Leben und Tod, Traum und Wachheit — Stationen der verstörten Seele auf ihrem Weg, den sie Abschnitt um Abschnitt zurücklegen muss. Ein Weg, auf dem es Zeichen und Hinweise gibt, und dennoch tappt der Mensch in endloser Dunkelheit. Ein Weg, auf dem er sich unbeirrt an eine Hoffnung klammert, die lächelnd inmitten aller Ungewissheit neu keimt. Wonach suchst du, Reisender? Welche Gefühle toben in deiner Brust? Wie bleibst du Herr deiner Triebe und Launen? Warum brichst du wie ein Narr in schallendes Gelächter aus? Warum vergießt du Tränen wie ein Kind? Du vergnügst dich auf Tanzfesten, siehst zu, wie das Schwert des Henkers den Kopf abschlägt, und was auch immer geschehen mag, sei es erbaulich oder entsetzlich, wird im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers, begangen. Deine Seele wird von mächtigen Schatten beschützt — die Mutter, der Meister, die Geliebte, der Diener. Und trotzen diese Schatten auch nicht den Stürmen der Zeit, sind ihre Namen doch von Unsterblichkeit gekrönt. Mag ich meinem Ort noch so fern ein, er bleibt mir mit unauslöschlichen Erinnerungen vertraut, ist auf immer als Heimat in der Tiefe des Herzens aufgehoben. Solange ich lebe, wird mich unendlich vieles mit tiefer Liebe erfüllen — der duftende Dunst der Parfümhändler, die Minarette und Kuppeln, das anmutige Gesicht einer Hübschen, das der Gasse Glanz verleiht, die Maultiere der Mächtigen und die Schritte der Barfüßigen, die Gesänge der geistig Verwirrten und die Klänge der Rabab[1], die tänzelnden Hengste, die Weidenbäume, das Gurren der Tauben.
»Dies ist ein besonderer Tag, der Tag deiner Geburt«, begrüßt mich die Mutter und nickt mir zu mit ihrem wohlgeformten Kopf.
»Dann ist es eigentlich dein Tag«, erwidere ich freudig.
Mein Vater ist Mohammed al-Innabi, ein reicher Getreidehändler. Er hat der Welt sieben erfolgreiche Kaufleute geschenkt und erfreute sich bis ins hohe Alter bester Gesundheit. Mit achtzig Jahren fiel sein Blick auf meine Mutter, die hübsche, siebzehnjährige Fattuma, das letztgeborene Kind eines Metzgers, der Al-Azhari Katajif hieß. Sie eroberte sein Herz im Sturm. Er heiratete sie und kaufte auf ihren Namen ein geräumiges Haus, was in seiner Familie für Zorn und Aufruhr sorgte. Meine Brüder hielten diese Ehe für eine schmutzige, ungesetzliche Sache und suchten Beistand beim Richter und beim Vorstand der Händler.
Aber mein Vater ließ sich dadurch nicht beirren, denn erstens betrachtete er das Heiraten für sein unbestrittenes Recht, und zweitens war in seinen Augen das zeternde Geschrei über den Altersunterschied lediglich ein Vorwand, um über eigennützige Interessen hinwegzutäuschen. Von Zuversicht und Vertrauen erfüllt, trank er weiter aus der Quelle seines Glücks.
»Deine Geburt bewies ihnen einmal mehr, dass sie eine Niederlage erlitten hatten, und das entfachte ihren Zorn natürlich aufs Neue«, meinte meine Mutter.
Wie schon oft sagte ich zu ihr, dass die Gier der Menschen keine Grenze kenne.
