Pe Ell verbrachte den Tag schlafend. Nachdem er Quickening und die anderen aus Rampling Steep verlassen hatte, ging er direkt zu einem Gebäude kaum einen Block entfernt, das er zwei Tage zuvor für sich ausgewählt hatte. Er bog um die Hausecke, sah zu, daß er nicht gesehen werden konnte, falls irgendwer ihn beobachtete, trat durch eine Seitentür, stieg die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf, folgte dem Flur zur Vorderseite des Gebäudes und betrat einen großen, hell erleuchteten Raum mit Fenstern, die vom Boden bis fast zur Decke reichten und den Blick auf die Straße und die gegenüberliegenden Häuser erlaubte. In einem von denen versteckten sich seine ehemaligen Gefährten. Er gestattete sich ein kleines Lächeln. Was waren sie doch für ein Haufen von Idioten.
Pe Ell hatte einen Plan. Er glaubte wie Quickening, daß sich der Steinkönig irgendwo in der Stadt versteckte. Er glaubte nicht, daß die anderen der Gruppe ihn finden würden, selbst wenn sie bis zum nächsten Sommer nach ihm suchten. Nur er war dazu fähig. Pe Ell war ein Jäger mit Instinkt und mit Erfahrung; die anderen waren etwas Geringeres – jeder in unterschiedlicher Weise, aber hoffnungslos. Er hatte nicht gelogen, als er ihnen sagte, er sei ohne sie besser dran. So war es. Horner Dees war ein Fährtensucher, aber die Fähigkeiten eines Fährtensuchers waren in einer Stadt aus Stein nutzlos. Carisman und Morgan Leah besaßen keine Fähigkeiten, die der Rede wert gewesen wären. Quickening weigerte sich, ihre Magie zu benutzen – vielleicht aus gutem Grund, auch wenn er noch nicht wirklich überzeugt davon war. Der einzige, der ihm hätte nützlich sein können, war Walker Boh. Doch dieser Einarmige war sein gefährlichster Gegner, und er hatte keine Lust, ständig auf der Hut sein zu müssen.
Sein Plan war simpel. Der Schlüssel zum Auffinden von Uhl Belk war der Kratzer. Der Schleicher war des Steinkönigs Haustier, ein riesiger Wachhund, der die Stadt von Eindringlingen sauberhielt. Nachts ließ er ihn frei, und er machte die Straßen und Häuser sauber. Aber nur nachts, nie am Tag. Warum war das so? fragte sich Pe Ell. Und die Antwort lag auf der Hand. Weil alles, was dem Steinkönig diente, freiwillig oder nicht, nicht sehen konnte. Er jagte mit Hilfe seiner anderen Sinne. Die Nacht war sein natürlicher Verbündeter. Tageslicht konnte ihn womöglich sogar behindern.
Und wohin verkroch er sich während des Tages, fragte Pe Ell weiter. Wieder schien die Antwort auf der Hand zu liegen. Wie jedes Haustier ging er zu seinem Herrn und Meister zurück. Das hieß, daß, wenn es Pe Ell gelang, dem Kratzer in seinen Tagesunterschlupf zu folgen, eine große Wahrscheinlichkeit bestand, dann auch den Steinkönig ausfindig machen zu können.
Pe Ell glaubte, daß er es schaffen konnte. Die Nacht war auch sein Verbündeter; er hatte fast immer in der Dunkelheit gejagt. Seine eigenen Sinne waren so scharf wie die des Schleichers. Er konnte den Kratzer ebensoleicht jagen wie der Kratzer ihn. Der Kratzer war ein Monster, es war sinnlos zu glauben, er habe eine Chance gegen solch ein Biest in einer direkten Konfrontation, selbst mit der Unterstützung des Stiehls. Aber Pe Ell konnte ein Schatten sein, wenn er wollte, und dann konnte ihm nichts etwas anhaben. Er würde sein Glück versuchen, er würde mit dem Kratzer Katz und Maus spielen. Pe Ell fühlte vieles, doch Angst gehörte nicht dazu. Er hatte einen gesunden Respekt vor dem Schleicher, aber er fürchtete ihn nicht. Schließlich war er der Klügere von den beiden.
