11

Par Ohmsford kam langsam wieder zu Kräften. Zwei Wochen verstrichen, während er in dem unterirdischen Bau des Maulwurfs darniederlag, ein hageres, regloses Skelett, in alte Leintücher gehüllt, von einer Mischung aus Schatten und Kerzenlicht gesprenkelt und umgeben von den fremden, unbeweglichen Gesichtern der Adoptivkinder des Maulwurfs. Zeit hatte zunächst keine Bedeutung, denn er war für alles, das auch nur entfernt mit der Realität zu tun hatte, verloren. Dann schwand der Wahn, und er kam langsam wieder zu sich. Tage und Nächte nahmen Gestalt an. Damson Rhee und der Maulwurf wurden erkennbar. Die Schemen von Dunkelheit und Licht verdichteten sich und ließen ihn die Formen und Strukturen der unterirdischen Räume erkennen, in denen er ruhte. Die ausgestopften Hüllen erschienen ihm wieder vertraut, Knopfnasen und Augen, genähte Münder, abgetragene Stoffglieder und Leiber. Er konnte ihnen Namen geben. Wörter bekamen wieder Sinn. Es gab Nahrung, und es gab Schlaf.

Vor allem aber gab es Erinnerungen. Sie verfolgten ihn im Schlaf und im Wachen gleichermaßen, Gespenster, die auf der Klippe seiner Gedanken lauerten und darauf gierten, ihn zu stechen und zu beißen. Erinnerungen an die Grube, die Schattenwesen, Felsen-Dall und das Schwert von Shannara, doch vor allem an Coll.

Er konnte es sich nicht verzeihen. Coll war seinetwegen tot – nicht, weil er ihm den fatalen Stoß versetzt hätte, den tödlichen Schlag seiner Wunschliedmagie, nicht, weil er seinen Bruder nicht vor den Horden von Schattenwesen, die in der Grube lungerten, angemessen zu beschützen versucht hätte, während er sich mit Felsen-Dall abgab, nicht wegen alldem, sondern weil er von Anfang an, seit sie vor den Suchern aus Varfleet geflüchtet waren, ausschließlich an sich selbst gedacht hatte. Sein Drang, die Wahrheit über das Wunschlied, das Schwert von Shannara, den Auftrag von Allanon, den Sinn der Magie herauszufinden – das war alles, was ihn interessiert hatte. Er hatte alles geopfert, um diese Wahrheit zu entdecken, und am Ende hatte das Opfer seinen eigenen Bruder mit eingeschlossen.

Damson Rhee, die instinktiv seine Qualen und ihre Ursache erkannte, gab sich mächtig Mühe, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

»Er wollte dort mit dir zusammen sein, Par«, pflegte sie ihm wieder und wieder sagen. Sie beugte sich über ihn, und ihr rotes Haar fiel ihr über die schmalen Schultern, während sie mit sanfter, freundlicher Stimme auf ihn einsprach. »Es war sein eigener Wille. Er liebte dich so, daß es anders nicht sein konnte. Du hast dein Bestes getan, um ihn daran zu hindern mitzukommen, ihn nicht in Gefahr zu bringen. Aber Coll war jemand, der keine Kompromisse einging. Er hatte einen Sinn für das Richtige und Unausweichliche. Er war entschlossen, dich vor den Gefahren zu schützen, von denen ihr beide wußtet, daß sie euch erwarteten. Es gab sein Leben für deine Sicherheit, siehst du das nicht? Versuch nicht, dieses Opfer zu entwerten, indem du darauf bestehst, es sei deine Schuld. Er hatte die Wahl, und er hat sie getroffen. Er war starrköpfig, und du hättest ihn nicht umstimmen können, selbst wenn du es noch heftiger versucht hättest, als du ohnehin getan hast. Er wußte Bescheid, Par. Er verstand den Sinn und die Notwendigkeit deines Tuns. Vorher hast du geglaubt, daß es so ist, und du mußt es jetzt auch glauben. Coll glaubte es. Laß seinen Tod nicht umsonst gewesen sein.«