Von klein an tat man mir mit Worten schön, ließ mich aber auf die übelste Weise leiden. Mein Vater hatte mir den Namen Kindil gegeben, aber meine Brüder nannten mich immer nur Ibn[2] Fattuma, »Sohn der Fattuma«. Damit wollten sie klarstellen, dass ich kein Verwandter sei, und ihre Zweifel an der Sittsamkeit meiner Mutter bekunden. Mein Vater starb, bevor sich sein Bild in meinem Gedächtnis einprägte. Er hinterließ uns ein stattliches Vermögen, sodass wir uns um die Zukunft nicht zu sorgen brauchten. Damit war den Streitereien mit meinen Brüdern eigentlich ein Ende gesetzt, aber meine Mutter fürchtete sich dennoch vor ihnen. Von bösen Ahnungen geplagt, beschloss sie, mich nicht zur Schule zu schicken, sondern von Scheich Marara al-Gibaili, einem Nachbarn ihrer Familie, zu Hause unterrichten zu lassen. Bei ihm lernte ich nicht nur den Koran kennen, sondern auch die überlieferten Taten und Aussprüche des Propheten; zudem erteilte er mir Lektionen in arabischer Sprache, in Rechnen, schöngeistiger Literatur und solcher über Reisen, Gesetzeskunde und Sufismus[3]. Er war ein kräftiger, Respekt einflößender Mann, so an die vierzigJahre alt. Sein Bart war immer sehr gepflegt, und genauso elegant sahen die Gubba[4] und der hohe Turban aus. Seine glänzenden Augen blickten einen durchdringend an, und er sprach mit voller Stimme in bedächtigem, ruhigem Tonfall. Über schwierige Stellen half er mir mit vortrefflichen Erklärungen hinweg, bei denen er freundlich lächelte. Meine Mutter, die nicht viel zu tun hatte, vertrieb sich die Zeit damit, dass sie den Unterricht aufmerksam verfolgte. Im Winter, wenn wir im Salon saßen, lauschte sie hinter dem Vorhang, und in den anderen Monaten hielt sie die Tür einen Spaltbreit offen und hörte uns von dort aus zu.
»Ich habe das Gefühl, dass du mit deinem Lehrer sehr zufrieden bist, das ist ein wahres Glück«, sagte sie einmal, was ich ihr begeistert bestätigte.
Der Scheich achtete darauf, dass genügend Zeit für Gespräche blieb. Gab es Fragen, forderte er mich auf, bei der Suche nach der Antwort laut zu überlegen. Er behandelte mich wie einen Erwachsenen. Eines schönen Tages, ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, fragte ich ihn: »Wenn das stimmt, was Sie mir über den Islam erzählt haben, warum gibt es dann so viele arme und ungebildete Menschen?«
»Weil die Religion heutzutage«, erwiderte er traurig, »in die Moscheen eingesperrt ist und nicht mehr hinaus ins Freie gelangt.« Er sprach lang und breit über die misslichen Zustände, selbst den Sultan verschonte er nicht mit Kritik.
»Aber dann wacht ja nicht die Offenbarung über uns, sondern der Satan«, erklärte ich.
»Das hast du gut gesagt. Deine Worte sind vernünftiger, als man es von einem Jungen in deinem Alter erwarten würde.«
»Aber kann man dagegen gar nichts tun, Scheich?«
»Du bist ein kluger Bursche, aber du musst Geduld haben.«
Wenn er über Reisen sprach, hörte ich verzückt zu. Des Öfteren fiel der Name eines berühmten alten Reisenden, aber er sprach auch über seine eigenen Erfahrungen. »Mit meinem verstorbenen Vater bin ich oft unterwegs gewesen, vom Osten bis zum Westen.«
»O bitte, erzählen Sie…«
Er schilderte alles so genau, dass ich glaubte, die ausgedehnten Gebiete der Moslems selbst erkundet zu haben. Auf einmal kam mir mein Heimatland wie ein kleiner Stern unter all den Sternen vor, die den Himmel übersäten.
Er sah mich nachdenklich an. »Auf wirklich Neues wirst du nirgendwo stoßen.« Als ich ihn fragend anblickte, fuhr er fort: »Diese Regionen sind sich, was die Verhältnisse, Geschmäcker, Bräuche betrifft, alle sehr ähnlich. Und vom wahren Geist des Islam sind sie weit entfernt. Wirklich neue und fremdartige Gegenden kannst du heutzutage nur noch in der südlichen Wüste entdecken.«
Seine Worte zogen mich in ihren Bann und entfachten heiße Sehnsucht in mir.
»Ich bin nach dem Tod meines Vaters allein dorthin gereist und habe das Maschrik-, das Haira- und das Halbaland gesehen. Und hätten es die Umstände zugelassen, wäre ich auch noch ins Aman-, Ghurub-und Gaballand gezogen. Aber im Halbaland musste die Karawane Halt machen, weil es im benachbarten Amanland einen Bürgerkrieg gab.« Er schaute mich ernst an. »Es sind heidnische Länder.«
»Gott behüte!«, rief ich.
»Fremde haben trotzdem nichts zu befürchten, denn die Menschen leben vom Handel und von Reisenden.«
»Aber Heiden sind doch verabscheuungswürdig!«, warf ich ein. »Man wird ganz in Ruhe gelassen«, erwiderte er bedächtig.
