Kurz vor Sonnenaufgang hatte sich die Karawane in Gang gesetzt. Freudig begrüßten wir die ersten Anzeichen des nahenden Sommers. Der Scheich hatte mir fürs Amanland diese Jahreszeit empfohlen. »Der Winter ist mörderisch, der Herbst grausam, das Frühjahr unerträglich, also bleibt dir nur der Sommer«, hatte er gesagt.
Der Zug der Karawane erinnerte mich an frühere Zeiten, nur dass ich jetzt ein alter Mann war, den das Schicksal gezeichnet hatte. Ganz allmählich wurde es hell, und vor meinen Augen breitete sich eine Wüste aus, die mir einen völlig neuen Anblick bot. Es gab viele Hügel, und dazwischen zogen sich flache Täler dahin, in denen Pflanzen wuchsen, die stachlig wie Igel und von saftigem Grün waren. Für mich hatten sie etwas Wildes an sich, das ich von großem Reiz fand. Nach etlichen Wochen erreichten wir das Gebiet, in dem sich die Quellen befanden. Es gab viele davon, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass diese Quellen kein hinreichender Grund waren, mit Krieg zu drohen und den Frieden von zwei großen Ländern aufs Spiel zu setzen. Wir zogen weiter, und nach und nach ging es immer stärker bergauf. Am Adlerhügel angekommen, schlugen wir unser Lager auf.
»Wir werden um Mitternacht aufbrechen«, erklärte der Führer der Karawane, »damit wir bei Tagesanbruch vor den Toren Amans stehen.«
Es herrschte eine angenehme Temperatur, als wir unseren Marsch fortsetzten. Endlich war es dann so weit: Im flackernden Licht der Fackeln erhob sich die gewaltige Stadtmauer vor uns. Vor dem Tor machten wir Halt. Ein Mann kam in Begleitung von zwei Fackelträgern heraus und rief mit dröhnender Stimme: »Willkommen in Aman, der Hauptstadt des Amanlands! Willkommen im Land der Gerechtigkeit!« Er verstummte für einen Moment, dann erklärte er: »Die Kaufleute gehen mit einem Begleiter ins Handelszentrum, die Reisenden werden ins Gästezentrum gebracht.«
Ich hatte angenommen, dass ich wie in Maschrik, Haira und Halba gleich zum Gasthaus gehen würde. Aber mein Begleiter steuerte auf ein nicht sehr großes, aber solides Gebäude zu, das offenbar, da es von bewaffneten Männern bewacht wurde, der Sitz einer Behörde war. Ich wurde in einen Raum gebracht, und im Licht der Fackeln sah ich hinter einem Schreibtisch einen Beamten sitzen. Neben ihm standen zwei Wachleute, kerzengerade und regungslos, wie Statuen. Ich musste vortreten, und der Beamte fragte mich nach meinem Namen, dem Alter, dem bisherigen Verlauf meiner Reise und dem Ziel. Er wollte auch wissen, wie viel Geld ich bei mir habe. Ich hielt es für das Beste, ehrlich zu antworten.
»Wir werden Sie als Bürger des Halbalands betrachten, weil Sie dort arbeiten und eine Familie gegründet haben.« Da ich nicht widersprach, fuhr er fort: »Sie können zehn Tage bleiben, das reicht für einen Reisenden.«
»Und wenn es mir hier gefällt und ich länger bleiben möchte?«
»In diesem Fall müssen Sie ein Gesuch stellen, das wir prüfen. Entweder wir stimmen zu, oder wir lehnen es ab.«
Ich nickte, in der Hoffnung, der Beamte würde dies als Zeichen meines Einverständnisses auffassen und mir meine Verwunderung nicht anmerken.
»Wir werden Ihnen einen ständigen Begleiter zur Seite stellen.«
»Muss ich dem zustimmen, oder darf ich es ablehnen?«
»Das ist hier so üblich und dient dem Wohl des Reisenden.« Er klatschte in die Hände, und es kam ein kleiner, etwa sechzigjähriger Mann herein, der die gleiche Kleidung trug wie die anderen — eine Jacke, die aussah wie eine kurze Gubba, eine Hose, die bis zu den Knien reichte, die Füße steckten in Sandalen, und auf den Kopf hatte er wie einen Helm ein Käppi aus Leinen oder Baumwolle gestülpt.