Aber das war genau das, was er fürchtete, und diese Furcht verfolgte ihn in seinen finstersten Gedanken. Was hatte denn seines Bruders Tod eingebracht? Was hatte er dagegen aufzuweisen? Das Schwert von Shannara? Ja, er hatte die legendäre Klinge seiner elfenblütigen Vorfahren in seinem Besitz, den Talisman, den zu suchen der Schatten Allanons ihn ausgesandt hatte. Und wozu war das gut? Es hatte als Waffe gegen Felsen-Dall jämmerlich versagt, selbst nachdem der Erste Sucher sich als Schattenwesen zu erkennen gegeben hatte. Wenn das Schwert eine notwendige Waffe war, wie Allanon behauptet hatte, warum hatte es dann seinen größten Feind nicht zerstört? Und schlimmer noch, falls man Dall Glauben schenken durfte, hätte er das Schwert von Shannara erhalten, wenn er ganz einfach darum gebeten hätte. Ihr entsetzlicher, vernichtender Abstieg in die Grube wäre also überflüssig gewesen – und damit Colls Tod.

Und außerdem sinnlos, wenn Felsen-Dall in einer anderen Sache recht hatte – daß Par so wie auch Dall ein Schattenwesen war. Denn wenn Par tatsächlich genau das war, wogegen sie kämpften, um die Vier Länder zu schützen …


Wenn Coll gestorben war, um ein Schattenwesen zu schützen …


Undenkbar? Er war sich seiner Sache nicht mehr so sicher.

So plagten ihn die Erinnerungen, bitter und grauenhaft, und er wurde in einem Wirbel von Verständnislosigkeit und Wut herumgeschleudert. Er kämpfte sich durch diesen Morast, strampelte, um nicht unterzugehen, um zu atmen, zu überleben. Das Fieber verschwand, die Öde seiner Gefühle hellte sich auf, die scharfen Kanten glätteten sich, und der Schmerz im Herzen und im Körper vernarbte und heilte.

Nach Ablauf der zwei Wochen stand er auf, entschlossen, nicht mehr herumzuliegen, und wanderte durch die dunkle Behausung des Maulwurfs. Er wusch sich in der Schüssel, zog sich an und nahm seine Mahlzeiten am Tisch ein. Er durchstreifte den Bau von einem Ende zum anderen, von einem Gang zum nächsten, tastete sich durch seine Schwäche. Die Erinnerungen verdrängte er, hielt sie sorgfältig in Schach. Vor allem einfach dadurch, daß er sich bewegte. Wenn er etwas tat, irgend etwas, dann half ihm das, sich nicht mehr mit dem, was vorüber und vorbei war, aufzuhalten. Er schnupperte nach den Gerüchen in der eingesperrten Luft. Er studierte die Zusammensetzung des brüchigen Mobiliars, der unterschiedlichen Abfälle aus der Oberwelt und der Wände und Böden der Höhle selbst. Seine Entschlossenheit erhärtete sich. Er lebte noch, und es gab einen Grund dafür. Er bewegte sich im Kerzenschein hin und her, ein Geist, der von einer inneren Vision getrieben wird.

Selbst wenn er zu müde war, weiter herumzuwandern, sträubte er sich dagegen, sich auszuruhen. Er verbrachte Stunden auf der Bettkante sitzend und untersuchte das Schwert von Shannara, grübelte über sein Geheimnis nach.

Warum hatte es ihm nicht gehorcht, als er Felsen-Dall mit der Klinge berührte?

»Ist es möglich«, fragte Damson ihn einmal vorsichtig, »daß du irgendwie getäuscht worden bist und dies gar nicht das Schwert von Shannara ist?«

Er dachte sorgfältig nach, ehe er antwortete. »Als ich es in dem Gewölbe sah, Damson, und als ich es dann berührte, wußte ich, daß es das Schwert ist. Ich war mir dessen sicher. Ich habe seine Geschichte so oft gesungen, es so oft dargestellt. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Und ich habe noch immer das Gefühl, daß es so ist.«

Sie nickte. Sie saß neben ihm auf dem Bett, hatte die Beine untergeschlagen, und ihre grünen Augen schauten ihn konzentriert an. »Aber deine Erwartung, daß du es finden würdest, mag dein Urteil getrübt haben, Par. Du hast es vielleicht so sehr gewollt, daß du dich hast täuschen lassen.«

