit der Elektrik etwas nicht.«
Ich trat in den Korridor, und Liz folgte mir. Es war völlig finster. »Ich kann nichts entdecken«, sagte ich zu ihr. »Wahrscheinlich hat sich nur was gespiegelt, als du die Tür zu deinem Schlafzimmer geöffnet hast. Auf dem Treppenabsatz befindet sich ein Spiegel.«
»Da hat sich nichts gespiegelt«, beteuerte Liz. »Es war blau, wie Elektrizität.«
Ich tastete mich an der Wand entlang bis zum Treppenabsatz. Es war so dunkel, dass es einfacher für mich war, die Augen zu schließen und mich wie ein Blinder vorzutasten. Liz war weiter dicht hinter mir, ihre Hand lag auf meiner Schulter. »Es war nur ein paar Sekunden lang zu sehen. Aber es schien so grell.«
Wir hatten fast den Absatz erreicht, als wir einen schrillen Schrei hörten, wie von einem Kind, das sich in größter Gefahr befand. Meine Nackenhaare richteten sich auf, und ich sagte: »Scheiße, was zum Teufel ist das?« Liz griff verängstigt nach meiner Hand, und ich hielt sie genauso fest.
Das Schreien wurde schriller, während es sich uns näherte, und war so durchdringend wie das Gellen der Pfeife eines herannahenden Zuges. Dann verhallte es allmählich.
Im nächsten Augenblick hörten wir beide ein Geräusch, das an ein tiefes, dröhnendes Grollen erinnerte. Allerdings hörte es sich nicht wie irgendein mir vertrautes Geräusch von einem Tier an, das ich jemals gehört hatte, weder im Zoo noch in einer Tiersendung. Vielmehr klang es wie eine zu langsam abgespielte Aufnahme einer menschlichen Stimme. Tief und verzerrt - und so laut, dass die Fenster vibrierten.
Dann flackerte das Licht und drang durch die Spalten rings um die Tür zum Speicher. Ein grelles blaues Licht, das für einen Augenblick den gesamten Korridor und den Treppenabsatz erhellte. Ich sah Liz' bleiches, entsetztes Gesicht. An der Wand des Flurs entdeckte ich ein Bild des gekreuzigten Jesus.
»Allmächtiger«, flüsterte Liz. »Was ist das?«
Ich nahm eine wenig überzeugende heldenhafte Haltung an und strich ihr über die Hand. »Es gibt eine vernünftige Erklärung dafür«, sagte ich, während mir schauderte. Noch immer trieben die Lichtformen vor meinen Augen umher. »Ein Kurzschluss oder etwas Ähnliches. Vielleicht auch Statik. Das Meer ist nicht weit entfernt, es könnte ein Elmsfeuer sein.«
»Was?«
»Du weißt schon, Elmsfeuer. Manchmal sieht man es an den Schiffsmasten oder an den Spitzen von Tragflächen. Die Seeleute nannten es Elmsfeuer. Nach dem Schutzheiligen der Seeleute im Mittelmeerraum, St. Erasmus.«
Ich hielt inne und sah sie an. Ganz offensichtlich fragte sie sich, woher ich das alles wusste. »Ich hab davon im Eagle Annual Comic gelesen, als ich zwölf war.«
»Oh.« Sie war zu jung, um sich an den Eagle zu erinnern, wie ich ihn noch kannte. »Und die Schreie?«
»Frag mich nicht. Vielleicht war es Luft in den Wasserleitungen. Vielleicht hat sich eine Taube in den Speicher verirrt, und die Ratte hat sich auf sie gestürzt.«
»Tauben schreien nicht. Jedenfalls nicht so.«
»Ich weiß. Aber vielleicht war sie eine Ausnahme.«
Wir warteten in der Dunkelheit. Ich hatte mich noch nie so beunruhigt und wehrlos gefühlt. Liz drückte meine Hand, ich drückte ihre, aber ich wusste nicht, was ich machen sollte. Nicht eine Sekunde lang glaubte ich daran, dass sich auf dem Speicher irgendetwas abspielen könnte, das nicht irdischen
Ursprungs war. Es hatte einen Kurzschluss gegeben, die riesige Ratte schrie und tobte. Noch immer glaubte ich nicht, dass dort oben irgendetwas Übernatürliches vorgehen könnte. Ich fand es so schon unheimlich genug, ohne mir auch noch Gedanken darüber zu machen, dass sich die Geschehnisse jeder natürlichen oder vernünftigen Erklärung entziehen könnten.