Der Beamte schaute uns einen nach dem anderen an und sagte: »Das ist Kindil Mohammed al-Innabi, das ist Fluka, Ihr ständiger Begleiter.«
Damit war ich entlassen. Draußen auf der Straße ging dieser Fluka stumm hinter mir her. Er kam mir wie mein Schatten vor, und mich beschlich das Gefühl, dass ich, meiner Freiheit beraubt, auf große Abenteuer nicht hoffen durfte. Er beschleunigte den Schritt, kam an meine Seite, und gemeinsam stapften wir durch die Dunkelheit, die von den Fackeln der Wachleute und den Sternen ein wenig durchbrochen wurde.
»Wir sind auf dem Weg zum Gasthaus«, sagte er kurz angebunden.
Wir überquerten einen viereckigen Platz und hatten unser Ziel erreicht. Das Gasthaus war ein beeindruckender Bau und genauso prächtig wie das in Halba. Mein Zimmer war zwar etwas kleiner als dort, auch etwas schlichter eingerichtet, aber es fehlte nichts, um sich wohl zu fühlen. Und es war peinlich sauber. Überrascht bemerkte ich, dass es zwei Betten gab, sie standen dicht nebeneinander. »Was soll das zweite Bett?«, fragte ich beunruhigt.
»Das ist für mich«, erwiderte Fluka gelassen.
»Wollen Sie etwa mit mir in einem Zimmer schlafen?«
»Na sicher. Warum soll man zwei Zimmer mieten, wenn eins reicht?«
»Aber ich würde gern allein in meinem Zimmer sein«, erklärte ich empört.
Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist so üblich bei uns.«
»Soll das heißen, dass ich mich nur im Bad frei bewegen kann?«
»Dort auch nicht.«
»Das ist nicht Ihr Ernst?«
»Für Späße haben wir keine Zeit.«
Ich starrte ihn wütend an. »Da ist es wohl am besten, gleich wieder abzureisen.«
»Die nächste Karawane bricht erst in zehn Tagen auf.« Er zog sich aus, schlüpfte in ein Nachthemd und ging zu einem der Betten. »Es ist alles neu und ungewohnt für Sie. Am besten vergessen Sie möglichst schnell Ihre alten Gewohnheiten.«
Angesichts der unabänderlichen Situation gab ich auf. Ich legte meine Kleidung ab und streckte mich in meinem Bett aus. Aufgeregt wie ich war, fand ich lange keinen Schlaf, aber schließlich siegte die Müdigkeit.
Am nächsten Morgen überkam mich wieder der alte Groll, trotzdem tat ich, als nähme ich alles gleichgültig hin. Fluka brachte mich in den Speisesaal, wir nahmen an einem kleinen Tisch Platz. Das Frühstückbestand aus Milch, Brot, Eiern und kandierten Früchten. Es schmeckte ausgezeichnet, und es war auch alles reichlich vorhanden. Ich aß tüchtig, nur das Glas Wein, das auf dem Tisch stand, rührte ich nicht an.
»Wein gibt es bei jeder Mahlzeit, das ist so üblich.«
»Ich brauche keinen.«
»Aber ich kenne viele Moslems, die auf Wein ganz versessen sind.« Da ich nur lächelte und nichts sagte, fragte er:
»Meinen Sie wirklich, dass sich Ihr Gott darum kümmert, ob Sie Wein trinken oder nicht?« Offenbar sah er meinem Gesicht an, wie ungehalten ich war, denn er entschuldigte sich tatsächlich. — Wir brachen zu unserem ersten Spaziergang auf. Kaum stand ich draußen vor der Tür, bekam ich einen Schreck. Der Platz vor dem Gasthaus, die Straßen, die davon wegführten — es war alles leer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich in einer verlassenen, ausgestorbenen Stadt befand. Dabei sah alles unglaublich sauber und elegant aus; es gab prächtige Gebäude und hoch aufragende Bäume. Aber nirgendwo regte sich Leben. Aufs Äußerste beunruhigt, fragte ich: »Wo sind die Menschen?«
»Sie sind bei der Arbeit, Männer wie Frauen«, erwiderte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich sah ihn verblüfft an. »Es muss doch Frauen geben, die nicht arbeiten? Und Leute, die keine Arbeit haben?«
»Jeder hat Arbeit, Männer wie Frauen. Kinder und alte Leute können Sie in den Parks sehen.«
»Aber Halba zum Beispiel quillt über vor Betriebsamkeit, in den Straßen herrscht ständiges Gedränge…«
Er überlegte ein Weilchen, dann sagte er: »Unser System unterscheidet sich grundsätzlich von allen anderen Systemen. Jeder erhält eine Ausbildung, dann arbeitet er. Jeder bekommt einen angemessenen Lohn. Wir sind das einzige Land, in dem es keine Reichen und keine Armen gibt. Es herrscht hier ein Maß von Gerechtigkeit, das andere Länder nicht einmal im Ansatz erreichen.«
Wir gingen los und zogen von einer leeren Straße in die nächste.
