So träge die letzten Tage verflossen waren, so bedächtig und würdevoll setzte sich die Karawane in Gang. Der Aufbruch fand im zarten Dunkel des Morgengrauens statt, aber dieses Mal geriet ich nicht in eine dichterische Stimmung, sondern es bedrängten mich schmerzliche Erinnerungen an das Gefängnis und der Kummer über ein vertanes Leben. Ich sah mir meine Reisegefährten an, und gehörten sie auch einer neuen Generation an, zeichneten sie doch Eigenschaften aus, die Händlern schon immer eigen waren — Tatkraft, das Mehren von Geld, die Ruhmessucht der Abenteurer. Mit Träumern, die zögern und zaudern, hatten sie nichts zu tun. All meine früheren Fehlschläge stürmten auf mich ein — die Stunde des Abschieds in der Heimat, die vom Schmerz um Halima gezeichnet war; der Tag, an dem ich aus dem Maschrikland gejagt wurde und um Arusa weinte; der Moment, da ich dem Hairaland Lebewohl sagte und den Verlust von Glück und Jugend beklagte. Ich merkte auf, schaute in Richtung Osten : Rosigen Wellen gleich überflutete die Dämmerung den Himmel, und die Sonne stieg stetig, wie in den letzten zwanzig Jahren auch, höher und höher. Vor uns erstreckte sich die endlose Wüste in ihrer ganzen Erhabenheit, ein heißer Sommertag kündigte sich an.
Bei einer Rast fragte ich den Besitzer der Karawane nach al-Kani Ibn Hamdis. »Gott sei seiner armen Seele gnädig«, bekam ich zur Antwort. Ich fragte ihn auch nach Scheich Marara al-Gibaili, aber weder er noch die anderen Männer hatten den Namen je gehört. Vier Wochen waren wir unterwegs, bis wir endlich vor der Grenze des Halbalands in Schama Halt machten. Mein Bart wuchs, das Haar auf dem Kopf auch, und ich spürte, wie das Blut in meinen Adern wieder kräftig pulsierte. Im Schein der Mondsichel rückten wir auf das große Stadttor vor. Der Kommandant, der für den Zoll zuständig war, trat heraus. Bekleidet mit einer leichten Jacke, die der warmen Sommerzeit angemessen war, kam er zu uns. Mit fröhlicher Stimme rief er: »Willkommen in Halba, der Hauptstadt des Halbalands, dem Land der Freiheit.«
Hier war es wieder, dieses verfluchte Wort Freiheit — andererseits war ich erstaunt, dieses Mal keine versteckte oder offene Warnung herauszuhören. »Das ist das erste Land, in dem Fremden nicht als Erstes gedroht wird«, sagte ich zum Besitzer der Karawane.
Er lachte. »Sicher, das ist das Land der Freiheit, aber als Fremder sollte man dennoch auf der Hut sein.«
Man brachte mich ins Gasthaus. Unterwegs zeigten sich mir im Mondenlicht die Sehenswürdigkeiten der Stadt, sie waren beeindruckend. Vor allem bot sich mir aber ein völlig neuer Anblick: von Fackeln beleuchtete Sänften, die trotz der späten Stunde kamen und gingen. Die Eingangshalle des Gasthauses war angenehm geräumig, und von der Decke hingen Kronleuchter herab, an denen sich mein Auge nicht satt sehen konnte. Das Gasthaus selbst war ein gewaltiges Gebäude, bei dem sich die Kunst des Bauens und die Gnade des Reichtums in schönster Weise verbanden. Ich betrat mein Zimmer und erlebte die nächste Überraschung: Die Wände waren blau gestrichen, den Boden bedeckte ein teurer Teppich, und auf dem hochbeinigen Messingbett lagen brokatene Decken. Solch eine kostbare Ausstattung gab es in meiner Heimat nur in den Häusern der Oberschicht. All das deutete daraufhin, dass es in diesem Land einen Grad an Zivilisation gab, der den im Hairaland noch um etliches übertraf. Plötzlich ertappte ich mich wieder einmal bei der Frage, wo Arusa sich jetzt wohl befand und wie es ihr gehen mochte. Noch bevor ich mich meinen Erinnerungen überlassen konnte, kam ein Mann mittleren Alters ins Zimmer, der eine blaue Jacke und kurze weiße Hosen trug. »Ich bin Kaischam, der Besitzer des Gasthauses«, erklärte er.
Nachdem ich mich vorgestellt hatte, fragte er, ob ich einen Wunsch habe. »Ich möchte erst einmal schlafen«, erwiderte ich, »aber ich würde gern wissen, was das Zimmer kostet.«
»Pro Nacht drei Dinar.«
Ich bekam einen Schreck. Offenbar genoss hier alles und jeder seine Freiheit, selbst die Preise. Wie es meine Gewohnheit war, bezahlte ich für zehn Tage im Voraus.
Ich legte mich ins Bett; seit meinem Aufbruch aus der Heimat hatte ich mich nicht mehr so gut aufgehoben gefühlt. Ich wachte früh auf. Das Frühstück wurde mir aufs Zimmer gebracht, es bestand aus Brot, Milch, Käse, Butter, Honig und Eiern. Nicht nur, dass alles reichlich vorhanden war, es schmeckte auch vorzüglich. Das bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass ich tatsächlich in einer neuen, aufregenden Welt angekommen war. Nach dem Frühstück trieb mich die sehnsuchtsvolle Hoffnung hinaus, dass das Spiel des Schicksals zu einem guten Ende kommen und mir durch Zufall Arusa über den Weg laufen würde.
In der Eingangshalle trat Herr Kaischam an mich heran. »Wir bieten unseren Gästen, die sich die Stadt ansehen möchten, die Möglichkeit, sich einer Sänfte zu bedienen.«
Ich dachte kurz nach, bevor ich sagte: »Danke, aber ich würde gern allein herumschlendern und ganz nach Belieben die Zeit verbringen.«
Die Stadt war so groß, dass ich vom ersten Augenblick an das Gefühl hatte, als Einzelner nicht beachtet zu werden und in der Menschenmasse völlig unterzugehen. Vor dem Gasthaus befand sich ein weiträumiger, runder Platz, der von großen Gebäuden und Geschäften gesäumt war. Ich überquerte ihn und kam an eine Brücke, die sich über einen Fluss wölbte. Sie führte auf einen kleinen Platz, von dem aus viele große, endlos lange Straßen abzweigten. Dicht an dicht drängten sich Gebäude, und es gab viele Bäume. In welche Richtung sollte ich gehen? Wo war Arusa? Wie wollte ich mich hier ohne Führer zurechtfinden? Ich beschloss, in dieser Stadt der Freiheit meinen Füßen völlige Freiheit zu lassen. Bei jedem Schritt geriet ich mehr ins Staunen. Es gab Straßen über Straßen, sie kreuzten sich, zweigten voneinander ab, und bei keiner konnte ich den Anfang noch das Ende erkennen. Zu erwähnen bleibt, dass in jeder Straße berittene Polizei zu sehen war. Gebäude, Häuser, Paläste reihten sich aneinander, und die Zahl der Geschäfte, die vor Waren überquollen, war so unermesslich wie Sandkörner in der Wüste. Ich kam an Fabriken, Handelsfirmen, Vergnügungsstätten vorbei, und immer wieder gelangte ich in Parks, die, was Farben und Formen betraf, ganz unterschiedlich angelegt waren. Und der Strom von Menschen und Sänften riss nicht ab — Frauen und Männer, Reiche und Arme. Wobei ich feststellen konnte, dass die Armen hier um etliches besser genährt und gekleidet aussahen als im Maschrik- oder im Hairaland. Es gab viel Schönheit und Eleganz zu sehen, manche Menschen legten auch Wert auf Bescheidenheit. Andere hingegen wollten zeigen, dass sie, was Sitte und Anstand betraf, ihre eigenen Regeln hatten, weshalb sie halb nackt herumliefen. Ernst und Gesetztheit verbrüderten sich mit Fröhlichkeit und Schlichtheit, und mir schien, als begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die ihr eigenes Leben lebten, die sich ihres Wertes bewusst und stolz auf sich waren. Wo aber sollte ich in diesem wogenden Meer ohne Ufer zufällig auf Arusa stoßen? Ich lief weiter und weiter, und wurde ich müde, setzte ich mich in einen Park und ruhte aus. Und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, mit der Erkundung der Stadt noch gar nicht angefangen zu haben. Ich bereute es zutiefst, das Angebot von Herrn Kaischam, in eine Sänfte zu steigen, nicht angenommen zu haben.