»Vielleicht solltest du mal nachsehen«, schlug Liz vor.
»Vielleicht sollte ich mal nachsehen?«
»Du bist der Mann.«
»Das liebe ich«, gab ich zurück, während ich noch immer zitterte. »Du bist wie all die anderen Frauen auch, die ich kenne. Du willst nur dann gleichberechtigt sein, wenn es dir gefällt.«
Trotzdem wusste ich, dass ich auf den Speicher gehen musste, um mich dem zu stellen, das oben wütete. Ich konnte angesichts dieser Lichter, der Schreie und des Gepolters nicht einfach zurück ins Bett gehen. Nicht etwa, weil ich nicht hätte schlafen können, sondern weil diese riesige Ratte meine gesamte Arbeit für diesen Sommer gefährdete. Und auch meine Männlichkeit, meine Glaubwürdigkeit als Mann. Liz sollte nicht glauben, dass ich mich fürchtete. Gerade sie sollte das nicht glauben.
Wieder flackerte das Licht, wenn auch nicht so hell. Es hatte mehr eine orangene Färbung, und Sekunden später war ich sicher, dass ich Brandgeruch wahrnahm.
»Glaubst du, der Dachboden steht in Flammen?«, fragte Liz.
»Keine Ahnung. Aber ich schätze, ich muss wirklich nachsehen.«
Ich blickte mich nach einer geeigneten Waffe um. Im Schlafzimmer neben uns gab es, von viel in dieser Situation unbrauchbarem Gerümpel abgesehen, einen zerbrochenen Küchenstuhl. »Warte«, sagte ich zu Liz, ging in das Zimmer und riss an der Rückenlehne, bis sie lärmend nachgab und ich eines der hinteren Stuhlbeine lösen konnte.
»So«, sagte ich und fuchtelte wie ein Höhlenmensch mit seinem Knüppel. »Ein falsches Wort, und dann setzt es was mit dem Stuhlbein.«
Ich näherte mich der Tür zum Dachboden. Das Flackern war erloschen, aber ich konnte noch immer das unregelmäßige elektrische Zischen und Krachen hören. Ich nahm auch noch den prägnanten säuerlichen Geruch wahr, der von etwas Brennendem stammen mochte, vielleicht aber auch eine ganz andere Ursache hatte. Für etwas Brennendes war der Geruch sogar etwas zu süßlich. Es war schwer, den Geruch einzuordnen. Aus irgendeinem Grund musste ich an den Mief eines antiken Schreibtischs denken, der einem entgegenschlägt, wenn man die Schubladen öffnet.
»Klingt so, als sei Ruhe eingekehrt«, sagte Liz.
»Das beruhigt mich nicht im Geringsten.«
»Nun komm schon«, trieb Liz mich an. »So schlimm kann es ja nicht sein, wenn jeder im Dorf davon weiß.«
»Meinst du?«, sagte ich zweifelnd. »Es könnte auch schlimmer sein. Warum sollte jeder davon wissen, wenn es nicht etwas ganz Schreckliches ist?«
Liz sah mich an, ihr Gesicht verfinsterte sich, während ich sie fragend anblickte, ohne eine Antwort zu bekommen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die Frau, die man mag, etwas von einem verlangt, was man hasst.
Schließlich aber schob ich den kleinen Metallriegel zur Seite und öffnete die Tür. Wieder der Geruch von etwas Eingeschlossenem, von ausgeatmeter Luft. Ich konnte den Brandgeruch noch wahrnehmen, aber er war schwächer geworden. Außerdem war kein Rauch zu sehen. Ganz im Gegenteil sogar, denn die Luft war so eisig kalt wie in einem Kühlschrank.