»Sehen Sie sich die Gebäude an, sie sind alle gleich. Es gibt keine Paläste und keine einzeln stehenden Häuser, keine riesigen Bauten und keine Hütten. Die Löhne unterscheiden sich nur wenig, das hängt von der Arbeit ab, die man leistet. Aber selbst der niedrigste Lohn reicht für ein menschenwürdiges Leben, jeder kann sich Wohnung, Ernährung, Kleidung, Ausbildung, Kunst, Kultur und Unterhaltung leisten.«
Es fiel mir schwer, das zu glauben, deshalb brachte ich auch nur ein paar Floskeln heraus. Aber die Gebäude beeindruckten mich, sie waren genauso stattlich wie die in Halba. Wir gingen über eine Brücke, die über einen breiten Fluss führte, und plötzlich standen wir in einem großen Park. Solch eine riesige Anlage, mit einer derart vielfältigen Pracht an Bäumen und Blumen hatte ich noch nie gesehen.
»Hier halten sich die Menschen auf, die ihr Arbeitsleben hinter sich gebracht haben.«
Die alten Menschen, Frauen und Männer, gingen spazieren, saßen auf den Bänken und unterhielten sich, manche sangen auch, und einige nahmen an leichten sportlichen Übungen teil.
»In jeder Stadt gibt es solch einen Park.«
Ich hörte seiner Stimme an, wie stolz er war. Insgeheim musste ich mir eingestehen, dass ich dieses System gut fand. Eine ähnliche Fürsorge war mir in keinem anderen Land begegnet. Mir fiel auf, dass viele dieser alten Menschen, vorsichtig geschätzt, über achtzig Jahre alt waren. Als ich Fluka gegenüber mein Erstaunen äußerte, sagte er: »Der Grund dafür liegt in der Art, wie wir uns ernähren. Wir bevorzugen natürliche Nahrungsmittel und vermeiden jegliche Schwelgerei. Außerdem gibt es während der Arbeit Pausen, in denen Sport getrieben wird.«
Noch etwas Merkwürdiges fiel mir auf: An einem künstlich angelegten See saß ein etwa achtzigjähriges Pärchen, von dem man hätte glauben können, es verbringe hier seine Flitterwochen. Im Schatten der großen Bäume, deren Grün sich auf dem Wasser widerspiegelte, ließen die beiden Alten die Beine im Wasser baumeln. Ich konnte mich nicht satt sehen, doch schließlich meinte Fluka, wir sollten weitergehen und uns den Park für die Kinder anschauen.
Zwischen dem Park für die Alten und dem für die Kinder erstreckte sich ein riesiger Platz, auf dem man gut und gern eine kleine Stadt hätte errichten können. Schon von weitem war das Gejauchze und Geschrei der Kinder zu vernehmen. Der Park war unendlich groß. Mir kam er wie ein eigenes, kleines Land vor, das den Kindern und Jugendlichen gehörte. Es gab viele Spielstätten, aber ich sah auch Plätze, die, wie mir schien, dem Unterricht und der Erziehung dienten. Es wimmelte von Erziehern, und zwar weiblichen wie männlichen. »Spielen die Kinder hier nur, oder werden sie auch unterrichtet?«, fragte ich Fluka.