»Und warum sind Sie dann nicht noch einmal hingereist?«
»Der Alltag und die Familie haben mich davon abgehalten. Was mir am meisten am Herzen lag, war, das Gaballand zu besuchen.«
»Warum? Was gibt es dort Besonderes?«
Er seufzte. »Man hört so viel darüber, als sei es das größte Wunder unter all den Ländern. Als sei es das Vollkommenste, was es an Vollkommenem gibt.«
»Dann gibt es doch bestimmt viele Reiseberichte…«
»In meinem ganzen Leben bin ich niemandem begegnet, der je dorthin gereist ist. Und ich habe auch kein Buch und keinen Bericht über dieses Land in die Hände bekommen.«
»Unglaublich«, murmelte ich.
»Dieses Land ist ein einziges großes Geheimnis.«
Jedes Geheimnis zog mich an und stürzte mich in seine dunklen Tiefen. Der Funke hatte Feuer geschlagen, meine Fantasie blühte. Wann immer ich mich gekränkt oder beleidigt fühlte, flüchtete sich meine Seele ins Land Gabal.
Scheich Marara al-Gibaili fuhr darin fort, mir Geist und Verstand zu erleuchten, mich aus dem Dunkel zu führen und meine Begierden auf die edelsten Ziele zu lenken. Meine Mutter beobachtete voller Glück, wie ich mir Tag für Tag Neues eroberte. Die Liebe, die sie mir entgegenbrachte, trug das ihrige bei. Sie war eine schöne Frau, schlank und rank, mit reiner, heller Haut, und ihr ganzes Wesen strahlte eine große Güte aus. Es fiel ihr nicht schwer, mich zu loben, aber sie zögerte auch nicht, mich mit deutlichen Worten zu tadeln. »Manches, was du sagst, macht mich traurig«, erklärte sie einmal. Ich sah sie fragend an, und sie fuhr fort: »Es ist, als würdest du immer nur die hässliche Seite des Lebens sehen.«
Nun war es nicht so, dass sie meine Einwände in Abrede stellte oder als überzogen empfand, nein, sie verteidigte lediglich ihren Glauben, und zwar mit den Worten: »Gott ist der Schöpfer aller Dinge, und was Er tut, ist wohlgetan.«
»Es tut mir weh zu sehen, wie viel Unrecht, Armut und Unwissenheit es gibt«, hielt ich dagegen.
»Gott will, dass wir uns in alles schicken und zufrieden sind.«
Ich redete darüber mit dem Scheich, aber seine Haltung war ohnehin klar, glaubte er doch fest an den Verstand und die Freiheit, das eigene Handeln zu bestimmen. Trotzdem flüsterte er mir ins Ohr: »Vermeide es, deine Mutter zu verstimmen.«
Es war ein Ratschlag, den ich, weil ich meine Mutter sehr liebte, willig befolgte. Es fiel mir auch nicht schwer, denn die Schlichtheit ihres Denkens wurde durch ihre große Schönheit aufgewogen.
Nun war es so, dass mich die Zeit, die ich mit dem Erwerb neuen Wissens verbrachte, an die Schwelle des jugendlichen Alters führte. Da taten sich mir andere Horizonte auf, und Ströme neuen Regens ergossen sich über mich. Auf den Schauplatz meines Lebens fiel das helle Licht frisch angezündeter Fackeln.
»Was gedenkst du zu tun in diesem Leben, das sich nur durch Tätigkeit vollendet?«, fragte mich Scheich Marara al-Gibaili.