Zwei Vorfälle weckten mein Interesse. In einem Park beobachtete ich, dass Polizisten einigen Spaziergängern Fragen stellten. Als ich mich umhörte, erfuhr ich, dass ein Gärtner in einem Gebüsch eine ermordete Frau entdeckt hatte. Nun gut, Ähnliches gibt es überall. Der zweite Vorfall machte mich nicht nur neugierig, sondern bestürzte mich geradezu. Ich geriet in einen Protestmarsch, an dem Frauen und Männer teilnahmen. Sie schrien und riefen ihre Forderungen, und die Polizisten hielten den Zug nicht auf, sondern folgten ihm in einem gewissen Abstand. Ich erinnerte mich an eine ähnliche Situation in meiner Heimat, bei der eine Menge Menschen vor dem Sultanspalast ihren Unmut über eine Steuererhöhung zum Ausdruck gebracht hatten. Aber hier ging es um etwas ganz anderes, nämlich um die gesetzliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen! Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, war restlos überzeugt, dass ich es mit einer sehr fremden Welt zu tun hatte, mehr noch, dass zwischen dieser Welt und mir ein tiefer Abgrund klaffte. Angesichts von all dem Unbekannten, das da lauerte, bekam ich es mit der Angst zu tun.
Die Mittagszeit rückte näher, und trotz der angeblich erträglichen Sommertemperaturen wurde es heiß. Gerade wollte ich mich nach dem Weg zum Gasthaus erkundigen, da hörte ich den Ruf: »Gott ist groß!«
Mein Herz machte einen Satz, und mir wurde siedend heiß. Herr im Himmel, das war der Ruf zum Gebet! Da rief ein Muezzin! War das Halbaland etwa ein islamisches Land? Ich stürzte in die Richtung los, aus der der Ruf gekommen war, und tatsächlich, gleich vorn in einer Straße stand eine Moschee. Seit einem Vierteljahrhundert hatte ich weder diesen Ruf gehört noch eine Moschee gesehen. Ich fühlte mich wie neugeboren, und mir war, als hätte ich zum ersten Mal zu Gott gefunden. Ich betrat die Moschee, vollzog die rituelle Waschung und ordnete mich in die Reihe der Betenden ein. Mit Tränen in den Augen hob ich das Mittagsgebet an, und es erfüllte mich eine solche Freude, dass mir das Herz ganz leicht wurde. Nach dem Gebet leerte sich die Moschee, nur ich blieb hocken. Erst als ich mit dem Imam allein war, stürzte ich zu ihm. Ich schloss ihn in die Arme und küsste ihn heftig ab. Er hielt meiner ungestümen Erregung lächelnd stand, bis er schließlich murmelte: »Herzlich willkommen, Fremdling.«
Wir setzten uns unweit der Gebetsnische hin. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, nannte er seinen Namen — Scheich Hamada as-Sabki. Er sei hier im Halbaland geboren, sagte er.
Mit bebender Stimme stammelte ich: »Ich habe nicht gedacht, dass das ein islamisches Land ist.«
»Das ist es auch nicht«, erwiderte er bedächtig. Als ich ihn überrascht anschaute, fügte er hinzu: »Es ist das Land der Freiheit, und deshalb sind hier alle Religionen vertreten. Es gibt Moslems, Juden, Christen und Buddhisten. Es gibt sogar Ketzer und Heiden.«
Ich starrte ihn entgeistert an. »Wie kann das sein?«
Er lächelte. »Ursprünglich war das Halbaland ein rein heidnisches Land, aber da zu seinen Grundfesten die Freiheit gehört, durfte jeder Gläubige seine Religion nicht nur ausüben, sondern auch für sie werben.
So kam es, dass sich die verschiedenen Religionen in der Bevölkerung verbreitet haben. Heiden gibt es nur noch in einigen Oasen.«
Ich hörte mit wachsender Spannung zu. »Und welche Glaubensrichtung ist die Staatsreligion?«
»Der Staat mischt sich in Glaubensfragen nicht ein.«
»Aber wie wird erreicht, dass die verschiedenen Bekenntnisse miteinander auskommen?«
»Sie genießen alle die gleichen Rechte.«
»Und damit sind sie einverstanden?«, fragte ich, und meine Stimme hörte sich beinah empört an.
»Jede Religion hat natürlich ihre eigenen Traditionen und Werte, aber die gegenseitige Achtung ist ein allgemeines Gebot. Keine Gruppe genießt Vorrechte, und selbst wenn das Staatsoberhaupt einer bestimmten Glaubensrichtung angehört, spielt das keine Rolle. Nebenbei gesagt, ist unser derzeitiger Präsident ein Heide.«
Was für ein seltsames Land! Ich war fassungslos, mir brummte der Schädel. »Von so einer Art von Freiheit habe ich noch nie gehört. Darf ich fragen, verehrter Meister, ob man Ihnen von der Kundgebung berichtet hat, bei der es um die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ging?«
»Sicher, es haben ja auch Moslems daran teilgenommen.«
»Was? Da wird ihre Strafe nicht gering ausfallen.«
Der Scheich nahm den Turban ab, strich sich über den Kopf und setzte den Turban wieder auf. »Die Freiheit ist ein Wert, der allen heilig ist.«
»Aber diese Freiheit überschreitet bei weitem die Grenzen des Islam!«, rief ich empört.
»Sie gilt auch dem hiesigen Islam als heiliger Wert.«
Enttäuscht murmelte ich: »Würde unser Prophet auferstehen und müsste er das erleben, würde er eure Art von Islam auf das Schärfste verurteilen.«
»Würde er, Heil und Segen über ihn, auferstehen, müsste er dann nicht euren Islam auch verurteilen?«, fragte er zurück.
Wie Recht der Mann hatte, ich fühlte mich zutiefst beschämt.