Wenn es Nacht würde, wollte er es beweisen.
Also verschlief er die Tagesstunden, direkt unter dem Fenster außer Sicht hingestreckt, wo er das fahle Sonnenlicht auf seiner Haut fühlen und die Geräusche von irgendwem oder irgendwas hören konnte, das unten auf der Straße vorbeikam.
Als es dunkel wurde, die Luft feucht und kühl, erhob er sich, glitt die Treppen hinunter und durch die Tür hinaus. Lange blieb er in der Dämmerung stehen und lauschte. Er hatte die anderen von ihrer Tagesjagd nicht zurückkommen hören; das war merkwürdig. Vielleicht waren sie durch eine andere Tür in ihren Unterschlupf gegangen, doch er war sicher, daß er sie auch dann gehört hätte. Er zog kurz in Betracht, sich hineinzustehlen und schnell nachzuschauen, doch gab den Gedanken gleich wieder auf. Was ihnen widerfuhr, hatte nichts mit ihm zu tun. Selbst Quickening war nicht mehr so wichtig. Jetzt, da er nicht in ihrer Nähe war, stellte er fest, daß er weit weniger unter ihrem Bann stand. Sie war einfach ein Mädchen, das zu töten er ausgesandt worden war, und er würde sie töten, falls sie noch am Leben war, wenn er von seiner nächtlichen Jagd zurückkam.
Er würde sie alle töten.
Die Schreie der Seevögel klangen fern und klagend durch die Abendstille, leises Wimmern, vom Meereswind getragen. Er konnte das dumpfe Donnern der Brecher gegen Eldwists Küste und das ferne Rumpeln des Malmschlunds irgendwo tief unter der Stadt vernehmen.
Den Schleicher hörte er nicht.
Er wartete, bis es vollständig dunkel geworden war, bis der Himmel sich mit Wolken und Nebel bedeckt hatte und die Finsternis sich über die Gebäude legte und ihre Schattenmuster darum spann. Er hatte inzwischen alle nächtlichen Geräusche gehört und identifiziert; sie waren ihm so vertraut wie das Klopfen seines eigenen Pulses. Er machte sich auf, nichts als ein weiterer Schatten in der Nacht. Wachsam und flink huschte er von Schatten zu Schatten die Straße hinunter. Außer seinem Stiehl trug er keine Waffe bei sich, und der Stiehl war sicher in seinem Futteral unter der Hose verborgen. Die einzigen Waffen, die er im Augenblick brauchte, waren Instinkt und List.
Er gelangte an eine Straßenkreuzung, wo er sich zum Warten in einen dunklen Eingang zu einer Tunneltreppe kauern und alles im Umfeld von zwei Blocks überschauen konnte. Er lehnte sich an den steinernen Mittelpfeiler und wartete.
Seine Gedanken wanderten zu dem Mädchen.
Quickening, die Tochter des Königs vom Silberfluß – sie war ihm ein Rätsel, das ihn verrückt machte; sie erweckte so viele widersprüchliche Gefühle in ihm, die er kaum auseinandersortieren konnte. Es wäre besser gewesen, wenn er sie einfach alle beiseite gefegt und getan hätte, was Felsen-Dall ihm aufgetragen hatte – sie umbringen. Aber er konnte sich nicht so recht dazu entschließen. Es war mehr als nur Trotz gegen Dall und seine ständigen Versuche, ihn für die Sache der Schattenwesen zu benutzen, mehr als nur seine Entschlossenheit, die Angelegenheit auf seine eigene Weise anzugehen. Es waren die Zweifel und das Zögern, die sie in ihm weckte, das Gefühl, daß er irgendwie die Dinge nicht ganz so unter Kontrolle hatte, wie er glaubte, daß sie Dinge über ihn wußte, die ihm nicht bekannt waren. Geheimnisse – sie hütete so viele davon. Wenn er sie tötete, wären die Geheimnisse für immer verloren.