»Das kann sein, ja«, gab er zu. »Damals. Aber jetzt auch noch? Schau dir die Klinge an. Schau hier. Der Griff ist abgewetzt, gealtert – doch die Klinge glänzt wie neu. Wie Morgans Schwert – die Magie schützt es. Und sieh hier die Gravierung der Fackel mit der Flamme …«

Sein Enthusiasmus verlor sich in einem Seufzer. Er sah den Zweifel in ihren Augen. »Doch es funktioniert nicht, das ist wahr. Es tut überhaupt nichts. Ich halte es, und es fühlt sich richtig an, so, wie es sein sollte – und es tut überhaupt nichts, gibt nichts zurück, läßt mich auch nicht die leiseste Spur seiner Zauberkraft spüren. Wie kann es also das Schwert sein?«

»Gegenzauber«, sagte der Maulwurf feierlich. Er kauerte in einer Ecke des Zimmers in ihrer Nähe, fast unsichtbar im Schatten. »Eine Maske, die verbirgt.« Er verzerrte sein Gesicht und veränderte sein Aussehen.

Par schaute ihn an und nickte. »Irgendeine Art von Verschleierung. Ja, Maulwurf, das wäre möglich. Ich habe an diese Möglichkeit auch schon gedacht. Aber welche Zauberkraft wäre stark genug, die Magie des Schwertes von Shannara zu unterdrücken? Wie können die Schattenwesen eine solche Magie produzieren? Und wenn sie es können, warum benutzen sie sie dann nicht einfach, um die Klinge zu zerstören? Und müßte ich nicht in der Lage sein, jeglichen Gegenzauber zu brechen, wenn ich der rechtmäßige Träger des Schwertes bin?«

Der Maulwurf betrachtete ihn feierlich, ohne etwas zu sagen. Damson gab keine Antwort.

»Ich begreife es nicht«, flüsterte er leise. »Ich verstehe nicht, was los ist.«

Er wunderte sich auch darüber, wie willig Felsen-Dall ihn mit dem Schwert hatte abziehen lassen. Wenn es tatsächlich die Waffe war, die es sein sollte, die Waffe, die die Schattenwesen vernichten konnte, dann hätte Dall mit Sicherheit nicht zugelassen, daß Par Ohmsford es in Besitz nahm. Und dennoch hatte er es dem Talbewohner ohne Widerrede gegeben, fast sogar aufgedrängt. Und hatte ihm dazu gesagt, daß alles, was man ihm über die Schattenwesen und das Schwert erzählt habe, Lügen seien.

Und dann hatte er es tatsächlich auch noch bewiesen, indem er demonstrierte, daß das Schwert ihm nichts anhaben konnte.

Par irrte durch die Maulwurfbehausung, hielt die Klinge in der Hand, steckte sie in die Scheide, holte sie hervor, balancierte sie und mühte sich, die Magie, die darin schlummerte, anzurufen. Doch das Geheimnis des Schwertes von Shannara blieb ihm weiterhin verschlossen.

Damson verließ hin und wieder ihr unterirdisches Versteck und ging hinauf auf die Straßen von Tyrsis. Es war merkwürdig, sich vorzustellen, daß über ihren Köpfen eine ganze Stadt existierte, gleich außerhalb von Sicht und Gehör, mit Leuten und Gebäuden, Sonnenschein und frischer Luft. Par sehnte sich danach, mit ihr zu gehen, doch sie riet ihm weise ab. Er war noch nicht wieder kräftig genug für ein solches Unterfangen, und die Föderation fahndete nach wie vor nach ihm.

Eine Woche nachdem Par das Krankenlager verlassen und allein herumzuwandern begonnen hatte, kam Damson mit beunruhigenden Neuigkeiten zurück.