»Man macht beides. Hier werden die unterschiedlichen Fähigkeiten geprüft, und jedes Kind erhält je nach Begabung seinen Ausbildungsplan. Die Erzieher nehmen die Stelle der Eltern ein, weil diese ihrer Arbeit nachgehen.«
»Aber die Liebe von Mutter und Vater kann doch niemand ersetzen?«
»Solche Sprüche und Redensarten haben in unserem Land ausgedient.«
Mittlerweile war es fast Mittag geworden, also beschlossen wir, ins Gasthaus zurückzukehren und zu essen. Es gab Fleisch, Blumenkohl, Brot und Äpfel. Nach dem Essen ruhten wir uns ein wenig aus, und kurz vor Sonnenuntergang machten wir uns wieder auf den Weg. Fluka führte mich auf einen großen Platz, und als wir unter einer der zahlreichen Weißpappeln standen, sagte er: »Es ist Zeit, dass Sie die anderen Bewohner des Amanlands kennen lernen.«
Auf den Platz mündeten vier breite Straßen. Kaum schickte sich die Sonne an unterzugehen, begannen die Straßen und der Platz zu leben. Es war, als hätte die Stunde der Auferstehung geschlagen. Aus jeder Straße strömten Massen von Männern und Frauen herbei, und da alle die gleiche schlichte Kleidung trugen, hatte ich den Eindruck, es marschiere eine Armee auf. Ein Meer von Menschen ergoss sich auf den Platz, aber es gab kein Gedränge und kein Geschrei. Die Leute unterhielten sich ganz leise, flüsterten fast, und ein jeder schritt weit aus, als steuerte er auf ein bestimmtes Ziel zu. Es gab zwei Ströme, je nachdem, ob man den Platz erreichen oder ihn wieder verlassen wollte. So konnte kein Durcheinander entstehen, aber es war auch kein Lachen zu hören. Die Gesichter sahen ernst und erschöpft aus. Dieses Bild der verkörperten Gleichheit, Ordnung und Ernsthaftigkeit weckte nicht nur mein Erstaunen, sondern erfüllte mich auch mit Angst. Kaum hatte der Aufzug der Menschen seinen Höhepunkt erreicht, begann er sich, ohne ins Stocken zu geraten, aufzulösen. Bei Einbruch der Nacht lag der Platz wieder wie ein verwaistes Königreich da.
»Wo gehen die Menschen jetzt hin?«, fragte ich Fluka.
»Nach Hause.«
»Und dann? Kehren sie wieder zurück, um noch ein bisschen zu feiern?«
»Nein, sie bleiben zu Hause. Die Vergnügungsstätten werden nur an dem freien Abend am Wochenende geöffnet.«
»Soll das heißen, dass wir jeden Abend im Gasthaus verbringen müssen?«
Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das Gasthaus verfügt über einen Saal, in dem die Fremden ganz nach Belieben trinken und sich Tanz- und Gesangsdarbietungen ansehen können.«
Wir verbrachten den Abend tatsächlich dort. Der Tanz war seltsam, der Gesang für meine Ohren neu, und es wurden auch ein paar Zauberkunststücke geboten. Alles in allem unterschieden sich die Darbietungen nicht grundsätzlich von denen, die ich in Halba gesehen und gehört hatte.
Am nächsten Tag besuchten wir Fabriken, Handelsund Ausbildungszentren und Krankenhäuser. An Größe, Ordnung und Disziplin standen diese Einrichtungen denen in Halba in nichts nach, und ich war zutiefst beeindruckt. Mehr noch, meine feste Überzeugung, dass das Land des Islam allen anderen Ländern hinsichtlich der Kultur und der Erzeugung von Gütern überlegen war, geriet sichtlich ins Wanken. Was mir aber überhaupt nicht gefiel, das waren die düsteren, verschlossenen, abweisenden Gesichter der Menschen. Genau dieser Gesichtsausdruck war es, der es mir unmöglich machte, an Fluka, meinem mir aufgezwungenen Begleiter, Gefallen zu finden.
Wir besichtigten eine historisch denkwürdige Zitadelle, deren Mauern mit Inschriften und figürlichen Darstellungen verziert waren. »Hier, auf dieser Zitadelle«, erklärte Fluka, »fand die letzte Schlacht statt, die mit der Niederlage des tyrannischen Königs und dem Sieg des Volks endete.« Danach brachte er mich zu einem Gebäude, das wie ein Tempel aussah. »Das ist das Gericht der Geschichte, hier wurden die Feinde des Volks angeklagt und zum Tod verurteilt.« Auf meine Frage, um wen genau es sich da gehandelt habe, sagte er: »Großgrundbesitzer, Fabrikherren, despotische Gouverneure. Dieser Staat wurde in einem langen, bitteren Krieg erkämpft.«
Mir fiel ein, dass mein verehrter Lehrer Scheich Marara al-Gibaili vom Abbruch seiner Reise erzählt hatte, weil im Amanland ein Bürgerkrieg geherrscht hatte. Ich erinnerte mich auch daran, wie viel Blut im Halbaland um der Freiheit willen geflossen war. Aber hatte die Geschichte des Islam in meinem Land etwa weniger Blut und Tränen aufzuweisen? Was war dem Menschen wichtig? Gab es einen einzigen großen Traum, oder gab es genauso viele Träume wie Länder und Regionen? Würde ich tatsächlich im Gaballand die ersehnte Vollkommenheit finden?