Er sah sie vor seinem geistigen Auge, wie er es auf ihrer Reise nach Norden so viele Nächte lang getan hatte. Er konnte sich ihre perfekten Züge bildlich vorstellen, die Art und Weise, wie die Bewegungen des Lichts auf ihrem Gesicht und ihrem Körper jeden Aspekt noch faszinierender machten als den vorherigen. Er konnte die Musik ihrer Stimme hören. Er konnte ihre Berührung fühlen. Sie war wirklich und gleichzeitig unwirklich: Sie selbst gab zu, ein Elementarwesen zu sein, ein Produkt von Magie und dennoch gleichzeitig Mensch. Pe Ell war ein Mann, dessen Respekt vor dem Leben seit langem durch sein Morden abgestorben war. Er war ein Berufsmörder, der nie versagt hatte. Niederlagen kannte er nicht. Er war eine Mauer, in die keine Bresche geschlagen werden konnte; niemand konnte sich ihm nähern, es sei denn, er ließ sich in kurzen Momenten dazu herab, ihre Gegenwart zu tolerieren.
Aber Quickening – dieses seltsame, zerbrechliche Mädchen – stellte dies alles in Frage. Sie hatte das Zeug dazu, alles, was er war, zu ruinieren und ihn am Ende zu zerstören, davon war er überzeugt. Er wußte nicht wie, aber er glaubte es. Sie hatte die Macht, ihn zu vernichten. Er mußte also erpicht darauf sein, sie zu töten, wie Felsen-Dall ihm auf getragen hatte. Statt dessen war er neugierig. Bis jetzt war er noch nie jemandem begegnet, bei dem er das Gefühl gehabt hatte, er stelle eine Bedrohung für ihn dar. Er wollte sich dieser Bedrohung entledigen; doch er wollte sie zuerst nah an sich herankommen lassen.
Er starrte auf die Straßen von Eldwist hinaus, durch die Schluchten zwischen den stillen, hohen Gebäuden und in die Tunnel endloser Finsternis, unbekümmert über die scheinbare Unvereinbarkeit seiner Wünsche. Die Schatten erfaßten und umfingen ihn. Er war hier ebenso zu Hause, wie er es in der Südwache gewesen war, er war ein Teil der Nacht, der Leere, der Einsamkeit, der Gegenwart des Todes, der Abwesenheit von Leben. Wie gering doch der Unterschied zwischen Uhl Belk und den Schattenwesen war, stellte er fest.
Er entspannte sich. Er gehörte in die Anonymität der Dunkelheit.
Sie und jene, die bei ihr waren, brauchten das Licht.
Er dachte eine Weile an die anderen. Es war ein Zeitvertreib. Er stellte sich jeden einzelnen vor, wie er es mit Quickening getan hatte, und erwog das Potential eines jeden, für ihn eine Bedrohung darzustellen.
Carisman. Den Sänger schaltete er sofort wieder aus.
Horner Dees. Was war es nur, was ihn an diesem alten Mann so störte? Er haßte die Art und Weise, wie dieser bärenhafte Fährtensucher ihn anschaute, als sehe er durch seine Haut und seine Knochen hindurch. Er dachte eine Weile darüber nach, dann ließ er es fallen. Dees war verbraucht. Er besaß keine Magie.
Morgan Leah. Er mochte den Hochländer nicht, weil er eindeutig Quickenings Favorit war. Vielleicht liebte sie ihn auf ihre Weise sogar, auch wenn er zweifelte, daß sie zu echten Gefühlen fähig war – nicht sie – nicht das Elementarwesen, die Tochter des Königs vom Silberfluß. Sie benutzte ihn einfach nur, wie sie sie alle benutzte. Sie hatte ihre eigenen Gründe, die sie sorgfältig für sich behielt. Der Hochländer war jung und unbesonnen und würde vermutlich den Tod finden, ehe er ein echtes Problem darstellte.