»Vor ein paar Wochen«, berichtete sie, »hat die Föderation den Jut geortet. Ein Spion im Lager der Geächteten hatte sie offenbar verraten. Eine Armee aus Tyrsis wurde ausgesandt, in den Parma Key einzudringen und sie zu belagern. Die Belagerung war erfolgreich. Der Jut fiel. Er wurde etwa zu der Zeit eingenommen, Par, als du aus der Grube entkamst.« Sie unterbrach sich. »Jeder, der dort gefunden wurde, wurde getötet.«

Par hielt den Atem an. »Jeder?«

»So behauptet jedenfalls die Föderation. Die Bewegung, so heißt es, ist vernichtet.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Sie saßen an dem langen Eßtisch des Maulwurfs, umgeben von den stimmlosen, blinden Kindern, mit Schüsseln und Tellern vor sich. Es war ein Nachmittagsritual geworden.

»Noch etwas Tee, liebe Damson?« fragte der Maulwurf leise. Sein pelziges Gesicht ragte über den Tischrand. Sie nickte, ohne ihren Blick von Par zu wenden.

Par runzelte die Stirn. »Die Sache scheint dich nicht sonderlich zu beunruhigen«, bemerkte er schließlich.

»Ich finde es merkwürdig, daß die Nachricht von diesem Sieg Wochen gebraucht haben soll, bis sie die Stadt erreichte.«

»Es stimmt also nicht?«

Sie biß auf einen Keks, den der Maulwurf angeboten hatte, und kaute daran. »Es mag stimmen, daß der Jut eingenommen worden ist. Aber ich kenne Padishar Creel. Es kommt mir unwahrscheinlich vor, daß er sich in seinem eigenen Unterschlupf fangen läßt. Dazu ist er viel zu schlau. Was mir Freunde der Bewegung, mit denen ich mich unterhalten habe, gesagt haben, scheint eher wahrscheinlich: Sie berichteten, daß Frontsoldaten der Armee zugaben, so gut wie keinen, höchstens ein paar Dutzend getötet zu haben, und die waren schon tot, als eine Bresche in den Jut geschlagen wurde. Was ist also aus den anderen geworden? Es waren dreihundert Mann in dem Lager. Und außerdem, wenn die Föderation Padishar Creel tatsächlich hätte, würde sie seinen Schädel zum Beweis auf das Stadttor spießen.«

»Aber es gibt keine Nachricht von Padishar?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und keinerlei Nachrichten von Morgan oder Steff oder einem der anderen?«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Sie sind verschwunden.«

»So.« Er ließ das Wort im Raum hängen.

Sie lächelte kläglich. Schweigend tranken sie ihren Tee.

Am nächsten Tag fühlte Par sich stärker und entschlossener und verkündete wieder, daß er nach oben nach Tyrsis gehen wolle. Er war lange genug untergetaucht; er mußte wieder einmal etwas von seiner eigenen Welt zu sehen bekommen. Er brauchte Sonne auf seiner Haut und frische Luft zum Atmen. Und außerdem wurde nichts erreicht, solange er sich versteckt hielt. Es war an der Zeit, daß er etwas tat.

Damson war strikt dagegen und wies darauf hin, daß er noch nicht vollständig wiederhergestellt und es äußerst gefährlich für ihn sei, irgendwohin zu gehen. Die Föderation wußte jetzt, wer er war, seine Beschreibung fand sich überall. Nachdem er aus der Grube entkommen war, hatten Sucher begonnen, die unteren Regionen des alten Palastes abzusuchen, und hatten dabei die Tunnel entdeckt, die ins Innere führten. Auch jetzt noch durchsuchten sie die Tunnel. Es gab kilometerweise Tunnel und Abwasserkanäle zu durchforschen, doch das Risiko der Entdeckung war nicht von der Hand zu weisen. Im Augenblick war es besser, sich still zu verhalten.

Am Ende einigten sie sich auf einen Kompromiß. Par durfte in die nächstgelegenen Tunnel gehen, solange er in Begleitung von Damson oder dem Maulwurf blieb. Er würde nicht an die Oberfläche steigen, auch nicht für einen kurzen Moment. Er würde gehen, wohin man ihm sagte, und tun, was man ihm riet. Aber wenigstens konnte er sein Krankenzimmer verlassen. Par willigte ein.