»Möchten Sie den heutigen Abend wieder im Saal verbringen?«, fragte Fluka.
Ich gab keine Antwort, verspürte ich doch nicht die geringste Lust dazu.
Offenbar bemüht, mich aufzumuntern, sagte er: »Morgen wird im ganzen Land der Tag des Siegs gefeiert, das ist ein großer Tag.«
Nach dem Abendessen setzten wir uns in die Eingangshalle und genossen die angenehm frische Sommerbrise. »Wie Sie wissen«, sagte ich zu ihm, »bin ich auf Reisen. Und da es in meinem Land üblich ist, die verschiedenen Eindrücke aufzuschreiben und allen zugänglich zu machen, darf ich mich nicht mit Besichtigungen begnügen, sondern muss so viel Informationen wie möglich sammeln.« Er unterbrach mich nicht, sondern hörte gleichmütig zu. »Deshalb würde ich sehr gern«, fuhr ich fort, »einen der Weisen dieses Landes treffen. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?«
»Die Weisen des Amanlands sind voll und ganz in ihre Pflichten eingebunden. Ich bin durchaus in der Lage, Ihnen jegliche Auskunft zu erteilen.«
Ich schluckte meine Enttäuschung schnell hinunter, war ich doch entschlossen, ihn auf die Probe zu stellen. »Gut, dann würde ich gern wissen, wie die politischen Machtverhältnisse aussehen. Wer regiert euch?«
Ohne zu zögern, erwiderte er: »Es gibt einen Präsidenten, der von der Führungsgruppe des Landes gewählt wird. Das sind die Kräfte, die die Revolution herbeigeführt haben. Zu dieser Gruppe gehören Gelehrte, Weise, Männer der Industrie, der Landwirtschaft, der Armee und der Sicherheit. Der Präsident wird auf Lebenszeit gewählt, aber wenn er Fehler macht, wird er abgesetzt.«
Das erinnerte mich an die Kalifat-Ordnung im Land des Islam, und damit war untrennbar verbunden, dass ich auch an die Tragödien unserer blutigen Geschichte denken musste. »Welche Vollmachten hat der Präsident?«
»Er besitzt die Oberhoheit über die Armee, die Sicherheitsorgane, die Landwirtschaft, die Industrie, die Wissenschaft, die Kunst. Es gehört alles dem Staat, die Menschen sind also Angestellte, die auf ihrem jeweiligen Gebiet tätig sind. Von daher gibt es keinen Unterschied zwischen einem Straßenkehrer und dem Präsidenten.«
»Wer unterstützt den Präsidenten in seiner Arbeit?«
»Er hat Ratgeber, und natürlich steht ihm auch die Führungsgruppe, die ihn gewählt hat, mit Rat und Tat bei. Aber letztlich ist seine Meinung ausschlaggebend. Auf diese Weise sind wir vor Chaos und zögerlichem Entscheidungswillen geschützt.«
»Aber dann ist er doch viel zu mächtig, um bei einem Fehler verantwortlich gemacht werden zu können?«
Zum ersten Mal wirkte er aufgebracht, denn in ziemlich scharfem Ton entgegnete er: »Hier herrscht das Gesetz, und das ist heilig.« Bevor ich etwas sagen konnte, fügte er hinzu: »Schauen Sie sich doch die Natur an, da herrschen auch Gesetz und Ordnung, und nicht die Freiheit.«
»Aber im Unterschied zu den Kreaturen hat sich der Mensch schon immer nach Freiheit gesehnt.«
»Alles nur purer Wahn und fleischliche Begierden. Wir haben herausgefunden, dass die Herzen der Menschen nur dann ruhig schlagen, wenn Gerechtigkeit herrscht. Deshalb bauen wir unser System darauf auf. Die Freiheit dagegen steht bei uns unter Kontrolle.«
»Verlangt das eure Religion von euch?«
»Wir beten die Erde an, denn sie hat die Menschheit erschaffen und spendet ihr alles, was sie braucht.«
»Die Erde?«
»Gewiss, weil sie uns gelehrt hat, unseren Verstand zu benutzen, und das ist der Schlüssel zu allem anderen.« Er warf sich stolz in die Brust. »Wir sind das einzige Land, in dem Sie auf keinerlei Aberglauben oder sonstige Wahnvorstellungen stoßen werden.«