Also blieb nur Walker Boh.
Wie jedesmal, wenn es um Walker Boh ging, nahm Pe Ell sich Zeit für seine Erwägungen. Walker Boh war ein Rätsel. Er hatte Magie, aber er schien sich dabei nicht wohl zu fühlen. Quickening hatte ihn praktisch von den Toten auferweckt, doch er wirkte völlig desinteressiert am Leben. Er war mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, mit Dingen, die er tief in seinem Innersten verborgen hielt, mit Geheimnissen, die so rätselhaft waren wie die des Mädchens. Walker Boh hatte ein Gefühl für die Dinge, die Pe Ell immer wieder überraschten; vielleicht konnte er sogar in die Zukunft schauen. Vor ein paar Jahren hatte Pe Ell von einem Mann gehört, der im Ostland lebte und mit den Tieren sprechen und die Veränderungen des Landes lesen konnte, ehe sie eintraten. War er das vielleicht? Man bezeichnete ihn als einen höchst gefährlichen Gegner, die Gnome fürchteten ihn sehr.
Pe Ell beugte sich langsam vor und faltete die Hände. Vor dem Einarmigen mußte er sich besonders in acht nehmen, das war ihm klar. Pe Ell hatte keine Angst vor Walker Boh, aber Walker Boh hatte auch keine Angst vor ihm.
Noch nicht.
Die Minuten verstrichen, die Nacht schritt voran, und die Straßen blieben still und leer. Pe Ell wartete geduldig. Er wußte, daß der Kratzer irgendwann kommen würde, wie er es jede Nacht getan hatte, um ihr Versteck zu suchen und sie zu finden, entschlossen, sie zu vernichten. Heute nacht würde er keine Ausnahme machen.
Pe Ell erlaubte es sich, eine Weile die Implikationen zu betrachten, die im Besitz einer Magie wie der des schwarzen Elfensteins lagen – einer Magie, die jegliche andere Magie zunichte machte. Was würde er damit anfangen? Seine scharfen, ziselierten Züge runzelten sich amüsiert. Er würde sie erst einmal gegen Felsen-Dall benutzen. Er würde sie einsetzen, um Dalls eigene Magie aufzuheben. Er würde sich in die Südwache schleichen, den Ersten Sucher ausfindig machen und ihm ein Ende bereiten. Felsen-Dall war inzwischen eher lästig als nützlich; Pe Ell hatte keine Lust mehr, ihn zu ertragen. Es war an der Zeit, ihre Partnerschaft ein für allemal zu beenden. Anschließend würde er den Talisman gegen die übrigen Schattenwesen einsetzen, sich vielleicht zu ihrem Führer machen. Außer, daß er eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Vielleicht war es besser, sie einfach allesamt zu eliminieren – zumindest alle die, die er erwischen konnte. Er lächelte erwartungsvoll. Das wäre eine interessante Aufgabe.
Er lehnte sich zufrieden in den Schatten seines Verstecks zurück. Er würde natürlich erst lernen müssen, die Magie des schwarzen Elfensteins zu handhaben. Ob sich das als schwierig erweisen würde? Wäre er darauf angewiesen, daß Quickening ihn instruierte? Würde er dafür sorgen müssen, daß sie ein bißchen länger am Leben blieb? Er schauderte erwartungsvoll. Die Lösung würde sich ergeben, wenn es soweit war. Zunächst mußte er sich ganz darauf konzentrieren, in den Besitz des Elfensteins zu gelangen.
