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Der König vom Silberfluß stand am Rande des Gartens, der seit der Dämmerung des Elfenzeitalters seine Sphäre war, und blickte hinaus auf die Welt der sterblichen Menschen. Was er sah, machte ihn traurig und mutlos. Überall kränkelte das Land und starb, fruchtbarer schwarzer Humus wurde zu Staub, grasbewachsene Ebenen welkten dahin, Wälder wurden zu riesigen Gebieten toten Holzes, und Seen und Flüsse versandeten und trockneten aus. Und allenthalben wurden auch die Geschöpfe, die das Land bewohnten, krank und starben, außerstande sich zu ernähren, weil die Nahrung, auf die sie angewiesen waren, zunehmend giftiger wurde. Selbst die Luft hatte begonnen, faulig zu werden.

Und währenddessen, dachte der König vom Silberfluß, werden die Schattenwesen immer stärker.

Seine Finger streichelten die karmesinroten Blüten der Zyklamen, die üppig zu seinen Füßen wuchsen. Große Forsythienbüsche standen gleich dahinter, Hartriegel und Kirschen ein Stück weiter, Fuchsien und Hibiskus, Rhododendron und Dahlien, Beete mit Iris, Azaleen, Gänseblümchen, Rosen und hundert andere Arten von Blumen und Blütensträuchern, die immer in Blüte standen, ein Reichtum an Farben, der sich in die Ferne erstreckte, so weit das Auge reichte. Auch Tiere waren zu sehen, große und kleine, Geschöpfe, deren Evolution zurückverfolgt werden konnte in jene längst vergangenen Zeiten, als alles in Frieden und Harmonie lebte.

In der gegenwärtigen Welt der Vier Länder und der Rassen, die sich aus Chaos und Zerstörung der Großen Kriege entwickelt hatten, war diese Zeit fast ganz vergessen. Der König vom Silberfluß war der einzige, der übriggeblieben war. Er hatte schon gelebt, als die Welt noch neu war und ihre ersten Geschöpfe gerade geboren wurden. Damals war er jung gewesen, und es hatte viele gegeben, die so waren wie er. Jetzt war er alt, und er war der Letzte seiner Art. Alles, was einmal gewesen war, mit Ausnahme der Gärten, in denen er lebte, war verschwunden. Nur die Gärten überlebten unverändert, getragen von der Elfenmagie. Das Wort hatte dem König vom Silberfluß die Gärten gegeben und ihm aufgetragen, sie zu pflegen und als Mahnmal dessen, was einmal war und was eines Tages vielleicht wieder sein würde, zu erhalten. Die Welt draußen würde sich entwickeln, wie sie mußte, doch die Gärten würden für immer bleiben, wie sie waren.

Und dennoch schrumpften sie. Es war nicht so sehr materiell, sondern spirituell. Die Grenzen der Gärten lagen unveränderlich fest, denn sie existierten auf einer Ebene, die von den Veränderungen der sterblichen Welt nicht beeinflußt wurden. Die Gärten waren eher eine Gegenwart als ein Ort. Doch diese Gegenwart wurde durch die Krankheit der Welt, an die sie gebunden war, vermindert, denn die Aufgabe der Gärten und ihres Pflegers bestand darin, jene Welt stark zu erhalten. Je vergifteter die Vier Länder wurden, desto schwerer wurde diese Aufgabe, desto schwächer die Auswirkung dieser Arbeit, und die Kraft menschlichen Glaubens und Vertrauens in ihre Existenz – die immer ein wenig schwankend gewesen war – begann, ganz und gar zu versiegen.

Der König vom Silberfluß war bekümmert darüber. Er trauerte nicht um seiner selbst willen, er stand über solchen Gefühlen. Er trauerte für die Völker der Vier Länder, die sterblichen Männer und Frauen, die Gefahr liefen, die Elfenmagie für immer zu verlieren. Die Gärten im Lande des Silberflusses waren jahrhundertelang ihre Zuflucht gewesen, und er ihr spiritueller Freund, der seine Völker beschützte. Er hatte über sie gewacht, hatte ihnen ein Gefühl von Frieden und Wohlergehen vermittelt, das die körperlichen Grenzen überstieg, und hatte das Versprechen gegeben, daß Wohlwollen und guter Wille in manchen Winkeln der Welt noch immer für alle zugänglich wären. Das war nun vorbei. Er konnte niemanden mehr schützen. Das Übel der Schattenwesen, das Gift, das sie über die Vier Länder gebracht hatten, hatte seine eigene Kraft untergraben, bis er wahrhaftig innerhalb seiner Gärten eingesiegelt war und nicht mehr die Macht besaß, denen zu Hilfe zu kommen, die er so lange beschützt hatte.