Mit Eifer begann er seine Erkundungen, studierte die Anlage der Tunnel, während er Damson und dem Maulwurf folgte, und merkte sie sich genau. Am ersten Tag ermüdete er schnell und mußte bald umkehren. Am nächsten Tag war er kräftiger, und es wurde immer besser. Langsam verstand er, wie die Tunnel und Kanäle miteinander verwoben waren – so weit, daß er glaubte, er könne den Weg an die Oberfläche allein finden, sollte sich die Notwendigkeit dafür ergeben. Der Maulwurf lehrte ihn sorgfältig, beobachtete ihn mit seinen aufmerksamen, glänzenden Augen und nickte befriedigt. Damson blieb ihm ganz nah, ihre Hände berührten ihn ständig, so als wollte sie ihn vor Gefahren schützen. Er lächelte innerlich über ihre Fürsorglichkeit.

Eine Woche verstrich. Es ging ihm immer besser, er war fast vollständig wiederhergestellt. Mehr als ein Monat war vergangen, seit er unter die Stadt Tyrsis getragen und versteckt worden war. Er dachte ständig ans Fortgehen, daran, daß er die Fäden seines Lebens wieder aufgreifen würde.

Und gleichzeitig fragte er sich, wo er anfangen sollte.


Am Ende wurde die Entscheidung für ihn getroffen.

Es war am späten Nachmittag, zehn Tage nachdem er mit seinen Erkundungen der Tunnel um die Behausung des Maulwurfs begonnen hatte. Er saß auf seiner Bettkante und untersuchte wieder einmal das Schwert von Shannara. Damson war in die Stadt hinaufgegangen, um zu sehen, ob sie Neuigkeiten von Padishar und der Föderation erfahren könnte. Der Maulwurf huschte wie ein Schatten von Zimmer zu Zimmer, ordnete, glättete und hantierte mit seinen Habseligkeiten. Die Zeit für den Tee war gekommen und verstrichen, ohne daß das Mädchen wiedergekommen wäre, und der Maulwurf war beunruhigt. Par hätte sich ebenfalls gesorgt, wenn er sich erlaubt hätte, darüber nachzugrübeln, aber er war mit etwas anderem beschäftigt. Seine Erinnerungen an die Ereignisse im Zusammenhang mit der Entdeckung des Schwertes von Shannara und Colls Tod waren noch immer unvollständig, die Bruchstücke fügten sich nur unregelmäßig zu einem vollständigen Bild zusammen, während er sich erholte. Hin und wieder fiel ihm ein neues Detail ein. So war es auch jetzt.

Es hatte etwas mit dem Wunschlied zu tun. Er erinnerte sich nur zu gut, wie der Zauber sich in ihm aufgebaut hatte, fast ohne sein Zutun, als Coll – das Ding, das wie Coll ausgesehen hatte – ihn bedrohte. Und als dann Coll fort war und die anderen Schattenwesen in der Grube hinter ihm herkamen, hatte das Zauberlied ihm ein flammendes Schwert gegeben, eine Waffe, wie sie die Magie noch nie produziert hatte. Damit hatte er die Schattenwesen ohne jede Mühe vernichtet. Für einen Moment war er wie besessen gewesen, erfüllt von Wut und Wahnsinn, jenseits jeglicher Vernunft. Er erinnerte sich, wie sich das angefühlt hatte. Aber da war noch etwas, etwas, das er bislang völlig vergessen hatte. Nachdem die Schattenwesen vernichtet waren, hatte er sich gebückt, um das Schwert von Shannara aufzuheben, das ihm aus der Hand gefallen war, und das Schwert hatte ihn verbrannt – hatte seine Hand wie Feuer versengt. Und im gleichen Augenblick war seine eigene Magie erstorben, und er war nicht in der Lage gewesen, sie erneut aufzuwecken.

Warum hatte das Schwert von Shannara das getan? Was war passiert, um eine solche Reaktion auszulösen?

Darüber grübelte er nach und versuchte es, mit dem wenigen, das er über das Geheimnis des Schwertes von Shannara wußte, in Einklang zu bringen, als Damson durch den Eingang zu dem unterirdischen Refugium des Maulwurfs gestürmt kam. Ihr langes Haar war zerzaust, ihr Atem ging schnell und verängstigt.