»Ich kenne mich aus, denn ich bin oftmals in den Ländern des Islam herumgereist.«
»Deshalb bin ich aufgebrochen, Scheich Hamada. Ich wollte mein Heimatland aus der Ferne sehen und mit anderen Ländern vergleichen. Vielleicht habe ich, wenn ich zurückkehre, nützliche Ratschläge im Gepäck.«
»Daran tun Sie gut, möge Gott Ihnen Erfolg schenken. Unser Land wird Sie vieles lehren.«
Meine Neugier war geweckt. »Wenn Sie gestatten, könnten wir gelegentlich weitere Gespräche führen. Im Augenblick würde ich vor allem gern wissen, wer in diesem seltsamen Land die Macht ausübt.«
»Unser System ist einzigartig. Ähnliches haben Sie noch nicht kennen gelernt und werden es auch nicht kennen lernen.«
»Nicht einmal im Gaballand?«
»Ich kenne die dortigen Verhältnisse nicht gut genug, um einen Vergleich anzustellen. Sie müssen wissen, dass unser Präsident gewählt wird. Wer sich für das Amt bewirbt, wird nach geistigen, moralischen und politischen Gesichtspunkten beurteilt. Die Amtszeit dauert zehn Jahre, dann tritt der Präsident zurück. Bis zur Wahl, für die der zurückgetretene Präsident durchaus nochmals kandidieren darf, übernimmt der Oberste Richter das Amt.«
»Großartig!«, rief ich begeistert.
»Die Moslems hätten gut daran getan, diese Ordnung als Erste einzuführen. Übrigens steht dem Präsidenten ein Rat von Sachkundigen zur Seite, die ihm in allen Fragen helfen, sich eine Meinung zu bilden.«
»Ist dann seine Meinung bindend?«
»Gibt es unterschiedliche Auffassungen, tritt die gesamte Regierung zurück, und es gibt Neuwahlen.«
»Das ist ja fantastisch!«
»Was die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel betrifft, werden diese Bereiche von leistungsstarken und sachverständigen Kräften geleitet.«
»Also gibt es Reiche und Arme.«
»Wie es auch Arbeitslose, Diebe und Mörder gibt.«
Ich schmunzelte. »Nun ja, vollkommen ist nur Gott«, bemerkte ich etwas ironisch.
Er sah mich ernst an. »Wir haben beachtliche Verbesserungen erreicht.«
»Ihr braucht doch bloß die islamische Gesetzgebung einzuführen!«
»Bei euch ist sie geltendes Recht. Und weiter?«
»Ist sie eben nicht«, erwiderte ich trotzig.
»In diesem Land ist jeder einer grundlegenden Doktrin verpflichtet. Sie wird nach Buchstabe und Geist angewendet.«
»Also ist die Regierung nur für die innere Sicherheit und die Landesverteidigung verantwortlich?«
»Und für öffentliche Anliegen, die einzelne Leute nicht übernehmen können, zum Beispiel der Unterhalt von Parks, Brücken, Museen. Es gibt auch staatliche Schulen, in denen begabte Kinder aus armen Familien kostenlos eine Ausbildung erhalten. Das Gleiche gilt für Krankenhäuser. Aber im großen Ganzen ruht die Verantwortung auf den Schultern Einzelner.«
Ich überlegte ein Weilchen, bevor ich sagte: »Wahrscheinlich haltet ihr euch für das glücklichste Volk auf Erden.«
»Es ist alles relativ zu sehen, Kindil. Solange es Arme und Reiche gibt, solange Menschen Verbrechen begehen, ist eine solche Einschätzung vermessen. Abgesehen davon ist unser Leben nicht frei von Ängsten, denn sowohl wir als auch das Hairaland im Süden und das Amanland im Norden werden von Begehrlichkeiten getrieben. Diese einzigartige Zivilisation ist bedroht, sie könnte in einer Schlacht mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Selbst ein Sieg könnte den Untergang bedeuten, wenn nämlich die Schäden zu groß sind und uns zu Grunde richten. Außerdem muss ich einräumen, dass die Differenzen zwischen den Religionen nicht immer friedlich ausgetragen werden.«
Er hielt inne, dann fragte er mich nach meinen Reiseplänen. Ich erzählte ihm kurz, was ich seit der Abreise aus meiner Heimat erlebt hatte. Er schaute mich mitleidig an und wünschte mir Glück und Erfolg auf den Weg. »Ich würde Ihnen raten, eine Sänfte zu mieten, denn zu Fuß schaffen Sie es nicht, die vielen Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Es gibt auch noch andere Städte, die Sie besuchen sollten. Und was Ihre Arusa betrifft, so wird es leichter sein, das Gaballand zu erreichen, als sie hier durch Zufall zu finden.«
»Ich weiß«, antwortete ich bedrückt. »Aber ich habe noch eine Bitte, ich würde gern den Weisen des Landes besuchen.«
»Was soll das?«, fragte er verdutzt. »Das Maschrikland hat seinen Weisen, ebenso das Hairaland. Aber wir haben Wissenschaftszentren, in denen es von Weisen nur so wimmelt. Jeder von ihnen kann Ihnen Ihre Fragen beantworten.«
Ich dankte ihm für das Gespräch und sein freundliches Entgegenkommen. »Es ist Zeit für mich, ich werde gehen.«
Er hielt mich am Arm zurück. »Ach was, wir werden gemeinsam zu Mittag essen.«
Ich nahm die Einladung dankend an, bot sich mir doch damit die Gelegenheit, einen Einblick in das Leben einer hiesigen Familie zu erhalten. Wir gingen etwa eine Viertelstunde zu Fuß, bis wir in eine ruhige Straße kamen, die auf beiden Seiten von Akazienbäumen gesäumt war. Das Haus, in dem der Scheich im zweiten Stock wohnte, machte einen gediegenen Eindruck. Noch viel gelungener war aber die Einrichtung des Salons, und da der Scheich zweifelsohne zur Mittelklasse gehörte, sprach das für den gehobenen Lebensstil im Halbaland.
Gleich beim Betreten der Wohnung sollte ich ein Verhalten kennen lernen, das in meiner islamischen Heimat als höchst unschicklich gegolten hätte: Nicht nur die zwei Söhne begrüßten mich an der Tür, sondern auch seine Frau und seine Tochter. Aber das befremdliche Benehmen ging noch weiter, denn wir setzten uns alle gemeinsam an einen Tisch, und es wurde Wein gereicht. Das war wirklich eine neue Welt mit einem ganz neuen Islam. Die Anwesenheit der Ehefrau und der Tochter brachte mich in Verlegenheit, denn seit ich den Kinderschuhen entwachsen war, hatte ich nie mehr mit einem weiblichen Wesen an einem Tisch gesessen, nicht einmal mit meiner Mutter. Die Situation war mir peinlich, und ich fühlte mich in meiner Haut sehr unwohl. Den Wein rührte ich nicht an.
»Jeder machts, wie es ihm gefällt«, sagte der Scheich lächelnd.
»Offenbar halten Sie es mit der Lehrmeinung von Abu Hanifa[8]«, erwiderte ich.
