Der Beginn

Der Beginn

Im ersten Licht des Morgens verließ die Karawane das Ghurubland. Zum ersten Mal bestand sie nur aus Reisenden und Flüchtlingen, kein einziger Kaufmann hatte sich ihr angeschlossen. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Was dem Ghurubland widerfahren war, tat uns Leid, und es machte uns traurig, dass wir unsere Übungen hatten abbrechen müssen. Ich wünschte mir sehr, unterwegs an der geistigen Sammlung und Selbstbesinnung weiterzuarbeiten, würde das doch hilfreich sein, die Prüfungen, die uns im Gaballand erwarteten, leichter zu ertragen.

Die Sonne ging auf. Vor uns erstreckte sich eine endlos weite und flache Wüste, in der es jedoch zahlreiche Quellen gab. Vier Wochen durchquerten wir sie, bis uns schließlich der Grüne Berg den Weg versperrte — ein Hindernis, das sich von Ost nach West erstreckte und das wir zu überwinden hatten. Ein breiter Weg zeichnete sich ab, und da er eine allmähliche Steigerung versprach, schlug die Karawane ihn ein. Von Zeit zu Zeit fiel ein leichter Regen, der uns in unserer Einsamkeit ein willkommener Begleiter war. Tagsüber zogen wir weiter, nachts rasteten wir. Schließlich, nach drei Wochen, hatten wir den Gipfel erreicht — eine weite Hochebene mit üppigem Pflanzenwuchs. Der Meister trat an den Rand der Ebene, hob die Hand und sagte: »Da ist das Land, das ihr sucht, das Gaballand.«

Seine Hand wies in Richtung eines Bergs, der vom Grünen Berg durch eine Wüste getrennt war. Hoch droben thronte eine Stadt, deren Ausmaße enorm waren. Selbst aus der Entfernung sprachen die gewaltigen Kuppelbauten von ihrer Erhabenheit und machtvollen Größe. Ich konnte den Blick nicht lösen, starrte benommen und wie verzaubert hinüber. Nun war das Gaballand kein Traum mehr, es war Wirklichkeit geworden; eine Wirklichkeit, die zum Greifen nah schien. Wir mussten nur den Abstieg hinter uns bringen, das kurze Stück Wüste durchqueren und diesen Berg dort ersteigen. Und stünden wir vor dem großen Tor, würde uns der Zollkommandant entgegenkommen und sagen: »Seid willkommen in Gabal, dem Land der Vollkommenheit.«

Keiner wollte sich länger gedulden, alle drängten darauf, dass wir uns auf den Weg machten. Der Abstieg kostete uns zwei Wochen, und als wir endlich die Wüste erreichten, blieb ich bestürzt stehen. Weit und breit war nur Wüste zu sehen, und der Berg war in schier unerreichbare Ferne gerückt und kaum zu erkennen. Ich konnte kaum glauben, dass mich meine Augen dermaßen getäuscht haben sollten. Tage, ja Wochen würden wir brauchen, um zu dem Berg zu gelangen. So war es denn auch, wir schleppten uns wochenlang durch den Sand, denn die Strecke wurde noch länger, da uns Hügel und kleinere Berge den Weg versperrten und wir immer wieder mal nach rechts, mal nach links ausweichen mussten. Als wir den Fuß des Bergs endlich erreicht hatten, kam es mir vor, als hätten wir ein Leben lang dafür gebraucht. Wir standen unten und starrten hinauf- die Stadt ragte bis in die Wolken, trotzte unseren Sehnsüchten.

Plötzlich hörte ich den Führer der Karawane sagen : »An dieser Stelle endet der Zug der Karawane, meine Herren.«

Ich traute meinen Ohren nicht. »Aber Sie müssen uns doch hinaufbringen«, erklärte ich entrüstet.

»Der Pass ist zu eng für Kamele«, erwiderte der Mann.

Wir stürzten zu unserem Lehrmeister. »Der Mann hat Recht«, erklärte er.

»Und wie sollen wir unsere Reise fortsetzen?«

Der Meister blieb gelassen. »Zu Fuß natürlich, wie die anderen es zuvor auch schon getan haben.«

»Wer Schwierigkeiten hat, zu Fuß hinaufzusteigen, kann mit der Karawane zurückkehren«, sagte der Führer.

Keiner aus der Gruppe war von seinem Entschluss abzubringen, jeder wollte das Abenteuer wagen. Ich musste an all die Menschen denken, die ich hinter mir gelassen hatte, und insgeheim beschlich mich der Gedanke, dass ich vielleicht nie mehr zurückkehren würde. Noch während ich darüber nachdachte, kam mir plötzlich die Idee, dem Führer der Karawane mein Reisetagebuch zu übergeben, damit er es bei meiner Mutter oder im Haus der Weisheit ablieferte. Ich hatte ja bereits vieles festgehalten, das es wert war, einer größeren Allgemeinheit bekannt zu werden. Und gab es auch bisher keine anschauliche Beschreibung des Gaballands, konnten selbst die flüchtigen Hinweise dazu beitragen, ein wenig Licht in das Dunkel zu bringen, in das dieses Land gehüllt war. Vielleicht regten meine Bemerkungen diesen oder jenen Menschen dazu an, sich in seiner Fantasie all das auszumalen, was noch nicht bekannt war. Selbstverständlich würde ich dem Gaballand, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hatte und wohlbehalten in die Heimat zurückgekehrt war, ein eigenes Buch widmen. Der Karawanenführer war einverstanden, mein Reisetagebuch mitzunehmen; ich zeigte mich erkenntlich, indem ich ihm hundert Dinar übergab. Als wir gemeinsam die Fatiha[9] gesprochen hatten, fühlte ich mich von meinen Ängsten befreit. Nun stand meinem Beschluss, mich auf dieses letzte Abenteuer einzulassen, nichts mehr im Weg.


Mit diesen Worten endet die Niederschrift des Kindil Mohammed al-Innabi, der unter dem Namen Ibn Fattuma bekannt geworden ist.

Kein einziges Geschichtswerk sollte später diesen Reisenden erwähnen.

Konnte er seine Reise fortsetzen, oder kam er auf dem Weg ins Gaballand ums Leben?

Wie mochte es ihm ergangen sein, falls er das Gaballand tatsächlich betreten hatte?

Verbrachte er dort den Rest seines Lebens, oder war er wie beabsichtigt in die Heimat zurückgekehrt?

Würde vielleicht eines Tages zufällig ein Büchlein entdeckt werden, das die Beschreibung seiner letzten Reise enthält?

Wissen kann das allein der Allmächtige, denn nur er kennt das Verborgene und das Offenkundige.

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