»Föderationssoldaten!« rief sie, eilte zu Par und zerrte ihn auf die Füße. »Dutzende von ihnen jagen durch die Kanäle. Eine Razzia! Nicht beim Palast, sondern hier. Ich bin knapp vor ihnen hergeschlüpft. Ich weiß nicht, ob uns jemand verraten hat oder ob ich gesehen worden bin. Aber sie haben den Eingang gefunden und sie kommen!« Sie hielt inne, um sich zu fassen. »Wenn wir hierbleiben, finden sie uns. Wir müssen sofort hinaus.«

Par schwang sich das Schwert von Shannara über die Schulter und stopfte seine wenigen Habseligkeiten in einen Beutel. Seine Gedanken waren verwirrt. Er hatte es eilig gehabt, aufzubrechen, doch nicht in dieser Weise.

»Maulwurf!« rief Damson, und das pelzige Kerlchen kam schnell herbeigetrippelt. »Du mußt verschwinden. Sie werden dich auch finden.«

Doch der Maulwurf schüttelte feierlich den Kopf. Mit ruhiger Stimme sagte er: »Nein, bezaubernde Damson. Dies ist mein Heim. Ich bleibe hier.«

Damson kniete sich hastig neben ihn. »Das kannst du nicht machen, Maulwurf. Du gerätst in schreckliche Gefahr. Diese Männer werden dir etwas zuleide tun.«

Par eilte dazu. »Komm mit, Maulwurf. Bitte. Es ist unsere Schuld, daß du bedroht wirst.«

Der Maulwurf musterte ihn spöttisch. »Ich habe dich aus freiem Willen hergebracht. Ich habe dich freiwillig gepflegt. Ich tat es für Damson – aber gleichzeitig auch für mich selbst. Ich mag dich. Ich mag, wie du … die liebliche Damson fühlen machst.«

Par sah aus dem Augenwinkel, wie Damson errötete, und hielt seinen Blick auf den Maulwurf gerichtet. »Das ist jetzt unwichtig. Was wichtig ist, ist, daß wir deine Freunde sind, und Freunde kümmern sich umeinander. Du mußt mit uns kommen.«

»Ich will nicht in die Oberwelt zurückkehren«, beharrte der Maulwurf ruhig. »Dies ist mein Heim. Ich muß mich darum kümmern. Und was soll aus meinen Kindern werden? Was soll aus Chalt und der kleinen Lida und Westra und Everlind werden? Wollt ihr, daß ich sie hier lasse?«

»Nimm sie mit, wenn es sein muß!« Par begann zu verzweifeln.

»Wir werden dir helfen, ein neues Heim zu finden«, fügte Damson schnell hinzu.

Doch der Maulwurf schüttelte störrisch den Kopf. »Die Welt dort oben will mit niemandem von uns zu schaffen haben. Wir gehören dort nicht hin, liebliche Damson. Wir gehören hier unten hin. Macht euch um uns keine Sorgen. Wir kennen diese Tunnel. Es gibt Verstecke, wo man uns nie finden kann. Dorthin werden wir gehen, wenn es sein muß.« Er machte eine Pause. »Ihr könntet mitkommen. Ihr wäret dort in Sicherheit.«

Damson erhob sich stirnrunzelnd. »Es ist genug, wenn ihr in Sicherheit seid, Maulwurf. Wir haben schon genug Gefahr über euer Leben gebracht. Versprich mir nur, daß du jetzt in eines dieser Verstecke gehst. Nimm deine Kinder mit und bleibt dort, bis diese Jagd vorüber ist und die Tunnel wieder sicher sind. Versprich es mir.«

Der Maulwurf nickte. »Ich verspreche es, süße Damson.«

Damson sammelte in aller Eile ihre eigenen Habseligkeiten zusammen und gesellte sich dann zu Par am Eingang. Der Maulwurf schaute sie aus dem Schatten an, kaum mehr als ein glitzerndes Augenpaar inmitten des Durcheinanders von Abfällen im schwachen Kerzenschein.