»Das brauche ich nicht, wir bilden uns hier unsere eigene Meinung. Sicher, wir trinken ein Glas Wein, wenn das Wetter oder die Umstände danach sind, aber wir würden uns nie betrinken.«
Seine Frau kümmerte sich ausschließlich um den Haushalt, aber die Tochter, sie hieß Samija, arbeitete in einem großen Krankenhaus als Kinderärztin. Die beiden Söhne steckten noch in der Lehrerausbildung. Dass Mutter und Tochter völlig ungezwungen an der Unterhaltung teilnahmen, brachte mich mehr aus der Fassung als die Nackten im Maschrikland. Sie mischten sich spontan ein, redeten selbstbewusst und taten ihre Meinung kund, ganz so, als säßen Männer mit Männern zusammen. Samija fragte mich zum Beispiel über das Leben der Frauen im Land des Islam aus, und nachdem ich die Situation geschildert hatte, übte sie erbitterte Kritik an den dortigen Verhältnissen. Sie verglich sie mit der Lage der Frau zur Zeit des Propheten, und ihre Rede gipfelte in dem Satz: »Der Islam verkümmert euch unter den Händen, und ihr schaut zu.«
Ich war zutiefst beeindruckt von ihrer jugendlichen Schönheit, was zum großen Teil auch daran lag, dass ich lange nichts mehr mit einer Frau zu tun hatte und im vorgerückten Alter stand. Der Scheich erzählte ein wenig von meinem Leben und was ich mit dieser Reise erreichen wollte. Er schloss mit dem Satz: »Jedenfalls gehört er nicht zu denen, die schnell aufgeben.«
»Sie verdienen es, bewundert zu werden«, sagte Samija, und ich war zutiefst gerührt.
Es war Nachmittag geworden. Wir stellten uns hinter dem Imam auf, um gemeinsam zu beten — ein Umstand, der mich noch nachdenklicher stimmte. Als ich mich verabschiedete, verließ ich die Familie nur körperlich; Geist und Seele hielten diese Menschen ganz und gar gefangen. Es erfüllte mich eine tiefe Sehnsucht nach einem beständigen Leben, das mir Liebe, Zärtlichkeit und Wärme spendete. Wo war Arusa? Wo das Gaballand? Die Jugend — verloren gegangen in einem Loch unter der Erde. Wann würde ich mich endlich niederlassen und eine Familie gründen und Nachkommen zeugen? Wie lange würde ich mich noch zwischen zwei Rufen aufreiben?
Am nächsten Tag mietete ich eine Sänfte und ließ mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen — Ausbildungszentren, Zitadellen, große Fabriken, Museen, die alten Viertel. Mein Führer erzählte mir, dass die verschiedenen Glaubensgemeinschaften in Moscheen, Kirchen und Tempeln das Leben ihrer Propheten darstellen. Also sagte ich ihm, dass ich mir solch eine Darstellung, bei der es um das Leben unseres Propheten ging, Heil und Segen über ihn, gern ansehen würde. Erbrachte mich zur größten Moschee der Stadt. Ich nahm zwischen den Zuschauern Platz, und dann begann die Vorstellung. Das ganze Leben des Propheten lief vor mir von Anfang bis Ende ab. Ich sah Ihn, seine Gefährten und die Schar der Ungläubigen, und das kam mir so verwegen vor, dass es für mich schon fast an Gotteslästerung reichte. Aber als Chronist musste ich ja alles kennen lernen. Die Person, die den Propheten spielte, tat das dermaßen überzeugend, dass ich glaubte, Ihn zu sehen. Hingerissen verfolgte ich das Geschehen, ähnlich erregt war ich noch nie gewesen. Was mich dabei am meisten verwunderte, war, dass diese Menschen durchaus aufrichtige und ernsthafte Gläubige waren.
Ich lud den Imam und seine Familie zum Mittagessen ins Gasthaus ein, denn es lag mir viel daran, diese Beziehung zu festigen. Bei der Gelegenheit teilte mir der Imam mit, dass er mit einem sehr bedeutenden Weisen gesprochen habe und dieser Mann, er heiße Marham al-Halabi, bereit sei, mich am nächsten Tag zu empfangen. Hocherfreut dankte ich ihm für seine freundliche Fürsorge. Wir verbrachten eine schöne Zeit miteinander; schon lange hatte ich mich nicht mehr so entspannt gefühlt.
Als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg zu dem Weisen machen wollte, stieß ich in der Eingangshalle auf eine Menge Gäste, die aufgeregt durcheinander redeten.
»Es heißt, dass im Hairaland ein Kommandant den König stürzen wollte und er, nachdem ihm dies nicht gelungen sei, ins Halbaland geflüchtet wäre.« »Soll das heißen, dass er jetzt hier ist?« »Angeblich hält er sich in einer Oase auf.« »Viel wichtiger ist, dass der König dessen Verhaftung und Auslieferung gefordert hat.«
»Aber das verstößt gegen die Prinzipien der obersten Doktrin!«
»Deshalb wurde die Auslieferung auch abgelehnt.« »Ob die Angelegenheit damit erledigt ist?« »Man munkelt schon, dass es Krieg geben könnte.« »Was ist, wenn das Amanland die Gelegenheit nutzt und das Halbaland überfällt?« »Genau das ist das Problem.« Unruhe beschlich mich. Die Kriege trieben mich von einem Land zum nächsten. Ich trat vor die Tür, kam aber nicht weit. Massen von Menschen zogen über den Platz, riefen die unterschiedlichsten Losungen. Es waren verschiedene Kundgebungen, die auf mich den Eindruck machten, als seien sie von langer Hand geplant. Ich war gezwungen, stehen zu bleiben, und was ich da sah und hörte, konnte ich schier nicht glauben. Der eine Zug Menschen verlangte die Auslieferung des Kommandanten, der andere Zug warnte hitzig vor den Folgen. Wieder ein anderer Zug forderte, dem Hairaland den Krieg zu erklären, der nächste bestand auf Frieden, koste es, was es wolle. Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, und die Frage, wie ein Herrscher diesem Wirrwarr unterschiedlichster Meinungen begegnen sollte, ließ nicht von mir ab. Ich wartete, bis sich der Platz geleert hatte, und dann stürzte ich los. Vor einer Stunde hätte ich bereits beim Weisen sein sollen. Er empfing mich in einem elegant eingerichteten Raum, in dem nicht nur Sofas und Sessel standen, sondern auch Polster auf dem Boden lagen. Er war ein großer, schlanker Mann mit weißem Haar und Bart, so an die sechzig Jahre alt. Er trug eine leichte, blaue Abaja. Ich entschuldigte mich für mein Zuspätkommen, er winkte ab und hieß mich willkommen.
»Möchten Sie in einem Sessel Platz nehmen, oder ziehen Sie ein Polster vor?«, fragte er.
Ich lächelte. »Ein Polster wär mir lieber.«
Er lachte laut los. »So seid ihr Araber, ich kenne euch. Ich habe eure Länder oft bereist und mich gründlich mit eurem Wissen beschäftigt.«
»Ich gehöre nicht zu den Gelehrten meines Landes«, erwiderte ich verschämt. »Ich bin auch kein Philosoph. Aber ich will mein Wissen erweitern, und deshalb habe ich diese Reise angetreten.«
»Allein das zählt«, sagte er aufmunternd. »Was ist das Ziel dieser Reise?«
Ich dachte eine Weile nach, dann sagte ich: »Das Gaballand zu besuchen.«
»Ich weiß von niemandem, der es kennt oder darüber geschrieben hat.«
»Und Sie? Haben Sie nie daran gedacht, sich dieses Land anzusehen?«
Er lächelte. »Wer auf seinen Verstand setzt, kann auf vieles andere verzichten.«
»Es geht mir nicht«, fügte ich hastig hinzu, »um das Gaballand an und für sich, sondern ich will meiner Heimat von dort etwas Nützliches mitbringen.«
»Da kann ich Ihnen nur viel Erfolg wünschen.«
»Um ehrlich zu sein, liegt mir mehr daran, Ihnen zuzuhören als von mir zu erzählen«, warf ich leise ein, als wollte ich mich entschuldigen.