Er starrte geraume Zeit auf die Ruinen der Welt hinaus, und Verzweiflung nahm unnachgiebig Besitz von ihm. Erinnerungen spielten Verstecken in seinem Bewußtsein. Einst hatten die Druiden die Vier Länder beschützt. Aber die Druiden waren fort. Eine Handvoll von Nachfahren des Elfenhauses von Shannara waren über Generationen die Helden der Rassen gewesen und hatten die verbliebene Elfenmagie ausgeübt. Aber sie waren alle tot.

Er verdrängte seine Verzweiflung und ersetzte sie durch Hoffnung. Die Druiden konnten wiederkommen. Und es gab neue Generationen des alten Hauses von Shannara. Der König vom Silberfluß wußte fast alles, was sich in den Vier Ländern ereignete, auch wenn er nicht dorthin gehen konnte. Allanons Schatten hatte die Aussendung der Shannara-Kinder veranlaßt, um die verlorene Magie zurückzuerobern, und vielleicht würde es ihnen auch gelingen, falls sie lange genug überleben konnten, um Mittel und Wege zu finden, es zu tun. Aber alle waren größten Gefahren ausgesetzt. Alle waren vom Tode bedroht, im Osten, Süden und Westen von den Schattenwesen, im Norden von Uhl Belk, dem Steinkönig.

Er schloß für einen Moment die alten Augen. Er wußte, was für die Rettung der Shannara-Kinder vonnöten war – ein magischer Akt, einer von solcher Kraft und so ausgeklügelt, daß nichts seinen Erfolg vereiteln konnte, einer, der die Barrieren, die ihre Feinde geschaffen hatten, überwinden und durch den Schirm aus Täuschung und Lügen hindurchbrechen würde, der alles vor den Vieren verbarg, von denen so vieles abhing.

Ja, vier, nicht drei. Nicht einmal Allanon verstand die Gesamtheit dessen, was sein sollte.

Er wandte sich um und ging zurück in das Herz seines Refugiums. Er ließ sich vom Gesang der Vögel, dem Duft der Blumen und der warmen Luft streicheln, und seine Sinne sogen die Farben und Düfte und Gefühle all dessen, was ihn umgab, in sich auf. Es gab praktisch nichts, was er innerhalb seiner Gärten nicht zu tun vermochte. Doch seine Magie wurde draußen gebraucht. Er wußte, was not tat. Zur Vorbereitung nahm er die Gestalt des alten Mannes an, in der er sich gelegentlich der Welt jenseits zeigte. Sein Gang wurde ein unsicheres Wanken, sein Atem keuchend, seine Augen trüb, und sein ganzer Körper schmerzte mit dem Gefühl des dahinschwindenden Lebens. Das Vogelgezwitscher verstummte, und die kleinen Tiere in seiner Nähe hasteten eilig davon. Er zwang sich, sich von allem zu lösen, in das er sich entwickelt hatte, zu dem zurückzuschrumpfen, was er hätte werden können, weil er für einen Augenblick menschliche Sterblichkeit empfinden mußte, um zu wissen, wie er jenen Teil seines Selbst geben mußte, der gebraucht wurde.

Als er in das Herz seines Besitzes gelangte, blieb er stehen. Es gab einen Teich mit allerklarstem Wasser, der von einem kleinen Bächlein genährt wurde. Ein Einhorn trank daraus. Die Erde, die den Teich umgab, war dunkel und fruchtbar. Winzige, zarte Blümchen, die keinen Namen hatten, wuchsen am Wasser; sie hatten die Farbe von frischem Schnee. Ein kleiner, filigraner Baum wuchs aus einem Flecken von violettem Gras am anderen Ufer des Teichs, seine grünen Blätter waren mit Mustern wie aus roten Spitzen überzogen. In zwei gewaltigen Felsen glitzerten Streifen farbigen Erzes im Sonnenschein.