Damson schulterte ihr Gepäck. »Auf Wiedersehen, Maulwurf«, rief sie leise, ging zu ihm und bückte sich, um ihn zu umarmen. Als sie zu Par zurückkehrte, weinte sie.

»Ich verdanke dir mein Leben, Maulwurf«, sagte Par. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast.«

Eine kleine Hand hob sich zu einem schwachen Winken.

»Denk an dein Versprechen!« rief Damson beinahe zornig. »Versteck dich!«

Dann schlüpften sie lautlos durch den Eingang in den dahinter liegenden Tunnel. Damson hatte keine Lampe dabei, sondern holte einen dieser seltsamen Steine hervor, die glimmten, wenn sie sie mit der Hand anwärmte. Sein schwaches, sicheres Licht führte sie, wenn sie die Finger öffnete, um die Richtung zu finden. Dann schloß sie sie wieder, damit sie nicht entdeckt würden. Sie bewegten sich eilig von der Behausung des Maulwurfs fort, einen Tunnel entlang, dann in einen anderen und dann eine Metalleiter hinauf und in einen Schacht.

Irgendwo aus der Ferne hörten sie knirschende Stiefel.

Damson führte Par von dem Geräusch fort durch einen feuchten, glitschigen Tunnel. Die Temperatur stieg schon an, und die Luft füllte sich mit Abwassergerüchen. Ratten huschten durch die dunklen Nischen, und Wasser tropfte aus den Spalten im Fels. Sie setzten ihren Weg durch das Labyrinth stetig fort. Einmal hörten sie Stimmen, undeutlich, unklar. Damson achtete nicht darauf.

Sie gelangten an einen Zusammenfluß mehrerer Abwasserkanäle, einen ringförmigen Schacht, in dem sich das Wasser sammelte. Eine zentrale Sammelstelle, dachte Par. Er atmete schwer, seine Kräfte schwanden schon bei dieser ungewohnten Anstrengung. Bein- und Rückenmuskeln schmerzten ihn, und er streckte sich vorsichtig, um sie zu entlasten.

Damson schaute sich nach ihm um. Besorgnis spiegelte sich in ihrem Blick. Sie zögerte, dann führte sie ihn weiter.

Wieder waren Stimmen zu hören, näher diesmal und aus mehr als nur einer Richtung. Hinter ihnen flackerte Licht auf. Damson führte Par eine weitere Leiter hinauf in einen Tunnel, der so eng war, daß sie kriechen mußten. Feuchtigkeit und Dreck drangen in Pars Kleider und klebten sie an seine Haut. Er zwang sich, durch den Mund zu atmen, und nur, wenn er die Luft nicht länger anhalten konnte.

Sie gelangten an einen größeren Tunnel, der in der Mitte eine Rinne hatte, wo das Abwasser entlangfloß, so daß auf beiden Seiten Gehsteige entstanden. Zwei kleinere Tunnel kreuzten ihn. In beiden flackerte Licht. Damson hastete weiter. Sie bogen um eine Kurve, und dort fanden sie ebenfalls Licht. Damson blieb stehen und schob Par gegen die Tunnelwand.

Als sie ihn anschaute, war ein Anflug von Verzweiflung in ihrem Blick. »Der einzige Ausgang liegt vor uns«, flüsterte sie, den Mund ganz nah an seinem Ohr. »Wenn wir zurückgehen, laufen wir in die Falle.«

Sie trat zurück, um seine Reaktion zu sehen. Er schaute an ihr vorbei zu den Lichtern, die sich jetzt schnell näherten, und er hörte das Trampeln von Stiefeln und die ersten Anzeichen von Stimmen. Angst wallte in ihm auf und drohte ihn zu überschwemmen. Er fühlte sich so, als sei die Föderation schon immer auf der Jagd nach ihm gewesen, als würde diese Jagd nie ein Ende nehmen. Er war so oft der Gefangennahme entgangen. Es ging so nicht weiter. Früher oder später würde das Glück ihn verlassen. Er hatte die Grube und die Schattenwesen nur haarscharf überlebt. Er war ausgelaugt und tief im Herzen krank und wollte nichts als in Ruhe gelassen werden. Aber die Föderation würde ihn niemals in Ruhe lassen. Der Teufelskreis hatte kein Ende.