Fast eine ganze Stunde verstrich, bis er endlich den Kratzer näher kommen hörte. Der Schleicher kam von Osten. Seine metallenen Füße schabten leise über den Stein, während er durch die Finsternis glitt. Er kam direkt in Pe Ells Richtung, und der Mörder sank in die Dunkelheit des Treppenhauses zurück, bis seine Augen auf Straßenhöhe waren. Von hier aus wirkte das Biest riesig, sein gewaltiger Leib schaukelte auf den eisengepanzerten Beinen, sein Peitschenschwanz war eingerollt und bereit, jederzeit zuzuschlagen, seine Tentakel tasteten wie Fühler durch die feuchte Luft. Seine Körperwärme ließ Dampf von seinem Eisenpanzer aufsteigen, die Luftfeuchtigkeit kondensierte sich und tropfte auf den Boden. Er ließ seine Tentakel in Eingänge und Fenster, durch die Rinnen unter den Gehsteigen, in die Abflüsse und die Wracks der versteinerten, umgekippten Wagen schlängeln. Einen Augenblick lang glaubte Pe Ell, das Biest hätte ihn entdeckt, doch dann lenkte irgend etwas die Aufmerksamkeit des Schleichers ab, und er stampfte vorbei und verschwand in der Nacht.
Pe Ell wartete, bis er ihn kaum noch hören konnte, dann schlüpfte er aus seinem Versteck und nahm die Verfolgung auf.
Er folgte dem Kratzer die ganze Nacht durch die Straßen, die Gassen, durch die Eingangshallen und Säle riesiger, alter Häuser und entlang der Klippen, die im Westen und Norden die Stadt eingrenzten. Der Kratzer ging überallhin, ein Tier auf der Jagd und ständig in Bewegung. Pe Ell schlich die ganze Zeit hinter ihm her. Meistens konnte er ihn nur hören, nicht sehen. Er mußte sorgsam darauf achten, ihm nicht zu nahe zu kommen, denn sonst würde die Kreatur seine Anwesenheit wahrnehmen und ihn zu erwischen versuchen. Pe Ell machte sich selbst zu einem Teil der Schatten, nur ein weiteres Objekt in der endlosen steinernen Landschaft, ein Ding aus Rauch und Nichts, das nicht einmal der Kratzer entdecken konnte. Er hielt sich auf den Gehsteigen nahe an den Hausmauern, mied die Straßen mit ihren Falltüren und hielt sich fern von allen offenen Plätzen. Er hastete nicht, hielt seine Schritte gleichmäßig. Katz und Maus zu spielen erforderte eine Menge Geduld.
Und dann gegen Morgen verschwand der Kratzer plötzlich. Wenige Minuten zuvor hatte er ihn noch gesehen, als er im Zentrum der Stadt eine Straße hinunterwatschelte, ziemlich nah an dem Gebäude, wo sich die anderen versteckten. Er konnte seine Beine und Tentakel rasseln, seinen Leib sich drehen hören, und dann nichts mehr. Stille. Vorsichtig folgte er einer Gasse, bis sie in eine Straße einmündete. Noch immer im Schatten der Gasse spähte er hinaus. Links verlief die Straße in der Finsternis zwischen zwei Reihen glatt und abweisend in den Himmel ragender Häuser entlang. Zur Rechten gabelte sich die Straße und führte zu zwei turmhohen Gebäuden mit weitläufigen, dunklen Vorhallen, die in völliger Finsternis untergingen.
Pe Ell suchte die Straße in beiden Richtungen ab, lauschte wieder und begann zu kochen. Wie konnte er ihn so plötzlich verlieren? Wie konnte das Biest so einfach verschwinden?
Ihm wurde bewußt, daß die Luft sich aufhellte, daß die Sonne bald in die Welt hinter den Wolken, dem Nebel und der Düsterkeit von Eldwist tauchen würde. Der Tag brach an. Der Kratzer würde sich jetzt verstecken. Vielleicht hatte er es schon getan. Pe Ell runzelte die Stirn und spähte in die undurchdringlichen Schatten des Hauses auf der anderen Straßenseite. War dort wohl sein Unterschlupf?