Aber mich interessierte etwas ganz anderes, denn seit kurzem sah ich Halima Adli al-Tantawi mit anderen Augen. Bisher war sie für mich immer nur ein Mädchen gewesen, das seinen blinden Vater, den Koranrezitator, an der Hand führte. Die beiden bewohnten in unserem Viertel ein kleines, altes Haus, neben dem sich unser Haus geradezu wie ein strahlender Stern ausnahm. Der Vater hatte mich immer viel mehr als das Mädchen interessiert. Dieser abgemagerte Mann mit den trüben Augen und der groben, pockennarbigen Nase tat mir nicht nur Leid, sondern ließ mich auch staunen. Ich bewunderte seine schöne volle Stimme, wenn er vor seinem Haus, ohne dass ihn jemand darum ersucht hatte, zum Gebet rief. Wie im Fluge gingen die Tage dahin, und plötzlich entdeckte ich dieses Mädchen. Und das kam so: Vater und Tochter gingen vorsichtig die Straße entlang, denn es hatte zuvor geregnet, und das Pflaster war glatt. Der Scheich stützte sich mit dem linken Arm auf das Mädchen, während er in der rechten Hand einen derben Stock hielt, mit dem er in gleichmäßigem Rhythmus den Boden abtastete. Für mich sah das aus, als würde ein Huhn auf der Suche nach einem Korn mit dem Schnabel im Sand picken. Halima war in einen dunklen, wallenden Gilbab[5] gekleidet, und unter dem Schleier, der Kopf und Gesicht verhüllte, waren nur die Augen zu erkennen. Trotzdem schien mir, jugendlich beschwingt wie ich war, ihre Gestalt ein Wunder an Weiblichkeit zu sein. Kam eine leichte Brise auf, die mit ihrem Gilbab spielte, funkelte ihr Schmuck wie Glut in der Asche. Auf einmal geriet sie ins Rutschen, und um das Gleichgewicht zu halten, ging ein Ruck durch ihren Körper. Das hatte zur Folge, dass ihr Kopf eine unwillkürliche Bewegung machte und der Schleier verrutschte. Für einen kurzen Moment erblickte ich ihr Gesicht — es war so schön, dass ich bis in den tiefsten Grund meines Körpers erschauderte. Ein flüchtiger Augenblick, und doch hatte mich eine Botschaft erreicht, die alle Winke des Herzens in sich barg.
Meine Mutter, die noch die Worte von Scheich Marara im Ohr hatte, fragte mich, an was für eine Tätigkeit ich dachte. »Meinst du nicht auch, dass für dich eigentlich nur die Arbeit als Kaufmann in-frage kommt?«
»Zuallererst denke ich jetzt ans Heiraten«, erwiderte ich prompt.
Verblüfft starrte sie mich an, aber schon wenig später war vom Thema Arbeit nicht mehr die Rede. Stattdessen beschrieb sie mir etliche Töchter von irgendwelchen Kaufleuten, bis ich sie unterbrach: »Meine Wahl ist auf Halima gefallen, die Tochter von Scheich Adli al-Tantawi.«
Sie rang sichtlich um Fassung. »Dieses Mädchen kommt überhaupt nicht infrage«, erklärte sie schließlich.
»Aber ich will sie.«
»Deine Brüder werden die Nase rümpfen.«
Für mich spielten diese Brüder keine Rolle mehr, denn mittlerweile fühlte ich mich als der Herr im Haus. Meine Mutter stimmte meinem Vorhaben widerwillig zu, hegte aber im Stillen die Hoffnung, mich doch noch umstimmen zu können. Ich beharrte weiter auf meinem Wunsch, auch wenn der Preis hoch war. Schließlich gab meine Mutter ihren Widerstand auf. »Dein Glück ist mir wichtiger als alles andere«, erklärte sie, und von da an nahm sie die Aufgaben in Angriff, die ihr oblagen. Sie schritt aus dem Palast hinüber in die Hütte und hielt für mich um Halimas Hand an. Beim nächsten Besuch begleitete ich sie. Eine Weile saßen wir mit Scheich Adli al-Tantawi und seiner Frau zusammen, bevor Halima erschien. Von ihrem Gesicht und den Händen kam nur so viel zum Vorschein, wie es die religiösen Vorschriften erlaubten. Sie blieb ein paar Minuten sitzen, dann ging sie wieder.
Eines schönen Tages fiel mir auf, dass sich mein verehrter Lehrer entgegen seiner üblichen Art recht zurückhaltend benahm. Seine Stimme klang irgendwie verlegen. Plötzlich, er starrte auf seine Schuhe, sagte er: »Es gibt etwas Wichtiges, Kindil.«
Neugierig sah ich ihn an. »Stehe zu Diensten, ehrwürdiger Scheich.«
»Ich kann es nicht mehr ertragen, allein zu leben.«
Der Scheich war Witwer, seine drei Töchter lebten bei ihren Ehemännern. »Das müssen Sie ja nicht«, erwiderte ich in aller Unschuld. »Der Prophet, Heil und Segen über ihn, hat doch nach dem Tod seiner Gattin Chadiga auch noch einmal geheiratet.«
»Das ist wahr, und ich denke auch daran.«
»Jede Familie, sei sie noch so nobel, wird sich glücklich schätzen, einen Mann wie Sie in die Arme zu schließen«, erklärte ich begeistert.