Für einen Augenblick übermannte ihn Verzweiflung. Dann mußte er plötzlich an Coll denken. Er erinnerte sich an seinen Schwur, daß er irgendwen für das zahlen lassen würde, was seinem Bruder widerfahren war. Wut trat augenblicklich an die Stelle der Verzweiflung. Nein, er würde sich nicht fangen lassen, schwor er sich im stillen. Er würde Felsen-Dall nicht in die Hände fallen.

Einen Moment dachte er daran, den Zauber anzurufen, der ihm in der Grube geholfen hatte; jenes Flammenschwert herbeizurufen, das seine Feinde zerstückeln würde. Er unterdrückte den Impuls. Es war zu mächtig, um sich so bald und mit noch immer so begrenztem Verständnis damit zu konfrontieren. List war hier vonnöten, nicht rohe Gewalt. Er erinnerte sich plötzlich, wie er der Föderation in jener Nacht im Volkspark entkommen war. Er zog Damson hinter sich her in eine dunkle Nische in der Tunnelwand bei der Abzweigung. Mit dem Mädchen in die Dunkelheit gekauert, legte er einen Finger an die Lippen und signalisierte ihr, sie solle sich still verhalten.

Die Föderationssoldaten näherten sich. Fünf starke Lampen lieferten ihnen genug Licht für ihre Suche, das Metall ihrer Waffen glänzte. Par holte tief Luft und tauchte in sich selbst hinein. Er hatte nur einen Versuch frei. Einen einzigen.

Er wartete, bis sie beinahe auf ihrer Höhe waren, dann setzte er das Wunschlied ein. Er ging kein Risiko ein und kontrollierte sorgfältig, was es auslösen würde. Er warf ein Netz getuschelter Warnungen über die Soldaten, einen Hinweis auf etwas, das das Abwasser weiter vorn aufwühlte, eine schemenhafte Bewegung. Er durchtränkte sie mit dem Drang, sich zu sputen, wenn sie es erwischen wollten.

Die Soldaten fingen fast gleichzeitig an zu rennen und hasteten an ihnen vorbei, ohne zu schauen. Der Talbewohner und das Mädchen drückten sich an die Tunnelwand und hielten den Atem an. Einen Augenblick später waren die Soldaten fort.

Langsam kamen Damson und Par wieder auf die Füße. Dann streckte Damson die Arme aus und umarmte den Talbewohner impulsiv. »Du bist wieder gesund, Par Ohmsford«, flüsterte sie und küßte ihn. »Hier entlang. Wir sind beinahe frei.«

Sie eilten den Gang entlang, überquerten einen Zufluß und gelangten in eine trockene Rinne. Die Lampen und Stiefel und Stimmen waren in der Ferne verklungen. Eine Leiter führte nach oben. Damson stieg voran, hielt oben inne und drückte eine Falltüre auf. Zwielicht drang durch den Spalt. Sie lauschte, lugte hindurch und stieg dann hinaus. Par folgte ihr.

Sie standen in einem Bretterverschlag. Eine Tür führte nach draußen. Damson öffnete sie vorsichtig und trat mit Par im Gefolge hinaus.

Um sie herum erhob sich die Stadt Tyrsis. Festungsmauern, spiralige Türme, zusammengewürfelte Gebäude aus Stein und Holz. Die Luft war geschwängert von Gerüchen und Geräuschen. Es war früher Abend, und die Stadtbewohner befanden sich auf dem Heimweg. Das Leben war langsam und träge in der windstillen Sommerhitze. Über ihnen wandelte sich der Himmel in schwarzen Samt, und Sterne übersäten ihn wie verstreute Kristallsplitter. Ein wundervoll heller Vollmond strahlte kaltes Licht über die Welt.

Par Ohmsford lächelte. Die Schmerzen waren vergessen, die Ängste für den Augenblick zurückgelassen. Er rückte das Gewicht des Schwertes von Shannara auf seiner Schulter zurecht. Es war gut, am Leben zu sein.

Damson nahm seine Hand und drückte sie sanft.

Zusammen bogen sie in eine Straße ein und verschwanden in der Nacht.

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