Er wollte gerade sein eigenes Versteck verlassen, als sein Instinkt, dem er so uneingeschränkt traute, ihn warnte. Der Kratzer versteckte sich wirklich, aber nicht aus dem Grund, den er zunächst angenommen hatte. Er versteckte sich, um eine Falle aufzustellen. Er wußte, daß die Eindringlinge noch immer in der Stadt frei herumliefen, irgendwo in der Nähe. Er wußte, daß er sie töten mußte, denn sonst würden sie ihn töten. Also hatte er auf den Verdacht hin, daß sie ihm gefolgt wären, eine Falle aufgestellt. Er wartete jetzt ab, ob irgendwas hineintappte.
Pe Ell fühlte, wie eine Welle kalter Entschlossenheit ihn durchströmte, und er wich in den Schatten der Gasse zurück. Katz und Maus, etwas anderes war das nicht. Er lächelte und wartete.
Endlose Minuten verstrichen in völliger Stille. Pe Ell wartete nach wie vor.
Und dann tauchte unvermittelt der Kratzer aus dem Dunkel eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite zur Linken hervor, tänzelte beinahe graziös in Sicht. Pe Ell hielt den Atem an, als das Monster die Luft prüfte und sich langsam dabei drehte. Zufrieden ging es schließlich weiter. Pe Ell atmete langsam aus und folgte ihm.
Es wurde immer heller, und die Nachtluft wandelte sich in einen grauen Schimmer, der die Feuchtigkeit reflektierte, so daß es noch schwieriger wurde, auszumachen, was weiter vorn geschah. Aber Pe Ell ließ sich nicht aufhalten. Er verließ sich darauf, daß sein Gehör ihn vor irgendwelchen Gefahren warnen würde, der Geräusche des sich entfernenden Kratzers ständig bewußt. Das Biest sorgte sich jetzt nicht mehr um etwaige Verfolger. Seine nächtliche Arbeit war erledigt. Es war auf dem Heimweg.
Zum Unterschlupf des Steinkönigs, dachte Pe Ell, zum ersten Mal ungeduldig, seit die Jagd angefangen hatte.
Er holte den Kratzer ein, als dieser vor einem Gebäude mit glatter Oberfläche und einem zehn Meter hohen und doppelt so breiten, dunklen Alkoven langsamer wurde. Der Kratzer tastete mit einem seiner Fühler über den Stein an der Spitze des Alkovens, und die Wand schwang sich geräuschlos beiseite. Ohne sich umzuschauen, schlüpfte der Kratzer durch die Öffnung. Sobald er im Inneren war, schwang die Wand wieder an Ort und Stelle.
Jetzt hab ich dich! dachte Pe Ell grimmig.
Trotzdem blieb er noch fast eine Stunde dort, wo er war, und wartete ab, ob noch irgend etwas geschehen würde, und um sicherzugehen, daß dies nicht eine weitere Falle war. Als er sich vergewissert hatte, daß es ungefährlich war, kam er hervor und huschte über den Gehsteig an den Häusern entlang, bis er vor dem versteckten Eingang stand.
Er nahm sich lange Zeit, ihn zu untersuchen. Die Steinfassade war glatt und eben. Er konnte die Nahtstellen der Öffnung in dem Alkoven erkennen, doch er hätte die Tür nie gesehen, wenn er nicht gewußt hätte, daß sie dort war. Weit oben über seinem Kopf, zwischen den grauen Steinen kaum erkennbar, entdeckte er eine Art Hebel. Ein Riegel, dachte er triumphierend. Ein Eingang.
Er blieb noch eine Weile dort und dachte nach. Dann machte er sich auf und suchte in den gegenüberliegenden Häusern nach einem Versteck. Sobald er sich versteckt hatte, wollte er sich hinsetzen und darüber nachdenken, wie er diesen Hebel bewegen würde. Danach wollte er erst einmal schlafen, bis es dunkel wurde. Dann würde er abwarten, bis der Kratzer herauskam.
Und dann würde er hineingehen.