Tief im Innern bat ich Gott wieder und wieder um Vergebung. Man konnte vielleicht für das heidnische Maschrikland eine Entschuldigung finden, ebenso für das Hairaland, aber wie konnte es sein, dass das Amanland, das über eine dermaßen hoch entwickelte Kultur verfügte, die Erde anbetete? Was für ein seltsames Land! Es rang mir die allerhöchste Bewunderung ab, aber im gleichen Maß verspürte ich auch Widerwillen. Doch keines dieser Gefühle setzte mir so stark zu wie der Schmerz um mein eigenes Land, in dem der islamische Glaube tief gesunken war. Wo das Kalifat nicht weniger despotisch herrschte als der Präsident des Amanlands. Der beging seine Verstöße gegen die Freiheit wenigstens öffentlich, während der Islam still und leise von Heuchelei und schwachsinnigem Aberglauben zersetzt wurde. Und das Volk litt unter Unwissenheit, Armut und Krankheit. Gelobt sei der Erhabene, der Einzige, den man in der Not preisen kann.
In jener Nacht schlief ich schlecht, unangenehme Träume quälten mich. Dann brach der Tag des Fests an, und da niemand arbeiten musste, machte die Stadt auf einmal einen warmen, lebendigen Eindruck. Fluka führte mich zu, dem Platz, an dem der Palast stand. Es war ein gewaltiger Bau, ein Meisterwerk der Architektur. Der Platz selbst besaß riesige Ausmaße, Zigtausende konnten sich dort gut und gern aufhalten. Wir stellten uns in der Mitte hin. Die Menschen strömten in Scharen herbei. Verwundert schaute ich zu, wie sie geordnete Reihen bildeten, eine nach der anderen. Was für ein eintöniges Bild sie boten — die gleiche Kleidung, das gleiche Grau der Gesichter, die gleiche Statur. Keins dieser Gesichter hatte die Sonne je verbrannt, die Körper waren kräftig und dennoch abgezehrt, die Mienen, wegen des Fests zu einem Lächeln verzogen, die doch sonst, an allen anderen Tagen, düster dreinblickten. Ohne jeden Zweifel besaßen die Menschen im Halbaland eine Schönheit, die man bewundern konnte, aber ins Staunen geriet man auch hier, und zwar wegen der völligen Gleichartigkeit. Vielleicht war das der Grund, warum ich in den Augen eine tief empfundene Zufriedenheit las, die allerdings auch etwas Geheimnisvolles barg, etwas wie Gleichgültigkeit oder Abgestumpftheit.
Eine Trompete schmetterte zum Auftakt. Dann näherte sich aus der Richtung, die dem Palast gegenüberlag, eine Prozession von jungen Mädchen. Sie hielten Blumensträuße in den Händen und schritten in vier Reihen auf den Palast zu. Als sie vor dem großen Tor angekommen waren, bildeten sie aus zwei Blöcken ein Spalier. In diesem Moment stimmte die Menge eine Hymne an, und der Gesang war so mächtig und so schön, dass ich vor Rührung erschauerte. Diese Masse von Stimmen, harmonisch vereinigt und getragen von gemeinsamen, vertrauten Erinnerungen. Als der Gesang endete, begannen alle zu klatschen. Nach ungefähr zwei Minuten hielten sie inne. Fluka stieß mich mit dem Ellbogen an und flüsterte mir ins Ohr: »Der Präsident kommt…«
Ich schaute zum Palast. In der dunklen Tiefe des langen Gangs, der zum Tor führte, konnte ich schemenhaft eine Gruppe Männer ausmachen. Erst als sie näher kamen, waren die Gesichter zu erkennen. Allen voran ging der Präsident; die Männer, die ihm folgten, gehörten offenbar zur Führungsgruppe. Der Präsident schritt die Reihen ab, hob hier und da grüßend die Hand. Als er an mir vorbeiging, war er ein paar Handbreit von mir entfernt. Er war von mittlerer Größe, sehr dick und mit einem grobschlächtigen Gesicht. Sein Gefolge stand ihm, was die Beleibtheit betraf, in nichts nach, ein Umstand, der mich aufmerken ließ. Ich war überzeugt, dass der Präsident und seine Männer in den Genuss von Speisen kamen, die der Masse des Volks verwehrt blieben. Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, was Fluka zu dem Thema zu sagen hätte: Für Menschen, die in der Arbeit oder der Wissenschaft überdurchschnittliche Leistungen brächten, gebe es durchaus bestimmte Privilegien, und da sei es ja wohl klar, dass zu diesem Kreis allen voran der gewählte Präsident und seine Männer gehörten. Die Grenzen dieser Privilegien seien aber so eng gezogen, dass von Klassenunterschieden nicht die Rede sein könne. Jeder Vergleich mit den Privilegien von Familien, Stämmen, Klassen in den Gesellschaftssystemen, die von Unterdrückung und Korruption beherrscht wurden, sei begreiflicherweise völlig fehl am Platz. In der Tat schienen mir diese Vorrechte kein Verstoß gegen das Gesetz der Gleichberechtigung zu sein, und genauso wenig sah ich keinerlei Ähnlichkeit mit den Zuständen in den anderen Ländern, allen voran dem Land des Islam, wo das Leben der Menschen von erschreckender Ungleichheit geprägt war. Es schien mir, als sähe ich die Dinge deutlicher als je zuvor. Das System im Halbaland hatte ein klares Ziel, das es strikt verfolgte, und genauso entschlossen verwirklichte man im Amanland das gestellte Ziel. Im Land des Islam hingegen sprach man zwar lautstark von einem Ziel, aber in Wirklichkeit scherte man sich nicht darum; man tat es leichtfertig und schamlos ab, und keiner kam je auf den Gedanken, Rechenschaft zu fordern. Das vollkommene System — würde ich es im Gaballand finden?
Der Präsident stieg auf die Tribüne, die vor dem Palast aufgebaut worden war, und begann mit seiner Rede. Er sprach über den historischen Verlauf der Revolution, den siegreichen Kampf und über die Errungenschaften, die in den verschiedensten Lebensbereichen erreicht worden waren. Mich interessierte vor allem, wie die Menschen reagierten. Zweifelsohne war ihre Begeisterung echt, und alle fühlten sich von einer gemeinsamen Hoffnung und Vision getragen. Nein, das war kein unterdrücktes, entmündigtes Volk, das waren durchaus selbstbewusste und anständig erzogene Menschen. Und trotzdem schien ihnen etwas Wesentliches zu fehlen, denn wirklich glücklich sahen sie nicht aus. Aber wie dem auch sei, das Volk stand geschlossen hinter einer Botschaft, die einem wie auch immer gearteten Glauben nahe kam.
Kaum hatte der Präsident seine Rede beendet, da preschte ein berittener Trupp mit Lanzen über den Platz. Ein grässlicher Anblick bot sich mir — auf jeder Lanze war ein Kopf aufgespießt. Vor lauter Entsetzen drohte mir das Herz stillzustehen. Ich sah Fluka an.
»Aufrührerische Verräter«, erklärte er barsch.
Für Fragen blieb keine Zeit, denn die Masse stimmte wieder die Hymne an. Dann folgten Hochrufe, und die Veranstaltung war beendet.
Wir kehrten ins Gasthaus zurück, um zu Mittag zu essen. Es war Fluka, der unterwegs das Gespräch aufnahm. »Der Anblick der aufgespießten Köpfe hat Sie verstört? Das muss sein, es ist unvermeidlich. Unser System verlangt von jedem, dass er sich nicht um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen. Der Ingenieur hat nicht über Medizin zu reden, der Arbeiter nicht über Landwirtschaft. Und Politik, ob nun Innen- oder Außenpolitik, geht keinen etwas an. Wer sich dagegen auflehnt, bekommt, wie Sie gerade gesehen haben, seine Strafe.«
Der Gedanke, dass in diesem Land persönliche Freiheit mit Hinrichtung bestraft wurde, bedrückte mich sehr. Gleichzeitig war ich außer mir vor Wut über Fluka, war er doch von dem, was er sagte, geradezu fanatisch überzeugt.