»Haben Sie eine bestimmte Frage?«
»Nun ja, gewöhnlich erschließt sich einem das Leben eines Volkes mittels eines grundsätzlichen Leitgedankens.«
Er richtete sich auf. »O ja, und deshalb stellen uns wissenshungrige Menschen wie Sie für gewöhnlich die Frage, worauf sich unser Leben gründet.«
»Das Leben in diesem Land verdient es, erkundet zu werden.«
»Die Antwort ist sehr einfach, wir haben unsere Lebensweise selbst geformt.« Da ich gespannt zuhörte und kein Wort sagte, fuhr er fort: »Da ist kein Gott, dem dieses Verdienst gehört. Unser erster Lehrmeister war der festen Überzeugung, dass das Ziel allen Lebens die Freiheit ist. Von ihm ging die Forderung aus, ein Leben in Freiheit zu gewährleisten. Das hat sich von Generation zu Generation fortgesetzt.« Er lächelte und wartete ab, bis ich das Gehörte verarbeitet hatte. »Deshalb erachte ich alles, was frei macht, als gut, und alles, was einen zu etwas zwingt, als schlecht. Wir haben eine Ordnung aufgebaut, die uns vor jeglicher Willkür bewahrt. Unser Handeln ist der Bekämpfung von Armut geweiht, unser Streben nach immer mehr Wissen dem Kampf gegen Unwissenheit und Dummheit. Das ist ein langer Weg, der kein Ende kennt.«
Ich lauschte angestrengt auf jedes seiner Worte, war ich doch bemüht, sie mir genauestens einzuprägen.
»Der Weg, den wir zurückgelegt haben, war nicht leicht. Schweiß und Blut waren der Preis, den wir um der Freiheit willen zahlten. Wir waren Gefangene von Aberglauben und Willkür, und als die ersten Verkünder der neuen Botschaft auftraten, fielen etliche Köpfe. Es brachen Unruhen aus, es kam zu Bürgerkriegen, aber schließlich haben Freiheit und Wissen gesiegt.«
Als ich bewundernd nickte, begann er die Verhältnisse im Maschrik- und im Hairaland zu kritisieren und sich darüber lustig zu machen. Er spottete auch über das Amanland, das ich ja noch nicht kannte. Selbst meine Heimat, das Land des Islam, blieb von seiner scharfen Zunge nicht verschont. Offenbar sah er meinem Gesicht an, dass ich unangenehm berührt war, denn er hielt inne und schwieg.
»Sie sind es wohl nicht gewöhnt«, fragte er schließlich, »dass man seine Meinung frei äußert?«
»Sicher, aber es gibt bestimmte Grenzen«, erwiderte ich betont ruhig.
»Entschuldigung, aber ich meine, dass man alles immer wieder neu prüfen muss.«
Im Gefühl, mich zur Wehr setzen zu müssen, sagte ich: »Tatsache ist, dass es in diesem Land Arme und lichtscheues Gesindel gibt.«
»Richtig, und zwar deshalb, weil mit der Freiheit nur fähige Menschen umzugehen wissen. Nicht jeder, der im Halbaland lebt, besitzt diese Eignung. Wer mit der Freiheit nicht verantwortlich umgehen kann, für den ist kein Platz hier.«
»Aber ist denn Barmherzigkeit nicht ebenso ein Wert wie Freiheit?«, fragte ich erregt.
»Das behaupten die Gläubigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften auch immer, und genau sie sind es, die das unfähige Pack ermuntern, sich nicht zu ändern. Für mich haben Begriffe wie Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit keinen Sinn, solange man nicht genau festlegt, wer Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit verdient.«
»Da bin ich völlig anderer Meinung!«
»Ich weiß.«
»Womöglich haben Sie auch nichts gegen Krieg?!«
»Wenn er mehr Freiheit bringt, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass das Glück der Menschen im Haira- und im Amanland, wenn wir diese Länder besiegen, dauerhaft gesichert wäre. Wenn wir schon bei diesem Thema sind, will ich Ihnen sagen, dass ich durchaus ein Verfechter des heiligen Krieges im Islam bin.« Er fing an, den Begriff »heiliger Krieg« als Angriffsverhalten auszulegen, wogegen ich auf der Stelle Einspruch erheben wollte. Aber er winkte nur verächtlich ab und ließ mich nicht zu Wort kommen. »Ihr Moslems habt ein großartiges Prinzip«, erklärte er, »aber es fehlt euch der Mut, zu diesem Prinzip zu stehen.«
»Und Sie, weiser Marham? Welcher Religion gehören Sie an?«
»Der Religion, bei der die Vernunft Gott ist und die Freiheit als Prophet verehrt wird.«
»Denken alle Weisen dieses Landes so?«
Er lachte laut auf. »Es wäre schön, wenn ich das behaupten könnte.«
Er brachte mir zwei Bücher. Das Erste trug den Titel »Die Doktrin — das oberste Gesetz im Halbaland«, und der Titel des Zweiten, das er selbst verfasst hatte, lautete: »Die Erstürmung des Unmöglichen«. »Lesen Sie die beiden Bücher«, sagte er, »dann wissen Sie, wie das Halbaland wirklich ist.«
Ich dankte ihm für diese großzügige Geste und den freundlichen Empfang und verabschiedete mich. Das Mittagessen nahm ich im Gasthaus ein; alle Welt redete vom Krieg. Am Nachmittag suchte ich die Moschee auf und verrichtete, dicht hinter Scheich Hamada as-Sabki stehend, das Gebet. Als wir es beendet hatten, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben, was ich gerne tat.
»Haben Sie Arusa entdeckt?«, fragte er mich.
»Es hat keinen Sinn, Arusa länger nachzujagen«, erwiderte ich mit großem Ernst.
»Das ist wohl wahr.« Er schwieg kurz, bevor er wissen wollte, ob ich mit der nächsten Karawane weiterziehen würde.
Ich fühlte mich ein wenig bedrängt, ließ es mir aber nicht anmerken. »Nein, ich möchte noch eine Weile bleiben.«
»Angesichts der augenblicklichen Lage ist das ein sehr vernünftiger Entschluss. Der König des Hairalands hat den Verkehr der Karawanen zwischen Haira und Halba verboten. Es ist seine Antwort auf unsere Weigerung, den flüchtigen Kommandanten auszuliefern.«
Unruhe überkam mich, ich sah ihn erschrocken an.