Der König vom Silberfluß stand reglos in der Gegenwart des Lebens, das ihn umgab, und er zwang sich, mit ihm eins zu werden. Als er das getan hatte, als sich alles durch die menschliche Gestalt, die er angenommen hatte, gesponnen hatte, als sei es aus Teilen und Stücken unsichtbarer Stickerei zusammengefügt, nahm er es in sich auf. Er hob die Hände, runzlige, menschliche Haut und zerbrechliche Knochen, und rief seine Magie, und das Gefühl von Alter und Zeit, Mahnung der sterblichen Existenz, verschwand.

Erst zog der kleine Baum seine Wurzeln aus dem Boden, kam zu ihm und landete vor seinen Füßen, das Knochengerüst, auf dem er aufbauen würde. Langsam bog es sich und nahm die Form an, die er wünschte, die Blätter falteten sich eng um die Zweige, wickelten sie ein und umschlossen sie. Dann kam die Erde, unsichtbare Schaufeln hoben sie auf und klopften und formten sie an den Baum. Dann kamen die Erze für Muskeln, die Wässer für Flüssigkeiten und die Blütenblätter der kleinen Blumen als Haut. Er sammelte Seide von der Mähne des Einhorns für das Haar und schwarze Perlen für die Augen. Der Zauber wand und webte sich, und seine Schöpfung nahm langsam Gestalt an.

Als er fertig war, war das Mädchen, das vor ihm stand, in jeder außer einer Hinsicht perfekt. Es lebte noch nicht.

Er ließ seinen Blick umherwandern, dann wählte er die Taube. Er nahm sie aus der Luft und setzte sie lebend in die Brust des Mädchens, und sie wurde sein Herz. Er eilte hin und umarmte sie und hauchte ihr sein eigenes Leben ein. Dann trat er zurück und wartete. Die Brust des Mädchens hob und senkte sich, ihre Glieder begannen zu zucken. Ihre Augenlider flackerten und klappten auf, ihre kohlschwarzen Augen schauten aus ihrem zarten Gesicht. Sie war zierlich und feingliedrig, wie kunstvoll aus Papier gefaltet, geglättet und geformt, so daß die Kanten und Ecken durch Rundungen ersetzt wurden. Ihr Haar war so weiß, daß es wie Silber schimmerte, und es hatte einen Glanz, der das Vorhandensein dieses kostbaren Metalls nahelegte.

»Wer bin ich?« fragte sie mit sanfter, heller Stimme, die von kleinen Bächlein und zarten, nächtlichen Geräuschen wisperte.

»Du bist meine Tochter«, erwiderte der König vom Silberfluß und entdeckte Gefühle, die sich in ihm regten, die er seit langer Zeit verloren geglaubt hatte.

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu sagen, daß sie ein Elementarwesen, ein Erdkind war, das aus seiner Magie erschaffen wurde. Sie konnte mit den Instinkten, die er ihr eingegeben hatte, fühlen, was sie war. Weitere Erläuterungen waren überflüssig.

Sie tat versuchsweise einen zaghaften Schritt vorwärts, dann noch einen. Als sie sah, daß sie gehen konnte, bewegte sie sich schneller, prüfte ihre Fähigkeiten auf unterschiedliche Weise, indem sie um ihren Vater herumging und den alten Mann im Gehen scheu und behutsam betrachtete. Neugierig blickte sie sich um, nahm den Anblick, die Gerüche, die Geräusche und den Geschmack der Gärten in sich auf und entdeckte in ihnen eine Verwandtschaft, die sie sich nicht sofort erklären konnte.

»Sind diese Gärten meine Mutter?« fragte sie unvermittelt, und er sagte ihr, so sei es. »Bin ich ein Teil von euch beiden?« wollte sie wissen, und er bejahte es.

»Komm mit«, lud er sie freundlich ein.

Zusammen wandelten sie durch die Gärten und erforschten sie in der Art von Vater und Kind, betrachteten Blüten, beobachteten die flinken Bewegungen der Vögel und Tiere, studierten die weitläufigen, komplizierten Strukturen des wirren Unterholzes und die komplexen Schichten von Stein und Erde, die Muster, gewoben aus den Fäden der Existenz der Gärten. Sie war schnell und helle, interessierte sich für alles, voller Liebe und Respekt vor dem Leben. Er war zufrieden mit dem, was er sah. Er fand, er hatte sie gut gemacht.