Verschämt murmelte er: »Aber mein Begehren ist auf deine Familie gerichtet.«
»Meine Familie?«
»So ist es, es geht um deine verehrte Frau Mutter.«
»Aber meine Mutter will nicht heiraten«, stieß ich hervor.
»Warum nicht?«
Für einen Moment wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Schließlich sagte ich trotzig: »Weil sie meine Mutter ist.«
»Die Ehe ist ein Gebot des Allmächtigen. Und es wird dir Leid tun, deine Mutter, wenn du verheiratet bist, allein zu lassen.« Er schwieg kurz. »Möge uns Gott auf den rechten Weg leiten.«
Als Scheich Marara gegangen war, stürmten die unterschiedlichsten Gedanken auf mich ein. Die Dinge hatten sich schlagartig geändert, ich malte mir ein düsteres Bild von der Zukunft aus. Dann hatte also meine Mutter meiner Heirat nur zugestimmt, weil sie die Frau des Scheichs werden wollte. Auch wenn nichts Schlimmes hinter meinem Rücken vorgegangen sein mochte, schnürte sich mir vor Wut die Kehle zu. Ich war hin und her gerissen, denn einerseits handelte es sich um die zwei Menschen, die ich am meisten liebte, andererseits beherrschten mich Zorn und das Gefühl von Scham. Aus tiefster Seele rief ich: »O Gott, Du mein Herr, lass mich nicht ungerecht und töricht handeln!«
Es gelang mir tatsächlich; ich sprang über meinen Schatten und versuchte, die Sache mit den Augen eines reifen, erfahrenen Menschen zu betrachten. Ich ließ den Dingen ihren gottgefälligen Lauf, und meine widerspenstige Seele beruhigte ich damit, dass jede Frau und jeder Mann das Recht haben zu heiraten. Dass meine Mutter eben nicht nur eine treu sorgende Mutter, sondern auch eine Frau ist. Dass wir erschaffen wurden, um die Wahrheit zu ertragen und ihr standzuhalten. Dass wir nicht nur unseren Anteil an Glück, sondern auch den an Schmerz mit dem Mut gläubiger Menschen auf uns nehmen müssen. Also schickte ich mich in mein Los und sprach eines Tages meine Mutter offen auf das Thema an.
»Oh, an so etwas hätte ich nie gedacht«, stammelte sie, scheinbar überrascht.
»Es ist dein gutes Recht«, erwiderte ich kühl.
»Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken.«
Für mich war diese Antwort ein erster Hinweis darauf, dass meine Mutter zustimmen würde; zu offensichtlich war der mangelnde Wille, Scheich Mara-ra eine klare Absage zu erteilen. Vor Enttäuschung brachte ich kein Wort heraus.
»Gott der Herr wirds richten«, flüsterte sie schließlich verschämt.
Mir ging durch den Kopf, wie oft wir unsere Wünsche mit frommen Sprüchen verzieren und unser Schamgefühl hinter der göttlichen Erleuchtung verstecken.
Es wurden die üblichen Hochzeitsvorbereitungen getroffen, für die Hochzeit meiner Mutter und meine eigene. Meine Mutter sollte in das Haus von Scheich Marara al-Gibaili ziehen, das durchaus stattlich war, und Halima sollte bei mir leben. Ich war entschlossen, mein Glück zu genießen und allen Kummer zu vergessen. Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen, all unsere Pläne wurden zunichte gemacht. Der dritte Kammerherr des Sultans störte unser beschauliches Leben und brachte wie ein Orkan die Grundfesten ins Wanken. Er hatte Halima zu sehen bekommen und auf der Stelle beschlossen, sie zu seiner vierten Ehefrau zu machen. Ihr Vater war völlig verstört. »Es ist mir nicht möglich, ihn abzulehnen«, sagte er zu Scheich Marara al-Gibaili.