»Die Großgrundbesitzer und leitenden Männer aus Industrie und Handel sind sehr aufgebracht. Sie haben mit dem Präsidenten ein ernstes Gespräch geführt und ihn aufgefordert, den Krieg zu erklären.«
»Und das Amanland? Wie wird es sich verhalten?«
Er lachte. »Sie sind ja schon ein richtiger Halba-Mann geworden. Wir streiten uns mit dem Amanland um ein paar Wasserquellen in der Wüste, die sich zwischen unseren beiden Ländern erstreckt. Wir werden diesen Konflikt dadurch lösen, und zwar umgehend, indem wir den Interessen des Amanlands entsprechen. Damit ist gesichert, dass es uns nicht in den Rücken fällt.«
Mir war nicht wohl zu Mute. »Ich bin fremd hier, und dieses ständige Gerede von Krieg…«
»Sie bleiben am besten hier. Und sollte der Aufenthalt länger dauern, können Sie Ihr Geld Gewinn bringend anlegen.«
Ich gab den Gedanken auf, mit der nächsten Karawane weiterzuziehen, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es die letzte sein könnte, die ins Amanland aufbrach. Andererseits fühlte ich mich hier im Halbaland gut aufgehoben, denn mir gefielen die klaren, durchschaubaren Verhältnisse, und es gab Menschen, die mich hoffnungsvoll stimmten. Ich verbrachte meine Zeit mit Besichtigungen, oder ich besuchte die Familie von Scheich Hamada. Arusa war zu einem Stern geworden, der am nächtlichen Himmel stand. Das alltägliche Leben war vom Gedanken an Krieg beherrscht. Viele erbitterte es sehr, dass das Amanland, ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen, in den Besitz der Quellen gekommen war. Der Besitzer des Gasthauses erklärte mir mit düsterem Gesicht: »Es ist überhaupt nicht gesagt, dass sich das Amanland, trotz unseres Opfers, nicht auf die andere Seite schlägt.«
Die Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Am schlimmsten waren die wenigen Stunden, die ich allein in meinem Zimmer verbrachte. Alles in mir schrie danach, endlich zur Ruhe zu kommen und ein sesshaftes Leben führen zu können. Als dann schließlich das Halbaland tatsächlich den Krieg erklärte und seine Truppen ins Hairaland schickte, geriet ich in helle Aufregung. Wo sollte ich in diesem alles verheerenden Sturm ein Loch finden, in das ich mich flüchten konnte?
Die Leute redeten nur noch über den Krieg, fortwährend verglichen sie die Truppenstärke und die taktischen Möglichkeiten der beiden Gegner. Ich hingegen war völlig vom Gedanken beherrscht, wie ich mir ein beständiges, ruhiges Leben sichern konnte. Das allein war wichtig, alles andere schob ich weit weg von mir. Ich sah das Ziel vor mir, wollte es unbedingt erreichen, gerade so, als nähme ich an einem Wettlauf teil oder als würde ich gejagt werden. Den Mut dafür gaben mir die Herzlichkeit, die ich bei der Familie des Scheichs fand, und die aufrichtige Freundschaft, die Samija für mich hegte. Sie bewunderte mich, weil ich auf meinen Reisen so viel erlebt hatte, und sie zeigte großes Mitgefühl angesichts all meiner schmerzlichen Erfahrungen. Kurzum, ich sagte mir, dass sie wie geschaffen für mich sei und ich mir das Leben ohne sie nicht mehr vorstellen könne. — Bei der erstbesten Gelegenheit, die sich bot, erklärte ich dem Scheich: »Im Vertrauen auf Gott habe ich mich entschlossen zu heiraten.«
»Haben Sie Arusa denn gefunden?«
»Die Suche nach Arusa habe ich aufgegeben«, erwiderte ich etwas verschämt.
»Haben Sie schon eine Frau gefunden?«
Ich schaute ihn fest an. »Es ist an Ihnen, mir zu helfen.«
Er lächelte ermutigend. »Werden Sie ein reisender oder ein sesshafter Ehemann sein?«
»Um ehrlich zu sein, wird wohl mein Traum nie vergehen…«
»Es hängt alles von ihr ab. Warum sprechen Sie nicht selbst mit ihr?«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie mit ihr reden«, erwiderte ich verlegen.
»Also gut, ich kann Sie verstehen.«
Am nächsten Tag teilte er mir mit, dass Samija einverstanden sei. Nun wollte ich, dass alles möglichst schnell vonstatten ginge, und die Familie unterstützte mich dabei nach Kräften. Ich mietete in der gleichen Straße eine Wohnung, wir richteten sie gemeinsam ein. Den Kriegsbedingungen angemessen, fand die Hochzeit in aller Bescheidenheit statt. Als wir in unserem Heim glücklich vereint waren, wurde mir vor lauter Freude warm ums Herz, und mein Gemüt fand wieder zur alten Ausgeglichenheit zurück. Vom Kriegsschauplatz erreichten uns ermutigende Nachrichten, dennoch kehrte in viele Herzen Trauer ein. Außerdem stiegen die Preise. Scheich Hamada schlug mir vor, Teilhaber eines Geschäfts zu werden, das mit Kunstgegenständen und Schmuck handelte. Ich stimmte begeistert zu. Meine Partner waren zwei Brüder, sie gehörten der christlichen Glaubensgemeinschaft an. Das Geschäft befand sich auf dem Platz beim Gasthaus, und da es viel zu tun gab, blieben wir dort von morgens bis abends. Ich ging mit großem Eifer an die Arbeit, war das doch eine Erfahrung, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machte. Samija versah wie immer ihren Dienst im Krankenhaus. Sie machte mich darauf aufmerksam, dass ich gut daran täte, Halba zu meinem ständigen Aufenthaltsort zu machen. »Deine Reise kannst du ja wie gewünscht fortsetzen, aber zurückkehren solltest du hierher.«
»Ich wollte eigentlich meine Heimat wieder sehen und das Buch über das Gaballand schreiben, aber es spricht nichts dagegen, mich auf Dauer hier einzurichten.«
»Ich würde dich gern begleiten«, erklärte Samija. »Aber ein besseres Land als Halba, mit seiner hoch entwickelten Zivilisation, finden wir nicht.«
Ich zögerte ein wenig, bevor ich sagte: »Ich glaube, dass uns meine neue Tätigkeit ein gutes Einkommen sichert. Hältst du es nicht an der Zeit, darüber nachzudenken, den Dienst im Krankenhaus aufzugeben?«
Sie ließ mich ihr wunderschönes Lachen hören. »Ja, weißt du denn nicht«, fragte sie schließlich, »dass die Arbeit in unserem Land für Männer wie für Frauen ein heiliger Wert ist? Du solltest langsam anfangen, wie ein Halba-Mann zu denken.«
Ich schaute sie zärtlich an. »Du wirst irgendwann Mutter sein, Samija.«
Wieder lachte sie. »Ja und? Das ist ganz allein meine Sache.«
Im Buch des Sommers wurden die letzten Seiten aufgeschlagen, da zeigten sich ganz deutlich die Anzeichen einer Schwangerschaft. Ein frischer Wind kündete den Herbst an, und nicht lange, und die Wolken legten ihren Schatten übers Land. Jeden Tag entdeckte ich an meiner geliebten Frau neue Züge. Sie war stolz, ohne eitel zu sein. Es machte ihr Spaß, mich in hitzige Gespräche zu verwickeln. Ihr Glaube war tief und aufrichtig, und sie besaß eine solche Stärke, dass mir leicht ums Herz war.