Liz schauderte. »Sieht nicht so aus, als würde es brennen.«
Ich umklammerte mit meiner linken Hand fest das Stuhlbein. »Finde ich auch.«
»Brauchst du eine Taschenlampe?«
»Ich hab keine. Na ja, eigentlich habe ich schon eine, aber die Batterien waren den ganzen Winter über drin und sind jetzt grün und verkrustet. Ich wollte heute eine neue kaufen ...«
Ich schaltete das Licht auf dem Treppenabsatz an. So wie zuvor der Spiegel schaffte das Licht es nur, die ersten Stufen zu beleuchten. Dahinter wurde der braune abgenutzte Filz von der Finsternis geschluckt.
»Na los«, spornte Liz mich an.
»Okay, okay, ich überlege, was ich mache, wenn ich es finde.«
»Mit dem Stuhlbein draufschlagen, was sonst?«
»Und wenn es mich anspringt?«
»Dann halt das Stuhlbein höher.«
Einen Augenblick lang dachte ich nach, dann sagte ich: »Ja, du hast Recht.« Immerhin ging es um eine Ratte. Eine große, viel zu große Ratte, eine Schädlingsversion von General Woundsworth aus Watership Down. Und was das Geschrei anging ... in der Nacht klingt jedes Geräusch zehnmal so schlimm.
Ich zog den Kopf ein und stieg die ersten drei Stufen hinauf, die drei, die ich erkennen konnte. Schließlich erreichte ich den Punkt, an dem ich weit genug oben war, um durch die Stangen des Geländers auf den Speicher zu blicken. Ich erkannte ein paar Formen, die ich schon zuvor gesehen hatte. Bei einigen handelte es sich erkennbar um Möbelstücke, über die zum Schutz gegen Staub ein Laken gelegt worden war. Andere waren Wäscheberge. Es war zu dunkel, um sonst noch viel zu erkennen. Ich drehte mich zu Liz um und flüsterte: »Hier ist nichts, es muss eine Taube gewesen sein.«
»Warte doch einen Augenblick«, ermutigte Liz mich.
Ich schnupperte und sah mich um. Der Brandgeruch war völlig verschwunden. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ließen mich eine Garderobe und einen Spiegel erkennen.
Gerade wollte ich nach unten gehen, als ein durchdringendes elektrisches Knallen zu hören war. Und für den
Bruchteil einer Sekunde war der Speicher in blendendes blaues Licht getaucht.
»David!«, rief Liz. »David, alles in Ordnung?«
Zunächst konnte ich nicht antworten. Ich war nicht sicher, was ich gerade gesehen hatte. In diesem kurzen grellen Aufflackern hatte es wie ein Kind ausgesehen, ein kleines Mädchen, das ein langes weißes Nachthemd trug - das vom Licht erfasst wurde, während es über den Dachboden ging. Das ovale weiße Gesicht war mir zugewandt, und nach dem Blick in den Augen zu urteilen, hatte es mich ebenfalls gesehen.
»David?«, wiederholte Liz.
»Ich ... ich bin nicht sicher, ich glaube, ich habe etwas gesehen...«
»David, komm nach unten.«
»Nein, ich bin sicher. Das ist keine Ratte. Es ist ein kleines Mädchen.«
»Ein kleines Mädchen? Was soll das denn mitten in der Nacht auf dem Speicher suchen?«
Ich strengte meine Augen an, das Licht hatte mich so sehr geblendet, dass ich nicht einmal mehr die Garderobe oder den Spiegel erkennen konnte.
»Wer ist da?«, rief ich, während ich versuchte nicht wütend, sondern vertrauenswürdig zu klingen. »Ist da jemand?« Alles blieb ruhig.
»Du klingst so, als würdest du eine Séance abhalten«, scherzte Liz nervös.
Ich starrte und ich lauschte, aber es waren nur noch die typischen nächtlichen Geräusche zu hören. »Könnte sein«, erwiderte ich.
»Komm nach unten«, beharrte sie.
Ich wartete noch fast drei Minuten. Ich rief wieder und wieder, aber es gab weder weitere Lichtblitze noch Schreie und auch keine Anzeichen für ein kleines Mädchen. Gerade wollte ich mich zurückziehen, als ich ein schwaches, verstohlenes Scharren in einer Ecke des Dachbodens hörte, doch das hätte von allem herrühren können. Langsam stieg ich nach unten, während ich versuchte, nicht zu zeigen, welche Angst ich hatte. Dann schloss ich die Tür hinter mir.