Am Abend gingen wir in einen Zirkus. Das große Zelt war bis auf den letzten Platz besetzt. Es gab die verschiedensten akrobatischen Vorführungen, und es wurde getanzt und musiziert. Alles in allem war es ein vergnüglicher Abend. Beim Abendessen, es wurde gebratenes Fleisch und Obst gereicht, trank Fluka Wein. Als er mich aufforderte, auch ein Glas Wein zu trinken, und ich ablehnte, sah er sich gezwungen, sich beim Trinken zurückzuhalten. Nur mit Mühe konnte er seinen Ärger darüber verhehlen. Wir brachen um Mitternacht auf und schlenderten gemächlich heim. Der Mond schien, und in den Straßen torkelten lauter Betrunkene. Um etwas zu sagen, meinte ich: »Schön, wie ihr euch vergnügt.«
Zum ersten Mal lächelte er, was höchstwahrscheinlich am Wein lag. »Schön, wie ernst Sie sind«, erwiderte er.
Ich schmunzelte, und das gefiel ihm offenbar überhaupt nicht.
»Finden Sie das Leben in Ihrer ersten Heimat oder in Ihrer zweiten Heimat besser als das in Aman?«
»Reden wir nicht über meine eigentliche Heimat«, erwiderte ich ein wenig bitter. »Die Menschen dort haben ihre Religion verraten.«
»Wenn eine Gesellschaft nicht dafür sorgt, dass das System funktioniert, ist sie zum Untergang verurteilt.«
»Noch haben wir die Hoffnung nicht verloren.«
»Wozu dann die Reise ins Gaballand?«
»Weil Wissen Erleuchtung bringt.«
»Also eine Reise ins Nichts«, spottete er.
Es verging Tag um Tag, und es gab nichts, das mich hätte erfreuen können. Im Gasthaus begannen die Leute über die Beziehungen zum Halbaland zu reden; ihre Stimmen klangen besorgt. Ich fragte Fluka, worum es ging.
»Während des Kriegs gegen das Hairaland versicherte uns das Halbaland, dass wir ein Recht auf die Wasserquellen hätten. Nach dem Sieg zeigten diese Schurken ihr wahres Gesicht, sie zogen ihre Zusicherung zurück. Jetzt wird erzählt, dass sie in den beiden Ländern, die sie erobert haben, also in Maschrik und Haira, eine Armee aufstellen. Gut möglich, dass das Krieg bedeutet.«
Unruhe überkam mich. »Sie meinen, es wird tatsächlich Krieg geben?«
»Wir sind bestens gerüstet«, erwiderte er gelassen.
Meine Gedanken kreisten um Samija und die Kinder, und ich erinnerte mich an das Unheil, das Arusa und ihren Kindern widerfahren war. Voller Ungeduld wartete ich darauf, dass die zehn Tage zu Ende gingen, doch nichts geschah. Ich beruhigte mich wieder und bereitete mich auf die Abreise vor. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Fluka nach dem buddhistischen Reisenden und seiner Frau, Arusa, fragen könnte, die ja vor einem Jahr das Amanland besucht hatten. Tatsächlich erklärte Fluka, dass er mir helfen könne. Wenn wir am letzten Tag meines Aufenthalts ins Gästezentrum gingen, würde er sich um eine Auskunft bemühen. Er hielt sein Versprechen, blätterte sogar höchstpersönlich die Unterlagen durch.
»Das Ehepaar«, berichtete er, »hielt sich hier zehn Tage auf, dann ist es mit der Karawane aufgebrochen, die ins Ghurubland zog. Der Mann ist unterwegs gestorben, er wurde in der Wüste begraben. Die Frau hat die Reise mit der Karawane fortgesetzt.«
Die Nachricht bewegte mich sehr. Wie mochte es Arusa wohl gehen? Ob sie sich noch im Ghurubland aufhielt? Vielleicht war sie aber auch ins Gaballand gereist oder ins Maschrikland zurückgekehrt?
Am nächsten Morgen fand ich mich in aller Frühe mit meinem Gepäck an dem Platz ein, wo die Karawanen zusammengestellt wurden. Ich schüttelte Fluka zum Abschied die Hand und bedankte mich bei ihm für die freundliche Begleitung und die vielen nützlichen Hinweise.
Er drückte schweigend ineine Hand, aber dann trat er näher an mich heran und flüsterte mir ins Ohr: »Der Krieg ist ausgebrochen.«
Mir verschlug es die Sprache. Nicht einmal die Frage, wer als Erster den Krieg erklärt hatte, kam mir über die Lippen. Erinnerungen an Samija und die Kinder stürmten auf mich ein, und der Gedanke an das noch ungeborene Wesen ließ mich nicht mehr los.