Vielleicht gehörte für mich die Art, wie die Moslems ihren Glauben ausübten, zum Erstaunlichsten in diesem Land. Für mein Empfinden tat sich ein krasser Widerspruch zwischen den äußeren Formen und den verinnerlichten Werten auf. Als ich darüber mit Samija sprach, sagte sie: »Der Unterschied zwischen eurem und unserem Islam besteht darin, dass wir die Tür zur eigenen Meinungsbildung nicht zugestoßen haben. Ein Islam, der selbstständige Urteilsfindung nicht zulässt, hat nichts mit dem Verstand zu tun.«
Diese Worte erinnerten mich an meinen alten Lehrer. Aber wie auch immer, ich war bis über die Ohren in ihre weibliche Anmut verliebt, und ausgehungert wie ich war, konnte ich von ihrer Zärtlichkeit nicht genug bekommen. Ich sah nur das Weib und vergaß dabei völlig, dass ihre Persönlichkeit viel zu stark ausgeprägt war, um dem Begriff Fraulichkeit untergeordnet zu werden. Ich stand von Angesicht zu Angesicht einem glänzenden Verstand und einem aufgeklärten Urteilsvermögen gegenüber, gepaart mit einer geradezu grenzenlosen Güte. Dass ich ihre geistige Überlegenheit immer öfter spürte, kränkte mich, hielt ich es doch für die vornehmliche Aufgabe der Frau, dem Mann Genuss zu verschaffen. Von da an wurde meine leidenschaftliche Liebe von Vorsicht und Angst getrübt, andererseits war mir klar, dass ich mit dieser neuen Situation zurechtkommen musste. Wollte ich mein Glück bewahren, musste ich dieser Frau auf halbem Weg entgegenkommen. Insgeheim wunderte ich mich, dass sie sich mir so freigebig schenkte. Das war wirklich ein unglaubliches Glück, fand ich. Meine Befürchtungen wusste ich gut zu verstecken.
Einmal sagte ich zu ihr: »Du bist ein Schatz, der nicht mit Gold aufzuwiegen ist.«
Offen heraus, wie es ihre Art war, erwiderte sie: »Dafür finde ich einen Mann, der sich um der Wahrheit willen auf Reisen begibt, bewunderungswürdig, Kindil.«
Diese Worte erinnerten mich an mein großes Vorhaben, das ich aus den Augen verloren hatte. Sie weckten mich aus dem Schlaf von honigsüßer Behaglichkeit, in den mich die Liebe, die kommende Vaterschaft und die angenehmen Verhältnisse gewiegt hatten. Hastig, als wollte ich mich von der betäubenden Wirklichkeit befreien, sagte ich: »Ich werde ganz bestimmt der Erste sein, der über das Gaballand schreibt.«
Sie lachte. »Vielleicht liegt es in weiterer Ferne als dieser Traum.«
»Dann werde ich eben der Erste sein, der den Traum zerstört«, entgegnete ich trotzig.
Der Herbst ging vorbei, der Winter kam. Es war zwar nicht kälter als in meiner Heimat, aber es regnete sehr oft. Die Sonne zeigte sich nur selten. Der Wind stürmte und tobte, Donner grollten, Trübsal hielt das Gemüt gefangen. Die Leute klagten über den Krieg, der nicht enden wollte. Mir ging es nicht anders, ich teilte ihr Gefühl. Nichts wünschte ich mir mehr als den Sieg der Freiheit über den Gott-Herrscher. Mein Kind sollte in Frieden und Sicherheit geboren werden.
Eines Abends, als Samija von der Arbeit heimkehrte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Sie, die wegen der Schwangerschaft meistens recht erschöpft aussah, wirkte plötzlich wieder frisch und munter. »Es gibt Grund zur Freude — wir haben gesiegt!«, rief sie. Sie zog den Mantel aus, redete aber immer weiter: »Die Haira-Armee hat sich ergeben, der Gott-Herrscher hat sich umgebracht, und das Haira- und das Maschrikland wurden unserem Land angegliedert. Jetzt können auch diese beiden Völker frei und zivilisiert leben.«
Ihre Freude übertrug sich auf mich, aber gleichzeitig lauerte tief in meinem Innern die Angst; sie rührte von den Erfahrungen her, die ich in der Vergangenheit gemacht hatte. »Meinst du nicht, dass die Menschen für ihre Niederlage einen Preis zahlen müssen?«
»Ach was, die Prinzipien der Doktrin sind eindeutig«, wischte sie meinen Einwand weg. »Jetzt steht dem Siegeszug der Freiheit nur noch das Amanland im Weg.«
»Aber wieso? Das Amanland hat euch doch nichts getan. Während dieses ganzen langen Kriegs ist es euch nicht in den Rücken gefallen.«
»Sicher, aber dieses Land hält die Freiheit auf«, fuhr sie mich scharf an.
Es sollte ein denkwürdiger Tag werden, an dem die Armee zurückkehrte. Ganz Halba war auf der Straße, Männer und Frauen strömten in Scharen herbei. Es war kalt, und es regnete in Strömen, aber alle wollten die Armee begrüßen und mit Blumen überschütten. Die Feierlichkeiten hielten eine Woche an, es gab die unterschiedlichsten Feste. Nicht lange, und ich konnte auf meinem Weg ins Geschäft Vorfälle beobachten, die in krassem Gegensatz zum allgemeinen Freudenrausch standen. Seltsame Dinge geschahen, brachen plötzlich ohne jegliche Vorwarnung über einen herein. Es gingen Gerüchte über die Anzahl der getöteten und verwundeten Soldaten um, und die Menschen, die diese Zahlen weitererzählten, zeigten offen ihre Trauer und ihren Unmut. Es wurden Flugblätter verteilt, die den Staat beschuldigten, die Söhne des Volks nicht für die Befreiung des Haira- und des Maschriklands geopfert zu haben, sondern um die Interessen der Großgrundbesitzer, Fabrikanten und Handelsleute zu bedienen.
Es sei ein Krieg der »Güter« gewesen, nicht der Prinzipien. Ich bekam aber auch ein Flugblatt in die Hand, in dem gegen die Feinde der Freiheit, die Helfershelfer des Amanlands, gehetzt wurde. Sogleich gab es Demonstrationen, bei denen unter großem Geschrei das Amanland angeprangert und die Rückgabe der Wasserquellen gefordert wurde. Schließlich hielt der Präsident eine Sitzung mit dem Rat der Sachkundigen ab, und das einstimmige Ergebnis lautete, dass der Vertrag über die Wasserquellen außer Kraft gesetzt wurde. Es würde wieder der alte Zustand hergestellt und die Quellen als gemeinschaftlicher Besitz betrachtet werden. Wieder fingen die Menschen an, Mutmaßungen über einen neuerlichen Krieg anzustellen.
Ich hatte den Scheich und seine Familie zum Mittagessen eingeladen. Wir redeten über dieses und jenes, bis ich ihn schließlich vorwurfsvoll fragte: »Wenn ein klarer Sieg zu Unruhen und Aufruhr führt, was hätte dann eine Niederlage gebracht?«
»Das bringt die Freiheit nun mal mit sich«, erwiderte er.