»Und? Was glaubst du, ist es?«, fragte Liz.
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. >Ich habe mir auch noch nie die Mühe gemacht, es herauszufinden<, hatte Harry Martin gesagt. Vielleicht ist es nur irgendeine elektrische Störung. Wir sind nahe am Meer, vielleicht war es ein Blitz. Ich werde sehen, ob ich im Dorf einen Blitzableiter auftreiben kann.«
»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Liz. »Du zitterst ja.«
»Würdest du an meiner Stelle auch«, erwiderte ich. »Ein Tee ist eine gute Idee.«
»Glaubst du wirklich, dass du ein kleines Mädchen gesehen hast?«
»Es sah zumindest so aus wie ein kleines Mädchen. Andererseits könnte es auch ein Stuhl mit einer hohen Rückenlehne sein, über den man ein Laken geworfen hat. Ich glaube, meine Nerven konnten den Unterschied nicht feststellen.«
Aber ich hatte das Gesicht des Mädchens gesehen, ein bestürztes Gesicht, von Zweifeln gezeichnet und durch Vernachlässigung seiner gesunden Farbe beraubt.
Wir gingen gemeinsam nach unten in die Küche. Am Himmel zeigte sich gerade die erste schwache Andeutung eines Sonnenaufgangs. Ich setzte mich an den Küchentisch, während Liz den Wasserkessel auf die Kochplatte stellte.
»Vielleicht sind da oben wirklich Kinder«, sagte Liz. »Vielleicht haben sie sich da oben einquartiert.«
»Oh, ja, und ich bin vielleicht Dschingis Khan. Und wie sollen sie raus-und reinkommen, ohne dass wir das merken? Und falls es sich wirklich um Kinder handelt, dann würden sie nicht einen solchen Lärm machen. Sie würden doch nicht wollen, dass sie entdeckt werden, oder?«
»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte Liz, warf einen Teebeutel in meinen Becher und drückte ihn mit dem Finger ins Wasser. »Autsch, das ist heiß!«
»Würde mir was etwas ausmachen?«
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn es richtige Kinder wären? Vielleicht sind sie aus der Gegend und verstecken sich vor ihren Eltern.«
Ich nahm meinen Becher, musste aber ein oder zwei Minuten lang pusten, bevor der Tee so weit abgekühlt war, dass ich einen Schluck nehmen konnte. »Ich bin nicht sicher«, gab ich zurück. »Mir ist es egal, solange sie kein Chaos veranstalten. Und solange sie mich nachts durchschlafen lassen.«
Liz nahm mir gegenüber Platz. Sie trank ihren Tee so dunkel, dass er fast wie Kaffee aussah.
»Ich weiß«, sagte sie. »Warum stellen wir ihnen nicht eine Falle?«
»Eine Falle? Was denn für eine Falle? Wenn es wirklich Kinder sind, können wir ihnen doch nichts antun.«
»Natürlich nicht. Wir müssen nur den Boden mit Papier auslegen und darauf Ruß oder Talkumpuder streuen. Wenn sie durchlaufen, hinterlassen sie einen Fußabdruck. Das haben wir in der Schule gemacht, um festzustellen, ob sich jemand in unser Zimmer geschliche n hatte.«
»Es wäre den Versuch wert.«
Während wir dasaßen und unseren Tee tranken, hatte ich das Gefühl, dass Fortyfoot House ausgiebig erzitterte. Und irgendwo am äußersten Rand meiner Wahrnehmung glaubte ich, ein Kind schreien zu hören. Sobald ich aber darauf achtete, war kein Geräusch mehr da. Nur diese sonderbare Leere, die man wahrnehmen kann, wenn ein gerade noch vorbeirasender Zug bereits außer Hörweite gelangt ist.
Träume, dachte ich. Einbildung. Als ich aber zum Spülbecken ging, um meinen Becher auszuwaschen, bemerkte ich im Garten einen Schatten, der eigentlich kein Schatten war, sondern ein Mann mit einem großen schwarzen Hut, der zwischen den Eichen Schutz suchte - so wie ein Mann, der um sein Leben rennt, ein Mann, der zu entsetzt ist, als dass er sich umdrehen könnte, um einen Blick auf den unvorstellbaren Jäger zu werfen, der hinter ihm her ist.