Nach einer Weile begann er, ihr etwas von der Magie zu zeigen. Zunächst demonstrierte er die seine, nur ein ganz klein wenig, um sie nicht zu überfordern. Dann ließ er sie ihre eigene ausprobieren. Überrascht stellte sie fest, daß sie solche besaß, und war noch mehr überrascht über das, was sie bewirkte. Aber sie zögerte nicht, sie zu verwenden. Sie war ganz eifrig.

»Du hast einen Namen«, sagte er zu ihr. »Möchtest du wissen, wie du heißt?«

»Ja«, sagte sie und schaute ihn aufmerksam an.

»Du heißt Quickening. Belebung.« Er machte eine Pause. »Verstehst du, warum?«

Sie überlegte ein Weilchen. »Ja«, antwortete sie dann wieder.

Er führte sie zu einem uralten Hickorybaum, dessen Rinde sich in großen, ausgefransten Streifen vom Stamm löste. Eine kühle Brise wehte hier und duftete nach Jasmin und Begonien, und sie setzten sich auf das weiche Gras. Ein Greif kam zwischen den hohen Halmen herbei und schnupperte an der Hand des Mädchens.

»Quickening«, sagte der König. »Es gibt etwas, das du tun mußt.«

Langsam und sorgfältig erklärte er ihr, daß sie die Gärten verlassen und hinaus in die Welt der Menschen müsse. Er sagte ihr, wohin sie zu gehen und was sie zu tun hätte. Er sprach von dem Dunklen Onkel, dem Hochländer, und dem namenlosen Anderen, von den Schattenwesen, von Uhl Belk und Eldwist und von dem schwarzen Elfenstein. Und während er zu ihr sprach und ihr die Wahrheit enthüllte, wer und was sie war, fühlte er einen Schmerz in seiner Brust, der eindeutig menschlich war, ein Teil von ihm, der seit vielen Jahrhunderten untergetaucht gewesen war. Der Schmerz brachte eine Traurigkeit, die drohte, seine Stimme zum Brechen und seine Augen zum Tränen zu bringen. Einmal hielt er überrascht inne, um dagegen anzukämpfen. Es kostete ihn einige Mühe, wieder weiterzusprechen. Das Mädchen schaute ihn still an – aufmerksam, in sich gekehrt, erwartungsvoll. Sie gab keine Widerworte, und sie stellte nicht in Frage, was er ihr sagte. Sie lauschte nur und akzeptierte es.

Als er zu Ende gekommen war, stand sie auf. »Ich weiß, was von mir erwartet wird. Ich bin bereit.«

Doch der König vom Silberfluß schüttelte den Kopf. »Nein, mein Kind, das bist du nicht. Du wirst es feststellen, wenn du von hier fortgegangen bist. Ungeachtet dessen, was du bist und was du kannst, bist du doch verwundbar durch Dinge, vor denen ich dich nicht schützen kann. Sei auf der Hut und schütze dich selbst. Sei wachsam gegen alles, was du nicht verstehst.«

»Das werde ich«, erwiderte sie.

Er begleitete sie bis zum Rand der Gärten, wo die Welt der Menschen anfing, und gemeinsam schauten sie hinaus auf den um sich greifenden Ruin. Ohne zu sprechen, standen sie lange, lange Zeit so da, bis sie sagte: »Ich sehe, daß ich dort gebraucht werde.«

Er nickte bekümmert, fühlte schon ihren Verlust, obgleich sie noch gar nicht fortgegangen war. Sie ist nur ein Elementarwesen, dachte er und wußte gleichzeitig, daß dies nicht stimmte. Sie war viel mehr. So, als habe er sie zur Welt gebracht, war sie ein Teil von ihm.

»Auf Wiedersehen, Vater«, sagte sie plötzlich und wich von seiner Seite.

Sie verließ die Gärten und verschwand in der Welt jenseits. Sie küßte oder berührte ihn nicht zum Abschied. Sie ging einfach fort, denn das war alles, was sie zu tun wußte.

Der König vom Silberfluß wandte sich ab. Seine Anstrengungen hatten ihn erschöpft, hatten ihm seine Magie ausgesogen. Er mußte eine Weile ruhen. Schnell schlüpfte er aus seiner menschlichen Gestalt, streifte die falschen Schichten aus Haut und Knochen ab und wusch sich von ihren Erinnerungen und Gefühlen rein, um wieder zu der Elfenkreatur zu werden, die er war.

Doch das, was er für Quickening empfand, seine Tochter, das Kind aus seiner Hand, das blieb.

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