»Mich erinnert das eher an Gesetzlosigkeit.«
Er lachte. »Für einen, der mit Freiheit nie zu tun hatte, muss das so wirken.«
»Ich habe euch immer für ein glückliches Volk gehalten«, sagte ich bitter. »Aber in Wirklichkeit seid ihr ein Volk, das von seinen inneren Widersprüchen aufgerieben wird.«
»Dagegen hilft nur eins — noch mehr Freiheit.«
»Und wie beurteilst du, moralisch gesehen, die Aufhebung des Vertrags über die Wasserquellen?«
Nun schaute er mich mit großem Ernst an. »Ich habe gestern den weisen Marham al-Halabi besucht. Er hat gesagt, dass die Befreiung der Menschen wichtiger als solche Nichtigkeiten ist.«
»Nichtigkeiten?«, rief ich empört. »Man muss doch bestimmte moralische Grundwerte anerkennen, tut man es nicht, herrscht in der Welt das Chaos!«
Samija mischte sich ein. Sie lachte und sagte: »Aber die Welt war immer und ist noch jetzt ein Chaos.«
»Sieh dir mal dein Land an, Kindil«, meinte der Scheich. »Es ist das Land des Islam, und was findest du da? Einen despotischen Herrscher, der ganz nach Belieben seines Amtes waltet. Wo ist da die Moral? Die religiösen Führer stellen die Religion in seine Dienste, wo ist da die Moral? Ein Volk, das einzig und allein damit beschäftigt ist, dem täglichen Brot hinterherzujagen, wo ist da die Moral?«
Mir steckte ein Kloß im Hals, ich schwieg. Ich musste wieder an meine Reise denken. »Meint ihr, dass es bald Krieg geben wird?«
»Solange eine Seite nicht denkt, dass sie stärker ist«, erwiderte Samija, »wird es keinen Krieg geben. Möglich ist aber auch, dass eine Seite aus lauter Verzweiflung einen Krieg vom Zaun bricht.«
»Überlegst du vielleicht, deine Reise fortzusetzen?«, fragte meine Schwiegermutter.
Ich lächelte. »Erst wenn ich sicher bin, dass mit Samija alles in Ordnung ist.«
Der Winter ging zu Ende, da brachte Samija ihr Kind zur Welt. Statt mich für die Reise zu rüsten, frönte ich dem angenehmen Leben, das mir mein Zuhause und das Geschäft boten. Ich ging völlig in dem Leben in Halba auf, wo ich Liebe, ein gutes Auskommen, Vaterschaft, Freundschaft, die Segnungen des Himmels und unendlich schöne Gärten fand. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als immer so weiterzuleben. Die Tage vergingen, und im Verlauf der Zeit wurde ich Vater von drei Söhnen — Mustafa, Hamid und Hischam. Ich wehrte mich dagegen, mir einzugestehen, dass mein großer Plan gescheitert sei. Nur manchmal seufzte ich verschämt: »Ach, du meine teure Heimat, ach, du geliebtes Gaballand.«
Eines Tages, ich saß gerade im Geschäft und brachte die Rechnungsbücher auf den neusten Stand, stand plötzlich, ich wollte meinen Augen nicht trauen, Arusa vor mir. Das war kein Traum, auch kein Trugbild, sondern Arusa, wie sie leibte und lebte. Sie trug einen kurzen Rock und einen Schal, der mit Perlen reich bestickt war. Die Frauen aus der gehobenen Schicht zeigten sich im Sommer gern mit solchen Tüchern. Sie war nicht mehr jung, aber ihrer gediegenen, würdevollen Erscheinung haftete noch immer die frühere Schönheit an. Das Unmögliehe war geschehen — vor mir stand das leibhaftig gewordene Wunder. Sie spielte selbstvergessen mit einer Korallenkette, während ich sie völlig fassungslos anschaute. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vor, und auf einmal sah sie mich mit Augen, die immer größer wurden, an. Beide, sie und ich, nahmen außer uns nichts mehr wahr. Geradezu flehentlich rief ich: »Arusa!«
Und sie, sie hauchte benommen: »Kindil…«
Wir starrten uns an, konnten den Blick nicht voneinander lösen, doch schließlich schienen wirbeide im gleichen Moment beschlossen zu haben, aufzuwachen und in die Wirklichkeit zurückzukehren.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Gut.«
»Lebst du hier in Halba?«
»Ja, seit ich Haira verlassen habe.«
Ich zögerte ein wenig. »Lebst du allein?«
»Ichbin verheiratet, mein Mann ist Buddhist. Und du?«
»Ich bin auch verheiratet, habe Kinder.«
»Ich nicht.«
»Ich hoffe, dass du glücklich bist.«
»Mein Gatte ist ein sehr geachteter und frommer Mann. Ich habe seinen Glauben angenommen.«
»Seit wann bist du verheiratet?«
»Seit zwei Jahren.«
»Ich habe verzweifelt nach dir gesucht, aber es war hoffnungslos.«
»Das ist ja auch eine große Stadt.«
»Wie hast du gelebt, bevor du geheiratet hast?«
Sie winkte unwillig ab. »Das war eine Zeit voller Leid und Qual.«
»Das tut mir Leid«, murmelte ich.
»Es hat ja alles gut geendet. Wir brechen demnächst ins Amanland auf, von dort geht es weiter ins Gaballand, und dann wollen wir nach Indien reisen.«
»Möge Gottes Heil und Segen auf dir ruhen, wo immer du auch bist«, stieß ich inbrünstig hervor.
Sie reichte mir die Hand, ich drückte sie. Dann nahm sie ihre Einkäufe und trat hinaus auf die Straße. Ich hatte das Gefühl, dass ich meinem Partner, der das Geschehen beobachtet hatte, eine Erklärung abgeben müsste, aber dann hielt ich es für besser weiterzuarbeiten. Ich gab mir Mühe, mir von meiner Erregung nichts anmerken zu lassen, auch wenn ich zutiefst überzeugt war, dass nun alles zu Ende war. Offen und ehrlich, fast rücksichtslos, erzählte ich Samija, was passiert war. Das Einzige, was mir ein schlechtes Gewissen machte, war, dass in meiner Brust die neu entfachte Lust aufs Reisen glühte. Mein ganzes Sein geriet ins Wanken, und erschüttert bis in die Grundfesten, brachen Wehmut und sehnsüchtige Trauer über mich herein. Ein heißer Strom von Erinnerungen überflutete mich, drohte mich zu ertränken. Ich will nicht leugnen, dass die alte Liebe sich zu regen begann und auferstehen wollte, aber mein neues Leben wog schwerer, und kein noch so starker Wind konnte es mit sich reißen. Trotzdem besaß der Gedanke aufzubrechen einen unwiderstehlichen Reiz; er drängte sich immer stärker in den Vordergrund und ließ mich jeden neuen Tag mit Sehnsucht erwarten. Aus Angst, mein Vorhaben unverzüglich in die Tat umzusetzen, dachte ich mir krampfhaft Gründe aus, die dagegen sprachen. Schließlich fasste ich den Entschluss, erst in einem Jahr die Reise anzutreten. Ich wollte mir genügend Zeit geben, um meine Lieben darauf vorzubereiten.
Und so geschah es denn auch.
Meine geliebte Gattin fügte sich meinem Willen, und war sie auch nicht begeistert, nahm sie die Nachricht doch ruhig auf. Ich beauftragte den Scheich, mich im Geschäft zu vertreten. Aus der Kasse nahm ich genügend Geld an mich, um anständig leben zu können. Ich versprach, gleich nach dem Abschluss der Reise zurückzukehren und mit meiner Frau und den Söhnen das Land des Islam zu besuchen. Dort wollte ich mein Buch schreiben, meine Verwandten treffen, falls noch einer am Leben war, und dann würden wir alle gemeinsam wieder nach Halba heimkehren. Schweren Herzens nahm ich Abschied von meinen Söhnen, aber noch ergriffener war ich, als ich Samija ein letztes Mal umarmte — meine geliebte Frau, die ein neues Leben unter dem Herzen trug.