Am ganzen Leib bebend, löste ihr Vater die Verlobung auf, und von einem Tag auf den andern wurde Halima mit dem dritten Kammerherrn verheiratet. Ich zog mich in mich selbst zurück. Niedergeschmettert fragte ich mich, wie es wohl um Halimas Herz stand und was sie im Innersten fühlte. Teilte sie meinen Schmerz, oder berauschte sie sich am ungewohnten Reichtum? Ließ sie sich von der Pracht des Sultanshofs blenden? Einsam und verlassen wie ich war, stöhnte ich: »Alle haben mich betrogen -die Religion, meine Mutter, Halima. Möge Gottes Fluch dieses verräterische Land treffen!«
Ich empfand Widerwillen gegen jeden, angefangen beim geringsten Diener des Sultans wie Scheich Adli al-Tantawi bis hin zum Sultan höchstpersönlich. Ich wünschte mir eine Flut herbei, die die alte Welt dem Untergang weihte, damit an ihrer Stelle eine neue, reine Welt entstehen könnte. Das Mitleid meiner Mutter rührte mich nicht, die Weisheiten, die Scheich Marara von sich gab, erreichten mich nicht. Ich hasste diese Welt und konnte sie nicht mehr ertragen.
»Du solltest so schnell wie möglich heiraten«, erklärte meine Mutter. »Vielleicht meint es Gott dieses Mal ja besser mit dir.«
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Du solltest anfangen zu arbeiten«, meinte Scheich Marara.
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Hast du einen anderen Plan?«
Als wollte ich all den Gefühlen, die in meinem Innern tobten, freien Lauf lassen, rief ich: »Ja, reisen !«
»Wieso reisen?«, fragte meine Mutter verständnislos. »Du bist gerade erst zwanzig Jahre alt.«
»Das ist das beste Alter dafür.« Ich schaute meinen Lehrer an. »Ich werde ins Maschrik-, Haira- und Halbaland ziehen, und ich werde mich von keinem Bürgerkrieg aufhalten lassen wie Sie, sondern auch das Aman-, Ghurub- und Gaballand besuchen. Wie viel Zeit werde ich dafür brauchen?«
Scheich Marara sah meine Mutter mitleidig an, dann murmelte er: »Ein Jahr, wenn nicht mehr.«
»Für jemanden, der nach Weisheit strebt, ist das nicht viel. Ich möchte viel erfahren und meinem kranken Heimatland ein Heilmittel bringen.« Meine Mutter wollte etwas sagen, aber ich kam ihr zuvor. »Es ist mein fester Entschluss, und ich werde mich davon nicht abbringen lassen.«
Ich flüchtete in meine Träume, um der Wirklichkeit zu entgehen. Das Gaballand erschien mir in meiner Fantasie wie ein angebeteter Stern, dessen Thron sich hinter den anderen Sternen erhob. Einmal entflammt, nährte sich der Wunsch aufzubrechen von der Glut nicht enden wollenden Leidens. Scheich Marara fügte sich ins Unvermeidliche und lud den Besitzer der Karawane zum Abendessen ein. Er hieß Al-Kani Ibn Hamdis und war mit seinen vierzig Jahren ein Mann, der nicht nur körperlich stark war, sondern auch über Weitsicht und Urteilsvermögen verfügte.
»Ich möchte, dass der Junge in deiner Obhut reist und auch wieder mit dir zurückkehrt.«
»Das hängt einzig und allein von ihm ab. Wir rasten in jedem Land zehn Tage. Wer sich irgendwo länger aufhalten will, bleibt zurück. Auf jeden Fall bricht die Karawane am zehnten Tag auf.«
»Zehn Tage müssten doch genügen«, meinte Scheich Marara und sah mich fragend an.
»Ich denke schon«, erwiderte ich.
Wie es denn um die Sicherheit bestellt sei, wollte meine Mutter wissen.
»Noch nie wurde irgendwo eine Karawane überfallen. Die Einwohner selbst genießen nur ein Hundertstel von dem Schutz, der den Fremden geboten wird.«
Unter der Anleitung von Scheich Marara begann ich mit den Reise Vorbereitungen. In eine Tasche legte ich alles Geld, in eine zweite verschiedene Kleidungsstücke, und in eine dritte Tasche tat ich all das, was man unterwegs so braucht — Bücher, Hefte und Stifte zum Beispiel. Ich hätte es gern gesehen, wenn meine Mutter und Scheich Marara vor meiner Abreise geheiratet hätten. Aber der Scheich zog gleich in unser stattliches Haus ein, damit es dort einen Mann gebe. Meine Stimmung hatte sich auf einen Schlag geändert, ich mühte mich nicht länger mit meinen Kümmernissen ab. Die Reise beherrschte mein ganzes Denken und Fühlen, vor mir tat sich ein unermesslich weites Feld auf, das die schönsten Hoffnungen zum Blühen brachte.